Herzklopfen für Anfänger
Sally Matthews hat ein Date mit dem Schicksal. Es kommt in rasender Geschwindigkeit auf sie zu, und sie ist sicher, dass es sie über den Haufen fahren wird. Dabei ist sie in ihrem karierten Schlafanzug und der alten schwarzen Strickjacke wirklich...
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Produktinformationen zu „Herzklopfen für Anfänger “
Sally Matthews hat ein Date mit dem Schicksal. Es kommt in rasender Geschwindigkeit auf sie zu, und sie ist sicher, dass es sie über den Haufen fahren wird. Dabei ist sie in ihrem karierten Schlafanzug und der alten schwarzen Strickjacke wirklich nicht richtig angezogen für eine Begegnung mit dem Tod. Und außerdem glaubt Sally eigentlich auch gar nicht an das Schicksal. Sie ist viel zu beschäftigt damit, auf ihren Mann aufzupassen, die Hochzeit ihrer Stieftochter zu organisieren und ihre Mutter zu bespaßen. Kein Wunder, dass sie spät abends noch mit dem Hund unterwegs ist, mit einem Baseballschläger als einzigem Begleiter.
Nein, Sally Matthews hat keine Zeit für das Schicksal. Da kann der Mann am Steuer des Unfallwagens so gut aussehen, wie er mag.
Lese-Probe zu „Herzklopfen für Anfänger “
Herzklopfen für Anfänger von Lynne Barrett-LeeProlog
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Es ist fünf Uhr siebenundzwanzig am Morgen. In zwölftausend Meter Höhe über dem Nordatlantik fliegt ein Flugzeug schnell und lautlos auf Gatwick Airport zu. An Bord sitzt Nick Brown mit steifem Genick unter einer kratzigen roten Decke. Die meiste Zeit dieser Flugnacht hat er mit erfolglosen Einschlafversuchen verbracht. Seine langen Beine drücken gegen die harte Rückenlehne des Sitzes vor ihm, sein dumpf pochender Kopf lehnt an der cremefarbenen Kabinenverkleidung. Eigentlich sollte er auf einem Gangplatz in der Business Class sitzen. Aber in der letzten Zeit kommt es Nick so vor, als habe sich alles im Leben gegen ihn verschworen: Das Flugzeug, das er eigentlich hätte nehmen sollen, blieb in L.A. auf dem Flughafen, und im Ersatzflugzeug, in dem er gerade noch einen freien Sitz ergattert hat, war nur noch ein Fensterplatz in den hinteren Reihen frei. So musste er zehn quälende Stunden mit einem kleinen Jungen namens Luke und seiner Schwester Georgina verbringen. Und gelegentlich mit ihrer Mutter und einem nach Verdauungsendprodukten riechenden Baby, die eine Reihe vor ihm sitzen, wenn sie sitzen.
Das Flugzeug dreht nach Osten ab. Der Kapitän verkündet den Beginn des Sinkflugs, und Nick schiebt die Decke zurück. Plötzlich überfällt ihn die Müdigkeit mit unwiderstehlicher Macht. Er leidet unter chronischer Schlaflosigkeit, und es ist symptomatisch, dass jetzt auf einmal seine Augenlider schwer werden und einfach zufallen. In der langen Schlange bei der Ankunft wird er dastehen wie in Trance. Der kleine Junge neben ihm hat einen Fuß in seinem Schritt und umklammert mit einem klebrigen Händchen seine neue Seidenkrawatte. Er würde ihn gern wegschieben, aber er will ihn nicht wecken. Er sieht genauso aus wie sein eigener Sohn in diesem Alter.
In etwa zwanzig Minuten wird das Flugzeug landen. Er hat nicht nur nicht geschlafen, er hat auch nichts gegessen, und sein Magen hebt sich, als die Nase des Fliegers sich senkt. Mit kalten Füßen tastet er nach seinen Schuhen, zieht die warme Schließe des Gurts unter sich hervor und schnallt sich an. Er reibt sich die Augen, blickt auf die Landschaft unter sich. Weit unter ihm graue Klumpen von Dächern und Gärten. Ab und zu ein Swimmingpool, Garagen und helle, kiesbedeckte Einfahrten. Die auf ländlich getrimmte Landschaft in diesem Teil von Sussex, eine vertraute und doch fremde Szenerie. Sie sinken weiter. Jetzt kann er Autoscheinwerfer erkennen. Blumenbeete in den Gärten. Vorhänge an den Fenstern. Er reckt die Arme und betrachtet die Häuser unter sich. Es ist fünf Uhr zweiundfünfzig, am Horizont geht die Sonne auf. Er kann deutlich erkennen, wie jemand da unten eine Lampe ausschaltet.
Während das Flugzeug den Norden von Sussex überfliegt und Nick Brown zu seinem frisch bezogenen Bett im Flughafenhotel bringt, schaltet Sally Matthews, die in T-Shirt und Höschen ein wenig fröstelt, die Lampe aus und tapst auf bloßen Füßen wieder ins Bett. Seit drei Uhr dreißig hat sie mit weit offenen Augen auf dem schmalen Bett im Gästezimmer gelegen, nun muss sie wieder ins Ehebett kriechen, weil in achtundsiebzig Minuten ihr Wecker klingelt. Bis dahin wird sie tief und fest schlafen.
»Chrrrrrr«, macht ihr Mann Jonathan, als er ausatmet. Er hat sich in die Steppdecke gewickelt, und das verbleibende Stück reicht kaum, um ihr Bein zu bedecken. Wenn sie sich an ihren warmen Mann kuscheln würde, hätte sie reichlich Decke, aber das kann sie nicht, weil sie ihn dann aufwecken würde. Und wenn er wach würde, hätte er schlechte Laune. Und wenn er einmal schlechte Laune hätte, bliebe das den ganzen Tag über so. Also liegt sie am Rand der Matratze, atmet ruhig und versucht sich nicht zu viel zu bewegen.
Sie liegt da und schaut aus dem Fenster. Ihr Schlafzimmer, ein kühler, weitläufiger Raum mit schweren alten Kiefernholz-möbeln, besitzt ein großes Panoramafenster. Sally hat zwar nicht - wie beim Dachfenster im Gästezimmer - den gesamten Himmel über sich, aber von ihrem Platz im Ehebett aus kann sie einen großen Teil des Nachthimmels sehen. Wolkenlos, schwarz und voller Sterne. Sterne, Planeten und vermutlich auch Kometen. Auch jetzt bewegt sich dort oben etwas. Wie in den meisten Nächten wünscht sie sich, dass es eine Sternschnuppe sein möge. Aber heute Nacht geht ihr Wunsch nicht in Erfüllung. Ein rotes Licht ist zu sehen. Ein Flugzeug, das pfeilgerade am Himmel entlangzieht. Wahrscheinlich ein Jumbo, denkt sie. Auf dem Weg nach Gatwick.
Er zwinkert ihr zu, als er vorüberfliegt.
1
Der Himmel in dieser Freitagnacht war sternenklar. Ein Himmel, so dicht besetzt mit funkelnden Himmelskörpern, dass sogar die nüchternsten, fantasielosesten Menschen staunend den Atem anhielten angesichts dieses Wunders und der atemberaubenden Schönheit des Universums.
Und ich, Sally Matthews, einundvierzig, sehr müde, leicht feucht und mürrisch, fuhr über die Landstraßen in Sussex, um meine geliebte Tochter aus dem Haus ihrer Freundin abzuholen. Ich war zwar ein Sternengucker, aber ein Himmelskörper war ich nicht. Und ich hielt definitiv nicht inne, um den Himmel zu bewundern.
Ich weiß noch, dass ich sehr müde war. Müde und gereizt, da ich unsanft bei einem dieser Aromatherapie-Bäder im Kerzenschein unterbrochen worden war, von denen in den einschlägigen Zeitschriften geschwärmt wird. Und so fuhr ich über Land - mit klatschnassen Haaren, umweht von einem Hauch Kerzenduft und den Überresten einer Passionsfruchtmaske im Gesicht.
Ich hatte Jonathans Auto genommen. Bei meinem war nicht mehr viel Benzin im Tank, und - ja, okay, ich gebe es zu - er mochte es nicht, wenn ich damit fuhr. Es war ein Akt trotziger Wut, weil wir beide gerade einen Streit gehabt hatten. Die Art von Streit, die man eben hat, wenn die halbwüchsige Tochter mitten in der Nacht anruft und dich anfleht, sie bitte, bitte, bitte, bitte abzuholen. Und zwar sofort. Sie kennen das sicher.
»Was denkt sie sich dabei, uns mitten in der Nacht anzurufen?«, hatte Jonathan gesagt.
