Hochsaison
Alpenkrimi
Beim Neujahrsspringen verunglückt ein Skispringer schwer - ausgerechnet dann, als Olympia-Funktionäre zuschauen. Wurde der Springer etwa beschossen? Kommissar Jennerwein muss sich mit seinen Ermittlungen beeilen. Sonst ist am Ende noch die...
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Produktinformationen zu „Hochsaison “
Beim Neujahrsspringen verunglückt ein Skispringer schwer - ausgerechnet dann, als Olympia-Funktionäre zuschauen. Wurde der Springer etwa beschossen? Kommissar Jennerwein muss sich mit seinen Ermittlungen beeilen. Sonst ist am Ende noch die Hochsaison in Gefahr.
SPIEGEL Bestseller!
Lese-Probe zu „Hochsaison “
Hochsaison von Jörg Maurer 1
Lieber Herr Kommissar,
zunächst wünsche ich Ihnen einmal ein gutes, gesundes und erfolgreiches neues Jahr! Sie werden überrascht sein, jetzt schon von mir zu hören und ein Bekennerschreiben zu bekommen, das diesen Namen eigentlich nicht verdient, weil es ja noch nichts zu bekennen gibt. Ja, Sie haben richtig gelesen: Die Tat ist noch gar nicht begangen, ich bereite das Delikt gerade vor. Das heißt: Ich überlege mir, gegen welches Gesetz ich denn nun verstoßen soll. Soll es eine »Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit« werden? Eine »Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung«? Etwas Terroristisches? Reizen würde mich einiges, und ich habe auch schon eine Idee aber lassen Sie sich überraschen, Herr Kommissar! Oh, Entschuldigung: Ich kenne Sie Sie kennen mich hingegen nicht, ich darf mich deshalb vielleicht kurz vorstellen. Ich bin sechsunddreißig Jahre alt, männlich, schlank, mittelgroß, dunkelblond, Oberlippenbart, Sternzeichen Waage, meine Hobbys sind Reiten und Schach das braucht natürlich alles nicht zu stimmen. Aber vielleicht doch.
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Ich habe meine Hausaufgaben gemacht: Ich habe ein Päckchen Schreibmaschinenpapier gekauft, in einer anderen Stadt, schon vor längerer Zeit, ich habe nur ein Blatt daraus verwendet. Ich habe auf einem Flohmarkt eine alte Schreibmaschine erstanden, vielleicht im Ausland, vielleicht auch nicht. Ich habe beim Schreiben Handschuhe getragen, sogar Mundschutz und ein Haarnetz. Ich habe die vielen Entwürfe, die ich geschrieben habe, verbrannt. Viele Entwürfe deshalb, weil ich lange, wirklich sehr lange an meinem Schreibstil gefeilt habe. Der linguistische Profiler, der meine Sprache später untersucht, soll sich ruhig die Zähne daran ausbeißen. Er wird seinen Spaß haben. Ich war selbst lange genug bei der Polizei auch dies muss wieder nicht stimmen. Aber das ist ja das Schöne an einem Bekennerbrief es kann alles stimmen, muss aber nicht. Für heute ist es genug, Herr Kommissar, ich habe ja schließlich auch noch einen bürgerlichen Beruf. Sie hören sicherlich bald von mir, dann bin ich bestimmt auch schon ein Stück weiter.
Mit vielen Grüßen Ihr (zukünftiger) Täter 2
Der Kameramann auf der Großen Olympiaschanze wusste gar nicht, wo er zuerst hinschwenken sollte, so babyaugenblau war der Himmel an diesem Neujahrstag, so dröhnend spannte er sich über das Werdenfelser Tal so anzüglich glitzernd und dampfend buhlte jeder Einzelne der schneebedeckten Berge um die Aufmerksamkeit der sechsundzwanzigtausend Sportbegeisterten, die zum Neujahrsspringen gekommen waren. Unten im Loisachtal pflügte sich der namensgebende Fluss quer durch den Kurort gerade eben noch war die Loisach als quicklebendiges Wildwasser über die nahe österreichische Grenze gepoltert, jetzt floss sie träge durch die leere Gemeinde denn alle waren zur Schanze gepilgert: Adler gucken, Flugkurven bewundern, Deutschlanddaumen drücken. Eine Bombe hätte man werfen können im Ortskern, man hätte kaum jemanden getroffen.
