Höllenfeuer
Jason Evans führt ein ganz normales Leben.
Bis er eines Tages einen anonymen Brief erhält - ein Bild von einem verfallenen Friedhof, auf das jemand eine Botschaft geschrieben hat:
"Du bist tot."
Jason glaubt zunächst an einen bösen...
Bis er eines Tages einen anonymen Brief erhält - ein Bild von einem verfallenen Friedhof, auf das jemand eine Botschaft geschrieben hat:
"Du bist tot."
Jason glaubt zunächst an einen bösen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Höllenfeuer “
Jason Evans führt ein ganz normales Leben.
Bis er eines Tages einen anonymen Brief erhält - ein Bild von einem verfallenen Friedhof, auf das jemand eine Botschaft geschrieben hat:
"Du bist tot."
Jason glaubt zunächst an einen bösen Scherz.
Doch dann erhält er eine zweite Nachricht:
"Du glaubst, dass du lebst, doch du existierst nicht."
Jason beginnt die Drohung ernst zu nehmen.
Er macht sich auf die Suche nach dem alten Friedhof und stößt dabei auf ein Geheimnis, das weit in seine eigene Vergangenheit zurückreicht und sein Leben zerstören könnte.
Und dann erhält Jason eine dritte Nachricht:
"Der 18. August. Dein Todestag."
Bis er eines Tages einen anonymen Brief erhält - ein Bild von einem verfallenen Friedhof, auf das jemand eine Botschaft geschrieben hat:
"Du bist tot."
Jason glaubt zunächst an einen bösen Scherz.
Doch dann erhält er eine zweite Nachricht:
"Du glaubst, dass du lebst, doch du existierst nicht."
Jason beginnt die Drohung ernst zu nehmen.
Er macht sich auf die Suche nach dem alten Friedhof und stößt dabei auf ein Geheimnis, das weit in seine eigene Vergangenheit zurückreicht und sein Leben zerstören könnte.
Und dann erhält Jason eine dritte Nachricht:
"Der 18. August. Dein Todestag."
Lese-Probe zu „Höllenfeuer “
Höllenfeuer von Jack LanceDie schwarze Gestalt stürzte sich auf ihn. Ihre halb zugekniffenen Augen sprühten Funken. Alles an diesem Wesen strömte Kraft aus: Die breiten Schultern waren angespannt, die Muskeln stark wie Drahtseile, die Fäuste geballt, dazu das Brummen und Schnauben. Wie ein Raubtier.
Er selbst, alt, müde und steif, hatte der gebündelten Wut nichts entgegenzusetzen. Bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte das Muskelpaket ihn zu Boden geworfen und auf den Bauch gerollt. Sein Gesicht wurde auf die kalten Steinfliesen gespresst. Der Kerl setzte ihm mit dem ganzen Gewicht seines Körpers einen Fuß auf den Hinterkopf und drückte zu. Dem ekelerregenden Geräusch knackender Knochen folgten höllische Schmerzen und warmes Blut, das ihm aus den Nasenlöchern schoss. Er hörte, wie jemand hysterisch zu schreien begann, und erst nach einer Weile wurde ihm klar, dass er selbst es war, der schrie.
Der Albtraum hatte vor ungefähr zwei Stunden begonnen, auch wenn er das nicht mehr so genau wusste; ihm war es vorgekommen wie Tage und Nächte.
Die orangerote Glut des letzten Sonnenuntergangs, den er erleben sollte, war dem Licht der Sterne gewichen. Gegen elf Uhr hatte er beschlossen, zu Bett zu gehen. Er war gerade aus dem Hängestuhl auf der Veranda aufgestanden und hatte die Tür zum Wohnzimmer aufgeschoben, als es am Hauseingang klingelte.
Als Erstes ging er ans Wohnzimmerfenster. Im fahlen Schein der Straßenlaterne vorm Haus konnte er nur die eckigen Umrisse einer Gestalt erkennen, die ihm den Rücken zuwandte.
... mehr
Ihm war nicht wohl bei der Sache. Er war ein alter Mann, leichte Beute für jemanden, der einen Raubüberfall verübte. Kurz hatte er den Verdacht, dieser späte, unerwartete Besucher trüge vielleicht Gedanken in sich, die genauso dunkel waren wie die Finsternis, die ihn umhüllte wie ein Mantel.
Doch hätte er dann geklingelt? Nein, vermutlich hätte er sich auf andere Weise Zugang zum Haus verschafft.
Aber vielleicht überbrachte jemand auch einfach nur eine schlechte Nachricht. Womöglich von einem Bekannten, der einen Schlaganfall oder eine Herzattacke erlitten hatte. Darauf musste man gefasst sein, wenn zu dieser späten Stunde ein Fremder vor der Tür stand.
Deshalb hatte er die Tür geöffnet, trotz seiner Bedenken.
Ungefähr zwei Stunden später lag er mit gebrochenem Nasenbein unter dem Fuß dieses Mannes in Schwarz.
»Gut«, ertönte eine schleppende, leise Stimme über ihm. »Jetzt bezahlst du für deine Lügen.«
Er konnte nicht antworten. Nicht mehr. Er konnte kaum Atem holen, geschweige denn, dass er noch ein Wort hätte herausbringen können.
Der Fremde zog ihn am Kragen seines grün-weiß karierten Hemdes hoch und rammte ihm ein Knie in den Rücken. Flammender Schmerz fuhr ihm ins Rückgrat. Danach ließ sein Peiniger ihn wieder zu Boden fallen, als sei er ein Sack Kartoffeln. Er kniff die Augen zusammen, versuchte zu atmen und presste den Ballen seiner rechten Hand gegen die Nase.
Danach ging alles sehr schnell. Grob wurde er nach oben auf den Dachboden geschleift. Der Kerl in Schwarz legte ihm einen Strick um den Hals und schnürte ihn unter seinem Kinn fest. Wie eine Feder wurde er hochgehoben. Dann stand er schwankend auf einem knarrenden Stuhl. Der Strick, der ihm schon in den Hals schnitt, wurde noch strammer gezogen. Gezwungenermaßen ging er auf die Zehenspitzen und versuchte, die Balance zu halten.
Inzwischen hatte er jeden Widerstand aufgegeben. Wieder wurde ihm schwarz vor Augen, sodass er nicht mehr klar denken konnte. Dazu kam das unerträgliche Hämmern im Kopf, seit der Peiniger sich mit vollem Gewicht daraufgestellt hatte.
Jetzt erst sah er, dass der Strick um seinen Hals direkt über ihm um den massiven Holzbalken an der Decke geworfen und daran festgebunden war.
Er starrte seinem Mörder ins Gesicht. Der stank, und in seinen Augen glühte ein falsches Feuer.
Mit schwindenden Sinnen nahm er gerade noch wahr, wie der rechte Fuß des Mannes in Schwarz sich bewegte, danach spürte er nur noch, wie der Stuhl unter ihm zur Seite fiel.
Jason, war sein allerletzter Gedanke. O Gott, Jason!
Jason Evans machte sich Sorgen. Das war selten der Fall. Es gab wenig, worüber er sich zu beklagen hatte, doch an jenem Tag, als das Elend begann, nagte etwas an ihm.
An diesem Montag, dem 13. Juli, musste er das Konzept für eine Werbekampagne entwerfen, und damit kam er nicht voran. Lag das am Auftraggeber? Oder hatte er einfach einen schlechten Tag? Wie auch immer, er musste sich etwas einfallen lassen für Tommy Jones, und zwar in erster Linie für dessen Autohandel. Besser gesagt: für das Gebrauchtwagen-Imperium des Autokönigs. Nein, diesen Namen hätte sich Jason nie und nimmer ausdenken können oder wollen. Tommy Jones hatte sich einst selbst zum Autokönig gekrönt. »Super, was?«, hörte er Tommy in Gedanken sagen. »Ich könnte glatt in die Werbung gehen.«
Was konnte man noch für einen Mann aus dem Hut zaubern, für den während der letzten dreißig Jahre schon alles erfunden worden war, was es zu erfinden gab, und dessen Produkt einem nicht schmeckte?
Jason konnte sich gut daran erinnern, dass er früher einmal, als Achtzehnjähriger, selbst bei Tommy eine gebrauchte Rostlaube gekauft hatte. Der uralte rote Plymouth Road Runner hatte ihn schon nach zwei Monaten im Stich gelassen. Das war das erste und zugleich das letzte Mal gewesen, dass er sich einen Wagen beim Autokönig besorgt hatte. Und jetzt musste Jason seine kreative Energie für diesen Betrüger einsetzen: Tommy Jones war einer der wichtigsten Kunden von Tanner & Preston, der Werbeagentur, für die Jason als Artdirector arbeitete. Brian Anderson, Jasons Boss, hatte ausgerechnet ihn zum Chef des Teams ernannt, das dem neuen Klienten, der gerade vom Konkurrenten Foote, Grey & Hardy abgesprungen war, den Hof machen musste.
Jason wischte sich das glatte schwarze Haar aus den Augen. Keine Inspiration. Lag es daran, dass er dem Autokönig heute zum ersten Mal begegnet war? Das blendende Zahnpastalächeln von Tommy Jones hatte ihm schon oft aus Anzeigen und von Reklametafeln entgegengestrahlt, doch es war das erste Mal gewesen, dass er dem Autokönig in Brians Büro die Hand geschüttelt hatte. Tommy - mittlerweile zweiundsechzig - sah in Wirklichkeit viel blasser und älter aus. Fotoshop macht's möglich, dachte Jason. Nur das berühmte Grinsen und das runde Gesicht stimmten noch. Von seiner immer sorgfältig gekämmten Haarpracht war nur noch wenig übrig geblieben, und das Blond war zu Grau geworden. Klein, aber stämmig war er; einen Kopf kleiner als Jason. Und energiegeladen.
Macht mal was anderes, hatte er Jason und Brian mit beschwörenden Gesten zugerufen. Stellt mal was anderes mit meinen Autos an. Macht sie attraktiver, schöner ... Mein Gott, macht sie richtig sexy.
Sexy?, hatte Jason sich gefragt. Sexy! Meine Güte, wie sexy war das damals, als mein Schlitten den Geist aufgegeben hat, ich pleite war und mich zwei Monate lang in einem McDonald's-Laden krummlegen musste, um das Geld für einen neuen zu verdienen - einen besseren als diese Klapperkiste von dir.