»Ich soll sie abholen.«
»Was? Jetzt? Um diese Uhrzeit?«
»Um diese Uhrzeit. Sie hat sich mit Amanda gestritten und möchte nach Hause.«
»Das geht aber nicht. Ich lasse nicht zu, dass du um diese Uhrzeit unterwegs bist.«
»Dann musst du eben fahren.«
»Ich? Ich habe fast eine ganze Flasche Wein getrunken.« »Nun, einer von uns muss aber fahren. Ich habe ihr gesagt, ich komme.«
»Nun, dann ruf sie an und mach es wieder rückgängig. Sie ist fast siebzehn, du liebe Güte. Sie kann da bleiben und es aussitzen.«
»Aber ich kann sie nicht einfach im Stich lassen. Sie klang außer sich.«
»Übertreibst du nicht ein bisschen? Sie wird sich schon wieder beruhigen.«
»Aber ich kann nicht ... «
»Doch, du kannst. Warum hast du überhaupt Ja gesagt? Sie muss lernen, dass sie nicht erwarten kann ... «
»Ich weiß, ich weiß, ich weiß! Aber sie klang wirklich außer sich, und ich möchte nicht ... «
»Sie weiß schon, mit wem sie es machen kann. Merkst du eigentlich nicht ... «
»Jonathan, machst du dir denn keine Sorgen? Ist es dir egal, dass ...«
»Ach, fang doch nicht damit an! Dann fahr eben. Fahr! Tu, was du willst!«
Einer dieser Streits.
Also hatte ich mir rasch einen Pyjama und alte Turnschuhe angezogen, Kates schreckliche schwarze Strickjacke übergeworfen und war nach draußen marschiert, wütend, weil Jonathan gemütlich in seinem Sessel weiterschnarchen konnte.
Die Straße war breit, leer und dunkel, so wie Landstraßen nachts eben sind. Hohe Bäume, die um diese Jahreszeit volles Laub tragen, säumten sie. Ihre Kronen bildeten ein dichtes schwarzes Muster vor dem tintenblauen Himmel. Ich fuhr am Gartencenter vorbei, an der Bude, in der diese schrecklichen Pfannkuchen verkauft werden, und an Mr Chips altmodischer Schaukelpferdfabrik, bevor ich auf die Straße einbog, die die wirkliche Welt mit dem Dörfchen im Zuckerbäckerstil verbindet, in dem Amandas Familie lebte. Über die Jahre bin ich diese Straße viele Male gefahren. Kate und Amanda sind schon ihr ganzes Leben lang befreundet. Hm. Ja. Zumindest bis heute.
Ich hatte natürlich den Hund mitgenommen. Wenn ich schon mitten in der Nacht über Land fahren musste, dann war es sinnvoll, einen besseren Schutz im Auto zu haben als Jonathans Kricketausrüstung.
Ich fuhr also die Straße entlang und murmelte Dinge vor mich hin, die Mütter so murmeln, wenn sie wissen, dass sie aufgrund ihrer Hormone Sklaven ihrer Kinder sind. Ab und zu durchzuckte mich der vage Wunsch, gegen meinen widerspenstigen Ehemann aufzubegehren. Und ich sah es nicht kommen. Ich sah das Auto einfach nicht kommen. Auch wenn das rückblickend merkwürdig klingt, genauso war es.
Ich war um eine Kurve gefahren, die Bäume waren einer Hecke gewichen, und die Straße schien direkt zum Horizont anzusteigen. Deshalb hielt ich das Licht oben auf dem Hügel auch zuerst für einen Stern. Blinzelnd blickte ich noch einmal hin. Nein, es waren mehrere Lichter. Ein entgegenkommendes Auto. Ich schaltete auf Abblendlicht und erwartete, dass auch das andere Auto das Fernlicht ausschaltete. Aber das tat es nicht, im Gegenteil, die Scheinwerfer wurden heller. Weißer. Die feuchten Haare in meinem Nacken begannen zu prickeln. Was machte der Fahrer da? Ich konnte die Straße nicht mehr erkennen - die Scheinwerfer, die rasch näher kamen, blendeten alles aus und machten mich so gut wie blind.
Und in diesem Augenblick traf es mich mit erschreckender Klarheit. Ich würde sterben. In einem karierten Pyjama und einer schmutzigen schwarzen Strickjacke. Denn das Auto hinter den viel zu hellen Scheinwerfern befand sich auf meiner Straßenseite.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich tat. Instinktiv riss ich das Steuer herum. Es quietschte, der Wagen schleuderte, aber dann griff das ABS, und ich kam zum Stehen, mitten im üppigen Strauchwerk des Grabens neben der Straße. Die Scheinwerfer verschwanden, weil sich der Wagen einmal um sich selbst gedreht hatte, und meine Fahrspur befand sich jetzt rechts von mir. Die Rücklichter brannten sich rot in meine Netzhaut. Merlin, der ebenfalls herumgeschleudert worden war, aber offensichtlich seine Nahtod-Erfahrung unbeschadet überstanden hatte, kratzte sich hinter dem Ohr.
»Jesus«, krächzte ich. »O mein Gott! Allmächtiger!« Der Motor war aus, und als ich den Schlüssel im Zündschloss drehte, sprang er zwar an, aber ich bekam das Auto nicht ins Rollen, so sehr ich es auch versuchte. Ich hörte, wie die Räder durchdrehten, doch das Auto fuhr einfach nicht los. Meine Hände und meine Beine zitterten unkontrolliert. Ich blickte den Hügel hinunter. Nichts. Keine Bewegung. Kein Geräusch.
Was sollte ich tun? Ich verrenkte mir den Hals, um etwas zu sehen, aber nichts deutete auf einen Autounfall hin. Sollte ich jemanden anrufen? Aussteigen und nachgucken? Im Schlafanzug? Allein? Nein, da war es schon besser, jemanden anzurufen. Die Polizei. Wer wusste schon, was für ein Irrer sich da draußen herumtrieb. Höchstwahrscheinlich ein Betrunkener. Ja, ich sollte auf keinen Fall aussteigen. Das wäre sehr dumm! Ich sollte die Polizei anrufen, im Auto bleiben und die Türen verriegeln. Und dann in aller Ruhe abwarten, bis die Polizei da war.
Mit zitternden Händen löste ich meinen Gurt und kramte im Dunkeln in meiner Tasche nach dem Handy. Die Polizei anrufen. Das war das Beste. Ich war völlig zitterig und durchgedreht und konnte es nicht finden. Wo war das verdammte Ding? Ich zerrte meine Tasche auf den Schoß. Ich war ganz sicher, dass es darin war. Zu Hause war es noch darin gewesen. Ich blickte noch einmal hinter mich. Nichts. Keine Bewegung. Kein Geräusch. Ärgerlich warf ich die Tasche wieder auf den Beifahrersitz. Kein Handy. Was sollte ich nur machen? O Gott. Was sollte ich bloß machen, ohne Handy und mit einem Auto, das nicht fuhr? Dann durchzuckte mich ein neuer Gedanke, der meine Panik noch vergrößerte. Wenn nun der andere Fahrer verletzt war? Vielleicht sogar tot? Igitt! Wenn es überhaupt kein Irrer war? Vielleicht ein alter Mensch? Vielleicht ein Siebzigjähriger, der einen Herzinfarkt gehabt hatte. Oder einen epileptischen Anfall? Oder einen Schlaganfall? O Gott.
Ich sah schon die Schlagzeile vor mir: »Herzlose Frau lässt verletzten Rentner sterbend zurück.« - »Merlin«, sagte ich entschlossen. »Wir müssen aussteigen. Wir müssen aussteigen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Und benimm dich gefährlich, hörst du? Nur für den Fall der Fälle. Wild und gefährlich, okay?«
Merlin spitzte die Ohren und legte den Kopf schräg. »Mach grrr. Okay? Grrr! Schön laut. Zeig deine Zähne.«
Die Nachtluft fühlte sich an meinen nackten Beinen kühl und feucht an. Merlin freute sich über die Entwicklung dieses unerwarteten Abenteuers. Er sprang heraus und begann eifrig zu schnüffeln. Wie sehr ich ihn um sein Selbstvertrauen beneidete. Er machte sich überhaupt keine Sorgen. Es war mitten in der Nacht. Ja, und? Es war nur ein bisschen dunkler wie tagsüber. Ach, wenn ich doch ein dummer Hund sein könnte! Ich war diese Strecke schon tausendmal gefahren, aber im Dunkeln kam sie mir plötzlich völlig unbekannt vor. Düster. Einsam. Finster.
Beängstigend. Ich sah schon eine weitere Schlagzeile vor mir: »Hilflose Frau in fragwürdiger Nachtwäsche auf Landstraße überfallen und vergewaltigt.« Eine Waffe. Ich brauchte eine Waffe. In Jonathans Wagen musste sein Kricketschlagholz liegen. Damit konnte ich mich wehren. Ich rannte um den Wagen herum und holte es aus dem Kofferraum.
