Höllental
Psychothriller. Originalausgabe
Eine junge Frau stürzt sich in die Höllentalklamm. Roman, Mitglied der Bergwacht, hat noch vergeblich versucht sie aufzuhalten. Da er die Sache nicht vergessen kann, beginnt er zu recherchieren. Und stößt auf ein schreckliches...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Höllental “
Eine junge Frau stürzt sich in die Höllentalklamm. Roman, Mitglied der Bergwacht, hat noch vergeblich versucht sie aufzuhalten. Da er die Sache nicht vergessen kann, beginnt er zu recherchieren. Und stößt auf ein schreckliches Geheimnis, das sein Leben für immer verändern wird.
Klappentext zu „Höllental “
Die Angst treibt sie in einen einsamen Tod und ihr letzter Blick schickt einen Mann auf die Suche nach dem Mörder ...Im ersten Schnee des Winters steht eine junge Frau auf einer Eisenbrücke hoch über der Höllentalklamm. Sie ist fest entschlossen, sich in die Tiefe zu stürzen. Roman Schwarzenegger, Mitglied der Bergwacht, versucht noch sie aufzuhalten, doch vergeblich. Was ihm bleibt, ist ihr letzter Blick ein Blick voll entsetzlicher Angst, der ihn bis in seine Träume verfolgt. Zusammen mit dem Privatdetektiv Torben Sand macht sich Roman daran, die Hintergründe dieses Selbstmords herauszufinden. Und stößt auf ein schreckliches Geheimnis, das sein Leben für immer verändern wird ...
Lese-Probe zu „Höllental “
Höllental von Andreas WinkelmannTeil 1
Sprung in den Tod
Höllentalklamm
01.12.2009
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Der böige Wind trieb die Schneeflocken durch die Wipfel der hohen Tannen in die Schlucht hinein und ließ die Sicht gegen Null sinken. Es war ein Wirbeln und Tanzen, ein Stoßen und Treiben, eine unruhig bewegte Welt voller geisterhafter Schemen und Schatten. Immer wieder von neuem stürzten sie auf die junge Frau zu, ein niemals enden wollender Reigen. Die Eiseskälte durchdrang mühelos ihre viel zu dünne violettfarbene Jacke. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Zähne schlugen aufeinander, ihre Lippen hatten längst die Farbe der Jacke angenommen. Ungeschützt und blau verfroren ragten ihre Hände wie Totenklauen aus den Bündchen der Ärmel - an Handschuhe hatte sie bei ihrem überstürzten Aufbruch nicht gedacht. Doch es störte sie nicht, sie war versunken, hatte sich tief in ihr Innerstes zurückgezogen, und alles, was ihrem Körper geschah, nahm sie aus der sicheren Distanz einer Verlorenen wahr. Sie trug einen leichten, olivfarbenen Rucksack, der flach an ihrem Rücken anlag. Unter der Kapuze ihrer Jacke war ihr Gesicht nicht zu sehen. Die Schultern nach vorn gezogen, schräg gegen den Wind gelehnt, stieg sie mühsam bergan. Ihre Spur in der dünnen Schneeschicht spiegelte ihren schleppenden Gang. Die einzelnen Abdrücke ihrer Schuhe waren nicht sauber voneinander getrennt, sondern durch Schleifspuren verbunden, die den kahlen Felsboden freilegten. Immer wieder geriet sie ins Stolpern, strauchelte und fing sich dann. Ihre beinahe profillosen Schuhe waren für Wetter und Gelände nicht geeignet, aber daran lag es nicht allein; sie war schon aus dem Tritt gekommen, lange bevor sie sich auf den Weg gemacht hatte. Auf dem ebenen Pfad unten im Tal hatte sie noch ein paar Menschen gesehen, doch seit sie bergan stieg, war sie allein - so allein, wie ein Mensch nur sein konnte. Es gab ganz einfach keine Welt mehr, in die sie hätte zurückkehren können, es gab keine Menschen mehr, die sie aufgenommen und ihr geholfen hätten. Derart getrennt von allem, was das Leben ausmachte, war es unmöglich für sie, noch einmal darüber nachzudenken oder es sich gar anders zu überlegen. Auf halber Strecke erreichte sie die Weggabelung. Links führte der breite Weg direkt zum Klammeingang, rechts ein schmaler Pfad über den Stangensteig bis hinauf zur Eisernen Brücke. Sie kannte sich hier aus. Dieser Weg hatte sich ihr in unzähligen albtraumgeplagten Nächten ins Gedächtnis eingebrannt. Das für Bergwanderer gedachte Gefahrenschild ignorierend, bog sie ohne Zögern nach rechts auf den schmalen Pfad ab, der sie über Kehren zunächst in einen Laubwald führte. Nasse Stämme kahler Ahornbäume ragten in die graue Luft. Da der Schneefall erst vor einer Stunde eingesetzt hatte, war der Boden unter den Bäumen noch fast frei davon. Sanft senkten sich die kleinen Flocken auf die Laubschicht und erzeugten dabei ein fremdartiges Raunen. Sie blieb stehen, schob die Kapuze von den Ohren und sah sich um. Ehrfurcht lag in ihrem Blick. Ihre Augen waren groß, von durchdringend blauer Färbung, aber der Ausdruck einer zerrissenen, gehetzten Seele darin brach ihre Schönheit. Mit zurückgelegtem Kopf stand sie eine Weile lauschend da. Hier und jetzt konnte sie die Geister verstehen, die zu ihr sprachen. Sie breitete die Arme aus, als wolle sie fliegen, dann begann sie zu weinen. Stille Tränen im flüsternden Chor des beginnenden Winters. Nach wenigen Minuten setzte sie ihren Fußmarsch fort. Der Weg wurde immer steiler, bald begann sie zu schwitzen. Sie ließ die Baumgrenze hinter sich. Die Umgebung änderte sich drastisch, wurde steinig, grau und hart, nur gelegentlich belebt durch niedrig geduckte Latschenkiefern. Als sie aus deren schützenden Schatten heraustrat, schlug ihr der kalte Wind wuchtig ins Gesicht. Er fiel aus der hochalpinen Zone über ihr in den schmalen Trichter der Klammschlucht, beschleunigte darin und fegte weiter unten aus der Engstelle. Sie taumelte, geriet gefährlich nahe an die Abbruchkante, fing sich aber wieder und bückte sich tiefer, machte sich klein, um unter dem Wind hindurchzukriechen. Binnen weniger Minuten sog er ihr die mühsam erworbene Wärme aus dem Körper und kühlte sie erneut aus bis auf die Knochen. Weiter, immer weiter. Einen Fuß vor den anderen. Gegen den Wind, der sie scheinbar zurückdrängen wollte, gegen den Schnee, der den Aufstieg immer schwieriger werden ließ. Gegen sich selbst, denn je näher das Ziel rückte, desto schwerer wurden ihre Beine, steifer ihre Bewegungen, träger ihr Verstand. Sie war so müde, unendlich müde, wollte nur noch schlafen und war nahe daran, sich einfach auf den Weg zu legen. An einem besonders steilen Stück rutschte sie auf einer Eisfläche aus, die unter dem Schnee verborgen war, stürzte auf ihre Knie, prellte sich den Ellenbogen an der Felswand, nahm den Schmerz hin, nutzte ihn zur Mobilisierung ihrer letzten Kräfte und erreichte zwei Stunden nach ihrem Aufbruch im Tal die Brücke hoch über der Klamm. An dieser exponierten Stelle entfaltete der Wind seine ganze Stärke, drückte ihr den Schnee ins Gesicht, riss ihr den Atem von den Lippen, sog ihr das Leben aus dem dünnen Körper, trug es hinunter in die Schlucht, um es im klaren Eiswasser zu ertränken. Ungefähr in der Mitte der Brücke blieb sie stehen. Wandte sich dem Tal zu, das von hier aus nicht mehr zu sehen war. Nichts war mehr zu sehen. Sie hatte ihre Welt mit hinaufgenommen, alles befand sich mit ihr auf dieser Brücke - und alles war nichts. Das Geländer war nichts, auch die brutale Kälte darin, als sich ihre Finger krampfhaft um das Metall schlossen, war nichts. Mit einem Ruck zog sie sich auf die unterste Querstrebe und ließ das Geländer los. Roman Jäger starrte auf die Fußabdrücke im Schnee, sah dann hoch und verfolgte mit den Augen die einsame Spur den Weg zum Stangensteig hinauf, bis sie unter den Bäumen verschwand. Eine einzelne Person. Der Schuhgröße nach zu urteilen ein Kind oder eine Frau. Wahrscheinlich mit schwerem Rucksack, denn die Füße kamen nicht richtig vom Boden hoch, aber ohne vernünftiges Schuhwerk, denn die Sohlen hatten kaum Profil, waren glatt wie diese modernen Sneaker, die heute jeder trug. Verrückte Touristen. Schon gestern hatte der Wetterdienst für den heutigen Tag Schneefall angekündigt, der bei rasch fallender Temperatur zum Abend hin stärker werden würde. Der Winter hatte sich Zeit gelassen in diesem Jahr, bisher war es frühlingshaft mild gewesen, doch nun musste die Region mit einem ernsthaften Wintereinbruch rechnen. Im Tal waren vorerst nur ein paar Zentimeter Schnee zu erwarten, oberhalb der Tausend- Meter-Grenze jedoch deutlich mehr. Dazu kräftiger, eiskalter Fallwind von den Hängen der Berge. Wer seine Sinne beisammenhatte, stieg an einem solchen Tag nicht auf. In den Bergen war das Wetter oft unberechenbar, und auf dem Weg hinauf gab es nichts, wo man einkehren und Schutz suchen konnte. Zwischen der Sommer- und Wintersaison waren die Hütten geschlossen. Es gab ein Winterlager für Notfälle, aber wer das nicht kannte und sich in dieser