Natürlich hatte er das nicht laut gesagt. Es wäre auch nicht fair gewesen. Die Zeiten hatten sich geändert. Seinen metallisch glänzenden Buick LaCrosse CX gab es nicht mal bei Nirgends billiger, nirgends schlechter-Jones zu kaufen.
Wie auch immer, seit der Zusammenstellung des Tom-Jones- Teams vor nunmehr vierzehn Tagen hatte er sich noch nicht mal eine Anfangsidee für eine Kampagne einfallen lassen, mit der man das Imperium des Autokönigs sexy machen konnte. Sein angestammter Werbetexter Anthony Wilson hatte auch noch nichts Brauchbares vorgeschlagen, trotz mehrmaligen Brainstormings.
Jasons Blick wanderte durch das menschenleere Großraumbüro und blieb an der Schreibtischuhr in Form zweier Herzen hängen, einem Geschenk seiner Kayla. Sechs Uhr vorbei. Barbara, Carol, Donald und Anthony waren schon gegangen. Er war allein hier. Die ganze vierundzwanzigste Etage des Roosevelt Tower im Herzen von Los Angeles gehörte jetzt nur ihm. Er starrte nach draußen. Die Hitze hing immer noch wie eine schwüle Decke über der Stadt. Noch vier Wochen, dann hatte er Urlaub. Dann konnte er diesen Hexenkessel Los Angeles endlich hinter sich lassen und in den Rocky Mountains abtauchen. Zusammen mit Kayla. Noch vier Wochen.
Vorher brauchte er aber irgendeinen Geistesblitz für Tommy Jones. Er seufzte. Heute gelang es ihm wieder nicht. Er stand auf und wollte alles liegen und stehen lassen, als George aus der Poststelle hereinkam. Er wedelte mit einem braunen Briefumschlag.
»Hier ist noch eine späte Lieferung«, sagte er, gab Jason den Umschlag und ging wieder.
Jason starrte einen Moment auf den breiten Rücken, der sich langsam entfernte. Dann fiel sein Blick auf den Briefumschlag. Auf der Vorderseite standen in eckiger Blockschrift Jasons Name und Adresse, sonst nichts, ein Logo oder der Name des Absenders fehlten. Er runzelte die Stirn, nahm, ohne hinzusehen, seinen silbernen Brieföffner von der Schreibtischgarnitur und schlitzte den Umschlag auf. Er enthielt nichts - außer einem Polaroidfoto. Es zeigte ein Tor, flankiert von mächtigen Eichen. Dahinter ragten windschiefe verwitterte Grabsteine aus der Erde.
Jason sah noch einmal in den Umschlag. Doch er war leer. Er drehte das Foto um, und erst jetzt entdeckte er, dass hinten etwas draufgeschrieben war, in derselben Blockschrift:
Du bist tot.
Lange starrte er auf die Wörter. Dann sah er sich die Vorderseite des Polaroidfotos genauer an. Grabsteine hinter einem alten Tor.
»Was ist das?«, murmelte er. Wieder betrachtete er den Text auf der Rückseite.
Er verstand das alles nicht. Irritiert drehte er das Bild noch einmal um. Er kannte den Friedhof nicht. Zwischen den Grabsteinen wuchs hohes Gras; alles machte einen verwahrlosten Eindruck. Im Hintergrund sah er eine Reihe niedriger Bäume.
Ob Shaun ihm das geschickt hatte? Nein, das war nicht seine Handschrift. Der würde das auch nicht tun. Aber wer sonst? Und weshalb?
Wieder untersuchte er den Briefumschlag. Kein Hinweis, kein Absender. Auf der Vorderseite standen unter der Briefmarke sein Name und die Adresse seines Arbeitgebers.
Die Zustellung war durch United States Postal Service erfolgt.
Jason wusste nicht, was er davon halten sollte. Er sah hoch. George war weg.
Wieso war der Brief erst jetzt unten in der Poststelle eingegangen? Um diese Zeit wurde doch keine Post mehr zugestellt. Die Post kam frühmorgens und ungefähr um halb zwei, aber nie gegen Ende des Tages. Vielleicht konnte George ihm Näheres darüber sagen, falls er nicht auch schon nach Hause gegangen war. In seinem PC suchte Jason nach der Durchwahl zur Poststelle. Er ließ das Telefon zehn, zwölf Mal klingeln. Niemand meldete sich. Also war George noch auf dem Rückweg zu seinem Postzimmer, oder er war schon unterwegs zum Ausgang. Jason stand auf und lief zum Fahrstuhl. Es schien endlos lange zu dauern, bis der schließlich kam.
Jason stieg ein, drückte auf den grauen Knopf für GROUND FLOOR, und die Tür schloss sich wieder. Im Erdgeschoss öffnete sie sich, und er rannte hinaus.
»George!«, rief er, während er ins Postzimmer stürmte. Die kleine Kammer - die Wände voll mit übereinandergestapelten braunen Paketen und Schachteln mit Papier und Briefen - war leer. Jason durchsuchte die Stapel Briefumschläge und Notizen auf dem Schreibtisch, als sei die Lösung für das Geheimnis des Polaroidfotos dort zu finden.
Wo war George? Der Roosevelt Tower zählte zweiundvierzig Stockwerke. Die Suche nach ihm schien aussichtslos zu sein. Seine Gedanken wanderten wieder zurück zum Polaroidfoto. Wer tat so etwas? Wer, um des Himmels willen, machte sich die Mühe, ihm dieses Foto mit seiner bizarren Botschaft zu schicken? Es war ein übler Scherz, es ergab keinen Sinn. Jason holte tief Luft.
In diesem Moment kam George herein.
»Mister Evans.« George war wie immer förmlich.
»George, hören Sie mal, der Brief, den Sie mir eben gebracht haben, woher kommt der? Wer hat ihn abgegeben? So spät kommt die Post doch nicht mehr.«
»Tja«, sagte George und kratzte sich hinterm Ohr. »Er lag in meinem Postfach. Ich muss ihn übersehen haben.« Er zog die dichten Augenbrauen zusammen und kniff kurz die Lippen zusammen. »Ich dachte ...« Er schüttelte den Kopf und sah Jason ernst an. »War es wichtig? Hatten Sie ...« Er brach ab und musterte Jason. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mister Evans?«
»Wie meinen Sie das?« Jason schnauzte ihn beinahe an.
»Ähm, Entschuldigung, aber Sie sehen ein bisschen blass aus.«
Jason versuchte, wieder ruhig zu werden. George war eine Seele von Mensch; ein Bär, der niemandem etwas zuleide tat, und Jason war es peinlich, dass er den Mann so angefahren hatte.
»Sie haben ihn erst jetzt in Ihrem Postfach gefunden?«
George nickte.
»So ist es, Mister Evans.«
»Und Sie wissen nicht, wer ihn dort hineingelegt hat?«
George schüttelte betreten den Kopf.
»Ich sortiere die ganze Post sehr sorgfältig. Manchmal geht etwas schief, und das ...«
Wieder brach er ab und schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe das nicht, Mister Evans. Ich hätte schwören können, dass mein Fach leer war. Vollständig leer, wirklich wahr. Und als ich vor einer halben Stunde nachgesehen habe, einfach weil ich das oft tue, lag dort der Briefumschlag.«
Jason packte George an den Schultern.
»Denken Sie genau nach, George. Briefe tauchen nicht einfach so auf, aus dem Nichts. Jemand muss den Brief gebracht haben.«
George senkte den Kopf.
»Waren Sie die ganze Zeit hier?«, fragte Jason.
George sah hoch und schüttelte langsam den Kopf. »Nicht die ganze Zeit, Mister Evans. Ich habe noch mit Lori Kaffee getrunken. Und Mr Albraight von der Verwaltung hat angerufen. Dort war ich auch. Er hat sich wieder nach den laufenden Portokosten erkundigt. Er will immer, dass alles stimmt, bis auf den letzten Cent. Und außerdem ...«
»Sie haben also mehrmals den Raum verlassen«, stellte Ja- son fest.
»Das stimmt«, sagte George.
»Und dann lag plötzlich der Brief in dem Postfach.«
George nickte.
Zehn Minuten später war Jason wieder in seinem Büro. Der Ansatz zu der Werbekampagne für Tommy Jones starrte ihn vom Bildschirm seines Computers vorwurfsvoll an, doch Tommy und dessen Rostlauben waren aus seinen Gedanken verschwunden.
Jason griff wieder nach dem Polaroidfoto und warf einen letzten Blick auf das Tor, die Grabsteine und die handgeschriebene Zeile. Sorgfältig schob er das Foto in den Briefumschlag zurück und ließ ihn in die Innentasche seiner Jacke gleiten. Er nahm seine Aktentasche, schaltete den Computer aus und verließ sein Büro.
Du bist tot.
Makabre Post. War es nur ein dummer Scherz? Irgendwo tief in seinem Innern flüsterte eine Stimme, das ist kein Scherz. Er spürte, wie ihm heiß wurde. Ein Tropfen Schweiß bahnte sich seinen Weg über die Stirn. Mit einer schnellen Bewegung wischte er den Tropfen weg.
Jason erwachte, als sich ein Arm auf seine Brust legte. Er blinzelte schlaftrunken und blickte in Kaylas blaue Augen. Ihr langes schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab, und ihr Lächeln machte den Morgen rund und weich.
Jason erwiderte ihr Lächeln und ließ den Kopf wieder auf das Kissen zurückfallen. Sofort glitt ihr schlanker Körper auf ihn. Ihre Lippen suchten seine. Ihre Finger krochen im Zickzack seine Beine hoch.
»Deine Hand bringt mich ins Land der Extase«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Mäßiger Spruch, Mister Supertexter«, sagte sie. Ihre Finger fanden, wonach sie suchten. »Hmmm, das hier kann ich nicht als mäßig bezeichnen.«
Er stöhnte.
»Das Früstück gibt es heute leider etwas später ...«, flüsterte Kayla.
»... lassen wir es doch ganz ausfallen«, antwortete er und trat in Aktion.
Nach dem Duschen mussten sie sich beeilen, um rechtzeitig im Büro zu sein.
Kayla war Assistentin der Geschäftsleitung bei Demas Electrical, einem Hersteller von Motorteilen. Durch ihre Zuverlässigkeit hatte sie sich über die Jahre hinweg bei ihrem Chef, Patrick Voight, unersetzlich gemacht.
Während sie sich im Badezimmer schminkte, kümmerte Jason sich um das Frühstück. Als er Marmelade und Butter auf den Tisch stellte, schlich Kayla sich von hinten an ihn heran und umarmte ihn. Er drehte sich um. Ihr Haar war noch nass, und auf ihren Wangen lag frische Röte.
»Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?«, sagte sie und wies auf den Frühstückstisch. »Außerdem bist du als Hausmann wirklich gut zu gebrauchen, und obendrein bist du auch noch ein Gentleman.«
»Genau wie dein Boss. Manchmal bin ich richtig eifersüchtig auf ihn. Der gibt dir ständig Anweisungen, und du führst sie prompt für ihn aus.«
Sie machte sich los und bewegte ihren Zeigefinger wie einen Scheibenwischer vor seinen Augen.
»Nicht immer, Jason Evans, längst nicht immer, und das weißt du ganz genau. Ein paar Dinge tue ich nur für dich.«
Er wollte nach ihr greifen, doch sie schlüpfte unter seinen Händen durch und setzte sich. Ihr Blick wanderte über die Marmelade, die Butter, das Ei. Sie trommelte kurz mit den Fingern auf den Tisch.
»Ist der Toast schon fertig? Und wo ist das Besteck? Du weißt doch, dass ich nicht viel Zeit habe.«
Er schob sich neben sie, suchte ihren Blick und seufzte gequält.
»Siehst du, genau das meine ich. Da lege ich mich richtig ins Zeug für dich, und dann ist es wieder falsch. Waren es nicht die Frauen, die sich darüber beklagt haben, dass sie nur für das eine gebraucht werden? Und dass sie ansonsten als Sklavin dienen müssen?«
Sie feixte.
»Ach, ich finde, dass du deine Sache ganz ordentlich machst.
Kommt wahrscheinlich durch deine Arbeit. In einer Werbeagentur weiß man wenigstens, wie man seine Zielgruppe bei Laune halten muss.«
»Aha, meine kleine Zielgruppe«, sagte er.
»Dir ist es wieder mal geglückt, mich zu manipulieren. Ich bin dir halt ausgeliefert.«
»Na toll«, brummte er ein bisschen unwillig. »Also, wenn du Besteck haben willst, weißt du ja, wo du es findest.«
Sie stand auf und begann, im Besteckkasten zu wühlen.
»Schon wieder so ein mäßiger Spruch«, sagte sie. »Dein Marketing könnte eine kleine Verbesserung vertragen. Perfekt bist du noch nicht.«
»Noch nicht perfekt dressiert, meinst du wohl. Schließlich muss es ja noch etwas zu verbessern geben.«
Jason nahm zwei frische Scheiben aus dem Toaster. »Übrigens, nach der Arbeit gehe ich noch bei Pa vorbei.«
»Möchtest du, dass ich mitgehe?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Pa wird seine Feier bestimmt schon vorbereitet haben, und das bedeutet, dass ich nichts zu tun brauche, außer zuhören. Wenn du nicht unbedingt willst, würde ich sagen: Bleib ruhig zu Hause. Wir sind ja morgen dort, und ich bleibe nicht lange. Höchstens eine Stunde.«
Sie frühstückten schnell und räumten auf. Dann stieg jeder in sein Auto, und sie verließen Fernhill in den grünen Santa Monica Mountains zwischen Malibu und Santa Monica. Jason war hier in der Nähe aufgewachsen, genauer gesagt, im siebzehn Meilen entfernten Cornell. Kayla stammte aus Palm Springs, fühlte sich in Fernhill aber mehr als zu Hause.
Es war fast fünf Jahre her, dass Jason das Anwesen gekauft hatte. Nun ja, sein Vater hatte es für ihn gekauft. Er wusste, dass Jason dieses Haus haben wollte, und daher hatte er es auch bekommen. Jason hatte damals gerade erst bei Tanner & Preston angefangen, und die Bank hielt ihn noch nicht für kapitalkräftig genug, das Haus selbst zu erwerben.
Es hatte nicht viel gekostet, aber es musste eine Menge daran gemacht werden. Zusammen mit seinem Vater hatte er das Haus innerhalb eines Jahres eigenhändig renoviert. Das Resultat war ein typisches weiß gestrichenes Landhaus aus Holz im Neokolonialstil. Vor dem Haus hatten sie Rasen gesät, aufgelockert von üppigen Rabatten, in denen Kayla ihre weißen und violetten Lupinen und ihre riesigen Hortensien pflegte.
Am liebsten saßen sie jedoch auf der hinteren Veranda mit der weiten Aussicht über die Canyons rund um Fernhill. Mittlerweile nannten sie ihr Haus Canyonview. Es hatte nicht viele Räume: Wohnzimmer, Küche, Bad und zwei Schlafzimmer, von denen Jason eins als Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Mehr brauchten sie nicht.
Während Jason hinter Kayla über die Tuna Canyon Road in Richtung Pacific Coast Highway fuhr, dachte er an ihre erste Begegnung. Keine zehn Monate nach seinem Bruch mit Carla Rosenblatt, einer der drei Frauen, mit denen er eine ernsthafte Beziehung gehabt hatte, war er buchstäblich auf sie gestoßen.
Er lächelte und winkte Kayla noch kurz zu, als er zum Pacific Coast Highway abbog und sie weiter in Richtung Interstate 405 fuhr.
Erst als er sich in die Schlange auf der Interstate 10 Richtung Hollywood und Tanner & Preston einreihte, dachte er zum ersten Mal wieder an die Werbekampagne für Tommy Jones. Mit einem Mal bekam er Kopfschmerzen, und die vertrieben seine gute Laune. Heute musste irgendetwas zu Papier gebracht werden, wie auch immer. Zumindest musste Brian zufriedengestellt werden. Ein Konzept musste her, aber noch immer sorgte Tommy Jones für einen Fleck in seiner Fantasie. Er lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung. Morgen wurde sein Vater sechsundsechzig. In seinem Kopf ordnete er die paar Dinge, die er dafür zu erledigen versprochen hatte.
Die seltsame Post, die er tags zuvor bekommen hatte, beschäftigte ihn nicht.
Aus seinem Vorhaben, sich sofort hinter den Computer zu klemmen, wurde nichts. Er hatte gerade erst begonnen, seine neuen Mails durchzugehen, als Barbara Baker kam, um sich bei ihm zu beschweren. Sie fühlte sich unterbewertet. Babs fungierte als unverzichtbares Mädchen für alles, spielte Telefonistin, erledigte administrative Aufgaben und war Designassistentin. Sie musste mit Designer Donald Nelson und Artdirector Carol Martinez zusammenarbeiten. Zwischen Babs und Carol lief es nicht gut. Babs ließ durchblicken, dass Carol sich kein Bein ausriss. »Ich bin hier nur Assistentin, mache aber die meiste Arbeit«, sagte sie. »Es muss doch möglich sein, dass ich mehr als nur Assistentin bin.«
Jason hatte keine Lust, ihr wieder einmal zu erklären, dass Carol sechs Jahre länger in diesem Job arbeitete und dass sie mehr Erfahrung hatte. Dass sie, wenn sie keinen häuslichen Stress hätte, bestimmt noch bessere Leistungen abliefern würde, sagte er nicht. Carols Ehe stand auf der Kippe. Jason war darüber informiert. Donald auch, doch außer ihnen wusste niemand in der Firma davon. Carol Martinez hatte andere Dinge im Kopf. Das war unangenehm, aber er konnte kaum etwas anderes tun, als Verständnis für ihre Situation zu zeigen, abzuwarten und ansonsten den Mund zu halten. Auch Babs gegenüber.
»Du machst das prima, Barbara«, sagte er. »Ich sehe, wie du dich von Woche zu Woche verbesserst. Deine Ideen und Lösungen sind gut. Hab Geduld. Deine Zeit kommt bestimmt.«
Er musterte ihr Outfit. Enge Jeans, genauso enges Top, das ihren Bauchnabel freiließ. Jason hatte mit Kayla schon mal über Babs' herausfordernde Kleidung gesprochen. Seine Frau hatte ihn gewarnt, sie nicht zu oft anzustarren. Was überflüssig war, denn so jung und attraktiv Babs auch sein mochte, Ja- son war Kayla absolut treu. Not available nannte er das in Gedanken.
Barbara muckte immer noch auf. Wenn er meinte, dass sie gute Arbeit leiste, warum konnte sie sich dann nicht häufiger mit Designeraufgaben beschäftigen?
»Ich will nicht mehr ans Telefon gehen, und dieser ganze administrative Kram hängt mir zum Hals raus«, sagte sie. »Ich will endlich meine eigenen Ideen verwirklichen.«
Jason appellierte noch einmal an ihre Geduld. Schließlich ging sie wieder, sichtlich unzufrieden. Er sah bekümmert hinter ihr her. Sie hatte Talent und Ehrgeiz. Das musste genutzt werden. Wenn sie unzufrieden blieb, würde sie ihr Heil irgendwo anders suchen, und das wollte er verhindern. Er musste mit Brian darüber reden. Aber erst morgen; jetzt stand erst mal Tommy Jones an.
Doch dies schien immer noch nicht der Tag für den Autokönig zu werden. Brian kam herein, angeblich um mit ihm über die Arbeit zu sprechen, aber schon bald ließ er die Katze aus dem Sack. Er beklagte sich über seine Louise, die plötzlich keine Lust mehr hatte auf die geplante Woche Las Vegas. Das hatte natürlich mit Brians Zockerei zu tun, die schon an Sucht grenzte. Meistens kam er um Tausende Dollars ärmer aus Las Vegas zurück. Louise hatte das Jason gegenüber mal erwähnt. Er vermutete, dass sie das einfach nicht mehr mitmachen wollte. Aber wie sollte er Brian das klarmachen? Es gelang ihm nicht, die richtigen Worte zu finden. Glücklicherweise bekam Brian einen wichtigen Telefonanruf und eilte in sein Büro zurück.
Die Nächste, die in seinem Büro aufkreuzte, war Carol. Ausgerechnet gestern Abend war es zwischen ihr und ihrem Mann wieder mal zum Streit gekommen. Nach dem Krach hatte Carol einen Koffer gepackt und bei ihrer Mutter übernachtet. Aber sie hatte kein Auge zugemacht. Sie wollte nicht wieder zurück.
»Es ist vorbei, Jason«, schluchzte sie unter Tränen. »Zwölf gute Jahre Ehe im Eimer.«
Jason fühlte sich langsam wie ein Sozialarbeiter. Er legte ihr einen Arm um die Schulter, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Es gab nichts, womit er sie hätte trösten können.