»Genau«, zischte ich, packte mit einer Hand Merlins Halsband und mit der anderen das Kricketschlagholz. »Du bleibst direkt neben mir, hörst du. Bei Fuß!«
Als wir die knapp hundert Meter zu dem anderen Auto zurücklegten, ging auf einmal die Fahrertür auf, und die Person im Wagen schien um sich zu schlagen. Person? Oder doch Personen? Das ganze Fahrzeug konnte voller Drogenabhängiger oder Krimineller sein. Ich konnte nichts erkennen, es war zu dunkel, und packte Merlins Halsband fester. Er zog mich zum Auto - zweifellos war er ganz wild darauf, zu seiner Beute zu gelangen, um sie abzulecken. Der Mann schlug weiter mit den Armen um sich. Vielleicht hatte er gerade einen Herzinfarkt, dachte ich.
Lieber Himmel, hoffentlich nicht. Ich ging ein bisschen näher heran. So nahe, dass ich erleichtert erkennen konnte, dass der Fahrer grunzend und fluchend mit seinem Gurt kämpfte. Ich trat noch einen Schritt näher und hörte: »Verdammtes Ding! Mist ... Willst du wohl ... Himmel!« Dann schoss ein Ellbogen heraus, ein Bein, dann noch eins, und schließlich stieg der Fahrer aus.
Ein Mann. Hilfe! Ich hatte schreckliche Angst. Was jetzt? Sollte ich den Hund auf ihn loslassen? Wegrennen? Mich mitten auf die Straße stellen und schreien? Weglaufen kam mir albern vor - ich hatte noch nicht einmal meine Turnschuhe zugeschnürt. Schreien war zwecklos. Wer sollte mich hier schon hören? Also ließ ich Merlins Halsband los und umklammerte den Kricketschläger, bereit zuzuschlagen.
Der Mann, wesentlich größer und kräftiger als ich, kam auf mich zu und sagte: »Bitte! Alles okay! Keine Panik!« Merlin hüpfte übermütig um ihn herum - wahrscheinlich hoffte er, dass der Fremde ein Stöckchen werfen würde.
»Keine Panik?«, schrie ich. »Was glauben Sie denn, was passiert ist? Sie hätten mich umbringen können!«
Vorsichtig blieb er stehen. »Ich weiß. Es tut mir so leid! Geht es Ihnen gut?«
Was nun? Was tut man, wenn man mitten in der Nacht mitten auf der Landstraße steht, und der Mann, der einen gerade von der Straße abgedrängt und beinahe umgebracht hat, fragt: »Geht es Ihnen gut?« Und du trägst nur einen lächerlichen Schlafanzug und eine schwarze Strickjacke, und dein Hund glaubt, er spiele in einer TV-Familienserie mit! Was tut man da? Ich konnte hören, wie Merlins Schwanz enthusiastisch gegen das Bein des Mannes schlug. Der stand einfach nur da und wartete auf meine Antwort.
Ich packte den Schläger fester. »Natürlich geht es mir gut«, giftete ich. »Wenn es nicht so wäre, stünde ich ja wohl kaum hier, oder?«
»Nun, das ist schon mal eine Erleichterung. Aber Ihr Auto.« Er blickte über meine Schulter. »Ist mit Ihrem Auto alles in Ordnung? Es scheint von der Straße abgekommen zu sein.«
»Natürlich ist es von der Straße abgekommen. Sie sind direkt auf mich zugefahren. Merlin! Bei Fuß! Was um alles in der Welt haben Sie sich dabei gedacht?«
Der Mann, der aus der Nähe noch größer und kräftiger wirkte, trat einen Schritt näher. Ich konnte ihn jetzt besser sehen.
»Ich weiß nicht«, sagte er, steckte seine Autoschlüssel in die Tasche und hob entschuldigend die Hände. »Ich habe mich verfahren. Vor einer halben Stunde bin ich falsch abgebogen, und seitdem fahre ich die ganze Zeit im Kreis. Du liebe Güte, das ist das reinste Labyrinth hier. Keine Schilder. Keine Ampeln ... « Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich bin wahrscheinlich einfach viel zu müde, und ich habe vergessen, wo ich bin. Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Es tut mir so leid. Gott sei Dank ist Ihnen wenigstens nichts passiert. Soll ich mir Ihr Auto ansehen?« Nervös musterte er den Kricketschläger. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?« Sein Akzent war seltsam. Ich konnte ihn nicht ganz einordnen. Von hier stammte er jedenfalls nicht. Merlin leckte ihm die Hand.
»Ja, ich bin okay«, sagte ich und ließ den Schläger eine Spur sinken. Meine Panik ließ langsam nach. Er sah eigentlich nicht so aus, als wolle er mich töten. Außerdem hatte ich sowieso keine andere Wahl. »Nein, eigentlich bin ich nicht okay. Ich stecke fest, das heißt, mein Auto steckt fest. Im Schlamm. Also, es wäre nett, wenn Sie nachschauen könnten.«
»Ja, sofort«, sagte er. Er nickte und ging zu meinem Auto, wobei er einen großen Bogen um den Schläger machte.
Okay. Er wollte mich also nicht umbringen, aber besonders vielversprechend sah das alles immer noch nicht aus. Der Graben war tief und breit und fiel zu einem Bach oder einem kleinen Rinnsal hin ab. Um diese Jahreszeit war er üppig mit Gras, Wiesenkerbel und Stechwinde überwuchert. Das sah zwar sehr hübsch aus, erschien aber denkbar ungeeignet für ein zwei Tonnen schweres Auto.
»Hm«, sagte er stirnrunzelnd, als ich neben ihn in das nasse Gras trat. Mücken stiegen auf, und die Luft war von vielerlei Düften erfüllt. In den letzten Tagen hatte es viel geregnet, der Boden unter meinen Füßen fühlte sich nass und schlammig an. Ich bückte mich, um meine Sneakers zuzuschnüren, damit keine Schnecke oder Spinne hineinkroch. Seine Lippen zuckten amüsiert.
»Wollen Sie nicht lieber einsteigen?«, schlug er vor. »Sie müssen ja halb erfroren sein.«
Ich schnaubte und zog meine Strickjacke enger um mich, stieg aber bereitwillig ins Auto.
Er ging auf die andere Seite, wobei er seine Ärmel hochkrempelte. Rehbraune Wildlederjacke. Helle Jeans. Groß, bestimmt eins fünfundachtzig. Steingraues Hemd. Er hockte sich hin. Dunkle Haare. Wellig, ziemlich kurz geschnitten. Eckiges Kinn. Soll ich mir das aufschreiben? Er stand wieder auf. Geistesabwesend streichelte er Merlins Kopf. Ein breites Uhrenarmband aus Metall glänzte an seinem Handgelenk. Dann trat er wieder ans Fenster. Ende dreißig. Anfang vierzig. Nicht betrunken. Nicht verwirrt. Ein Irrer? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Abgesehen von seiner Fahrweise vielleicht.
Ich ließ das Fenster herunter.
»Ja«, sagte er. »Es ist das Rad auf der anderen Seite, das die Probleme macht. Der Boden da ist ziemlich aufgeweicht.« Er roch nicht nach Alkohol. Höchstens nach Aftershave. »Der Reifen steckt ganz schön tief drin. Wollen Sie mal zur Seite rutschen, damit ich versuchen kann, ob ich den Wagen herauskriege?«
Sollte ich ihn ans Steuer lassen? Bestand nicht die Gefahr, dass er mit mir davonbrauste und mich vergewaltigte oder sogar umbrachte? Und dann auch noch Merlin abschlachtete? Nein, ganz bestimmt nicht. Sein Hemd gehörte zu einer Marke der gehobenen Freizeitkleidung.
»Nein, nein«, sagte ich. »Ich mache es schon.«
»Okay, versuchen Sie es«, sagte er. Er trat zurück, als ich den Motor wieder anließ. Ich legte den Gang ein und löste die Handbremse. Der Wagen machte einen Satz, und der Reifen drehte durch. Schlammbrocken flogen durch die Gegend. Das Auto bewegte sich keinen Millimeter.
Sekunden später stand er wieder an der Scheibe. Seine Miene war grimmig, und seine Lederjacke sah noch schlimmer aus, wie eine postmoderne Kunstinstallation. Er schien es allerdings nicht zu bemerken. »Das geht nicht«, sagte er. »Der Boden ist wirklich zu sumpfig, und wenn die Räder durchdrehen, wird es nur noch schlimmer. Wir brauchen einen festen Untergrund. Ich sehe mal zu, was ich finde.«
Untergrund? Ja, klar, damit die Reifen greifen konnten. Er sprang über den Bach und verschwand im Dickicht. Nervös schaute ich auf die Uhr. Zwanzig nach eins. Es war über vierzig Minuten her, seit Kate mich angerufen hatte. Sie würde sich Sorgen machen. Und wenn sie sich zu viele Sorgen machte, riefe sie zu Hause an. Und Jonathan, falls er vom Klingeln des Telefons überhaupt wach wird, machte sich auch Sorgen. Der Mann und auch Merlin waren nicht mehr zu sehen. Wo waren sie hingegangen? Ausgewandert?