Der Kameramann drehte sich nun um und schwenkte über den Hintergrund der Schanze, den dicht bewaldeten Gudiberg, an dessen Hang die beiden Sprungschanzen standen wie zwei vergessene Stöckelschuhe, aus denen gerade eine Riesin mit zwei unterschiedlich großen Füßen geschlüpft war. Gemessen am Alpenstandard war der Gudiberg natürlich nur ein Hügelchen, ein Dackelspaziergang der gegenüberliegende Berg wiederum, auf den die Springer zuschossen, war schon eine Nummer felsiger: Die Kramerspitze schraubte sich da aus dem Schneemantel ein frei stehender, knapper Zweitausender, quasi der Kilimandscharo des Werdenfelser Landes. Das Gipfelkreuz blinkte heute besonders frech von dort droben herunter, das ganze urtümliche Monstrum sah, mit ein bisschen Phantasie, wie ein schlafendes Nashorn aus, das zu wecken nicht ratsam war.
Die Wintersonne funkelte, kein Lüftchen regte sich hier oben auf dem Schanzenkopf. Das Wetterhoch Charlotte hatte den Himmel sorgfältig leergepustet, und der Föhn tat vielleicht noch ein Übriges, um die hingestreuten felsigen Schmuckstücke zum Greifen nah erscheinen zu lassen. Lange hielt der Kameramann auf die auffälligste Preziose in der Wettersteinkette, auf das markante Dreieck der Alpspitze, das etwas von einer Haifischrückenflosse hatte das unvermeidliche Logo der ganzen Region. Das stramme Dreieck stellte für den wahren Bergfex wiederum nur einen Dackelspaziergang dar, klar. Aber vom Design her: Erste Sahne. Schließlich schwenkte der Kameramann noch hinüber zum Kleinen Waxenstein, dem unzugänglichen Kegelstumpf, der eigenbrötlerisch und trotzig nach vorn aus der Kulisse ragte. Abweisend war er wie ein nepalesischer Achttausender: Nur gucken, nicht raufsteigen! Trotzdem versuchten es jedes Jahr einige aufs Neue und wurden zurückgeworfen ins herrliche Loisachtal.
Der Skispringer der dänischen Nationalmannschaft, der jetzt mit der Seilbahn die Große Olympiaschanze hinauffuhr, hatte momentan keinen Blick für all die Drei-Sterne-Sehenswürdigkeiten rundherum. Als er ausgestiegen war, schnaufte er ein paar Mal kräftig durch, als ob hier oben die Luft schon wesentlich dünner geworden wäre. Der Stadionsprecher kündigte das Finalspringen an, und der Jubel der verkaterten Menge unten war gewaltig. Gerade vorhin noch hatte man Sekt gebechert, Blei gegossen, nach verlorenen Rindsfiletstückchen im Fonduetopf gefischt, gute Vorsätze gefasst, jetzt stand man drinnen in den Arealen A bis F und fror an allen frostschutzbedürftigen Körperteilen. Åge Sørensen war heute der einzige dänische Springer. In der Qualifikation hatte er sich einen der Lucky-Loser-Plätze erkämpft, und war, äußerst glücklich, gerade noch so hineingerutscht in das ehrenwerte Feld, in dem sich normalerweise nur die heiligen vier oder fünf Skisprungnationen tummelten die erschreckend gut vorbereiteten Norweger beispielsweise, oder die unverschämt motivierten Finnen. Sørensen machte sich keinerlei Hoffnungen, ganz nach vorne auf einen Podestplatz zu kommen, er wusste, dass die Qualifikation für das Finale das Beste war, was er je erreichen würde aber vielleicht gerade deshalb stieg er so gut gelaunt auf die Waage. Auf dem Rücken des Psycho-WischFunktionärs hatte er mit seiner krakeligen Unterschrift gerade bestätigt, dass er sich freiwillig, bei klarem Verstand und ohne Zutun Dritter den Turm hinunterstürzen wollte. Er war nicht dem Erfolgsdruck der hochnervösen Hoffnungsträger ausgesetzt, die nach ihm springen würden. Åge hatte es bis hierher geschafft, und bei dem Gedanken daran kam ihm unter seiner Schutzbrille ein dickes dänisches Grinsen aus. Als die Kamera auf ihn hielt, zeigte er gar das Victory-Zeichen, beugte sich vor und grüßte seine Mutter im nordjütländischen Skagen.