Nacht auf dem Berg dem Wetter auslieferte, der war verloren. Roman war eigentlich im Abstieg begriffen. Er hatte die Gittertore am Klammeingang, die während der Wintersaison übermütigen Touristen den Weg hinauf versperrten, überprüft und abgeschlossen. Später würden Lawinen die Klamm so sehr mit Schnee verstopfen, dass sowieso niemand mehr hindurchkonnte, aber ein paar Verrückte würden es trotzdem versuchen. Zumindest den Weg hinauf zu versperren ersparte der Bergwacht die eine oder andere Rettungsaktion. Auf dem Rückweg wollte er die Schlüssel in der Bergwachtstation im Tal deponieren, dann war Feierabend für heute. Theoretisch. Praktisch konnte er diese Spur aber nicht einfach ignorieren. Sie bedeutete Ärger. Nach zehn Jahren Dienst bei der Bergwacht entwickelte man schon allein aus der Erfahrung heraus eine Intuition, und die verriet ihm jetzt, dass er es später bereuen würde, wenn er dieser Spur nicht nachginge. Auf seine Intuition konnte Roman sich verlassen, sie hatte ihn schon vor einigen brenzligen oder zu wagemutigen Situationen bewahrt, deshalb stellte er sie auch nicht in Frage. Ein Blick auf die Uhr, die am Schultergurt seines Rucksacks hing, dann war die Entscheidung getroffen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte er eine Stunde Zeit. Die Spur war nicht alt, höchstens fünfzehn Minuten konnten vergangen sein, seitdem die Person an der Weggabelung abgebogen war. Bei dem Tempo, das er selbst bergan zu gehen in der Lage war, würde er sie bis zur Brücke eingeholt haben. Das war der Deal. Bis zur Brücke. Wenn er sie bis dahin nicht eingeholt und zur Rede gestellt hatte, würde er umkehren und bei der Leitstelle eine Meldung hinterlassen. Roman schritt kräftig aus. Das tiefe Profil seiner Alpinstiefel krallte sich in den Schnee. Die Spur verriet ihm, dass die Person zwei Schritte gemacht hatte, wo er einen brauchte, und so wuchs seine Zuversicht. Sie einzuholen dürfte nicht schwer werden, sie davon zu überzeugen, sich heute nicht da oben rumzutreiben, schon eher. Da waren die Touristen alle gleich. Warnungen der Bergwacht zu ignorieren galt als cool und wagemutig. Später waren es dann Leute wie er und seine Kollegen, die ihren ganzen Mut in die Waagschale werfen mussten, um in Not geratene Bergsteiger zu retten. Wie konnte nur jemand so dumm sein, bei einem solchen Wetter kurz vor Einbruch der Dunkelheit auf den Berg zu steigen? Das war selbst für Touristen ein dreistes Verhalten. Außerdem waren jetzt in der Zwischensaison kaum welche im Ort. Am Wochenende kamen immer ein paar Bergsteiger aus der weiteren Umgebung für Tagestouren, aber heute war Dienstag, und als Roman vorhin aufgestiegen war, hatte er das Alleinsein genossen, denn viele solche ruhigen Tage gab es in einer Ferienregion nicht. Er hatte sich zu früh gefreut, wie es schien. Roman zog sein Tempo noch an und begann zu schwitzen. Den eisigen Wind spürte er in seiner wind- und wasserdichten Kleidung kaum. Als er an der Wegbiegung aus dem Schatten der Felswand trat, stemmte er sich gegen den Fallwind und versuchte, die Brücke weit oben über der Schlucht ausfindig zu machen. In dem zunehmend dichter werdenden Schneegestöber war sie jedoch nicht zu sehen. Also lief er weiter. Steil hinauf über Felsstufen, auf denen das Regenwasser der vergangenen Tage gefroren war, sodass sie zu tückischen Fallen wurden. Roman bewegte sich jetzt vorsichtiger, stützte sich immer öfter mit einer Hand an der Felswand ab und ergriff jede Kante, jeden Riss und jede Wurzel, um etwas Halt zu finden. Rechts ging es steil abwärts in die Klamm. Wer hier ausrutschte, hatte kein Chance. Einmal im Sturz begriffen, gab es nichts mehr, was Einhalt gebieten konnte. Es waren oft Stellen wie diese - eigentlich gut begehbare Wanderwege, die an einer Abbruchkante entlangführten -, an denen Bergwanderer verunglückten, weil sie die Gefahr unterschätzten und die Unberechenbarkeit der Natur nicht ernst genug nahmen. In den Bergen überlebte aber nur, wer Respekt und Angst nicht gänzlich verlor. Nach weiteren zehn Minuten tauchte aus dem Schneegestöber vor ihm das Geländer der Brücke auf. Die aus Eisen gefertigte Brücke verlief mehr als siebzig Meter über der Klamm und war Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert. Schnee blieb bei dem Sturm kaum darauf liegen, dafür hingen dünne Eiszapfen im schrägen Winkel vom Geländer herab. Die Brücke überwand eine Distanz von dreißig Metern, und Roman musste bis zum Einstieg vorgehen, um wenigstens die erste Hälfte einsehen zu können. Der Sturm pfiff und heulte und peitschte die Schneeflocken an seinem Gesicht vorbei. Jäh stockte ihm der Atem. In der Mitte des Bauwerks balancierte eine schmale Person in violetter Jacke und Bluejeans auf der untersten Sprosse des Geländers. Sie hatte die Arme zu den Seiten ausgebreitet und schien sich auf den Sprung vorzubereiten, blickte aber nicht in die weit unten verlaufende Klamm, sondern hatte das Gesicht dem Himmel zugewandt. Romans Gedanken rasten. Er hatte nicht viele Möglichkeiten. Wenn er sich bemerkbar machte, würde sie wahrscheinlich sofort springen. Wer ganz allein hier heraufkam, um sich das Leben zu nehmen, der meinte es ernst, der wartete nicht auf einen Retter in allerletzter Sekunde. Also musste er schnell sein. Und leise. Beim Laufen würden seine schweren Schritte die Gitter zum Klappern bringen und die Person warnen. Roman schlich voran, behielt die Person auf dem Geländer dabei im Auge und wunderte sich, wie sie sich bei dem Sturm überhaupt so lange halten konnte. Er hatte es fast geschafft, war keine drei Meter mehr von ihr entfernt, als sie ihn bemerkte und den Kopf herumriss. Der Wind zerrte die Kapuze beiseite. Rötliches Haar umflatterte ein schmales Gesicht. Es war eine Frau. Augen und Mund weit aufgerissen starrte sie ihn an. Deutlich konnte er über diese kurze Distanz Angst und Panik in ihren Augen erkennen. Trotzdem reagierte sie schnell, packte mit beiden Händen das Geländer, hob den rechten Fuß, setzte ihn auf die oberste Strebe und ließ los. Eine einzige fließende Bewegung voller Entschlossenheit. Sofort drückte der Wind sie nach vorn. »Nein!«, schrie Roman und hechtete vor. In seiner Wahrnehmung stark verlangsamt sah er, wie die Frau über das hüfthohe Geländer kippte. Roman sprang, streckte die Arme aus, packte zu und erwischte ihre rechte Hand, die sie nach hinten weggestreckt hatte. Er packte so fest wie möglich zu, wurde durch die Wucht ihres Falls nach vorn gegen das Geländer gezogen, prellte sich die Rippen und hatte Mühe, seinen Stand zu wahren. Nur seiner Größe und seinem Gewicht hatte er es zu verdanken, nicht selbst in den Abgrund gerissen zu werden. Roman schrie auf. Ein heftiger Schmerz fuhr ihm durch den Arm bis ins Schultergelenk, und er meinte, darin etwas reißen zu spüren. Trotzdem hielt er ihr Handgelenk weiter fest umklammert. Die Frau war nicht schwer, aber er hielt sie nur an einem Arm, außerdem baumelte sie im Wind, und der Sog der Tiefe zerrte an ihr. Ganz langsam hob sie den Kopf und sah zu ihm hinauf. Angst und Panik, er hatte sich nicht getäuscht. Aber warum kam es Roman so vor, als fürchte sie sich vor ihm? Viel länger als zwei Sekunden dauerte es nicht, aber Roman hatte das Gefühl, eine Ewigkeit in diese blauen Augen zu schauen. Schließlich wandte sie den Blick ab, sah in die Schlucht hinunter und begann, ihre Hand in seinem Griff zu winden. »Nein, tu das nicht«, schrie Roman. Er kämpfte, konzentrierte sich auf seinen Griff, stellte sich vor, seine Finger wären Eisenklammern. Die Zähne zusammengebissen, fest gegen das Geländer gepresst, stieß er einen unmenschlichen Schrei aus und versuchte, die Frau hinaufzuziehen. Ein paar Zentimeter nur, dann sackte sie wieder ab, und Roman erkannte, dass er nicht die geringste Chance hatte, wenn sie ihm nicht half. Und das tat sie nicht. Stattdessen wand sie sich weiter in seinem Griff. Seine Kraft ließ nach, die Muskeln begannen zu zittern, er spürte, wie seine Finger sich öffneten. Zentimeter für Zentimeter entglitt sie ihm. »Nein«, brüllte Roman noch einmal. Plötzlich war seine Hand leer. Einen winzigen Moment schien sie frei über dem Abgrund zu schweben. Dann fiel sie. Rasend schnell. Prallte auf halber Strecke gegen einen Felsbrocken, taumelte zur Mitte der Klamm, schlug auf einen spitzen Grat und tauchte in ein schmales, mit eisig kaltem Wasser gefülltes Becken. Die Strömung riss den leblosen Körper mit sich, er trieb über eine Kante und verschwand in der schäumenden Gischt.