Kurz darauf tauchte er mit Zweigen, Ästen und Gott weiß was sonst noch alles, beladen wieder auf. Er sah aus wie ein Fallensteller in der Wildnis. Merlin, der als Pointer eigentlich für die Fasanenjagd gezüchtet worden war, trottete stolz neben ihm her, einen Ast im Maul. Na, der amüsierte sich prächtig. Sein Schwanz - wir hatten ihn nie kupieren lassen - ging hin und her wie ein Scheibenwischer, als der Mann sich hinhockte, um die Zweige und das Laub unter den Reifen zu schieben. Ich blieb mit meinem Schlafanzug und meiner Strickjacke im Auto sitzen und überlegte, ob ich nicht vielleicht doch träumte.
»Okay«, sagte er schließlich. »Das müsste gehen. Versuchen Sie es noch einmal? Ich gehe nach hinten und schiebe.«
Er kam mir mittlerweile wie der gute Samariter vor, und insgeheim tat es mir schon leid, dass ich ihm solche Unannehmlichkeiten bereitete. Erneut startete ich den Motor, und die Reifen drehten durch, während er von hinten schob.
»Boah«, rief er von hinten. Ich nahm den Fuß vom Gaspedal.
»Das hat keinen Zweck«, sagte er, als er wieder an der Fahrerseite stand. »Das Zeug ist sofort klatschnass geworden. Es wird auf der Stelle zerdrückt. Und ich bin nicht stark genug, um dem Wagen genug Schwung zu geben.«
»Soll ich vielleicht auch anschieben?«
Er warf mir einen Blick von der Seite zu und grinste. »Äh, eher nicht, es sei denn, der Hund hat einen Führerschein.«
»Nein, nein«, sagte ich. »Sollten wir nicht einfach die Handbremse lösen und ein bisschen schieben, ohne dass der Motor läuft?« Allerdings meinte ich das nicht ernst. Ein Auto dieser Größe? In einem Loch? Einen Hügel hinauf? Er und ich schwaches kleines Etwas? Es war ein lächerlicher Vorschlag.
»Na ja, vielleicht«, erwiderte er höflich. Aber dann fuhr er fort: »Ah, jetzt habe ich eine Idee. Ich hole die Gummimatten aus dem Auto. Das könnte gehen.«
»Gummimatten?«
»Ja, genau. Ich hole sie. Warten Sie hier.«
Ja, klar. Als ob ich irgendwohin verschwinden könnte. Ich blickte wieder auf die Uhr. Fast halb zwei. Und es wurde langsam auch kälter. Meine Turnschuhe waren durchnässt, und meine Schlafanzughose klebte wie nasse Tapete an meinen Schienbeinen. Im Seitenspiegel sah ich, wie er mit den Gummimatten aus seinem Auto zurückkam. Er ging sofort zu dem festgefahrenen Reifen und hockte sich hin, um sie davor zu schieben. Sein Profil, das im hellen Licht der Scheinwerfer gut zu erkennen war, war kantig und männlich. Ein Profil, das man wohl als »heldenhaft« bezeichnen könnte. Ich fröstelte. Das war definitiv kein Pyjama-Wetter.
»So, fertig«, rief er und öffnete die Beifahrertür. Er drückte mit der Schulter gegen den Rahmen. »Versuchen Sie es noch einmal? Schön langsam dieses Mal, in Ordnung? So langsam, wie es geht.« Ich ließ den Motor an und senkte meinen Fuß vorsichtig aufs Gaspedal. Das Rad drehte sich kurz, und ich trat sofort auf die Bremse.
»Ist schon okay«, sagte er und beugte sich vor, um nachzuschauen. »Das ist nur der Schlamm auf dem Reifen.« Am kleinen Finger der Hand, die er um den Türrahmen gelegt hatte, schimmerte ein breiter goldener Ring. »Also gut«, sagte er. »Noch mal. Sie haben es fast geschafft.«
Quälend langsam drückte ich das Gaspedal herunter und wurde schließlich dadurch belohnt, dass sich der Wagen nach vorne bewegte. Millimeter für Millimeter brachte ich alle vier Räder wieder auf die Straße. Er schlug die Beifahrertür zu und trat an meine Seite des Wagens.
»So, jetzt können Sie weiterfahren«, sagte er. Wie alle Männer wirkte er äußerst zufrieden mit sich, weil er über die Katastrophe triumphiert hatte. Seine Hände waren nass und voller Erde, seine Jacke und sein Hemd waren mit Gras- und Schmutzflecken übersät. Er sah überhaupt nicht mehr bedrohlich aus. Eine Gefahr stellte er nur noch für den Filter einer Waschmaschine dar.
»Ach, du liebe Güte«, sagte ich. »Sie sind ja vielleicht schmutzig. Wollen Sie ein feuchtes Tuch, damit Sie sich die Hände ein bisschen säubern können?«
Er lächelte mich an und enthüllte dabei strahlend weiße Zähne. Zähne fallen mir immer auf, da Jonathan Zahnarzt ist. Und Augen natürlich auch. Seine waren besonders schön, selbst in der Dunkelheit. Vergissmeinnichtblau, mit langen dichten Wimpern. »Nein, nein, kein Problem«, sagte er und rieb seine Handflächen an seiner ebenfalls schmutzigen Jeans ab. »Es geht schon, wirklich. Hören Sie, wollen Sie sich meine Nummer aufschreiben? Ich glaube zwar nicht, dass an Ihrem Auto etwas kaputt ist, aber vielleicht verbergen sich unter all dem Schlamm ein oder zwei Kratzer. Das kann man im Dunkeln schlecht sehen.« Kopfschüttelnd blickte er mich an. »Meine Güte, es tut mir echt leid.« So sah er auch aus, richtig entsetzt. Als ob ihm plötzlich aufgegangen wäre, was er da Schreckliches angerichtet hatte. Ich fragte mich, ob er vielleicht ein wenig unter Schock stand.
»Na«, erwiderte ich und lächelte ihn beruhigend an. »Es ist ja nichts Schlimmes passiert. Aber Sie haben recht. Ich schreibe mir lieber Ihre Nummer auf.«
Er nickte. »Ich hole schnell meine Versicherungskarte. Ich bin gleich wieder da.«
Erneut ging er zu seinem Auto. Merlin lag gähnend auf der Rückbank. Der zunehmende Mond schien milde auf uns herab. Durch die Bäume in der Ferne sah ich Beteigeuze im Sternbild Orion schimmern. Woher mochte er kommen? Und wohin wollte er? Ich glaube, dass ich über die Zufälligkeit von Begegnungen im Leben nachdachte und darüber, wie seltsam es war, dass wir uns vielleicht nie wiedersehen würden.
»So«, sagte er und reichte mir die oberste Hälfte eines Mietwagenvertrags. Er hatte eine steile, zackige Schrift. Ein Mietwagen. Offenbar war er nicht von hier, genau wie ich gedacht hatte. »Das ist mein Name.« Er zeigte darauf. »Und das ist meine Handynummer. Und diese Nummer ist wohl die Vertragsnummer der Mietwagenfirma. Wenn es ein Versicherungsfall ist, kann sie Ihnen sicher weiterhelfen. Geben Sie mir Ihre Nummer?«
Jonathan hatte etwas dagegen, wenn ich unsere Festnetznummer herausgab, deshalb gab ich ihm meine Handynummer. »Gut«, sagte er. »Wenn es Probleme gibt, rufen Sie mich einfach an.« Er streckte seine Hand durchs Fenster. Ich schüttelte sie. Sie fühlte sich stark und kühl an.
»Nick«, sagte er. »Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, wie leid mir alles tut.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Aber es war mir ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben.«
»Sally«, sagte ich. Der Blick, mit dem er mich musterte, verwirrte mich ein wenig. »Ja«, fuhr ich fort und erwiderte seinen Blick eine Spur zu lang. »Es war nett, Sie kennenzulernen.«
»Also, wie gesagt, wenn es ein Problem gibt, rufen Sie an«, sagte er.
»Okay«, erwiderte ich. »Das mache ich. Vielen Dank.«
Und dann war er weg. Erst als ich fast an Amandas Haus angelangt war, fiel mir ein, dass ich ihm gar nicht erklärt hatte, in welche Richtung er fahren musste. Er wusste den Weg immer noch nicht.