Die ehrenamtlichen Helfer vor Ort hatten sich mächtig ins Zeug gelegt. Auf einem der Tischchen im Funktionsraum warteten isotonische Erfrischungsgetränke in allen Größen und Farben, dazwischen gab es regionale Schnittchen, dunkles Brot mit handgeschleuderter Bauernbutter und voralpenländischem Käse, liebevoll geschmiert von der Schwester der Frau des Neffen des Vorsitzenden des örtlichen Skiclubs. Wie furchtbar leicht wäre es, dachte Åge, auf eines dieser Butterbrote einen kleinen Muntermacher zu geben, eine Prise Epo etwa, eine Pipette voll Testosteron, oder ein Bröselchen AN 1, um auf diese Weise die nachfolgenden Konkurrenten mal kurz in die Schlagzeilen zu bringen. Aber so etwas war vermutlich noch nie gemacht worden, zumindest beim Skispringen nicht. Bringt in dieser Disziplin ja auch gar nichts, wie die Verantwortlichen immer wieder beteuerten.
We are red, we are white, we are Danish dynamite!, glaubte Åge Sørensen von unten zu hören. War denn halb Dänemark da? Er stieg in den Schrägaufzug und fuhr die restlichen sechzig Meter hoch zum Schanzenkopf. Als er dort ins Freie trat, kam er sofort ins Visier der internationalen Kameras. Eine ferngesteuerte Linse schwenkte besonders dreist zu ihm herüber, und jetzt wurde er fast ein wenig übermütig: Er rieb sich den Bauch und formte mit den Lippen die Worte Rødgrød med fløde! in die Kamera. Das war seine Leib- und Magenspeise. Damit Mutter in Skagen schon mal Bescheid wusste.
Wenn er es schaffte, hier nur einigermaßen ordentlich herunterzukommen, dann gäbe ihm vielleicht sogar Königin Margrethe persönlich die Hand. Der letzte Däne, der im Skispringen etwas gerissen hatte, war Olaf Rye im Jahre 1808, und das war dann doch schon gut zweihundert Jahre her. Nicht dass ihm das mit der dänischen Königin persönlich etwas gegeben hätte, aber Mutter würde sich sicher darüber freuen. Er bekam nun das Zeichen, an den Start zu gehen. Am Absprungbalken klebte ganz lieb! ein Telegramm vom Skiclub Skagen: »viel glueck stop du packst sie alle stop«. Er rutschte in die Mitte des Balkens, dann stieß er sich ab. Rasch nahm er Fahrt auf und glitt im Winkel von 35 Grad nach unten. Steigender Puls, erhöhter Blutdruck, Adrenalin- und andere Ausschüttungen, Blutzuckererhöhung, das Übliche, um in die richtige Stimmung zu kommen. Es ging das Gerücht um, dass der Finne Leif Rautavaara einen iPod im Ohr stecken hatte, wenn er ins Tal rauschte. Ein paar Nationen hatten schon protestiert, es war ja schließlich auch eine Art Doping. In der Presse wurde daraufhin spekuliert, was sich Rautavaara in den paar Sekunden anhörte. Beethovens Fünfte (tatataTAAA !!) würde von der Länge her passen, Rimski-Korsakows Hummelflug (brzldidlbrzldidlbrzl ...) bildete die verbissene Energie des Springers am besten ab, und die Alpensinfonie von Richard Strauss (WROMM!!!BLOMM!!!FLOMM!!!) passte wie von selbst ins lieblich-wuchtige Voralpenland. Manche allerdings vermuteten, dass Rautavaara mit einem beziehungsreichen Song von Paul Simon (Slip slidin' away ...) nach unten ins Tal schoss.