Augsburg
01.12.2009
Ihre Oberschenkelmuskulatur brannte, ihre Lunge litt Qualen. Schweiß tropfte von ihrem Gesicht zu Boden, ihr zu einem Zopf geflochtenes Haar flog hin und her. Mara Landau trieb die Maschine und sich selbst bis an die Belastungsgrenze. Aus dem Inneren des Stairmasters erklang ein metallenes Kratzen, trotzdem stellte die zweiundzwanzigjährige Brünette die Schwierigkeitsstufe noch höher - auf die höchste Frequenz, die das Gerät hergab. Während Maras Hände die Pulsmesser umklammerten, pumpten ihre Beine auf und ab und simulierten den harten Anstieg einer zwanzigprozentigen Steigung. Von allen aeroben Geräten im Fitness-Studio benutzte Mara Landau den Stairmaster am häufigsten. Sie liebte diese Maschine. Sie liebte die Schmerzen, den Schweiß, das Gefühl, an ihre Grenzen zu gehen. Außerdem war es das perfekte Training fürs Bergsteigen. Mit siebzehn Jahren war sie zum ersten Mal zum Klettern in die Berge gegangen. Anfangs war es ihr nur um das reine Felsklettern gegangen, doch in den letzten zwei Jahren war mehr und mehr das Höhenbergsteigen hinzugekommen. Jetzt waren es die schneebedeckten Gipfel, die sie reizten. Und dafür brauchte man Kondition. Wenn Mara wie jetzt alles gab, malte sie sich gern aus, wie sie eines Tages auf einen der Achttausender im Himalaya steigen würde. Schon jetzt verfolgte sie jede Sendung darüber, las jedes Buch, jeden Erfahrungsbericht. Und sollte sie eines Tages das dafür nötige Geld zusammengespart haben, dann würde sie diesen Traum Realität werden lassen. Bis dahin reichten ihr die Alpen. Und der Stairmaster. Sie hielt die hohe Frequenz länger durch als sonst. Das musste an dem zurückliegenden beschissenen Tag und dem aufgestauten Frust liegen. Der Prof vom Fachbereich Sport hatte ihr Referat zur Energiebereitstellung über Kreatinphosphate mit einer lausigen Drei benotet und sich auch nicht umstimmen lassen. Vielleicht hatte sie nicht perfekt recherchiert, schon möglich, aber für eine Zwei hätte es trotzdem reichen müssen. Der Prof mochte sie einfach nicht, daran lag es. Ihr Frust hatte aber noch einen anderen Grund. Am Nachmittag war der erneute Versuch, ihre Freundschaft zu Laura doch noch zu retten, gescheitert. Wieder einmal. Laura war weder über Handy noch Festnetz zu erreichen gewesen und hatte auch nicht die Tür geöffnet. Eine Stunde hatte Mara im Treppenhaus gewartet in der Hoffnung, ihre Freundin würde nach Hause kommen. Eine Stunde, in der sie immer wieder darüber nachgedacht hatte, wie es so weit hatte kommen können. Laura war nicht aufgetaucht. Eine Nachbarin hatte Mara schließlich berichtet, Laura sei schon sehr früh am Vormittag aufgebrochen. Mara war ratlos und traurig und wusste nicht mehr weiter. Sie hatte schon daran gedacht, mit Lauras Eltern zu reden, wusste aber nicht, ob das nicht ein Vertrauensbruch war, den Laura ihr niemals verzeihen würde. Oft genug hatte Laura gesagt, dass es speziell ihren Vater nichts anging, was sie tat, wie sie lebte und mit wem sie ausging. Seit sie ausgezogen war, war das Zerwürfnis zwischen den beiden einfach zu tief geworden. Nicht einmal Lauras Mutter hatte den Riss kitten können, obwohl sie es diplomatisch geschickt oft genug versucht hatte. Jetzt begannen die Muskeln zu übersäuern. Mara gab ein paar Sekunden noch mal alles, fing sich die anerkennenden Blicke einiger anderer Gäste des Studios ein, vor allem der Jungs, die ihr auf den Hintern schauten, hämmerte dann aber auf die rote Taste. Das Gerät fuhr langsam herunter und ging in die Cool-Down-Phase über. Nach weiteren drei Minuten stieg Mara von den Pedalen. Sie musste sich noch einen Moment festhalten, so sehr war sie außer Atem. Sie wischte sich das erhitzte, rot glühende Gesicht mit ihrem Handtuch ab und ging auf zittrigen Beinen Richtung Umkleide. Für heute war sie fertig, im doppelten Sinne des Wortes. In der Umkleide schloss sie den Spind auf, nahm die Wasserflasche heraus und ließ sich auf die Holzbank fallen. »Mal wieder übertrieben?«, fragte Tessa. Ihr gehörte das Fitness-Studio. Sie absolvierte gerade ihren Rundgang durch die Kabinen und blieb vor Mara stehen. Mara verstand sich sehr gut mit der zehn Jahre älteren Tessa. Erst gestern hatte sie das Angebot, in den Abendstunden als Trainerin zu jobben, angenommen. Zehn bis fünfzehn Stunden die Woche würde sie neben ihrem Sportstudium locker schaffen. Und die sieben Euro pro Stunde konnte sie gut gebrauchen. Das zusätzliche Geld würde sie ihrem Traum vom Himalaya ein Stück näher kommen lassen. »Kennst mich ja«, sagte Mara, noch immer kurzatmig. »Diesmal sah es aber ziemlich verbissen aus.« »Echt?« Tessa nickte. »Wie ein Kampf, nicht wie Training.« »Ich hatte einen beschissenen Tag«, wich Mara aus. So gut, dass sie Tessa von den Problemen mit ihrer besten Freundin erzählen würde, kannten sie sich nun doch nicht. »Na, dann hab wenigstens noch einen schönen Abend.« »Danke. Du auch.« Tessa verschwand. Mara nuckelte an ihrer Wasserflasche und dachte nach. War sie wirklich so verbissen gewesen? Sah man es ihr an, wie es ihr ging? Das wollte sie eigentlich nicht. Aber die Sache mit Laura ging ihr wirklich an die Nieren. Sich schuldig zu fühlen und nichts tun zu können war ein Zustand, den sie nur sehr schwer ertrug. Eigentlich gar nicht. Das ständige Grübeln machte sie fertig. Sie brauchte Klarheit. Wahrscheinlich war ihre Arbeit auch wegen dieser Sache schlechter ausgefallen als sonst. Ihr fehlte die Konzentration. Während sie trank, nestelte sie ihr Handy aus dem Seitenfach der Sporttasche. Eine SMS war während des Trainings eingegangen. Von Laura. Nur ein Wort. »Hinauf!« Sie befanden sich tief unten in der Klamm. Hier standen die grauen Felswände dicht beieinander und pressten die Welt auf ein Minimum zusammen. Wenige Meter ebener Boden, und den mussten sie sich mit einem reißenden Fluss teilen, der über eine für den Menschen kaum vorstellbare Zeitspanne diese Welt überhaupt erst erschaffen hatte. Denn so massiv und ewig beständig die Wände auch wirkten, hatte das Wasser sich doch tief hineingeschnitten und tat es immer noch. Dies war kein Ort für das Leben, jeder, der sich dort aufhielt, konnte das spüren. In dieser beinahe lichtlosen Enge gedieh nichts, und doch war es ein Ort von unvergleichlicher, wilder Schönheit und nicht nachlassendem Reiz. Kristallklares Wasser umspülte sanft gerundete Felsen, polierte Kiesel zu Edelsteinen, staute sich in Trichtern und Becken, um dann aus einem schmalen Loch hervorzuschießen, sich in die Tiefe zu stürzen und mit Brüllen und Tosen an den Felsen zu nagen, die ihm schutzlos ausgeliefert waren. Überall war es feucht; Gischt spritzte auf, Tag und Nacht, Wasserkaskaden perlten aus großer Höhe hinab, um den flüssigen Reichtum dieser Welt zu mehren. Stille gab es hier nicht, und wer die Zeichen nicht erkennen wollte, dem schrie das Wasser seine Warnung ins Gesicht: Du bist hier nur geduldet, und wenn es mir gefällt, dann spüle ich dich hinweg und spucke dich talabwärts als etwas wieder aus, das meiner mehr entspricht als einem Menschen. Roman erinnerte sich an die Klamm im Sommer, wenn es die hoch