Das ging mir durch den Kopf. Nicht allzu sehr, aber immerhin doch so, dass ich mir vielleicht etwas dabei hätte denken müssen. Aber das wollte ich zu diesem Zeitpunkt natürlich gar nicht. Denn da konnte ich ja noch nicht zurückblicken. Wenn ich es gekonnt hätte, wäre mir klar geworden, was jetzt offensichtlich zu sein scheint.
Wie es aussieht, hatte ich mich in dieser sternenklaren Nacht auf meine Weise auch verirrt.
...
Übersetzung: Margarethe van Pée
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Es ist fünf Uhr siebenundzwanzig am Morgen. In zwölftausend Meter Höhe über dem Nordatlantik fliegt ein Flugzeug schnell und lautlos auf Gatwick Airport zu. An Bord sitzt Nick Brown mit steifem Genick unter einer kratzigen roten Decke. Die meiste Zeit dieser Flugnacht hat er mit erfolglosen Einschlafversuchen verbracht. Seine langen Beine drücken gegen die harte Rückenlehne des Sitzes vor ihm, sein dumpf pochender Kopf lehnt an der cremefarbenen Kabinenverkleidung. Eigentlich sollte er auf einem Gangplatz in der Business Class sitzen. Aber in der letzten Zeit kommt es Nick so vor, als habe sich alles im Leben gegen ihn verschworen: Das Flugzeug, das er eigentlich hätte nehmen sollen, blieb in L.A. auf dem Flughafen, und im Ersatzflugzeug, in dem er gerade noch einen freien Sitz ergattert hat, war nur noch ein Fensterplatz in den hinteren Reihen frei. So musste er zehn quälende Stunden mit einem kleinen Jungen namens Luke und seiner Schwester Georgina verbringen. Und gelegentlich mit ihrer Mutter und einem nach Verdauungsendprodukten riechenden Baby, die eine Reihe vor ihm sitzen, wenn sie sitzen.
Das Flugzeug dreht nach Osten ab. Der Kapitän verkündet den Beginn des Sinkflugs, und Nick schiebt die Decke zurück. Plötzlich überfällt ihn die Müdigkeit mit unwiderstehlicher Macht. Er leidet unter chronischer Schlaflosigkeit, und es ist symptomatisch, dass jetzt auf einmal seine Augenlider schwer werden und einfach zufallen. In der langen Schlange bei der Ankunft wird er dastehen wie in Trance. Der kleine Junge neben ihm hat einen Fuß in seinem Schritt und umklammert mit einem klebrigen Händchen seine neue Seidenkrawatte. Er würde ihn gern wegschieben, aber er will ihn nicht wecken. Er sieht genauso aus wie sein eigener Sohn in diesem Alter.
In etwa zwanzig Minuten wird das Flugzeug landen. Er hat nicht nur nicht geschlafen, er hat auch nichts gegessen, und sein Magen hebt sich, als die Nase des Fliegers sich senkt. Mit kalten Füßen tastet er nach seinen Schuhen, zieht die warme Schließe des Gurts unter sich hervor und schnallt sich an. Er reibt sich die Augen, blickt auf die Landschaft unter sich. Weit unter ihm graue Klumpen von Dächern und Gärten. Ab und zu ein Swimmingpool, Garagen und helle, kiesbedeckte Einfahrten. Die auf ländlich getrimmte Landschaft in diesem Teil von Sussex, eine vertraute und doch fremde Szenerie. Sie sinken weiter. Jetzt kann er Autoscheinwerfer erkennen. Blumenbeete in den Gärten. Vorhänge an den Fenstern. Er reckt die Arme und betrachtet die Häuser unter sich. Es ist fünf Uhr zweiundfünfzig, am Horizont geht die Sonne auf. Er kann deutlich erkennen, wie jemand da unten eine Lampe ausschaltet.
Während das Flugzeug den Norden von Sussex überfliegt und Nick Brown zu seinem frisch bezogenen Bett im Flughafenhotel bringt, schaltet Sally Matthews, die in T-Shirt und Höschen ein wenig fröstelt, die Lampe aus und tapst auf bloßen Füßen wieder ins Bett. Seit drei Uhr dreißig hat sie mit weit offenen Augen auf dem schmalen Bett im Gästezimmer gelegen, nun muss sie wieder ins Ehebett kriechen, weil in achtundsiebzig Minuten ihr Wecker klingelt. Bis dahin wird sie tief und fest schlafen.
»Chrrrrrr«, macht ihr Mann Jonathan, als er ausatmet. Er hat sich in die Steppdecke gewickelt, und das verbleibende Stück reicht kaum, um ihr Bein zu bedecken. Wenn sie sich an ihren warmen Mann kuscheln würde, hätte sie reichlich Decke, aber das kann sie nicht, weil sie ihn dann aufwecken würde. Und wenn er wach würde, hätte er schlechte Laune. Und wenn er einmal schlechte Laune hätte, bliebe das den ganzen Tag über so. Also liegt sie am Rand der Matratze, atmet ruhig und versucht sich nicht zu viel zu bewegen.
Sie liegt da und schaut aus dem Fenster. Ihr Schlafzimmer, ein kühler, weitläufiger Raum mit schweren alten Kiefernholz-möbeln, besitzt ein großes Panoramafenster. Sally hat zwar nicht - wie beim Dachfenster im Gästezimmer - den gesamten Himmel über sich, aber von ihrem Platz im Ehebett aus kann sie einen großen Teil des Nachthimmels sehen. Wolkenlos, schwarz und voller Sterne. Sterne, Planeten und vermutlich auch Kometen. Auch jetzt bewegt sich dort oben etwas. Wie in den meisten Nächten wünscht sie sich, dass es eine Sternschnuppe sein möge. Aber heute Nacht geht ihr Wunsch nicht in Erfüllung. Ein rotes Licht ist zu sehen. Ein Flugzeug, das pfeilgerade am Himmel entlangzieht. Wahrscheinlich ein Jumbo, denkt sie. Auf dem Weg nach Gatwick.
Er zwinkert ihr zu, als er vorüberfliegt.
1
Der Himmel in dieser Freitagnacht war sternenklar. Ein Himmel, so dicht besetzt mit funkelnden Himmelskörpern, dass sogar die nüchternsten, fantasielosesten Menschen staunend den Atem anhielten angesichts dieses Wunders und der atemberaubenden Schönheit des Universums.
Und ich, Sally Matthews, einundvierzig, sehr müde, leicht feucht und mürrisch, fuhr über die Landstraßen in Sussex, um meine geliebte Tochter aus dem Haus ihrer Freundin abzuholen. Ich war zwar ein Sternengucker, aber ein Himmelskörper war ich nicht. Und ich hielt definitiv nicht inne, um den Himmel zu bewundern.
Ich weiß noch, dass ich sehr müde war. Müde und gereizt, da ich unsanft bei einem dieser Aromatherapie-Bäder im Kerzenschein unterbrochen worden war, von denen in den einschlägigen Zeitschriften geschwärmt wird. Und so fuhr ich über Land - mit klatschnassen Haaren, umweht von einem Hauch Kerzenduft und den Überresten einer Passionsfruchtmaske im Gesicht.
Ich hatte Jonathans Auto genommen. Bei meinem war nicht mehr viel Benzin im Tank, und - ja, okay, ich gebe es zu - er mochte es nicht, wenn ich damit fuhr. Es war ein Akt trotziger Wut, weil wir beide gerade einen Streit gehabt hatten. Die Art von Streit, die man eben hat, wenn die halbwüchsige Tochter mitten in der Nacht anruft und dich anfleht, sie bitte, bitte, bitte, bitte abzuholen. Und zwar sofort. Sie kennen das sicher.
»Was denkt sie sich dabei, uns mitten in der Nacht anzurufen?«, hatte Jonathan gesagt.
»Ich soll sie abholen.«
»Was? Jetzt? Um diese Uhrzeit?«
»Um diese Uhrzeit. Sie hat sich mit Amanda gestritten und möchte nach Hause.«
»Das geht aber nicht. Ich lasse nicht zu, dass du um diese Uhrzeit unterwegs bist.«
»Dann musst du eben fahren.«
»Ich? Ich habe fast eine ganze Flasche Wein getrunken.« »Nun, einer von uns muss aber fahren. Ich habe ihr gesagt, ich komme.«
»Nun, dann ruf sie an und mach es wieder rückgängig. Sie ist fast siebzehn, du liebe Güte. Sie kann da bleiben und es aussitzen.«
»Aber ich kann sie nicht einfach im Stich lassen. Sie klang außer sich.«
»Übertreibst du nicht ein bisschen? Sie wird sich schon wieder beruhigen.«
»Aber ich kann nicht ... «
»Doch, du kannst. Warum hast du überhaupt Ja gesagt? Sie muss lernen, dass sie nicht erwarten kann ... «
»Ich weiß, ich weiß, ich weiß! Aber sie klang wirklich außer sich, und ich möchte nicht ... «
»Sie weiß schon, mit wem sie es machen kann. Merkst du eigentlich nicht ... «
»Jonathan, machst du dir denn keine Sorgen? Ist es dir egal, dass ...«
»Ach, fang doch nicht damit an! Dann fahr eben. Fahr! Tu, was du willst!«
Einer dieser Streits.