Åge Sørensen schüttelte die ablenkenden Gedankenspiele ab. Er konzentrierte sich. Er bündelte alles auf den Absprung dort unten. Konzentration aufs Wesentliche, Tunneldenken. Gleich musste der tausendmal geübte Ablauf abgerufen werden, der auf die kleine Zehntelsekunde am Schanzentisch zuführte, die alles beim Skisprung ausmacht. Åges Blick verengte sich. Ganz von fern hörte er noch seinen Namen, dann das übliche anschwellende Ah und Oh der Menge. Sechsundzwanzigtausend Zuschauer reckten die Köpfe nach oben. Und auch die nordische Asengöttin Skaði (Kompetenzen: Jagd, Berge, Winter) saß auf seinen Schultern und breitete schon mal behutsam ihre Schwingen aus, um ihn auf seinem Weg in die Tiefe zu beflügeln.
Sein Absprung war hervorragend, wie aus dem Lehrbuch, und hoch erhob sich der dänische Ikarus ins Blaue. Seine Haltung war natürlich nicht zu vergleichen mit den ausgefeilten Kunstflügen der Happonens, Kankkonens oder Ahonens, aber er hielt sich, beschwingt durch die Göttin Skaði, ausgesprochen respektabel in der Luft. Sechsundzwanzigtausend Köpfe verfolgten die Sichelkurve, die zusammengestauchte y2 = 2px-Parabel, den Ypsilon-quadrat-ist-gleich-zwei-p-x-Schlenzer. Jetzt aber, am obersten Punkt des Kegelschnitts, an dem Punkt, wo es höher nimmer geht, kam er ins Schlingern, der Däne, ins Trudeln, er legte sich seitlich wie ein Kajakfahrer in einer neuen Wasserströmung, das war keine gute Flugtechnik, das war gar keine Technik mehr, nein, das war ein Absturz. Er zog ein Bein leicht an und drehte sich seitlich um die eigene Achse, er flog mit dem Rücken voraus, er versuchte sich zu fangen, versuchte dem unvermeidlichen Höllensturz entgegenzusteuern, geriet aber immer mehr ins Rudern und Strampeln, und aus dem erschrockenen Raunen der Menge stachen schon einzelne spitze Schreie heraus.
Mancher unten in den Arealen A bis F hoffte, dass er sich wieder fing, der nordische Kämpfer, einziges Mitglied der dänischen Nationalmannschaft, dem man doch auch deswegen ein bisschen Sympathie entgegenbrachte. Mancher dachte, dass es vielleicht nur ein Spaß war, eine kleine Einlage, ein nordländischer Joke. Aber es war kein Spaß. Es war ein granatenmäßiger Sturz. Und jetzt kochte das Raunen und Schreien zu einem Kreischen hoch. Der Stadionsprecher, sonst auf alle Eventualitäten vorbereitet, schrie ins Mikro:
»Um Himmels !«
Dann verstummte auch er. Der Däne flatterte kopfüber auf die schräge Landebahn, und bevor er aufschlug, wandten sich viele ab. Man glaubte das Knirschen der Knochen bis in die entferntesten Areale zu hören.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2010 by Fischer Taschenbuch Verlag,
einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Mit vielen Grüßen Ihr (zukünftiger) Täter 2
Der Kameramann auf der Großen Olympiaschanze wusste gar nicht, wo er zuerst hinschwenken sollte, so babyaugenblau war der Himmel an diesem Neujahrstag, so dröhnend spannte er sich über das Werdenfelser Tal so anzüglich glitzernd und dampfend buhlte jeder Einzelne der schneebedeckten Berge um die Aufmerksamkeit der sechsundzwanzigtausend Sportbegeisterten, die zum Neujahrsspringen gekommen waren. Unten im Loisachtal pflügte sich der namensgebende Fluss quer durch den Kurort gerade eben noch war die Loisach als quicklebendiges Wildwasser über die nahe österreichische Grenze gepoltert, jetzt floss sie träge durch die leere Gemeinde denn alle waren zur Schanze gepilgert: Adler gucken, Flugkurven bewundern, Deutschlanddaumen drücken. Eine Bombe hätte man werfen können im Ortskern, man hätte kaum jemanden getroffen.