»Nimm dir heute frei«, sagte er.
Sie sah ihn dankbar an.
»Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest«, meinte sie. »Ich gehe mit meiner Mutter einkaufen, aber morgen bin ich wieder da.«
Sie wischte die Tränen weg, die ihr Make-up verschmiert hatten, und verließ sein Büro. Jason blickte hinter ihr her und sah, wie Donald sie in den Arm nahm. Das war vielleicht das nächste außerdienstliche Problem. Donald war in Carol verliebt. Jason fragte sich, wie viel Schuld Donald an Carols Ehekrise hatte. Ihre Affäre war inzwischen ein offenes Geheimnis. Auch Babs wusste davon. Wahrscheinlich war das ein weiterer Grund, warum sie Carol so wenig mochte. Falls Carol und Donald sich noch enger zusammentun würden, gäbe es nie mehr eine freie Stelle für sie.
Jason seufzte. Das letzte Mitglied des Teams, Werbetexter Anthony Wilson, beobachtete die Szene der betrübten Carol und des Trost spendenden Donald mit einem Kopfschütteln.
Er blieb in der Tür zu Jasons Büro stehen und zog die dicken, dunklen Augenbrauen hoch. Wenn es Tony nicht gäbe, dachte Jason. Mein Fels in der Brandung, mein einziger Mitarbeiter ohne Probleme. Tony war durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Ledig, unkompliziert, ein Einzelgänger, der kaum auffiel, außer durch seine oft brillanten Texte für die Werbekampagnen von Tanner & Preston. Mit Tony konnte man Stunden verbringen, ohne dass mehr als zehn Wörter die Stille störten.
»Stimmt was nicht?«, fragte Tony und wies mit dem Daumen hinter sich in Richtung Carol und Donald.
Jason schüttelte den Kopf.
»Dann müssen wir beide es heute wohl allein richten«, sagte Tony.
»Das tun wir, Tony«, bekräftigte Jason mit dem Anflug eines Lächelns.
Er sah auf die Uhr. Fast halb zwölf.
»Zeit für den Autokönig«, sagte er, während Tony sich an seinen Computer setzte.
Edward konnte ohne Weiteres als durchtrainierter Fünfzigjähriger durchgehen. Grauer Bürstenhaarschnitt im Marinelook, kein Gramm Fett zu viel, muskulöse Arme, sonnengebräunt. Er war fast sechsundsechzig und einen Kopf kleiner als sein Sohn. Als Jason hereinkam, sah er ihn eine Weile durchdringend an. Die Falten wurden etwas tiefer.
»Du siehst müde aus, Junge. Läuft alles gut?«
»Ich bin auch müde, Pa«, sagte Jason. »Es gibt Tage, da läuft alles quer, und heute ist so einer.«
»Haufen Arbeit«, sagte sein Vater.
»Wenn es nur das wäre.« Jason seufzte.
Edward zog die Augenbrauen zusammen. Jason überlegte kurz, ob er sein Herz ausschütten sollte, wegen Carol, Barbara, Donald, seinem Chef, doch dann behielt er es für sich. Er betonte immer, dass er keine Sorgen kannte, und er hatte sich vor langer Zeit vorgenommen, sein Arbeitsleben nicht mit nach Hause zu schleppen. Auch jetzt würde er daran festhalten.
»Lass uns über dich reden, Pa. Du hast morgen Geburtstag. Hast du alles im Griff für die große Feier?«
Die Sorgenfalte über den braunen Augen seines Vaters hielt sich noch einen Moment.
»Du tust so, als könnte ich es nicht allein schaffen. Eigentlich müsstest du es besser wissen.«
»Natürlich. Ich meine nur, wenn es noch was zu erledigen gibt, können Kayla und ich es morgen machen. Letzte Einkäufe, irgendwas schleppen oder umräumen ...«
»Eben hast du noch gesagt, dass du viel zu tun hast.«
»Stimmt, aber du weißt, was ich meine.«
Das Gespräch verlief wieder nach dem gewohnten Muster. Er bot Hilfe an, und Pa lehnte freundlich, aber bestimmt ab.
»Über deinen alten Herrn brauchst du dir wirklich nicht den Kopf zu zerbrechen«, sagte Edward. »Die Einkäufe sind alle erledigt. Morgen rücke ich die Möbel an die Seite, und dann können die Gäste kommen. Du brauchst nur mit deiner hübschen Kayla zu kommen, den Rest kannst du mir überlassen.«
Sein Vater hatte Recht. Es gab nichts, wo er gebraucht wurde oder helfen musste. Er kannte die Kräfte, die sein Vater hatte, denn er spürte sie auch in sich selbst. Niemals Schwäche zeigen. Was du alleine tun kannst, das tu auch allein.
Das einzige Mal, dass Edward die Unterstützung seines Sohns gebraucht hatte, war am Krankenbett von Jasons Mutter gewesen, als es nach der Diagnose unheilbarer Lungenkrebs zum Sterbebett wurde. Und während der Monate nach dem viel zu frühen Tod von Donna. Sie war gerade mal siebenundvierzig Jahre alt.
Edward hatte seine Donna von ganzem Herzen geliebt. Doch das war jetzt neun Jahre her, und die Zeit heilte viele Wunden. Das Leben ging weiter. Die Dinge sind, wie sie sind, war Edwards Leitspruch. Simpel, aber dagegen war kaum etwas einzuwenden.
Jason spürte die gleiche Nüchternheit in sich. Man konnte das Leben unnötig komplizierter machen, als es in Wirklichkeit war. Manchmal störte sich Kayla an seiner Einstellung. Ihrer Meinung nach waren Männer, die manchmal eine Träne vergossen, nicht gleich Weicheier oder Heulsusen. Aber Jason weinte nie. Die wenigen Schwierigkeiten, in die er geraten war, hatte er selbst aus dem Weg geräumt, und das gab ihm immer ein gutes Gefühl.
Zugegeben, Jason hatte eine angenehme Jugend gehabt. Obwohl sein Vater nicht viel Geld gehabt hatte, hatte er immer so viel wie möglich für seinen einzigen Sohn zurückgelegt. Jason war in der Lage gewesen, zu studieren. Was und wo er wollte. Diese Unterstützung und das Vertrauen seiner Eltern wollte Jason auf seine ihm eigene Weise zurückgeben.
Während sein Vater Kaffee aufsetzte, warf Jason einen Blick aus dem Fenster. Die abwechslungsreichen Canyons und Wälder glänzten unter einem strahlend blauen Himmel. Mit seinem Vater teilte er die Liebe zur Natur. Sie waren Landmenschen, die Stadt war nichts für sie. Jason hatte sein Panorama von der Veranda in Fernhill aus, dies hier war das Panorama, das Edward während des größten Teils seines Lebens genossen hatte. Und es war das Panorama, das er auch noch an seinem letzten Tag genießen wollte. Er würde nie umziehen, auch nicht, wenn er hilfsbedürftig werden sollte. Jason wusste, dass er es dann mit der Halsstarrigkeit und dem Eigensinn zu tun bekäme, die er auch in sich selbst spürte. Doch das waren zukünftige Sorgen. Jetzt war Edward ein starker älterer Mann, der durchaus im Stande war, sich selbst zu helfen.
Er wandte sich vom Fenster ab und nahm von Edward den Becher dampfenden Kaffee entgegen. Ihre Blicke trafen sich kurz. Kein Lächeln, kein Stirnrunzeln oder dergleichen, nur ein einfacher Blick gegenseitigen Einvernehmens.
»Deine erste Feier ohne Onkel Chris«, sagte Jason.
»Ja«, sagte sein Vater ruhig, mehr nicht.
Jason beschloss, auch nicht mehr zu sagen. Chris, der sich erhängt hatte, weil er Krebs hatte und weil er die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte. Er trank seinen Kaffee aus und stellte den Becher weg.
»Also, Pa, wenn du schon alles erledigt hast, dann mache ich mich mal zu meiner schönen Kayla auf. Wir sehen uns morgen. «
Eine halbe Stunde später betrat er Canyonview. Kayla war nicht im Wohnzimmer. Es duftete nach Blüten. Er wusste, wo sie war. Sie lag in der Badewanne, bedeckt von einer dicken Schicht Schaum.
Er beugte sich über sie und küsste sie. »Du leistest dir eine Genießerstunde ganz für dich allein.«
»So ist es. Herrlich! Wie war es bei deinem Pa?«
»Prima, er ist mit allem fertig. Wie war dein Tag?«
Es sah aus, als zuckte sie mit den Achseln, denn der Schaum zu beiden Seiten ihres Kopfes bewegte sich hoch und runter.
»Nichts Besonderes. Wir mussten uns ziemlich ranhalten, um das Urlaubsmailing hinter uns zu bringen. Patrick hat darauf bestanden. Meines Erachtens hätte es auch morgen gereicht, aber nun ja, der Wille des Chefs ist Gesetz, nicht wahr? Und du? Bist du mit deinen Überlegungen für den Autokönig vorangekommen?«
»Ja, schließlich doch noch, dank Tony. Er hatte am frühen Nachmittag eine gute Idee, und die haben wir in ein paar Stunden zu einem ganz passablen Ansatz ausgearbeitet. Bis Anfang nächster Woche habe ich Zeit, die Konzeption fertigzustellen. Die Umsetzung der Kampagne muss vor den Ferien abgeschlossen sein.«
»Schön«, sagte sie und setzte sich aufrecht hin. »Möchtest du auch baden? Hier ist noch Platz für dich. Die Wanne ist sehr groß.«
Er lächelte.
»Das wusste ich noch gar nicht. Aber ich glaube, ich schaue mir mal eben die Zeitung durch.«
Sie sah ein bisschen verdutzt drein.
»Du magst es nicht, wenn ich dir den Rücken schrubbe? Dann mach, dass du Land gewinnst. An dir habe ich auch nichts.«
Die Post lag wie gewöhnlich neben dem Telefon in einem Behältnis, das sie Lesekorb nannten. Er betrachtete den Stapel Briefumschläge. Rechnungen, Reklame und ein brauner Umschlag ohne Absender. Nur sein Name stand darauf. Jason riss den Umschlag auf.
Es wurde spürbar kälter, als er das Foto herausnahm. Ein Polaroidfoto. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Wieder sah er Gräber. Aber andere als auf dem ersten Foto. Er drehte das Bild um. Die Blockschrift war ihm bekannt.
Du glaubst zu leben, doch es gibt dich nicht.