am Himmel stehende Sonne schaffte, ein paar Strahlen hier herunterzuschicken. Dann glitzerte und funkelte diese Welt, und in der Gischt spannten sich Regenbogen zwischen den Wänden wie Brücken. An Sommertagen hielt Roman sich gern unten in der Höllentalklamm auf, doch jetzt, im Winter, zudem am Abend, war dies ein unheimlicher und Angst einflößender Ort. Im Hintergrund röhrte der tragbare Dieselgenerator, der den Strom für die beiden Halogenscheinwerfer erzeugte. Ein geisterhafter Vorhang aus Schneeflocken trieb durchs Licht. Wie vorhergesagt hatte der Schneefall noch zugenommen, wenngleich hier unten in der Klamm nicht viel davon ankam. Dafür spürten sie quasi als Ausgleich vom Wind aber umso mehr. Es waren scharfe, eiskalte Fallwinde, die auf dem Rücken des Wassers durch die Schlucht ritten. Mit tauben Fingern band Roman Jäger das Ende des Sicherungsseils in einen Haken mit Karabiner ein, der sich schon seit Jahren in der Felswand in der Nähe des Beckens befand. Denn in diesem natürlichen Becken, das von den Bergrettern Stopselzieher genannt wurde, sammelten sich die Körper, die oberhalb der Eisernen Brücke in die Klamm stürzten. Hier gab es häufiger Einsätze mit Totenbergung. Roman kehrte mit dem Seil zu seinem Kollegen zurück. Hans Dachner hockte auf einem Felsblock am Rande des Beckens. Er trug einen schwarzen Trockentauchanzug ohne Helm und Brille. Zwar würde er nicht tauchen müssen, aber ohne den Anzug könnte er die Temperatur des Wassers keine zwei Minuten ertragen. Hans nahm ihm das Seil ab und sicherte sich mit einem Achterknoten an seinem Klettergurt ein. Er und Georg Lorenz, der ebenfalls einen Tauchanzug trug, hatten sich bereit erklärt, in den Hammersbach zu steigen, um die Leiche zu bergen. »Das wird auch mit Anzug verflucht kalt«, sagte Roman. Er selbst zitterte immer noch, trotz seiner wattierten, dichten Kleidung, trotz des heißen Tees, den er in der letzten halben Stunde becherweise getrunken hatte. Die Kälte, die ihn zittern ließ, kam von innen, da half kein Heißgetränk, und es würde noch eine Weile dauern, bis sie verschwand. Im Moment wurde sie sogar nur noch durchdringender, sobald er nur kurz die Augen schloss. Dann sah er sofort den Blick der jungen Frau, diese durchdringend blauen Augen, die Angst darin. Sie hatte sich vor ihm gefürchtet, so sehr, dass sie sich aus seinem Griff befreit hatte, und Roman verstand einfach nicht, warum. Es war zwei Stunden her, aber sein rechter Arm schmerzte immer noch bis hoch ins Schultergelenk. Anfangs war er sogar taub gewesen. Er ertappte sich immer wieder dabei, wie er die Hand zur Faust ballte, so als müsse er etwas festhalten. »Nur kurz rein und wieder raus, mehr ist nicht drin«, sagte Hans und riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich suche ganz bestimmt nicht das Becken nach irgendwelchen persönlichen Gegenständen ab. Das kannst du dem Leitenbacher gleich sagen. Soll er doch seine eigenen Leute schicken.« Roman legte Hans eine Hand auf die Schulter. Der Neoprenanzug fühlte sich an wie eine Reptilienhaut. »Ich regele das, keine Bange.« Roman warf einen Blick aufs Wasser. Es staute sich an dieser Stelle, bevor es zwischen großen Blöcken hindurch über eine Kante floss und drei Meter in die Tiefe stürzte. Gut anderthalb Meter tief war das Becken und groß genug für einige Kehrwasser, und genau darin hatte sich unter einem Haufen angetriebenen Holzes die Leiche der jungen Frau verfangen. Vom Weg aus war nur ein Arm zu sehen, der im stark bewegten Wasser auf und ab trieb und ihnen in seinem violetten Jackenärmel zuzuwinken schien. Ein grauenhafter Anblick, der Roman erneut einen Schauer über den Rücken trieb. Eine so tiefe innerliche Kälte wie heute hatte er noch nie empfunden, selbst in jener Nacht nicht, als er in fünftausend Metern Höhe am Denali in der Alaska Range biwakiert hatte. Er zog sich die Wollmütze tiefer in die Stirn, bedeckte seine Ohren damit und stellte den Fleecekragen der Jacke höher. Mehrere Personen befanden sich auf dem schmalen Weg an dieser engen Stelle der Klamm. Das Scheinwerferlicht strahlte sie von hinten an und warf ihre Schatten auf die steile graue Wand, die jenseits des Beckens aufragte. Links außen hockte auf Knien Anton Schäffler, der Chef der Bergrettung. Er schoss mit einer Digitalkamera Fotos, außerdem würde er die Bergung der Leiche mit der Videofunktion festhalten. Sobald das Blitzlicht der Kamera aufleuchtete, verschwanden die Schatten der Männer, und der winkende Arm wurde für den Bruchteil einer Sekunde zum Mittelpunkt der Umgebung. Neben Anton stand Dr. Tobias Schollerer, ihr Bereitschaftsarzt. Er trat von einem Bein aufs andere, rieb sich immer wieder die Hände, schien die Kälte damit aber auch nicht vertreiben zu können. Roman hatte Tobias selbst angerufen und wusste daher, dass er ihn quasi aus dem Bett geholt hatte. Tobias hatte eine 24-Stunden-Schicht im Krankenhaus hinter sich und war wenig begeistert gewesen, in dieser Nacht noch einmal rauszumüssen, aber er war als Einziger verfügbar gewesen. Ein paar Schritte entfernt wartete Oberkommissar Leitenbacher rauchend auf die Bergung der Leiche. Roman hatte schon mit ihm gesprochen, sozusagen eine erste Aussage gemacht und war dabei das Gefühl nicht losgeworden, dass der Kommissar ihm nicht glaubte - zumindest nicht den Teil, in dem die Frau sich seinem Griff entwunden hatte, um in den Tod stürzen zu können. Leitenbacher hielt es nicht für notwendig, Verstärkung aus seinen eigenen Reihen anzufordern, denn glasklarer konnte ein Selbstmord kaum sein. Was gibt es da noch zu ermitteln?, waren seine lapidaren Worte gewesen. Roman mochte den fünfundfünfzigjährigen untersetzten Mann nicht besonders. Er benahm sich oft überheblich und war nicht nur nach Romans Meinung ein fauler Hund, der zu viel trank und auf seine Pensionierung wartete. Roman schob sich zwischen Anton und Tobias. Sein Chef hörte mit dem Fotografieren auf und kam aus der Hocke hoch. »Die beiden sind jetzt so weit«, sagte Roman. »Und sie hat wirklich nichts gesagt?«, fragte Tobias Schollerer. Er hatte erneut seine Brille abgenommen und rieb auf den Gläsern herum. Die Umgebungskälte, die Luftfeuchtigkeit und die Hitze der Scheinwerfer ließen sie dauernd beschlagen. Ohne Brille wirkte er noch jünger, und man war kaum gewillt, ihm seinen Doktortitel abzukaufen. Roman schüttelte den Kopf. »Kein Wort.« Rechts von ihnen schob sich Hans Dachner auf das Becken zu. Anton nahm sein Funkgerät an die Wange. »Alles klar da oben?«, fragte er. »Von hier kommt nichts«, antwortete eine schwer verständliche Stimme. Sie gehörte ihrem Kollegen Richard Stangl, der sich mehr als fünfzehn Meter oberhalb des Beckens an einer Abbruchkante befand. Von dieser günstigen Position aus beobachtete er mit einem Nachtsichtgerät den Flusslauf, was in der Dunkelheit und bei dem Schneefall schwierig war. Er sollte rechtzeitig warnen, falls Treibholz angespült wurde. Für die beiden Jungs im Wasser war das gefährlich, denn es würde mit hoher Geschwindigkeit über die Kante schießen und ins Becken stürzen. Zwar lag der letzte Sturm zwei Wochen zurück, sodass kein neues Holz in die Klamm geweht worden war, trotzdem konnte sich jederzeit ein verkeilter Stamm irgendwo losreißen und seine Schussfahrt fortsetzen. »Alles klar, ihr könnt!