Der Kameramann drehte sich nun um und schwenkte über den Hintergrund der Schanze, den dicht bewaldeten Gudiberg, an dessen Hang die beiden Sprungschanzen standen wie zwei vergessene Stöckelschuhe, aus denen gerade eine Riesin mit zwei unterschiedlich großen Füßen geschlüpft war. Gemessen am Alpenstandard war der Gudiberg natürlich nur ein Hügelchen, ein Dackelspaziergang der gegenüberliegende Berg wiederum, auf den die Springer zuschossen, war schon eine Nummer felsiger: Die Kramerspitze schraubte sich da aus dem Schneemantel ein frei stehender, knapper Zweitausender, quasi der Kilimandscharo des Werdenfelser Landes. Das Gipfelkreuz blinkte heute besonders frech von dort droben herunter, das ganze urtümliche Monstrum sah, mit ein bisschen Phantasie, wie ein schlafendes Nashorn aus, das zu wecken nicht ratsam war.
Die Wintersonne funkelte, kein Lüftchen regte sich hier oben auf dem Schanzenkopf. Das Wetterhoch Charlotte hatte den Himmel sorgfältig leergepustet, und der Föhn tat vielleicht noch ein Übriges, um die hingestreuten felsigen Schmuckstücke zum Greifen nah erscheinen zu lassen. Lange hielt der Kameramann auf die auffälligste Preziose in der Wettersteinkette, auf das markante Dreieck der Alpspitze, das etwas von einer Haifischrückenflosse hatte das unvermeidliche Logo der ganzen Region. Das stramme Dreieck stellte für den wahren Bergfex wiederum nur einen Dackelspaziergang dar, klar. Aber vom Design her: Erste Sahne. Schließlich schwenkte der Kameramann noch hinüber zum Kleinen Waxenstein, dem unzugänglichen Kegelstumpf, der eigenbrötlerisch und trotzig nach vorn aus der Kulisse ragte. Abweisend war er wie ein nepalesischer Achttausender: Nur gucken, nicht raufsteigen! Trotzdem versuchten es jedes Jahr einige aufs Neue und wurden zurückgeworfen ins herrliche Loisachtal.
Der Skispringer der dänischen Nationalmannschaft, der jetzt mit der Seilbahn die Große Olympiaschanze hinauffuhr, hatte momentan keinen Blick für all die Drei-Sterne-Sehenswürdigkeiten rundherum. Als er ausgestiegen war, schnaufte er ein paar Mal kräftig durch, als ob hier oben die Luft schon wesentlich dünner geworden wäre. Der Stadionsprecher kündigte das Finalspringen an, und der Jubel der verkaterten Menge unten war gewaltig. Gerade vorhin noch hatte man Sekt gebechert, Blei gegossen, nach verlorenen Rindsfiletstückchen im Fonduetopf gefischt, gute Vorsätze gefasst, jetzt stand man drinnen in den Arealen A bis F und fror an allen frostschutzbedürftigen Körperteilen. Åge Sørensen war heute der einzige dänische Springer. In der Qualifikation hatte er sich einen der Lucky-Loser-Plätze erkämpft, und war, äußerst glücklich, gerade noch so hineingerutscht in das ehrenwerte Feld, in dem sich normalerweise nur die heiligen vier oder fünf Skisprungnationen tummelten die erschreckend gut vorbereiteten Norweger beispielsweise, oder die unverschämt motivierten Finnen. Sørensen machte sich keinerlei Hoffnungen, ganz nach vorne auf einen Podestplatz zu kommen, er wusste, dass die Qualifikation für das Finale das Beste war, was er je erreichen würde aber vielleicht gerade deshalb stieg er so gut gelaunt auf die Waage. Auf dem Rücken des Psycho-WischFunktionärs hatte er mit seiner krakeligen Unterschrift gerade bestätigt, dass er sich freiwillig, bei klarem Verstand und ohne Zutun Dritter den Turm hinunterstürzen wollte. Er war nicht dem Erfolgsdruck der hochnervösen Hoffnungsträger ausgesetzt, die nach ihm springen würden. Åge hatte es bis hierher geschafft, und bei dem Gedanken daran kam ihm unter seiner Schutzbrille ein dickes dänisches Grinsen aus. Als die Kamera auf ihn hielt, zeigte er gar das Victory-Zeichen, beugte sich vor und grüßte seine Mutter im nordjütländischen Skagen.