Jason stand da wie angewurzelt. Er blinzelte ein paarmal, versuchte, das alles zu begreifen. Die Wörter schienen ihn anzuspringen, aber sein Verstand fing sie nicht auf. Wieder betrachtete er die Vorderseite.
Es handelte sich eindeutig um ein anderes Foto. Kein Tor zwischen den Bäumen. Diesmal war die Linse des Fotografen auf eine Art Grabdenkmal oder Mausoleum gerichtet, ein pyramidenförmiges Bauwerk aus dunklem Marmor. Die Pyramide stand in der Mitte des Bildes. Dahinter ragten Grabsteine empor.
Er legte das Foto und den Umschlag vorsichtig hin, als handelte es sich um Sprengstoff. Sein Herz schlug immer noch viel zu schnell. Er schaute sich um, ohne zu wissen, was er suchte. Dann nahm er den Umschlag wieder in die Hand. Eine gewöhnliche Briefmarke, genau wie die erste. Auch wieder zugestellt durch die Post.
Nichts Ungewöhnliches.
Mal abgesehen von dem Foto und dem Text auf der Rückseite. Seine Gedanken blieben an den Wörtern hängen. Soweit er es beurteilen konnte, war er springlebendig. Als er das letzte Mal in den Spiegel geblickt hatte, war kein anderer Schluss möglich gewesen.
Beabsichtigte der Absender vielleicht, ihn zu töten? Bestand darin die Bedeutung der Wörter? War es eine Morddrohung? Aber warum? In Gedanken ging er die paar Menschen durch, mit denen er jemals Streit gehabt hatte. Niemand passte in dieses Bild.
So stand er mehrere Minuten da und starrte wie betäubt vor sich hin. Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter.
© 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Ihm war nicht wohl bei der Sache. Er war ein alter Mann, leichte Beute für jemanden, der einen Raubüberfall verübte. Kurz hatte er den Verdacht, dieser späte, unerwartete Besucher trüge vielleicht Gedanken in sich, die genauso dunkel waren wie die Finsternis, die ihn umhüllte wie ein Mantel.
Doch hätte er dann geklingelt? Nein, vermutlich hätte er sich auf andere Weise Zugang zum Haus verschafft.
Aber vielleicht überbrachte jemand auch einfach nur eine schlechte Nachricht. Womöglich von einem Bekannten, der einen Schlaganfall oder eine Herzattacke erlitten hatte. Darauf musste man gefasst sein, wenn zu dieser späten Stunde ein Fremder vor der Tür stand.
Deshalb hatte er die Tür geöffnet, trotz seiner Bedenken.
Ungefähr zwei Stunden später lag er mit gebrochenem Nasenbein unter dem Fuß dieses Mannes in Schwarz.
»Gut«, ertönte eine schleppende, leise Stimme über ihm. »Jetzt bezahlst du für deine Lügen.«
Er konnte nicht antworten. Nicht mehr. Er konnte kaum Atem holen, geschweige denn, dass er noch ein Wort hätte herausbringen können.
Der Fremde zog ihn am Kragen seines grün-weiß karierten Hemdes hoch und rammte ihm ein Knie in den Rücken. Flammender Schmerz fuhr ihm ins Rückgrat. Danach ließ sein Peiniger ihn wieder zu Boden fallen, als sei er ein Sack Kartoffeln. Er kniff die Augen zusammen, versuchte zu atmen und presste den Ballen seiner rechten Hand gegen die Nase.
Danach ging alles sehr schnell. Grob wurde er nach oben auf den Dachboden geschleift. Der Kerl in Schwarz legte ihm einen Strick um den Hals und schnürte ihn unter seinem Kinn fest. Wie eine Feder wurde er hochgehoben. Dann stand er schwankend auf einem knarrenden Stuhl. Der Strick, der ihm schon in den Hals schnitt, wurde noch strammer gezogen. Gezwungenermaßen ging er auf die Zehenspitzen und versuchte, die Balance zu halten.
Inzwischen hatte er jeden Widerstand aufgegeben. Wieder wurde ihm schwarz vor Augen, sodass er nicht mehr klar denken konnte. Dazu kam das unerträgliche Hämmern im Kopf, seit der Peiniger sich mit vollem Gewicht daraufgestellt hatte.
Jetzt erst sah er, dass der Strick um seinen Hals direkt über ihm um den massiven Holzbalken an der Decke geworfen und daran festgebunden war.
Er starrte seinem Mörder ins Gesicht. Der stank, und in seinen Augen glühte ein falsches Feuer.
Mit schwindenden Sinnen nahm er gerade noch wahr, wie der rechte Fuß des Mannes in Schwarz sich bewegte, danach spürte er nur noch, wie der Stuhl unter ihm zur Seite fiel.
Jason, war sein allerletzter Gedanke. O Gott, Jason!
Jason Evans machte sich Sorgen. Das war selten der Fall. Es gab wenig, worüber er sich zu beklagen hatte, doch an jenem Tag, als das Elend begann, nagte etwas an ihm.
An diesem Montag, dem 13. Juli, musste er das Konzept für eine Werbekampagne entwerfen, und damit kam er nicht voran. Lag das am Auftraggeber? Oder hatte er einfach einen schlechten Tag? Wie auch immer, er musste sich etwas einfallen lassen für Tommy Jones, und zwar in erster Linie für dessen Autohandel. Besser gesagt: für das Gebrauchtwagen-Imperium des Autokönigs. Nein, diesen Namen hätte sich Jason nie und nimmer ausdenken können oder wollen. Tommy Jones hatte sich einst selbst zum Autokönig gekrönt. »Super, was?«, hörte er Tommy in Gedanken sagen. »Ich könnte glatt in die Werbung gehen.«
Was konnte man noch für einen Mann aus dem Hut zaubern, für den während der letzten dreißig Jahre schon alles erfunden worden war, was es zu erfinden gab, und dessen Produkt einem nicht schmeckte?
Jason konnte sich gut daran erinnern, dass er früher einmal, als Achtzehnjähriger, selbst bei Tommy eine gebrauchte Rostlaube gekauft hatte. Der uralte rote Plymouth Road Runner hatte ihn schon nach zwei Monaten im Stich gelassen. Das war das erste und zugleich das letzte Mal gewesen, dass er sich einen Wagen beim Autokönig besorgt hatte. Und jetzt musste Jason seine kreative Energie für diesen Betrüger einsetzen: Tommy Jones war einer der wichtigsten Kunden von Tanner & Preston, der Werbeagentur, für die Jason als Artdirector arbeitete. Brian Anderson, Jasons Boss, hatte ausgerechnet ihn zum Chef des Teams ernannt, das dem neuen Klienten, der gerade vom Konkurrenten Foote, Grey & Hardy abgesprungen war, den Hof machen musste.
Jason wischte sich das glatte schwarze Haar aus den Augen. Keine Inspiration. Lag es daran, dass er dem Autokönig heute zum ersten Mal begegnet war? Das blendende Zahnpastalächeln von Tommy Jones hatte ihm schon oft aus Anzeigen und von Reklametafeln entgegengestrahlt, doch es war das erste Mal gewesen, dass er dem Autokönig in Brians Büro die Hand geschüttelt hatte. Tommy - mittlerweile zweiundsechzig - sah in Wirklichkeit viel blasser und älter aus. Fotoshop macht's möglich, dachte Jason. Nur das berühmte Grinsen und das runde Gesicht stimmten noch. Von seiner immer sorgfältig gekämmten Haarpracht war nur noch wenig übrig geblieben, und das Blond war zu Grau geworden. Klein, aber stämmig war er; einen Kopf kleiner als Jason. Und energiegeladen.
Macht mal was anderes, hatte er Jason und Brian mit beschwörenden Gesten zugerufen. Stellt mal was anderes mit meinen Autos an. Macht sie attraktiver, schöner ... Mein Gott, macht sie richtig sexy.
Sexy?, hatte Jason sich gefragt. Sexy! Meine Güte, wie sexy war das damals, als mein Schlitten den Geist aufgegeben hat, ich pleite war und mich zwei Monate lang in einem McDonald's-Laden krummlegen musste, um das Geld für einen neuen zu verdienen - einen besseren als diese Klapperkiste von dir.
Natürlich hatte er das nicht laut gesagt. Es wäre auch nicht fair gewesen. Die Zeiten hatten sich geändert. Seinen metallisch glänzenden Buick LaCrosse CX gab es nicht mal bei Nirgends billiger, nirgends schlechter-Jones zu kaufen.
Wie auch immer, seit der Zusammenstellung des Tom-Jones- Teams vor nunmehr vierzehn Tagen hatte er sich noch nicht mal eine Anfangsidee für eine Kampagne einfallen lassen, mit der man das Imperium des Autokönigs sexy machen konnte. Sein angestammter Werbetexter Anthony Wilson hatte auch noch nichts Brauchbares vorgeschlagen, trotz mehrmaligen Brainstormings.
Jasons Blick wanderte durch das menschenleere Großraumbüro und blieb an der Schreibtischuhr in Form zweier Herzen hängen, einem Geschenk seiner Kayla. Sechs Uhr vorbei. Barbara, Carol, Donald und Anthony waren schon gegangen. Er war allein hier. Die ganze vierundzwanzigste Etage des Roosevelt Tower im Herzen von Los Angeles gehörte jetzt nur ihm. Er starrte nach draußen. Die Hitze hing immer noch wie eine schwüle Decke über der Stadt. Noch vier Wochen, dann hatte er Urlaub. Dann konnte er diesen Hexenkessel Los Angeles endlich hinter sich lassen und in den Rocky Mountains abtauchen. Zusammen mit Kayla. Noch vier Wochen.
Vorher brauchte er aber irgendeinen Geistesblitz für Tommy Jones. Er seufzte. Heute gelang es ihm wieder nicht. Er stand auf und wollte alles liegen und stehen lassen, als George aus der Poststelle hereinkam. Er wedelte mit einem braunen Briefumschlag.
»Hier ist noch eine späte Lieferung«, sagte er, gab Jason den Umschlag und ging wieder.
Jason starrte einen Moment auf den breiten Rücken, der sich langsam entfernte. Dann fiel sein Blick auf den Briefumschlag. Auf der Vorderseite standen in eckiger Blockschrift Jasons Name und Adresse, sonst nichts, ein Logo oder der Name des Absenders fehlten. Er runzelte die Stirn, nahm, ohne hinzusehen, seinen silbernen Brieföffner von der Schreibtischgarnitur und schlitzte den Umschlag auf. Er enthielt nichts - außer einem Polaroidfoto. Es zeigte ein Tor, flankiert von mächtigen Eichen. Dahinter ragten windschiefe verwitterte Grabsteine aus der Erde.