«, rief Anton den Kollegen in den Taucheranzügen zu. Er musste gegen den Lärm der Generatoren, des Windes und des tosenden Wassers anbrüllen und hob zusätzlich einen aufrechten Daumen in die Luft. Hans erwiderte das Zeichen, nickte und marschierte los. Georg sicherte ihn zunächst vom Ufer aus. »Haben Ihre Jungs auch Masken dabei?«, fragte Leitenbacher, der näher gekommen war. Roman sah auf den kleinen Mann hinab. Er trug eine dick gepolsterte Daunenjacke, in der er noch kleiner und runder wirkte als ohnehin schon. Die braune Strickmütze hatte er tief in die Stirn gezogen. »Wofür?« Leitenbacher zuckte mit den Schultern und zog an seiner Zigarette. Sie war feucht und glomm kaum noch. »Wenn sie keine Papiere in den Taschen hat, müssen wir den Grund absuchen.« »Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß dabei«, sagte Roman. »Von uns macht das niemand, dafür ist das Wasser viel zu kalt. Sie können dankbar sein, dass wir den Leichnam für Sie bergen.« Leitenbacher sah ihn von unten herauf an. Er hatte einen starren, unangenehmen Blick. In seinen buschigen Augenbrauen verfingen sich Schneeflocken. »Warum machen Sie es nicht? Sie haben sie schließlich fallen lassen ... Ach nein, ich vergaß, sie hat sich Ihnen ja entwunden.« Roman spürte geradezu, wie es in seinem Kopf klick machte und eine bestimmte Schaltstelle den Weg freigab. Er kannte diesen Automatismus, diese kindische Reaktion auf Kritik oder Häme, die er einfach nicht im Zaum halten konnte. Mit den richtigen Worten konnte man in Sekundenschnelle Wut bei ihm auslösen. Er machte zwei schnelle Schritte auf den Oberkommissar zu, baute sich vor ihm auf, wollte die Arme heben, um ihn umzustoßen, spürte im selben Moment aber, wie ihn jemand zurückhielt. Es war Anton Schäffler, und Roman verstand erst viel später, dass sein Chef ihn vor einer riesengroßen Dummheit bewahrte. »Hör auf«, flüsterte Anton ihm zu. »Das lohnt nicht.« Leitenbacher stand einfach nur da und sah Roman an. Mit einem Blick, der alles und nichts ausdrückte, der gelangweilt, gleichgültig und abschätzend war. Er war zwei Köpfe kleiner als Roman und körperlich in wesentlich schlechterer Verfassung, zeigte aber keinerlei Furcht. In diesem Teil der Welt konnte ein Beamter sich noch auf die Autorität seines Titels verlassen. Noch. Roman fixierte ihn, suchte nach Worten, irgendwas Treffendes, vielleicht in Richtung der Wodkaflaschen, die Leitenbacher wöchentlich aus dem Supermarkt schleppte, doch ihm fiel auf die Schnelle nichts ein. Seine Wut blockierte ihn. Also wandte er sich schweigend ab und ging zu seinen Kollegen zurück. Ein Arschloch konnte er sich nicht verkneifen und war sicher, dass Leitenbacher es hörte. Doch der steckte es kommentarlos weg. »Die hängt fest«, rief Hans Dachner und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich. Er stand bis zum Brustkorb in dem eiskalten, sprudelnden Wasser, hatte sich weit vorgebeugt und versuchte ohne Sicht, nur durch Tasten, die Leiche aus dem Treibgut zu befreien. »Ein Bein ... Ich bekomme ihr Bein nicht frei.« »Was kann helfen?«, rief Anton ihm zu. »Eine Knochensäge«, sagte Tobias Schollerer leise und fing sich den giftigen Blick des Bergwachtchefs ein. »Eine Säge, ich brauche eine Fuchsschwanzsäge«, rief Hans ihnen tatsächlich zu. Roman lief zu dem Dieselgenerator. Daneben befand sich die Kiste mit der Ausrüstung. Er holte die handliche Säge heraus und lief zum Becken zurück. Georg nahm sie ihm ab und watete zu seinem Kollegen hinüber. Roman konnte sehen, wie er trotz des Tauchanzugs kurz die Luft anhielt und das Gesicht verzog. Vom Ufer aus konnte niemand hören, was die beiden besprachen. Schließlich beugte sich Georg ganz weit unter das Treibholz und begann zu sägen. Dabei geriet er immer wieder kurz unter Wasser, prustete und spie aus. Roman wurde unruhig. Er öffnete und schloss die Hände, trampelte von einem Bein aufs andere und wäre am liebsten selbst ins Wasser gegangen. Untätig zusehen zu müssen vertrug er nicht gut. Außerdem gaukelte seine Fantasie ihm vor, das klare Wasser des Beckens würde sich plötzlich rot verfärben und der abgesägte Arm der jungen Frau winkend zur Kante treiben, um sich dort am Felsgrat aufzustellen und mit einem letzten makabren Gruß zu verschwinden. Natürlich sägte Georg an einem Holzstück, nicht am Arm, das war Roman klar, aber seine Fantasie nutzte die Szene trotzdem gnadenlos aus. Anton filmte, Georg sägte, Hans zog, und plötzlich gab der Körper mit einem Ruck nach. Hans taumelte nach hinten, stolperte und verschwand kurz unter der Wasseroberfläche. Er kam sofort wieder hoch, spuckte Wasser aus und schüttelte den Kopf. Der Leichnam war frei. Die beiden Kollegen zogen ihn ans Ufer. Alle versammelten sich um den toten Körper. Die junge Frau lag auf dem Rücken. Sie trug keine Schuhe mehr, die Jacke war zerfetzt, hing nur noch an dem einen Ärmel, der Pullover darunter bis über die Brüste hochgeschoben. Das Haar klebte nass am Kopf und ließ ihren Schädel sehr schmal erscheinen. Ein Auge war geöffnet, das andere geschlossen. Die durch die extreme Kälte straff gespannte Gesichtshaut schimmerte bläulich, an der Schläfe klaffte ein langer Riss, durch den geborstener Schädelknochen blitzte. Die Wunde blutete nicht mehr, war sauber ausgespült und deshalb grausam deutlich zu sehen. Die Nase war gebrochen, hing in einem schiefen Winkel zum Gesicht, außerdem fehlte ein Ohr. Fransige Hautlappen hingen dort, wo es abgerissen war. Die Klamm hatte ihr Opfer durch die Mangel gedreht. Sie kannte keine Gnade. Roman musste sich für einen Moment abwenden. Tobias ging in die Hocke, um sie sich genauer anzusehen. Den Tod festzustellen war überflüssig. Von hinten schob sich Leitenbacher zwischen sie. »Wollen Sie sie beatmen?«, fuhr er den Arzt an, hockte sich ebenfalls hin und durchsuchte die Taschen der zerfetzten Jacke. »Na toll!«, raunzte er. »Keine Ausweispapiere. Sie muss es der Nachwelt natürlich besonders schwer machen. « »Dann viel Spaß beim Tauchen, Leitenbacher«, sagte Roman und sah den Oberkommissar an. »Sie können mich mal, Jäger«, konterte der, erhob sich und verschwand wortlos in der Nacht. Die anderen sahen ihm kopfschüttelnd nach, während Roman sich überwand und doch wieder die Leiche betrachtete. Wie alt mochte sie sein? Höchstens fünfundzwanzig. Was konnte einer so jungen Frau zugestoßen sein, dass der Tod die einzige Möglichkeit war? Und warum hatte sie ihn ausgerechnet hier gesucht, in der Höllentalklamm? Schneller hatte Mara Landau sich nie geduscht und umgezogen. Zehn Minuten nachdem sie Lauras SMS gelesen hatte, verließ sie das Fitness-Studio. Ihre Wohnung lag nicht weit entfernt, sie hätte zu Fuß hinübergehen können, warf aber stattdessen die Tasche mit der verschwitzten Sportkleidung auf den Rücksitz, klemmte sich hinters Steuer und fuhr los. Eigentlich hatte sie heute Abend nirgendwo mehr hingewollt, doch Lauras SMS hatte sie alarmiert.