Die ehrenamtlichen Helfer vor Ort hatten sich mächtig ins Zeug gelegt. Auf einem der Tischchen im Funktionsraum warteten isotonische Erfrischungsgetränke in allen Größen und Farben, dazwischen gab es regionale Schnittchen, dunkles Brot mit handgeschleuderter Bauernbutter und voralpenländischem Käse, liebevoll geschmiert von der Schwester der Frau des Neffen des Vorsitzenden des örtlichen Skiclubs. Wie furchtbar leicht wäre es, dachte Åge, auf eines dieser Butterbrote einen kleinen Muntermacher zu geben, eine Prise Epo etwa, eine Pipette voll Testosteron, oder ein Bröselchen AN 1, um auf diese Weise die nachfolgenden Konkurrenten mal kurz in die Schlagzeilen zu bringen. Aber so etwas war vermutlich noch nie gemacht worden, zumindest beim Skispringen nicht. Bringt in dieser Disziplin ja auch gar nichts, wie die Verantwortlichen immer wieder beteuerten.
We are red, we are white, we are Danish dynamite!, glaubte Åge Sørensen von unten zu hören. War denn halb Dänemark da? Er stieg in den Schrägaufzug und fuhr die restlichen sechzig Meter hoch zum Schanzenkopf. Als er dort ins Freie trat, kam er sofort ins Visier der internationalen Kameras. Eine ferngesteuerte Linse schwenkte besonders dreist zu ihm herüber, und jetzt wurde er fast ein wenig übermütig: Er rieb sich den Bauch und formte mit den Lippen die Worte Rødgrød med fløde! in die Kamera. Das war seine Leib- und Magenspeise. Damit Mutter in Skagen schon mal Bescheid wusste.
Wenn er es schaffte, hier nur einigermaßen ordentlich herunterzukommen, dann gäbe ihm vielleicht sogar Königin Margrethe persönlich die Hand. Der letzte Däne, der im Skispringen etwas gerissen hatte, war Olaf Rye im Jahre 1808, und das war dann doch schon gut zweihundert Jahre her. Nicht dass ihm das mit der dänischen Königin persönlich etwas gegeben hätte, aber Mutter würde sich sicher darüber freuen. Er bekam nun das Zeichen, an den Start zu gehen. Am Absprungbalken klebte ganz lieb! ein Telegramm vom Skiclub Skagen: »viel glueck stop du packst sie alle stop«. Er rutschte in die Mitte des Balkens, dann stieß er sich ab. Rasch nahm er Fahrt auf und glitt im Winkel von 35 Grad nach unten. Steigender Puls, erhöhter Blutdruck, Adrenalin- und andere Ausschüttungen, Blutzuckererhöhung, das Übliche, um in die richtige Stimmung zu kommen. Es ging das Gerücht um, dass der Finne Leif Rautavaara einen iPod im Ohr stecken hatte, wenn er ins Tal rauschte. Ein paar Nationen hatten schon protestiert, es war ja schließlich auch eine Art Doping. In der Presse wurde daraufhin spekuliert, was sich Rautavaara in den paar Sekunden anhörte. Beethovens Fünfte (tatataTAAA !!) würde von der Länge her passen, Rimski-Korsakows Hummelflug (brzldidlbrzldidlbrzl ...) bildete die verbissene Energie des Springers am besten ab, und die Alpensinfonie von Richard Strauss (WROMM!!!BLOMM!!!FLOMM!!!) passte wie von selbst ins lieblich-wuchtige Voralpenland. Manche allerdings vermuteten, dass Rautavaara mit einem beziehungsreichen Song von Paul Simon (Slip slidin' away ...) nach unten ins Tal schoss.