Jason sah noch einmal in den Umschlag. Doch er war leer. Er drehte das Foto um, und erst jetzt entdeckte er, dass hinten etwas draufgeschrieben war, in derselben Blockschrift:
Du bist tot.
Lange starrte er auf die Wörter. Dann sah er sich die Vorderseite des Polaroidfotos genauer an. Grabsteine hinter einem alten Tor.
»Was ist das?«, murmelte er. Wieder betrachtete er den Text auf der Rückseite.
Er verstand das alles nicht. Irritiert drehte er das Bild noch einmal um. Er kannte den Friedhof nicht. Zwischen den Grabsteinen wuchs hohes Gras; alles machte einen verwahrlosten Eindruck. Im Hintergrund sah er eine Reihe niedriger Bäume.
Ob Shaun ihm das geschickt hatte? Nein, das war nicht seine Handschrift. Der würde das auch nicht tun. Aber wer sonst? Und weshalb?
Wieder untersuchte er den Briefumschlag. Kein Hinweis, kein Absender. Auf der Vorderseite standen unter der Briefmarke sein Name und die Adresse seines Arbeitgebers.
Die Zustellung war durch United States Postal Service erfolgt.
Jason wusste nicht, was er davon halten sollte. Er sah hoch. George war weg.
Wieso war der Brief erst jetzt unten in der Poststelle eingegangen? Um diese Zeit wurde doch keine Post mehr zugestellt. Die Post kam frühmorgens und ungefähr um halb zwei, aber nie gegen Ende des Tages. Vielleicht konnte George ihm Näheres darüber sagen, falls er nicht auch schon nach Hause gegangen war. In seinem PC suchte Jason nach der Durchwahl zur Poststelle. Er ließ das Telefon zehn, zwölf Mal klingeln. Niemand meldete sich. Also war George noch auf dem Rückweg zu seinem Postzimmer, oder er war schon unterwegs zum Ausgang. Jason stand auf und lief zum Fahrstuhl. Es schien endlos lange zu dauern, bis der schließlich kam.
Jason stieg ein, drückte auf den grauen Knopf für GROUND FLOOR, und die Tür schloss sich wieder. Im Erdgeschoss öffnete sie sich, und er rannte hinaus.
»George!«, rief er, während er ins Postzimmer stürmte. Die kleine Kammer - die Wände voll mit übereinandergestapelten braunen Paketen und Schachteln mit Papier und Briefen - war leer. Jason durchsuchte die Stapel Briefumschläge und Notizen auf dem Schreibtisch, als sei die Lösung für das Geheimnis des Polaroidfotos dort zu finden.
Wo war George? Der Roosevelt Tower zählte zweiundvierzig Stockwerke. Die Suche nach ihm schien aussichtslos zu sein. Seine Gedanken wanderten wieder zurück zum Polaroidfoto. Wer tat so etwas? Wer, um des Himmels willen, machte sich die Mühe, ihm dieses Foto mit seiner bizarren Botschaft zu schicken? Es war ein übler Scherz, es ergab keinen Sinn. Jason holte tief Luft.
In diesem Moment kam George herein.
»Mister Evans.« George war wie immer förmlich.
»George, hören Sie mal, der Brief, den Sie mir eben gebracht haben, woher kommt der? Wer hat ihn abgegeben? So spät kommt die Post doch nicht mehr.«
»Tja«, sagte George und kratzte sich hinterm Ohr. »Er lag in meinem Postfach. Ich muss ihn übersehen haben.« Er zog die dichten Augenbrauen zusammen und kniff kurz die Lippen zusammen. »Ich dachte ...« Er schüttelte den Kopf und sah Jason ernst an. »War es wichtig? Hatten Sie ...« Er brach ab und musterte Jason. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mister Evans?«
»Wie meinen Sie das?« Jason schnauzte ihn beinahe an.
»Ähm, Entschuldigung, aber Sie sehen ein bisschen blass aus.«
Jason versuchte, wieder ruhig zu werden. George war eine Seele von Mensch; ein Bär, der niemandem etwas zuleide tat, und Jason war es peinlich, dass er den Mann so angefahren hatte.
»Sie haben ihn erst jetzt in Ihrem Postfach gefunden?«
George nickte.
»So ist es, Mister Evans.«
»Und Sie wissen nicht, wer ihn dort hineingelegt hat?«
George schüttelte betreten den Kopf.
»Ich sortiere die ganze Post sehr sorgfältig. Manchmal geht etwas schief, und das ...«
Wieder brach er ab und schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe das nicht, Mister Evans. Ich hätte schwören können, dass mein Fach leer war. Vollständig leer, wirklich wahr. Und als ich vor einer halben Stunde nachgesehen habe, einfach weil ich das oft tue, lag dort der Briefumschlag.«
Jason packte George an den Schultern.
»Denken Sie genau nach, George. Briefe tauchen nicht einfach so auf, aus dem Nichts. Jemand muss den Brief gebracht haben.«
George senkte den Kopf.
»Waren Sie die ganze Zeit hier?«, fragte Jason.
George sah hoch und schüttelte langsam den Kopf. »Nicht die ganze Zeit, Mister Evans. Ich habe noch mit Lori Kaffee getrunken. Und Mr Albraight von der Verwaltung hat angerufen. Dort war ich auch. Er hat sich wieder nach den laufenden Portokosten erkundigt. Er will immer, dass alles stimmt, bis auf den letzten Cent. Und außerdem ...«
»Sie haben also mehrmals den Raum verlassen«, stellte Ja- son fest.
»Das stimmt«, sagte George.
»Und dann lag plötzlich der Brief in dem Postfach.«
George nickte.
Zehn Minuten später war Jason wieder in seinem Büro. Der Ansatz zu der Werbekampagne für Tommy Jones starrte ihn vom Bildschirm seines Computers vorwurfsvoll an, doch Tommy und dessen Rostlauben waren aus seinen Gedanken verschwunden.
Jason griff wieder nach dem Polaroidfoto und warf einen letzten Blick auf das Tor, die Grabsteine und die handgeschriebene Zeile. Sorgfältig schob er das Foto in den Briefumschlag zurück und ließ ihn in die Innentasche seiner Jacke gleiten. Er nahm seine Aktentasche, schaltete den Computer aus und verließ sein Büro.
Du bist tot.
Makabre Post. War es nur ein dummer Scherz? Irgendwo tief in seinem Innern flüsterte eine Stimme, das ist kein Scherz. Er spürte, wie ihm heiß wurde. Ein Tropfen Schweiß bahnte sich seinen Weg über die Stirn. Mit einer schnellen Bewegung wischte er den Tropfen weg.
Jason erwachte, als sich ein Arm auf seine Brust legte. Er blinzelte schlaftrunken und blickte in Kaylas blaue Augen. Ihr langes schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab, und ihr Lächeln machte den Morgen rund und weich.
Jason erwiderte ihr Lächeln und ließ den Kopf wieder auf das Kissen zurückfallen. Sofort glitt ihr schlanker Körper auf ihn. Ihre Lippen suchten seine. Ihre Finger krochen im Zickzack seine Beine hoch.
»Deine Hand bringt mich ins Land der Extase«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Mäßiger Spruch, Mister Supertexter«, sagte sie. Ihre Finger fanden, wonach sie suchten. »Hmmm, das hier kann ich nicht als mäßig bezeichnen.«
Er stöhnte.
»Das Früstück gibt es heute leider etwas später ...«, flüsterte Kayla.
»... lassen wir es doch ganz ausfallen«, antwortete er und trat in Aktion.
Nach dem Duschen mussten sie sich beeilen, um rechtzeitig im Büro zu sein.
Kayla war Assistentin der Geschäftsleitung bei Demas Electrical, einem Hersteller von Motorteilen. Durch ihre Zuverlässigkeit hatte sie sich über die Jahre hinweg bei ihrem Chef, Patrick Voight, unersetzlich gemacht.
Während sie sich im Badezimmer schminkte, kümmerte Jason sich um das Frühstück. Als er Marmelade und Butter auf den Tisch stellte, schlich Kayla sich von hinten an ihn heran und umarmte ihn. Er drehte sich um. Ihr Haar war noch nass, und auf ihren Wangen lag frische Röte.
»Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?«, sagte sie und wies auf den Frühstückstisch. »Außerdem bist du als Hausmann wirklich gut zu gebrauchen, und obendrein bist du auch noch ein Gentleman.«
»Genau wie dein Boss. Manchmal bin ich richtig eifersüchtig auf ihn. Der gibt dir ständig Anweisungen, und du führst sie prompt für ihn aus.«
Sie machte sich los und bewegte ihren Zeigefinger wie einen Scheibenwischer vor seinen Augen.
»Nicht immer, Jason Evans, längst nicht immer, und das weißt du ganz genau. Ein paar Dinge tue ich nur für dich.«
Er wollte nach ihr greifen, doch sie schlüpfte unter seinen Händen durch und setzte sich. Ihr Blick wanderte über die Marmelade, die Butter, das Ei. Sie trommelte kurz mit den Fingern auf den Tisch.
»Ist der Toast schon fertig? Und wo ist das Besteck? Du weißt doch, dass ich nicht viel Zeit habe.«
Er schob sich neben sie, suchte ihren Blick und seufzte gequält.
»Siehst du, genau das meine ich. Da lege ich mich richtig ins Zeug für dich, und dann ist es wieder falsch. Waren es nicht die Frauen, die sich darüber beklagt haben, dass sie nur für das eine gebraucht werden? Und dass sie ansonsten als Sklavin dienen müssen?«
Sie feixte.
»Ach, ich finde, dass du deine Sache ganz ordentlich machst.
Kommt wahrscheinlich durch deine Arbeit. In einer Werbeagentur weiß man wenigstens, wie man seine Zielgruppe bei Laune halten muss.«
»Aha, meine kleine Zielgruppe«, sagte er.
»Dir ist es wieder mal geglückt, mich zu manipulieren. Ich bin dir halt ausgeliefert.«
»Na toll«, brummte er ein bisschen unwillig. »Also, wenn du Besteck haben willst, weißt du ja, wo du es findest.«
Sie stand auf und begann, im Besteckkasten zu wühlen.