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Der böige Wind trieb die Schneeflocken durch die Wipfel der hohen Tannen in die Schlucht hinein und ließ die Sicht gegen Null sinken. Es war ein Wirbeln und Tanzen, ein Stoßen und Treiben, eine unruhig bewegte Welt voller geisterhafter Schemen und Schatten. Immer wieder von neuem stürzten sie auf die junge Frau zu, ein niemals enden wollender Reigen. Die Eiseskälte durchdrang mühelos ihre viel zu dünne violettfarbene Jacke. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Zähne schlugen aufeinander, ihre Lippen hatten längst die Farbe der Jacke angenommen. Ungeschützt und blau verfroren ragten ihre Hände wie Totenklauen aus den Bündchen der Ärmel - an Handschuhe hatte sie bei ihrem überstürzten Aufbruch nicht gedacht. Doch es störte sie nicht, sie war versunken, hatte sich tief in ihr Innerstes zurückgezogen, und alles, was ihrem Körper geschah, nahm sie aus der sicheren Distanz einer Verlorenen wahr. Sie trug einen leichten, olivfarbenen Rucksack, der flach an ihrem Rücken anlag. Unter der Kapuze ihrer Jacke war ihr Gesicht nicht zu sehen. Die Schultern nach vorn gezogen, schräg gegen den Wind gelehnt, stieg sie mühsam bergan. Ihre Spur in der dünnen Schneeschicht spiegelte ihren schleppenden Gang. Die einzelnen Abdrücke ihrer Schuhe waren nicht sauber voneinander getrennt, sondern durch Schleifspuren verbunden, die den kahlen Felsboden freilegten. Immer wieder geriet sie ins Stolpern, strauchelte und fing sich dann. Ihre beinahe profillosen Schuhe waren für Wetter und Gelände nicht geeignet, aber daran lag es nicht allein; sie war schon aus dem Tritt gekommen, lange bevor sie sich auf den Weg gemacht hatte. Auf dem ebenen Pfad unten im Tal hatte sie noch ein paar Menschen gesehen, doch seit sie bergan stieg, war sie allein - so allein, wie ein Mensch nur sein konnte. Es gab ganz einfach keine Welt mehr, in die sie hätte zurückkehren können, es gab keine Menschen mehr, die sie aufgenommen und ihr geholfen hätten. Derart getrennt von allem, was das Leben ausmachte, war es unmöglich für sie, noch einmal darüber nachzudenken oder es sich gar anders zu überlegen. Auf halber Strecke erreichte sie die Weggabelung. Links führte der breite Weg direkt zum Klammeingang, rechts ein schmaler Pfad über den Stangensteig bis hinauf zur Eisernen Brücke. Sie kannte sich hier aus. Dieser Weg hatte sich ihr in unzähligen albtraumgeplagten Nächten ins Gedächtnis eingebrannt. Das für Bergwanderer gedachte Gefahrenschild ignorierend, bog sie ohne Zögern nach rechts auf den schmalen Pfad ab, der sie über Kehren zunächst in einen Laubwald führte. Nasse Stämme kahler Ahornbäume ragten in die graue Luft. Da der Schneefall erst vor einer Stunde eingesetzt hatte, war der Boden unter den Bäumen noch fast frei davon. Sanft senkten sich die kleinen Flocken auf die Laubschicht und erzeugten dabei ein fremdartiges Raunen. Sie blieb stehen, schob die Kapuze von den Ohren und sah sich um. Ehrfurcht lag in ihrem Blick. Ihre Augen waren groß, von durchdringend blauer Färbung, aber der Ausdruck einer zerrissenen, gehetzten Seele darin brach ihre Schönheit. Mit zurückgelegtem Kopf stand sie eine Weile lauschend da. Hier und jetzt konnte sie die Geister verstehen, die zu ihr sprachen. Sie breitete die Arme aus, als wolle sie fliegen, dann begann sie zu weinen. Stille Tränen im flüsternden Chor des beginnenden Winters. Nach wenigen Minuten setzte sie ihren Fußmarsch fort. Der Weg wurde immer steiler, bald begann sie zu schwitzen. Sie ließ die Baumgrenze hinter sich. Die Umgebung änderte sich drastisch, wurde steinig, grau und hart, nur gelegentlich belebt durch niedrig geduckte Latschenkiefern. Als sie aus deren schützenden Schatten heraustrat, schlug ihr der kalte Wind wuchtig ins Gesicht. Er fiel aus der hochalpinen Zone über ihr in den schmalen Trichter der Klammschlucht, beschleunigte darin und fegte weiter unten aus der Engstelle. Sie taumelte, geriet gefährlich nahe an die Abbruchkante, fing sich aber wieder und bückte sich tiefer, machte sich klein, um unter dem Wind hindurchzukriechen. Binnen weniger Minuten sog er ihr die mühsam erworbene Wärme aus dem Körper und kühlte sie erneut aus bis auf die Knochen. Weiter, immer weiter. Einen Fuß vor den anderen. Gegen den Wind, der sie scheinbar zurückdrängen wollte, gegen den Schnee, der den Aufstieg immer schwieriger werden ließ. Gegen sich selbst, denn je näher das Ziel rückte, desto schwerer wurden ihre Beine, steifer ihre Bewegungen, träger ihr Verstand. Sie war so müde, unendlich müde, wollte nur noch schlafen und war nahe daran, sich einfach auf den Weg zu legen. An einem besonders steilen Stück rutschte sie auf einer Eisfläche aus, die unter dem Schnee verborgen war, stürzte auf ihre Knie, prellte sich den Ellenbogen an der Felswand, nahm den Schmerz hin, nutzte ihn zur Mobilisierung ihrer letzten Kräfte und erreichte zwei Stunden nach ihrem Aufbruch im Tal die Brücke hoch über der Klamm. An dieser exponierten Stelle entfaltete der Wind seine ganze Stärke, drückte ihr den Schnee ins Gesicht, riss ihr den Atem von den Lippen, sog ihr das Leben aus dem dünnen Körper, trug es hinunter in die Schlucht, um es im klaren Eiswasser zu ertränken. Ungefähr in der Mitte der Brücke blieb sie stehen. Wandte sich dem Tal zu, das von hier aus nicht mehr zu sehen war. Nichts war mehr zu sehen. Sie hatte ihre Welt mit hinaufgenommen, alles befand sich mit ihr auf dieser Brücke - und alles war nichts. Das Geländer war nichts, auch die brutale Kälte darin, als sich ihre Finger krampfhaft um das Metall schlossen, war nichts. Mit einem Ruck zog sie sich auf die unterste Querstrebe und ließ das Geländer los. Roman Jäger starrte auf die Fußabdrücke im Schnee, sah dann hoch und verfolgte mit den Augen die einsame Spur den Weg zum Stangensteig hinauf, bis sie unter den Bäumen verschwand. Eine einzelne Person. Der Schuhgröße nach zu urteilen ein Kind oder eine Frau. Wahrscheinlich mit schwerem Rucksack, denn die Füße kamen nicht richtig vom Boden hoch, aber ohne vernünftiges Schuhwerk, denn die Sohlen hatten kaum Profil, waren glatt wie diese modernen Sneaker, die heute jeder trug. Verrückte Touristen. Schon gestern hatte der Wetterdienst für den heutigen Tag Schneefall angekündigt, der bei rasch fallender Temperatur zum Abend hin stärker werden würde. Der Winter hatte sich Zeit gelassen in diesem Jahr, bisher war es frühlingshaft mild gewesen, doch nun musste die Region mit einem ernsthaften Wintereinbruch rechnen. Im Tal waren vorerst nur ein paar Zentimeter Schnee zu erwarten, oberhalb der Tausend- Meter-Grenze jedoch deutlich mehr. Dazu kräftiger, eiskalter Fallwind von den Hängen der Berge. Wer seine Sinne beisammenhatte, stieg an einem solchen Tag nicht auf. In den Bergen war das Wetter oft unberechenbar, und auf dem Weg hinauf gab es nichts, wo man einkehren und Schutz suchen konnte. Zwischen der Sommer- und Wintersaison waren die Hütten geschlossen. Es gab ein Winterlager für Notfälle, aber wer das nicht kannte und sich in dieser Nacht auf dem Berg dem Wetter auslieferte, der war verloren. Roman war eigentlich im Abstieg begriffen. Er hatte die Gittertore am Klammeingang, die während der Wintersaison übermütigen Touristen den Weg hinauf versperrten, überprüft und abgeschlossen. Später würden Lawinen die Klamm so sehr mit Schnee verstopfen, dass sowieso niemand mehr hindurchkonnte, aber ein paar Verrückte würden es trotzdem versuchen. Zumindest den Weg hinauf zu versperren ersparte der Bergwacht die eine oder andere Rettungsaktion. Auf dem Rückweg wollte er die Schlüssel in der Bergwachtstation im Tal deponieren, dann war Feierabend für heute. Theoretisch. Praktisch konnte er diese Spur aber nicht einfach ignorieren. Sie bedeutete