Also hatte ich mir rasch einen Pyjama und alte Turnschuhe angezogen, Kates schreckliche schwarze Strickjacke übergeworfen und war nach draußen marschiert, wütend, weil Jonathan gemütlich in seinem Sessel weiterschnarchen konnte.
Die Straße war breit, leer und dunkel, so wie Landstraßen nachts eben sind. Hohe Bäume, die um diese Jahreszeit volles Laub tragen, säumten sie. Ihre Kronen bildeten ein dichtes schwarzes Muster vor dem tintenblauen Himmel. Ich fuhr am Gartencenter vorbei, an der Bude, in der diese schrecklichen Pfannkuchen verkauft werden, und an Mr Chips altmodischer Schaukelpferdfabrik, bevor ich auf die Straße einbog, die die wirkliche Welt mit dem Dörfchen im Zuckerbäckerstil verbindet, in dem Amandas Familie lebte. Über die Jahre bin ich diese Straße viele Male gefahren. Kate und Amanda sind schon ihr ganzes Leben lang befreundet. Hm. Ja. Zumindest bis heute.
Ich hatte natürlich den Hund mitgenommen. Wenn ich schon mitten in der Nacht über Land fahren musste, dann war es sinnvoll, einen besseren Schutz im Auto zu haben als Jonathans Kricketausrüstung.
Ich fuhr also die Straße entlang und murmelte Dinge vor mich hin, die Mütter so murmeln, wenn sie wissen, dass sie aufgrund ihrer Hormone Sklaven ihrer Kinder sind. Ab und zu durchzuckte mich der vage Wunsch, gegen meinen widerspenstigen Ehemann aufzubegehren. Und ich sah es nicht kommen. Ich sah das Auto einfach nicht kommen. Auch wenn das rückblickend merkwürdig klingt, genauso war es.
Ich war um eine Kurve gefahren, die Bäume waren einer Hecke gewichen, und die Straße schien direkt zum Horizont anzusteigen. Deshalb hielt ich das Licht oben auf dem Hügel auch zuerst für einen Stern. Blinzelnd blickte ich noch einmal hin. Nein, es waren mehrere Lichter. Ein entgegenkommendes Auto. Ich schaltete auf Abblendlicht und erwartete, dass auch das andere Auto das Fernlicht ausschaltete. Aber das tat es nicht, im Gegenteil, die Scheinwerfer wurden heller. Weißer. Die feuchten Haare in meinem Nacken begannen zu prickeln. Was machte der Fahrer da? Ich konnte die Straße nicht mehr erkennen - die Scheinwerfer, die rasch näher kamen, blendeten alles aus und machten mich so gut wie blind.
Und in diesem Augenblick traf es mich mit erschreckender Klarheit. Ich würde sterben. In einem karierten Pyjama und einer schmutzigen schwarzen Strickjacke. Denn das Auto hinter den viel zu hellen Scheinwerfern befand sich auf meiner Straßenseite.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich tat. Instinktiv riss ich das Steuer herum. Es quietschte, der Wagen schleuderte, aber dann griff das ABS, und ich kam zum Stehen, mitten im üppigen Strauchwerk des Grabens neben der Straße. Die Scheinwerfer verschwanden, weil sich der Wagen einmal um sich selbst gedreht hatte, und meine Fahrspur befand sich jetzt rechts von mir. Die Rücklichter brannten sich rot in meine Netzhaut. Merlin, der ebenfalls herumgeschleudert worden war, aber offensichtlich seine Nahtod-Erfahrung unbeschadet überstanden hatte, kratzte sich hinter dem Ohr.
»Jesus«, krächzte ich. »O mein Gott! Allmächtiger!« Der Motor war aus, und als ich den Schlüssel im Zündschloss drehte, sprang er zwar an, aber ich bekam das Auto nicht ins Rollen, so sehr ich es auch versuchte. Ich hörte, wie die Räder durchdrehten, doch das Auto fuhr einfach nicht los. Meine Hände und meine Beine zitterten unkontrolliert. Ich blickte den Hügel hinunter. Nichts. Keine Bewegung. Kein Geräusch.
Was sollte ich tun? Ich verrenkte mir den Hals, um etwas zu sehen, aber nichts deutete auf einen Autounfall hin. Sollte ich jemanden anrufen? Aussteigen und nachgucken? Im Schlafanzug? Allein? Nein, da war es schon besser, jemanden anzurufen. Die Polizei. Wer wusste schon, was für ein Irrer sich da draußen herumtrieb. Höchstwahrscheinlich ein Betrunkener. Ja, ich sollte auf keinen Fall aussteigen. Das wäre sehr dumm! Ich sollte die Polizei anrufen, im Auto bleiben und die Türen verriegeln. Und dann in aller Ruhe abwarten, bis die Polizei da war.
Mit zitternden Händen löste ich meinen Gurt und kramte im Dunkeln in meiner Tasche nach dem Handy. Die Polizei anrufen. Das war das Beste. Ich war völlig zitterig und durchgedreht und konnte es nicht finden. Wo war das verdammte Ding? Ich zerrte meine Tasche auf den Schoß. Ich war ganz sicher, dass es darin war. Zu Hause war es noch darin gewesen. Ich blickte noch einmal hinter mich. Nichts. Keine Bewegung. Kein Geräusch. Ärgerlich warf ich die Tasche wieder auf den Beifahrersitz. Kein Handy. Was sollte ich nur machen? O Gott. Was sollte ich bloß machen, ohne Handy und mit einem Auto, das nicht fuhr? Dann durchzuckte mich ein neuer Gedanke, der meine Panik noch vergrößerte. Wenn nun der andere Fahrer verletzt war? Vielleicht sogar tot? Igitt! Wenn es überhaupt kein Irrer war? Vielleicht ein alter Mensch? Vielleicht ein Siebzigjähriger, der einen Herzinfarkt gehabt hatte. Oder einen epileptischen Anfall? Oder einen Schlaganfall? O Gott.
Ich sah schon die Schlagzeile vor mir: »Herzlose Frau lässt verletzten Rentner sterbend zurück.« - »Merlin«, sagte ich entschlossen. »Wir müssen aussteigen. Wir müssen aussteigen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Und benimm dich gefährlich, hörst du? Nur für den Fall der Fälle. Wild und gefährlich, okay?«
Merlin spitzte die Ohren und legte den Kopf schräg. »Mach grrr. Okay? Grrr! Schön laut. Zeig deine Zähne.«
Die Nachtluft fühlte sich an meinen nackten Beinen kühl und feucht an. Merlin freute sich über die Entwicklung dieses unerwarteten Abenteuers. Er sprang heraus und begann eifrig zu schnüffeln. Wie sehr ich ihn um sein Selbstvertrauen beneidete. Er machte sich überhaupt keine Sorgen. Es war mitten in der Nacht. Ja, und? Es war nur ein bisschen dunkler wie tagsüber. Ach, wenn ich doch ein dummer Hund sein könnte! Ich war diese Strecke schon tausendmal gefahren, aber im Dunkeln kam sie mir plötzlich völlig unbekannt vor. Düster. Einsam. Finster.
Beängstigend. Ich sah schon eine weitere Schlagzeile vor mir: »Hilflose Frau in fragwürdiger Nachtwäsche auf Landstraße überfallen und vergewaltigt.« Eine Waffe. Ich brauchte eine Waffe. In Jonathans Wagen musste sein Kricketschlagholz liegen. Damit konnte ich mich wehren. Ich rannte um den Wagen herum und holte es aus dem Kofferraum.
»Genau«, zischte ich, packte mit einer Hand Merlins Halsband und mit der anderen das Kricketschlagholz. »Du bleibst direkt neben mir, hörst du. Bei Fuß!«
Als wir die knapp hundert Meter zu dem anderen Auto zurücklegten, ging auf einmal die Fahrertür auf, und die Person im Wagen schien um sich zu schlagen. Person? Oder doch Personen? Das ganze Fahrzeug konnte voller Drogenabhängiger oder Krimineller sein. Ich konnte nichts erkennen, es war zu dunkel, und packte Merlins Halsband fester. Er zog mich zum Auto - zweifellos war er ganz wild darauf, zu seiner Beute zu gelangen, um sie abzulecken. Der Mann schlug weiter mit den Armen um sich. Vielleicht hatte er gerade einen Herzinfarkt, dachte ich.