»Schon wieder so ein mäßiger Spruch«, sagte sie. »Dein Marketing könnte eine kleine Verbesserung vertragen. Perfekt bist du noch nicht.«
»Noch nicht perfekt dressiert, meinst du wohl. Schließlich muss es ja noch etwas zu verbessern geben.«
Jason nahm zwei frische Scheiben aus dem Toaster. »Übrigens, nach der Arbeit gehe ich noch bei Pa vorbei.«
»Möchtest du, dass ich mitgehe?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Pa wird seine Feier bestimmt schon vorbereitet haben, und das bedeutet, dass ich nichts zu tun brauche, außer zuhören. Wenn du nicht unbedingt willst, würde ich sagen: Bleib ruhig zu Hause. Wir sind ja morgen dort, und ich bleibe nicht lange. Höchstens eine Stunde.«
Sie frühstückten schnell und räumten auf. Dann stieg jeder in sein Auto, und sie verließen Fernhill in den grünen Santa Monica Mountains zwischen Malibu und Santa Monica. Jason war hier in der Nähe aufgewachsen, genauer gesagt, im siebzehn Meilen entfernten Cornell. Kayla stammte aus Palm Springs, fühlte sich in Fernhill aber mehr als zu Hause.
Es war fast fünf Jahre her, dass Jason das Anwesen gekauft hatte. Nun ja, sein Vater hatte es für ihn gekauft. Er wusste, dass Jason dieses Haus haben wollte, und daher hatte er es auch bekommen. Jason hatte damals gerade erst bei Tanner & Preston angefangen, und die Bank hielt ihn noch nicht für kapitalkräftig genug, das Haus selbst zu erwerben.
Es hatte nicht viel gekostet, aber es musste eine Menge daran gemacht werden. Zusammen mit seinem Vater hatte er das Haus innerhalb eines Jahres eigenhändig renoviert. Das Resultat war ein typisches weiß gestrichenes Landhaus aus Holz im Neokolonialstil. Vor dem Haus hatten sie Rasen gesät, aufgelockert von üppigen Rabatten, in denen Kayla ihre weißen und violetten Lupinen und ihre riesigen Hortensien pflegte.
Am liebsten saßen sie jedoch auf der hinteren Veranda mit der weiten Aussicht über die Canyons rund um Fernhill. Mittlerweile nannten sie ihr Haus Canyonview. Es hatte nicht viele Räume: Wohnzimmer, Küche, Bad und zwei Schlafzimmer, von denen Jason eins als Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Mehr brauchten sie nicht.
Während Jason hinter Kayla über die Tuna Canyon Road in Richtung Pacific Coast Highway fuhr, dachte er an ihre erste Begegnung. Keine zehn Monate nach seinem Bruch mit Carla Rosenblatt, einer der drei Frauen, mit denen er eine ernsthafte Beziehung gehabt hatte, war er buchstäblich auf sie gestoßen.
Er lächelte und winkte Kayla noch kurz zu, als er zum Pacific Coast Highway abbog und sie weiter in Richtung Interstate 405 fuhr.
Erst als er sich in die Schlange auf der Interstate 10 Richtung Hollywood und Tanner & Preston einreihte, dachte er zum ersten Mal wieder an die Werbekampagne für Tommy Jones. Mit einem Mal bekam er Kopfschmerzen, und die vertrieben seine gute Laune. Heute musste irgendetwas zu Papier gebracht werden, wie auch immer. Zumindest musste Brian zufriedengestellt werden. Ein Konzept musste her, aber noch immer sorgte Tommy Jones für einen Fleck in seiner Fantasie. Er lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung. Morgen wurde sein Vater sechsundsechzig. In seinem Kopf ordnete er die paar Dinge, die er dafür zu erledigen versprochen hatte.
Die seltsame Post, die er tags zuvor bekommen hatte, beschäftigte ihn nicht.
Aus seinem Vorhaben, sich sofort hinter den Computer zu klemmen, wurde nichts. Er hatte gerade erst begonnen, seine neuen Mails durchzugehen, als Barbara Baker kam, um sich bei ihm zu beschweren. Sie fühlte sich unterbewertet. Babs fungierte als unverzichtbares Mädchen für alles, spielte Telefonistin, erledigte administrative Aufgaben und war Designassistentin. Sie musste mit Designer Donald Nelson und Artdirector Carol Martinez zusammenarbeiten. Zwischen Babs und Carol lief es nicht gut. Babs ließ durchblicken, dass Carol sich kein Bein ausriss. »Ich bin hier nur Assistentin, mache aber die meiste Arbeit«, sagte sie. »Es muss doch möglich sein, dass ich mehr als nur Assistentin bin.«
Jason hatte keine Lust, ihr wieder einmal zu erklären, dass Carol sechs Jahre länger in diesem Job arbeitete und dass sie mehr Erfahrung hatte. Dass sie, wenn sie keinen häuslichen Stress hätte, bestimmt noch bessere Leistungen abliefern würde, sagte er nicht. Carols Ehe stand auf der Kippe. Jason war darüber informiert. Donald auch, doch außer ihnen wusste niemand in der Firma davon. Carol Martinez hatte andere Dinge im Kopf. Das war unangenehm, aber er konnte kaum etwas anderes tun, als Verständnis für ihre Situation zu zeigen, abzuwarten und ansonsten den Mund zu halten. Auch Babs gegenüber.
»Du machst das prima, Barbara«, sagte er. »Ich sehe, wie du dich von Woche zu Woche verbesserst. Deine Ideen und Lösungen sind gut. Hab Geduld. Deine Zeit kommt bestimmt.«
Er musterte ihr Outfit. Enge Jeans, genauso enges Top, das ihren Bauchnabel freiließ. Jason hatte mit Kayla schon mal über Babs' herausfordernde Kleidung gesprochen. Seine Frau hatte ihn gewarnt, sie nicht zu oft anzustarren. Was überflüssig war, denn so jung und attraktiv Babs auch sein mochte, Ja- son war Kayla absolut treu. Not available nannte er das in Gedanken.
Barbara muckte immer noch auf. Wenn er meinte, dass sie gute Arbeit leiste, warum konnte sie sich dann nicht häufiger mit Designeraufgaben beschäftigen?
»Ich will nicht mehr ans Telefon gehen, und dieser ganze administrative Kram hängt mir zum Hals raus«, sagte sie. »Ich will endlich meine eigenen Ideen verwirklichen.«
Jason appellierte noch einmal an ihre Geduld. Schließlich ging sie wieder, sichtlich unzufrieden. Er sah bekümmert hinter ihr her. Sie hatte Talent und Ehrgeiz. Das musste genutzt werden. Wenn sie unzufrieden blieb, würde sie ihr Heil irgendwo anders suchen, und das wollte er verhindern. Er musste mit Brian darüber reden. Aber erst morgen; jetzt stand erst mal Tommy Jones an.
Doch dies schien immer noch nicht der Tag für den Autokönig zu werden. Brian kam herein, angeblich um mit ihm über die Arbeit zu sprechen, aber schon bald ließ er die Katze aus dem Sack. Er beklagte sich über seine Louise, die plötzlich keine Lust mehr hatte auf die geplante Woche Las Vegas. Das hatte natürlich mit Brians Zockerei zu tun, die schon an Sucht grenzte. Meistens kam er um Tausende Dollars ärmer aus Las Vegas zurück. Louise hatte das Jason gegenüber mal erwähnt. Er vermutete, dass sie das einfach nicht mehr mitmachen wollte. Aber wie sollte er Brian das klarmachen? Es gelang ihm nicht, die richtigen Worte zu finden. Glücklicherweise bekam Brian einen wichtigen Telefonanruf und eilte in sein Büro zurück.
Die Nächste, die in seinem Büro aufkreuzte, war Carol. Ausgerechnet gestern Abend war es zwischen ihr und ihrem Mann wieder mal zum Streit gekommen. Nach dem Krach hatte Carol einen Koffer gepackt und bei ihrer Mutter übernachtet. Aber sie hatte kein Auge zugemacht. Sie wollte nicht wieder zurück.
»Es ist vorbei, Jason«, schluchzte sie unter Tränen. »Zwölf gute Jahre Ehe im Eimer.«
Jason fühlte sich langsam wie ein Sozialarbeiter. Er legte ihr einen Arm um die Schulter, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Es gab nichts, womit er sie hätte trösten können.
»Nimm dir heute frei«, sagte er.
Sie sah ihn dankbar an.
»Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest«, meinte sie. »Ich gehe mit meiner Mutter einkaufen, aber morgen bin ich wieder da.«
Sie wischte die Tränen weg, die ihr Make-up verschmiert hatten, und verließ sein Büro. Jason blickte hinter ihr her und sah, wie Donald sie in den Arm nahm. Das war vielleicht das nächste außerdienstliche Problem. Donald war in Carol verliebt. Jason fragte sich, wie viel Schuld Donald an Carols Ehekrise hatte. Ihre Affäre war inzwischen ein offenes Geheimnis. Auch Babs wusste davon. Wahrscheinlich war das ein weiterer Grund, warum sie Carol so wenig mochte. Falls Carol und Donald sich noch enger zusammentun würden, gäbe es nie mehr eine freie Stelle für sie.
Jason seufzte. Das letzte Mitglied des Teams, Werbetexter Anthony Wilson, beobachtete die Szene der betrübten Carol und des Trost spendenden Donald mit einem Kopfschütteln.
Er blieb in der Tür zu Jasons Büro stehen und zog die dicken, dunklen Augenbrauen hoch. Wenn es Tony nicht gäbe, dachte Jason. Mein Fels in der Brandung, mein einziger Mitarbeiter ohne Probleme. Tony war durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Ledig, unkompliziert, ein Einzelgänger, der kaum auffiel, außer durch seine oft brillanten Texte für die Werbekampagnen von Tanner & Preston. Mit Tony konnte man Stunden verbringen, ohne dass mehr als zehn Wörter die Stille störten.
»Stimmt was nicht?«, fragte Tony und wies mit dem Daumen hinter sich in Richtung Carol und Donald.
Jason schüttelte den Kopf.
»Dann müssen wir beide es heute wohl allein richten«, sagte Tony.
»Das tun wir, Tony«, bekräftigte Jason mit dem Anflug eines Lächelns.
Er sah auf die Uhr. Fast halb zwölf.
»Zeit für den Autokönig«, sagte er, während Tony sich an seinen Computer setzte.