Ärger. Nach zehn Jahren Dienst bei der Bergwacht entwickelte man schon allein aus der Erfahrung heraus eine Intuition, und die verriet ihm jetzt, dass er es später bereuen würde, wenn er dieser Spur nicht nachginge. Auf seine Intuition konnte Roman sich verlassen, sie hatte ihn schon vor einigen brenzligen oder zu wagemutigen Situationen bewahrt, deshalb stellte er sie auch nicht in Frage. Ein Blick auf die Uhr, die am Schultergurt seines Rucksacks hing, dann war die Entscheidung getroffen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte er eine Stunde Zeit. Die Spur war nicht alt, höchstens fünfzehn Minuten konnten vergangen sein, seitdem die Person an der Weggabelung abgebogen war. Bei dem Tempo, das er selbst bergan zu gehen in der Lage war, würde er sie bis zur Brücke eingeholt haben. Das war der Deal. Bis zur Brücke. Wenn er sie bis dahin nicht eingeholt und zur Rede gestellt hatte, würde er umkehren und bei der Leitstelle eine Meldung hinterlassen. Roman schritt kräftig aus. Das tiefe Profil seiner Alpinstiefel krallte sich in den Schnee. Die Spur verriet ihm, dass die Person zwei Schritte gemacht hatte, wo er einen brauchte, und so wuchs seine Zuversicht. Sie einzuholen dürfte nicht schwer werden, sie davon zu überzeugen, sich heute nicht da oben rumzutreiben, schon eher. Da waren die Touristen alle gleich. Warnungen der Bergwacht zu ignorieren galt als cool und wagemutig. Später waren es dann Leute wie er und seine Kollegen, die ihren ganzen Mut in die Waagschale werfen mussten, um in Not geratene Bergsteiger zu retten. Wie konnte nur jemand so dumm sein, bei einem solchen Wetter kurz vor Einbruch der Dunkelheit auf den Berg zu steigen? Das war selbst für Touristen ein dreistes Verhalten. Außerdem waren jetzt in der Zwischensaison kaum welche im Ort. Am Wochenende kamen immer ein paar Bergsteiger aus der weiteren Umgebung für Tagestouren, aber heute war Dienstag, und als Roman vorhin aufgestiegen war, hatte er das Alleinsein genossen, denn viele solche ruhigen Tage gab es in einer Ferienregion nicht. Er hatte sich zu früh gefreut, wie es schien. Roman zog sein Tempo noch an und begann zu schwitzen. Den eisigen Wind spürte er in seiner wind- und wasserdichten Kleidung kaum. Als er an der Wegbiegung aus dem Schatten der Felswand trat, stemmte er sich gegen den Fallwind und versuchte, die Brücke weit oben über der Schlucht ausfindig zu machen. In dem zunehmend dichter werdenden Schneegestöber war sie jedoch nicht zu sehen. Also lief er weiter. Steil hinauf über Felsstufen, auf denen das Regenwasser der vergangenen Tage gefroren war, sodass sie zu tückischen Fallen wurden. Roman bewegte sich jetzt vorsichtiger, stützte sich immer öfter mit einer Hand an der Felswand ab und ergriff jede Kante, jeden Riss und jede Wurzel, um etwas Halt zu finden. Rechts ging es steil abwärts in die Klamm. Wer hier ausrutschte, hatte kein Chance. Einmal im Sturz begriffen, gab es nichts mehr, was Einhalt gebieten konnte. Es waren oft Stellen wie diese - eigentlich gut begehbare Wanderwege, die an einer Abbruchkante entlangführten -, an denen Bergwanderer verunglückten, weil sie die Gefahr unterschätzten und die Unberechenbarkeit der Natur nicht ernst genug nahmen. In den Bergen überlebte aber nur, wer Respekt und Angst nicht gänzlich verlor. Nach weiteren zehn Minuten tauchte aus dem Schneegestöber vor ihm das Geländer der Brücke auf. Die aus Eisen gefertigte Brücke verlief mehr als siebzig Meter über der Klamm und war Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert. Schnee blieb bei dem Sturm kaum darauf liegen, dafür hingen dünne Eiszapfen im schrägen Winkel vom Geländer herab. Die Brücke überwand eine Distanz von dreißig Metern, und Roman musste bis zum Einstieg vorgehen, um wenigstens die erste Hälfte einsehen zu können. Der Sturm pfiff und heulte und peitschte die Schneeflocken an seinem Gesicht vorbei. Jäh stockte ihm der Atem. In der Mitte des Bauwerks balancierte eine schmale Person in violetter Jacke und Bluejeans auf der untersten Sprosse des Geländers. Sie hatte die Arme zu den Seiten ausgebreitet und schien sich auf den Sprung vorzubereiten, blickte aber nicht in die weit unten verlaufende Klamm, sondern hatte das Gesicht dem Himmel zugewandt. Romans Gedanken rasten. Er hatte nicht viele Möglichkeiten. Wenn er sich bemerkbar machte, würde sie wahrscheinlich sofort springen. Wer ganz allein hier heraufkam, um sich das Leben zu nehmen, der meinte es ernst, der wartete nicht auf einen Retter in allerletzter Sekunde. Also musste er schnell sein. Und leise. Beim Laufen würden seine schweren Schritte die Gitter zum Klappern bringen und die Person warnen. Roman schlich voran, behielt die Person auf dem Geländer dabei im Auge und wunderte sich, wie sie sich bei dem Sturm überhaupt so lange halten konnte. Er hatte es fast geschafft, war keine drei Meter mehr von ihr entfernt, als sie ihn bemerkte und den Kopf herumriss. Der Wind zerrte die Kapuze beiseite. Rötliches Haar umflatterte ein schmales Gesicht. Es war eine Frau. Augen und Mund weit aufgerissen starrte sie ihn an. Deutlich konnte er über diese kurze Distanz Angst und Panik in ihren Augen erkennen. Trotzdem reagierte sie schnell, packte mit beiden Händen das Geländer, hob den rechten Fuß, setzte ihn auf die oberste Strebe und ließ los. Eine einzige fließende Bewegung voller Entschlossenheit. Sofort drückte der Wind sie nach vorn. »Nein!«, schrie Roman und hechtete vor. In seiner Wahrnehmung stark verlangsamt sah er, wie die Frau über das hüfthohe Geländer kippte. Roman sprang, streckte die Arme aus, packte zu und erwischte ihre rechte Hand, die sie nach hinten weggestreckt hatte. Er packte so fest wie möglich zu, wurde durch die Wucht ihres Falls nach vorn gegen das Geländer gezogen, prellte sich die Rippen und hatte Mühe, seinen Stand zu wahren. Nur seiner Größe und seinem Gewicht hatte er es zu verdanken, nicht selbst in den Abgrund gerissen zu werden. Roman schrie auf. Ein heftiger Schmerz fuhr ihm durch den Arm bis ins Schultergelenk, und er meinte, darin etwas reißen zu spüren. Trotzdem hielt er ihr Handgelenk weiter fest umklammert. Die Frau war nicht schwer, aber er hielt sie nur an einem Arm, außerdem baumelte sie im Wind, und der Sog der Tiefe zerrte an ihr. Ganz langsam hob sie den Kopf und sah zu ihm hinauf. Angst und Panik, er hatte sich nicht getäuscht. Aber warum kam es Roman so vor, als fürchte sie sich vor ihm? Viel länger als zwei Sekunden dauerte es nicht, aber Roman hatte das Gefühl, eine Ewigkeit in diese blauen Augen zu schauen. Schließlich wandte sie den Blick ab, sah in die Schlucht hinunter und begann, ihre Hand in seinem Griff zu winden. »Nein, tu das nicht«, schrie Roman. Er kämpfte, konzentrierte sich auf seinen Griff, stellte sich vor, seine Finger wären Eisenklammern. Die Zähne zusammengebissen, fest gegen das Geländer gepresst, stieß er einen unmenschlichen Schrei aus und versuchte, die Frau hinaufzuziehen. Ein paar Zentimeter nur, dann sackte sie wieder ab, und Roman erkannte, dass er nicht die geringste Chance hatte, wenn sie ihm nicht half. Und das tat sie nicht. Stattdessen wand sie sich weiter in seinem Griff. Seine Kraft ließ nach, die Muskeln begannen zu zittern, er spürte, wie seine Finger sich öffneten. Zentimeter für Zentimeter entglitt sie ihm. »Nein«, brüllte Roman noch einmal. Plötzlich war seine Hand leer. Einen winzigen Moment schien sie frei über dem Abgrund zu schweben. Dann fiel sie. Rasend schnell. Prallte auf halber Strecke gegen einen Felsbrocken, taumelte zur Mitte der Klamm, schlug auf einen spitzen Grat und tauchte in ein schmales, mit eisig kaltem Wasser gefülltes Becken. Die Strömung riss den leblosen Körper mit sich, er trieb über eine Kante und verschwand in der schäumenden Gischt.