Lieber Himmel, hoffentlich nicht. Ich ging ein bisschen näher heran. So nahe, dass ich erleichtert erkennen konnte, dass der Fahrer grunzend und fluchend mit seinem Gurt kämpfte. Ich trat noch einen Schritt näher und hörte: »Verdammtes Ding! Mist ... Willst du wohl ... Himmel!« Dann schoss ein Ellbogen heraus, ein Bein, dann noch eins, und schließlich stieg der Fahrer aus.
Ein Mann. Hilfe! Ich hatte schreckliche Angst. Was jetzt? Sollte ich den Hund auf ihn loslassen? Wegrennen? Mich mitten auf die Straße stellen und schreien? Weglaufen kam mir albern vor - ich hatte noch nicht einmal meine Turnschuhe zugeschnürt. Schreien war zwecklos. Wer sollte mich hier schon hören? Also ließ ich Merlins Halsband los und umklammerte den Kricketschläger, bereit zuzuschlagen.
Der Mann, wesentlich größer und kräftiger als ich, kam auf mich zu und sagte: »Bitte! Alles okay! Keine Panik!« Merlin hüpfte übermütig um ihn herum - wahrscheinlich hoffte er, dass der Fremde ein Stöckchen werfen würde.
»Keine Panik?«, schrie ich. »Was glauben Sie denn, was passiert ist? Sie hätten mich umbringen können!«
Vorsichtig blieb er stehen. »Ich weiß. Es tut mir so leid! Geht es Ihnen gut?«
Was nun? Was tut man, wenn man mitten in der Nacht mitten auf der Landstraße steht, und der Mann, der einen gerade von der Straße abgedrängt und beinahe umgebracht hat, fragt: »Geht es Ihnen gut?« Und du trägst nur einen lächerlichen Schlafanzug und eine schwarze Strickjacke, und dein Hund glaubt, er spiele in einer TV-Familienserie mit! Was tut man da? Ich konnte hören, wie Merlins Schwanz enthusiastisch gegen das Bein des Mannes schlug. Der stand einfach nur da und wartete auf meine Antwort.
Ich packte den Schläger fester. »Natürlich geht es mir gut«, giftete ich. »Wenn es nicht so wäre, stünde ich ja wohl kaum hier, oder?«
»Nun, das ist schon mal eine Erleichterung. Aber Ihr Auto.« Er blickte über meine Schulter. »Ist mit Ihrem Auto alles in Ordnung? Es scheint von der Straße abgekommen zu sein.«
»Natürlich ist es von der Straße abgekommen. Sie sind direkt auf mich zugefahren. Merlin! Bei Fuß! Was um alles in der Welt haben Sie sich dabei gedacht?«
Der Mann, der aus der Nähe noch größer und kräftiger wirkte, trat einen Schritt näher. Ich konnte ihn jetzt besser sehen.
»Ich weiß nicht«, sagte er, steckte seine Autoschlüssel in die Tasche und hob entschuldigend die Hände. »Ich habe mich verfahren. Vor einer halben Stunde bin ich falsch abgebogen, und seitdem fahre ich die ganze Zeit im Kreis. Du liebe Güte, das ist das reinste Labyrinth hier. Keine Schilder. Keine Ampeln ... « Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich bin wahrscheinlich einfach viel zu müde, und ich habe vergessen, wo ich bin. Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Es tut mir so leid. Gott sei Dank ist Ihnen wenigstens nichts passiert. Soll ich mir Ihr Auto ansehen?« Nervös musterte er den Kricketschläger. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?« Sein Akzent war seltsam. Ich konnte ihn nicht ganz einordnen. Von hier stammte er jedenfalls nicht. Merlin leckte ihm die Hand.
»Ja, ich bin okay«, sagte ich und ließ den Schläger eine Spur sinken. Meine Panik ließ langsam nach. Er sah eigentlich nicht so aus, als wolle er mich töten. Außerdem hatte ich sowieso keine andere Wahl. »Nein, eigentlich bin ich nicht okay. Ich stecke fest, das heißt, mein Auto steckt fest. Im Schlamm. Also, es wäre nett, wenn Sie nachschauen könnten.«
»Ja, sofort«, sagte er. Er nickte und ging zu meinem Auto, wobei er einen großen Bogen um den Schläger machte.
Okay. Er wollte mich also nicht umbringen, aber besonders vielversprechend sah das alles immer noch nicht aus. Der Graben war tief und breit und fiel zu einem Bach oder einem kleinen Rinnsal hin ab. Um diese Jahreszeit war er üppig mit Gras, Wiesenkerbel und Stechwinde überwuchert. Das sah zwar sehr hübsch aus, erschien aber denkbar ungeeignet für ein zwei Tonnen schweres Auto.
»Hm«, sagte er stirnrunzelnd, als ich neben ihn in das nasse Gras trat. Mücken stiegen auf, und die Luft war von vielerlei Düften erfüllt. In den letzten Tagen hatte es viel geregnet, der Boden unter meinen Füßen fühlte sich nass und schlammig an. Ich bückte mich, um meine Sneakers zuzuschnüren, damit keine Schnecke oder Spinne hineinkroch. Seine Lippen zuckten amüsiert.
»Wollen Sie nicht lieber einsteigen?«, schlug er vor. »Sie müssen ja halb erfroren sein.«
Ich schnaubte und zog meine Strickjacke enger um mich, stieg aber bereitwillig ins Auto.
Er ging auf die andere Seite, wobei er seine Ärmel hochkrempelte. Rehbraune Wildlederjacke. Helle Jeans. Groß, bestimmt eins fünfundachtzig. Steingraues Hemd. Er hockte sich hin. Dunkle Haare. Wellig, ziemlich kurz geschnitten. Eckiges Kinn. Soll ich mir das aufschreiben? Er stand wieder auf. Geistesabwesend streichelte er Merlins Kopf. Ein breites Uhrenarmband aus Metall glänzte an seinem Handgelenk. Dann trat er wieder ans Fenster. Ende dreißig. Anfang vierzig. Nicht betrunken. Nicht verwirrt. Ein Irrer? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Abgesehen von seiner Fahrweise vielleicht.
Ich ließ das Fenster herunter.
»Ja«, sagte er. »Es ist das Rad auf der anderen Seite, das die Probleme macht. Der Boden da ist ziemlich aufgeweicht.« Er roch nicht nach Alkohol. Höchstens nach Aftershave. »Der Reifen steckt ganz schön tief drin. Wollen Sie mal zur Seite rutschen, damit ich versuchen kann, ob ich den Wagen herauskriege?«
Sollte ich ihn ans Steuer lassen? Bestand nicht die Gefahr, dass er mit mir davonbrauste und mich vergewaltigte oder sogar umbrachte? Und dann auch noch Merlin abschlachtete? Nein, ganz bestimmt nicht. Sein Hemd gehörte zu einer Marke der gehobenen Freizeitkleidung.
»Nein, nein«, sagte ich. »Ich mache es schon.«
»Okay, versuchen Sie es«, sagte er. Er trat zurück, als ich den Motor wieder anließ. Ich legte den Gang ein und löste die Handbremse. Der Wagen machte einen Satz, und der Reifen drehte durch. Schlammbrocken flogen durch die Gegend. Das Auto bewegte sich keinen Millimeter.
Sekunden später stand er wieder an der Scheibe. Seine Miene war grimmig, und seine Lederjacke sah noch schlimmer aus, wie eine postmoderne Kunstinstallation. Er schien es allerdings nicht zu bemerken. »Das geht nicht«, sagte er. »Der Boden ist wirklich zu sumpfig, und wenn die Räder durchdrehen, wird es nur noch schlimmer. Wir brauchen einen festen Untergrund. Ich sehe mal zu, was ich finde.«
Untergrund? Ja, klar, damit die Reifen greifen konnten. Er sprang über den Bach und verschwand im Dickicht. Nervös schaute ich auf die Uhr. Zwanzig nach eins. Es war über vierzig Minuten her, seit Kate mich angerufen hatte. Sie würde sich Sorgen machen. Und wenn sie sich zu viele Sorgen machte, riefe sie zu Hause an. Und Jonathan, falls er vom Klingeln des Telefons überhaupt wach wird, machte sich auch Sorgen. Der Mann und auch Merlin waren nicht mehr zu sehen. Wo waren sie hingegangen? Ausgewandert?
Kurz darauf tauchte er mit Zweigen, Ästen und Gott weiß was sonst noch alles, beladen wieder auf. Er sah aus wie ein Fallensteller in der Wildnis. Merlin, der als Pointer eigentlich für die Fasanenjagd gezüchtet worden war, trottete stolz neben ihm her, einen Ast im Maul. Na, der amüsierte sich prächtig. Sein Schwanz - wir hatten ihn nie kupieren lassen - ging hin und her wie ein Scheibenwischer, als der Mann sich hinhockte, um die Zweige und das Laub unter den Reifen zu schieben. Ich blieb mit meinem Schlafanzug und meiner Strickjacke im Auto sitzen und überlegte, ob ich nicht vielleicht doch träumte.