Edward konnte ohne Weiteres als durchtrainierter Fünfzigjähriger durchgehen. Grauer Bürstenhaarschnitt im Marinelook, kein Gramm Fett zu viel, muskulöse Arme, sonnengebräunt. Er war fast sechsundsechzig und einen Kopf kleiner als sein Sohn. Als Jason hereinkam, sah er ihn eine Weile durchdringend an. Die Falten wurden etwas tiefer.
»Du siehst müde aus, Junge. Läuft alles gut?«
»Ich bin auch müde, Pa«, sagte Jason. »Es gibt Tage, da läuft alles quer, und heute ist so einer.«
»Haufen Arbeit«, sagte sein Vater.
»Wenn es nur das wäre.« Jason seufzte.
Edward zog die Augenbrauen zusammen. Jason überlegte kurz, ob er sein Herz ausschütten sollte, wegen Carol, Barbara, Donald, seinem Chef, doch dann behielt er es für sich. Er betonte immer, dass er keine Sorgen kannte, und er hatte sich vor langer Zeit vorgenommen, sein Arbeitsleben nicht mit nach Hause zu schleppen. Auch jetzt würde er daran festhalten.
»Lass uns über dich reden, Pa. Du hast morgen Geburtstag. Hast du alles im Griff für die große Feier?«
Die Sorgenfalte über den braunen Augen seines Vaters hielt sich noch einen Moment.
»Du tust so, als könnte ich es nicht allein schaffen. Eigentlich müsstest du es besser wissen.«
»Natürlich. Ich meine nur, wenn es noch was zu erledigen gibt, können Kayla und ich es morgen machen. Letzte Einkäufe, irgendwas schleppen oder umräumen ...«
»Eben hast du noch gesagt, dass du viel zu tun hast.«
»Stimmt, aber du weißt, was ich meine.«
Das Gespräch verlief wieder nach dem gewohnten Muster. Er bot Hilfe an, und Pa lehnte freundlich, aber bestimmt ab.
»Über deinen alten Herrn brauchst du dir wirklich nicht den Kopf zu zerbrechen«, sagte Edward. »Die Einkäufe sind alle erledigt. Morgen rücke ich die Möbel an die Seite, und dann können die Gäste kommen. Du brauchst nur mit deiner hübschen Kayla zu kommen, den Rest kannst du mir überlassen.«
Sein Vater hatte Recht. Es gab nichts, wo er gebraucht wurde oder helfen musste. Er kannte die Kräfte, die sein Vater hatte, denn er spürte sie auch in sich selbst. Niemals Schwäche zeigen. Was du alleine tun kannst, das tu auch allein.
Das einzige Mal, dass Edward die Unterstützung seines Sohns gebraucht hatte, war am Krankenbett von Jasons Mutter gewesen, als es nach der Diagnose unheilbarer Lungenkrebs zum Sterbebett wurde. Und während der Monate nach dem viel zu frühen Tod von Donna. Sie war gerade mal siebenundvierzig Jahre alt.
Edward hatte seine Donna von ganzem Herzen geliebt. Doch das war jetzt neun Jahre her, und die Zeit heilte viele Wunden. Das Leben ging weiter. Die Dinge sind, wie sie sind, war Edwards Leitspruch. Simpel, aber dagegen war kaum etwas einzuwenden.
Jason spürte die gleiche Nüchternheit in sich. Man konnte das Leben unnötig komplizierter machen, als es in Wirklichkeit war. Manchmal störte sich Kayla an seiner Einstellung. Ihrer Meinung nach waren Männer, die manchmal eine Träne vergossen, nicht gleich Weicheier oder Heulsusen. Aber Jason weinte nie. Die wenigen Schwierigkeiten, in die er geraten war, hatte er selbst aus dem Weg geräumt, und das gab ihm immer ein gutes Gefühl.
Zugegeben, Jason hatte eine angenehme Jugend gehabt. Obwohl sein Vater nicht viel Geld gehabt hatte, hatte er immer so viel wie möglich für seinen einzigen Sohn zurückgelegt. Jason war in der Lage gewesen, zu studieren. Was und wo er wollte. Diese Unterstützung und das Vertrauen seiner Eltern wollte Jason auf seine ihm eigene Weise zurückgeben.
Während sein Vater Kaffee aufsetzte, warf Jason einen Blick aus dem Fenster. Die abwechslungsreichen Canyons und Wälder glänzten unter einem strahlend blauen Himmel. Mit seinem Vater teilte er die Liebe zur Natur. Sie waren Landmenschen, die Stadt war nichts für sie. Jason hatte sein Panorama von der Veranda in Fernhill aus, dies hier war das Panorama, das Edward während des größten Teils seines Lebens genossen hatte. Und es war das Panorama, das er auch noch an seinem letzten Tag genießen wollte. Er würde nie umziehen, auch nicht, wenn er hilfsbedürftig werden sollte. Jason wusste, dass er es dann mit der Halsstarrigkeit und dem Eigensinn zu tun bekäme, die er auch in sich selbst spürte. Doch das waren zukünftige Sorgen. Jetzt war Edward ein starker älterer Mann, der durchaus im Stande war, sich selbst zu helfen.
Er wandte sich vom Fenster ab und nahm von Edward den Becher dampfenden Kaffee entgegen. Ihre Blicke trafen sich kurz. Kein Lächeln, kein Stirnrunzeln oder dergleichen, nur ein einfacher Blick gegenseitigen Einvernehmens.
»Deine erste Feier ohne Onkel Chris«, sagte Jason.
»Ja«, sagte sein Vater ruhig, mehr nicht.
Jason beschloss, auch nicht mehr zu sagen. Chris, der sich erhängt hatte, weil er Krebs hatte und weil er die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte. Er trank seinen Kaffee aus und stellte den Becher weg.
»Also, Pa, wenn du schon alles erledigt hast, dann mache ich mich mal zu meiner schönen Kayla auf. Wir sehen uns morgen. «
Eine halbe Stunde später betrat er Canyonview. Kayla war nicht im Wohnzimmer. Es duftete nach Blüten. Er wusste, wo sie war. Sie lag in der Badewanne, bedeckt von einer dicken Schicht Schaum.
Er beugte sich über sie und küsste sie. »Du leistest dir eine Genießerstunde ganz für dich allein.«
»So ist es. Herrlich! Wie war es bei deinem Pa?«
»Prima, er ist mit allem fertig. Wie war dein Tag?«
Es sah aus, als zuckte sie mit den Achseln, denn der Schaum zu beiden Seiten ihres Kopfes bewegte sich hoch und runter.
»Nichts Besonderes. Wir mussten uns ziemlich ranhalten, um das Urlaubsmailing hinter uns zu bringen. Patrick hat darauf bestanden. Meines Erachtens hätte es auch morgen gereicht, aber nun ja, der Wille des Chefs ist Gesetz, nicht wahr? Und du? Bist du mit deinen Überlegungen für den Autokönig vorangekommen?«
»Ja, schließlich doch noch, dank Tony. Er hatte am frühen Nachmittag eine gute Idee, und die haben wir in ein paar Stunden zu einem ganz passablen Ansatz ausgearbeitet. Bis Anfang nächster Woche habe ich Zeit, die Konzeption fertigzustellen. Die Umsetzung der Kampagne muss vor den Ferien abgeschlossen sein.«
»Schön«, sagte sie und setzte sich aufrecht hin. »Möchtest du auch baden? Hier ist noch Platz für dich. Die Wanne ist sehr groß.«
Er lächelte.
»Das wusste ich noch gar nicht. Aber ich glaube, ich schaue mir mal eben die Zeitung durch.«
Sie sah ein bisschen verdutzt drein.
»Du magst es nicht, wenn ich dir den Rücken schrubbe? Dann mach, dass du Land gewinnst. An dir habe ich auch nichts.«
Die Post lag wie gewöhnlich neben dem Telefon in einem Behältnis, das sie Lesekorb nannten. Er betrachtete den Stapel Briefumschläge. Rechnungen, Reklame und ein brauner Umschlag ohne Absender. Nur sein Name stand darauf. Jason riss den Umschlag auf.
Es wurde spürbar kälter, als er das Foto herausnahm. Ein Polaroidfoto. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Wieder sah er Gräber. Aber andere als auf dem ersten Foto. Er drehte das Bild um. Die Blockschrift war ihm bekannt.
Du glaubst zu leben, doch es gibt dich nicht.
Jason stand da wie angewurzelt. Er blinzelte ein paarmal, versuchte, das alles zu begreifen. Die Wörter schienen ihn anzuspringen, aber sein Verstand fing sie nicht auf. Wieder betrachtete er die Vorderseite.
Es handelte sich eindeutig um ein anderes Foto. Kein Tor zwischen den Bäumen. Diesmal war die Linse des Fotografen auf eine Art Grabdenkmal oder Mausoleum gerichtet, ein pyramidenförmiges Bauwerk aus dunklem Marmor. Die Pyramide stand in der Mitte des Bildes. Dahinter ragten Grabsteine empor.
Er legte das Foto und den Umschlag vorsichtig hin, als handelte es sich um Sprengstoff. Sein Herz schlug immer noch viel zu schnell. Er schaute sich um, ohne zu wissen, was er suchte. Dann nahm er den Umschlag wieder in die Hand. Eine gewöhnliche Briefmarke, genau wie die erste. Auch wieder zugestellt durch die Post.
Nichts Ungewöhnliches.
Mal abgesehen von dem Foto und dem Text auf der Rückseite. Seine Gedanken blieben an den Wörtern hängen. Soweit er es beurteilen konnte, war er springlebendig. Als er das letzte Mal in den Spiegel geblickt hatte, war kein anderer Schluss möglich gewesen.
Beabsichtigte der Absender vielleicht, ihn zu töten? Bestand darin die Bedeutung der Wörter? War es eine Morddrohung? Aber warum? In Gedanken ging er die paar Menschen durch, mit denen er jemals Streit gehabt hatte. Niemand passte in dieses Bild.
So stand er mehrere Minuten da und starrte wie betäubt vor sich hin. Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter.
© 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Jack Lance
Jack Lance hat lange als Redakteur für große Nachrichtenmagazine gearbeitet. In den Niederlanden und Belgien sind von ihm zahlreiche Psychothriller erschienen. Seine Bücher wurden verfilmt, für Theaterstücke adaptiert und in mehrere Sprachen übersetzt. Unter seinen Fans gilt Jack Lance als der "niederländische Stephen King". Er lebt in der Nähe von Venlo und schreibt derzeit an seinem nächsten Roman.www.jacklance.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Jack Lance
- 2013, 1, 320 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863653041
- ISBN-13: 9783863653040
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