Åge Sørensen schüttelte die ablenkenden Gedankenspiele ab. Er konzentrierte sich. Er bündelte alles auf den Absprung dort unten. Konzentration aufs Wesentliche, Tunneldenken. Gleich musste der tausendmal geübte Ablauf abgerufen werden, der auf die kleine Zehntelsekunde am Schanzentisch zuführte, die alles beim Skisprung ausmacht. Åges Blick verengte sich. Ganz von fern hörte er noch seinen Namen, dann das übliche anschwellende Ah und Oh der Menge. Sechsundzwanzigtausend Zuschauer reckten die Köpfe nach oben. Und auch die nordische Asengöttin Skaði (Kompetenzen: Jagd, Berge, Winter) saß auf seinen Schultern und breitete schon mal behutsam ihre Schwingen aus, um ihn auf seinem Weg in die Tiefe zu beflügeln.
Sein Absprung war hervorragend, wie aus dem Lehrbuch, und hoch erhob sich der dänische Ikarus ins Blaue. Seine Haltung war natürlich nicht zu vergleichen mit den ausgefeilten Kunstflügen der Happonens, Kankkonens oder Ahonens, aber er hielt sich, beschwingt durch die Göttin Skaði, ausgesprochen respektabel in der Luft. Sechsundzwanzigtausend Köpfe verfolgten die Sichelkurve, die zusammengestauchte y2 = 2px-Parabel, den Ypsilon-quadrat-ist-gleich-zwei-p-x-Schlenzer. Jetzt aber, am obersten Punkt des Kegelschnitts, an dem Punkt, wo es höher nimmer geht, kam er ins Schlingern, der Däne, ins Trudeln, er legte sich seitlich wie ein Kajakfahrer in einer neuen Wasserströmung, das war keine gute Flugtechnik, das war gar keine Technik mehr, nein, das war ein Absturz. Er zog ein Bein leicht an und drehte sich seitlich um die eigene Achse, er flog mit dem Rücken voraus, er versuchte sich zu fangen, versuchte dem unvermeidlichen Höllensturz entgegenzusteuern, geriet aber immer mehr ins Rudern und Strampeln, und aus dem erschrockenen Raunen der Menge stachen schon einzelne spitze Schreie heraus.
Mancher unten in den Arealen A bis F hoffte, dass er sich wieder fing, der nordische Kämpfer, einziges Mitglied der dänischen Nationalmannschaft, dem man doch auch deswegen ein bisschen Sympathie entgegenbrachte. Mancher dachte, dass es vielleicht nur ein Spaß war, eine kleine Einlage, ein nordländischer Joke. Aber es war kein Spaß. Es war ein granatenmäßiger Sturz. Und jetzt kochte das Raunen und Schreien zu einem Kreischen hoch. Der Stadionsprecher, sonst auf alle Eventualitäten vorbereitet, schrie ins Mikro:
»Um Himmels !«
Dann verstummte auch er. Der Däne flatterte kopfüber auf die schräge Landebahn, und bevor er aufschlug, wandten sich viele ab. Man glaubte das Knirschen der Knochen bis in die entferntesten Areale zu hören.
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einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Jörg Maurer
Jörg Maurer stammt aus Garmisch-Partenkirchen. Er studierte Germanistik, Anglistik, Theaterwissenschaften und Philosophie und ist Krimiautor und Musikkabarettist. Eine feste Größe in der süddeutschen Kabarettszene, leitete er jahrelang ein Theater in München und wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kabarettpreis der Stadt München (2005) und dem Agatha-Christie-Krimi-Preis (2005 und 2006). Sein Krimi-Kabarettprogramm ist Kult.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jörg Maurer
- 2010, 1, 390 Seiten, Maße: 13,3 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828995985
- ISBN-13: 9783828995987
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