»Okay«, sagte er schließlich. »Das müsste gehen. Versuchen Sie es noch einmal? Ich gehe nach hinten und schiebe.«
Er kam mir mittlerweile wie der gute Samariter vor, und insgeheim tat es mir schon leid, dass ich ihm solche Unannehmlichkeiten bereitete. Erneut startete ich den Motor, und die Reifen drehten durch, während er von hinten schob.
»Boah«, rief er von hinten. Ich nahm den Fuß vom Gaspedal.
»Das hat keinen Zweck«, sagte er, als er wieder an der Fahrerseite stand. »Das Zeug ist sofort klatschnass geworden. Es wird auf der Stelle zerdrückt. Und ich bin nicht stark genug, um dem Wagen genug Schwung zu geben.«
»Soll ich vielleicht auch anschieben?«
Er warf mir einen Blick von der Seite zu und grinste. »Äh, eher nicht, es sei denn, der Hund hat einen Führerschein.«
»Nein, nein«, sagte ich. »Sollten wir nicht einfach die Handbremse lösen und ein bisschen schieben, ohne dass der Motor läuft?« Allerdings meinte ich das nicht ernst. Ein Auto dieser Größe? In einem Loch? Einen Hügel hinauf? Er und ich schwaches kleines Etwas? Es war ein lächerlicher Vorschlag.
»Na ja, vielleicht«, erwiderte er höflich. Aber dann fuhr er fort: »Ah, jetzt habe ich eine Idee. Ich hole die Gummimatten aus dem Auto. Das könnte gehen.«
»Gummimatten?«
»Ja, genau. Ich hole sie. Warten Sie hier.«
Ja, klar. Als ob ich irgendwohin verschwinden könnte. Ich blickte wieder auf die Uhr. Fast halb zwei. Und es wurde langsam auch kälter. Meine Turnschuhe waren durchnässt, und meine Schlafanzughose klebte wie nasse Tapete an meinen Schienbeinen. Im Seitenspiegel sah ich, wie er mit den Gummimatten aus seinem Auto zurückkam. Er ging sofort zu dem festgefahrenen Reifen und hockte sich hin, um sie davor zu schieben. Sein Profil, das im hellen Licht der Scheinwerfer gut zu erkennen war, war kantig und männlich. Ein Profil, das man wohl als »heldenhaft« bezeichnen könnte. Ich fröstelte. Das war definitiv kein Pyjama-Wetter.
»So, fertig«, rief er und öffnete die Beifahrertür. Er drückte mit der Schulter gegen den Rahmen. »Versuchen Sie es noch einmal? Schön langsam dieses Mal, in Ordnung? So langsam, wie es geht.« Ich ließ den Motor an und senkte meinen Fuß vorsichtig aufs Gaspedal. Das Rad drehte sich kurz, und ich trat sofort auf die Bremse.
»Ist schon okay«, sagte er und beugte sich vor, um nachzuschauen. »Das ist nur der Schlamm auf dem Reifen.« Am kleinen Finger der Hand, die er um den Türrahmen gelegt hatte, schimmerte ein breiter goldener Ring. »Also gut«, sagte er. »Noch mal. Sie haben es fast geschafft.«
Quälend langsam drückte ich das Gaspedal herunter und wurde schließlich dadurch belohnt, dass sich der Wagen nach vorne bewegte. Millimeter für Millimeter brachte ich alle vier Räder wieder auf die Straße. Er schlug die Beifahrertür zu und trat an meine Seite des Wagens.
»So, jetzt können Sie weiterfahren«, sagte er. Wie alle Männer wirkte er äußerst zufrieden mit sich, weil er über die Katastrophe triumphiert hatte. Seine Hände waren nass und voller Erde, seine Jacke und sein Hemd waren mit Gras- und Schmutzflecken übersät. Er sah überhaupt nicht mehr bedrohlich aus. Eine Gefahr stellte er nur noch für den Filter einer Waschmaschine dar.
»Ach, du liebe Güte«, sagte ich. »Sie sind ja vielleicht schmutzig. Wollen Sie ein feuchtes Tuch, damit Sie sich die Hände ein bisschen säubern können?«
Er lächelte mich an und enthüllte dabei strahlend weiße Zähne. Zähne fallen mir immer auf, da Jonathan Zahnarzt ist. Und Augen natürlich auch. Seine waren besonders schön, selbst in der Dunkelheit. Vergissmeinnichtblau, mit langen dichten Wimpern. »Nein, nein, kein Problem«, sagte er und rieb seine Handflächen an seiner ebenfalls schmutzigen Jeans ab. »Es geht schon, wirklich. Hören Sie, wollen Sie sich meine Nummer aufschreiben? Ich glaube zwar nicht, dass an Ihrem Auto etwas kaputt ist, aber vielleicht verbergen sich unter all dem Schlamm ein oder zwei Kratzer. Das kann man im Dunkeln schlecht sehen.« Kopfschüttelnd blickte er mich an. »Meine Güte, es tut mir echt leid.« So sah er auch aus, richtig entsetzt. Als ob ihm plötzlich aufgegangen wäre, was er da Schreckliches angerichtet hatte. Ich fragte mich, ob er vielleicht ein wenig unter Schock stand.
»Na«, erwiderte ich und lächelte ihn beruhigend an. »Es ist ja nichts Schlimmes passiert. Aber Sie haben recht. Ich schreibe mir lieber Ihre Nummer auf.«
Er nickte. »Ich hole schnell meine Versicherungskarte. Ich bin gleich wieder da.«
Erneut ging er zu seinem Auto. Merlin lag gähnend auf der Rückbank. Der zunehmende Mond schien milde auf uns herab. Durch die Bäume in der Ferne sah ich Beteigeuze im Sternbild Orion schimmern. Woher mochte er kommen? Und wohin wollte er? Ich glaube, dass ich über die Zufälligkeit von Begegnungen im Leben nachdachte und darüber, wie seltsam es war, dass wir uns vielleicht nie wiedersehen würden.
»So«, sagte er und reichte mir die oberste Hälfte eines Mietwagenvertrags. Er hatte eine steile, zackige Schrift. Ein Mietwagen. Offenbar war er nicht von hier, genau wie ich gedacht hatte. »Das ist mein Name.« Er zeigte darauf. »Und das ist meine Handynummer. Und diese Nummer ist wohl die Vertragsnummer der Mietwagenfirma. Wenn es ein Versicherungsfall ist, kann sie Ihnen sicher weiterhelfen. Geben Sie mir Ihre Nummer?«
Jonathan hatte etwas dagegen, wenn ich unsere Festnetznummer herausgab, deshalb gab ich ihm meine Handynummer. »Gut«, sagte er. »Wenn es Probleme gibt, rufen Sie mich einfach an.« Er streckte seine Hand durchs Fenster. Ich schüttelte sie. Sie fühlte sich stark und kühl an.
»Nick«, sagte er. »Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, wie leid mir alles tut.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Aber es war mir ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben.«
»Sally«, sagte ich. Der Blick, mit dem er mich musterte, verwirrte mich ein wenig. »Ja«, fuhr ich fort und erwiderte seinen Blick eine Spur zu lang. »Es war nett, Sie kennenzulernen.«
»Also, wie gesagt, wenn es ein Problem gibt, rufen Sie an«, sagte er.
»Okay«, erwiderte ich. »Das mache ich. Vielen Dank.«
Und dann war er weg. Erst als ich fast an Amandas Haus angelangt war, fiel mir ein, dass ich ihm gar nicht erklärt hatte, in welche Richtung er fahren musste. Er wusste den Weg immer noch nicht.
Das ging mir durch den Kopf. Nicht allzu sehr, aber immerhin doch so, dass ich mir vielleicht etwas dabei hätte denken müssen. Aber das wollte ich zu diesem Zeitpunkt natürlich gar nicht. Denn da konnte ich ja noch nicht zurückblicken. Wenn ich es gekonnt hätte, wäre mir klar geworden, was jetzt offensichtlich zu sein scheint.
Wie es aussieht, hatte ich mich in dieser sternenklaren Nacht auf meine Weise auch verirrt.
...
Übersetzung: Margarethe van Pée
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Lynne Barrett-Lee
Lynne Barrett-Lee, 1959 in London geboren, hat schon ihr halbes Leben lang geschrieben. Nach Jahren, in denen sie höchstens ihre Mutter überreden konnte, ihre Werke zu lesen, veröffentlicht sie inzwischen Romane sowie Kurzgeschichten und Artikel in vielen englischen Frauenmagazinen und hat sich eine begeisterte Leserschaft erobert.Lynne Barrett-Lee lebt mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern in Cardiff.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lynne Barrett-Lee
- 2012, 1, 368 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650697
- ISBN-13: 9783863650698
Kommentar zu "Herzklopfen für Anfänger"
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