Augsburg
01.12.2009
Ihre Oberschenkelmuskulatur brannte, ihre Lunge litt Qualen. Schweiß tropfte von ihrem Gesicht zu Boden, ihr zu einem Zopf geflochtenes Haar flog hin und her. Mara Landau trieb die Maschine und sich selbst bis an die Belastungsgrenze. Aus dem Inneren des Stairmasters erklang ein metallenes Kratzen, trotzdem stellte die zweiundzwanzigjährige Brünette die Schwierigkeitsstufe noch höher - auf die höchste Frequenz, die das Gerät hergab. Während Maras Hände die Pulsmesser umklammerten, pumpten ihre Beine auf und ab und simulierten den harten Anstieg einer zwanzigprozentigen Steigung. Von allen aeroben Geräten im Fitness-Studio benutzte Mara Landau den Stairmaster am häufigsten. Sie liebte diese Maschine. Sie liebte die Schmerzen, den Schweiß, das Gefühl, an ihre Grenzen zu gehen. Außerdem war es das perfekte Training fürs Bergsteigen. Mit siebzehn Jahren war sie zum ersten Mal zum Klettern in die Berge gegangen. Anfangs war es ihr nur um das reine Felsklettern gegangen, doch in den letzten zwei Jahren war mehr und mehr das Höhenbergsteigen hinzugekommen. Jetzt waren es die schneebedeckten Gipfel, die sie reizten. Und dafür brauchte man Kondition. Wenn Mara wie jetzt alles gab, malte sie sich gern aus, wie sie eines Tages auf einen der Achttausender im Himalaya steigen würde. Schon jetzt verfolgte sie jede Sendung darüber, las jedes Buch, jeden Erfahrungsbericht. Und sollte sie eines Tages das dafür nötige Geld zusammengespart haben, dann würde sie diesen Traum Realität werden lassen. Bis dahin reichten ihr die Alpen. Und der Stairmaster. Sie hielt die hohe Frequenz länger durch als sonst. Das musste an dem zurückliegenden beschissenen Tag und dem aufgestauten Frust liegen. Der Prof vom Fachbereich Sport hatte ihr Referat zur Energiebereitstellung über Kreatinphosphate mit einer lausigen Drei benotet und sich auch nicht umstimmen lassen. Vielleicht hatte sie nicht perfekt recherchiert, schon möglich, aber für eine Zwei hätte es trotzdem reichen müssen. Der Prof mochte sie einfach nicht, daran lag es. Ihr Frust hatte aber noch einen anderen Grund. Am Nachmittag war der erneute Versuch, ihre Freundschaft zu Laura doch noch zu retten, gescheitert. Wieder einmal. Laura war weder über Handy noch Festnetz zu erreichen gewesen und hatte auch nicht die Tür geöffnet. Eine Stunde hatte Mara im Treppenhaus gewartet in der Hoffnung, ihre Freundin würde nach Hause kommen. Eine Stunde, in der sie immer wieder darüber nachgedacht hatte, wie es so weit hatte kommen können. Laura war nicht aufgetaucht. Eine Nachbarin hatte Mara schließlich berichtet, Laura sei schon sehr früh am Vormittag aufgebrochen. Mara war ratlos und traurig und wusste nicht mehr weiter. Sie hatte schon daran gedacht, mit Lauras Eltern zu reden, wusste aber nicht, ob das nicht ein Vertrauensbruch war, den Laura ihr niemals verzeihen würde. Oft genug hatte Laura gesagt, dass es speziell ihren Vater nichts anging, was sie tat, wie sie lebte und mit wem sie ausging. Seit sie ausgezogen war, war das Zerwürfnis zwischen den beiden einfach zu tief geworden. Nicht einmal Lauras Mutter hatte den Riss kitten können, obwohl sie es diplomatisch geschickt oft genug versucht hatte. Jetzt begannen die Muskeln zu übersäuern. Mara gab ein paar Sekunden noch mal alles, fing sich die anerkennenden Blicke einiger anderer Gäste des Studios ein, vor allem der Jungs, die ihr auf den Hintern schauten, hämmerte dann aber auf die rote Taste. Das Gerät fuhr langsam herunter und ging in die Cool-Down-Phase über. Nach weiteren drei Minuten stieg Mara von den Pedalen. Sie musste sich noch einen Moment festhalten, so sehr war sie außer Atem. Sie wischte sich das erhitzte, rot glühende Gesicht mit ihrem Handtuch ab und ging auf zittrigen Beinen Richtung Umkleide. Für heute war sie fertig, im doppelten Sinne des Wortes. In der Umkleide schloss sie den Spind auf, nahm die Wasserflasche heraus und ließ sich auf die Holzbank fallen. »Mal wieder übertrieben?«, fragte Tessa. Ihr gehörte das Fitness-Studio. Sie absolvierte gerade ihren Rundgang durch die Kabinen und blieb vor Mara stehen. Mara verstand sich sehr gut mit der zehn Jahre älteren Tessa. Erst gestern hatte sie das Angebot, in den Abendstunden als Trainerin zu jobben, angenommen. Zehn bis fünfzehn Stunden die Woche würde sie neben ihrem Sportstudium locker schaffen. Und die sieben Euro pro Stunde konnte sie gut gebrauchen. Das zusätzliche Geld würde sie ihrem Traum vom Himalaya ein Stück näher kommen lassen. »Kennst mich ja«, sagte Mara, noch immer kurzatmig. »Diesmal sah es aber ziemlich verbissen aus.« »Echt?« Tessa nickte. »Wie ein Kampf, nicht wie Training.« »Ich hatte einen beschissenen Tag«, wich Mara aus. So gut, dass sie Tessa von den Problemen mit ihrer besten Freundin erzählen würde, kannten sie sich nun doch nicht. »Na, dann hab wenigstens noch einen schönen Abend.« »Danke. Du auch.« Tessa verschwand. Mara nuckelte an ihrer Wasserflasche und dachte nach. War sie wirklich so verbissen gewesen? Sah man es ihr an, wie es ihr ging? Das wollte sie eigentlich nicht. Aber die Sache mit Laura ging ihr wirklich an die Nieren. Sich schuldig zu fühlen und nichts tun zu können war ein Zustand, den sie nur sehr schwer ertrug. Eigentlich gar nicht. Das ständige Grübeln machte sie fertig. Sie brauchte Klarheit. Wahrscheinlich war ihre Arbeit auch wegen dieser Sache schlechter ausgefallen als sonst. Ihr fehlte die Konzentration. Während sie trank, nestelte sie ihr Handy aus dem Seitenfach der Sporttasche. Eine SMS war während des Trainings eingegangen. Von Laura. Nur ein Wort. »Hinauf!« Sie befanden sich tief unten in der Klamm. Hier standen die grauen Felswände dicht beieinander und pressten die Welt auf ein Minimum zusammen. Wenige Meter ebener Boden, und den mussten sie sich mit einem reißenden Fluss teilen, der über eine für den Menschen kaum vorstellbare Zeitspanne diese Welt überhaupt erst erschaffen hatte. Denn so massiv und ewig beständig die Wände auch wirkten, hatte das Wasser sich doch tief hineingeschnitten und tat es immer noch. Dies war kein Ort für das Leben, jeder, der sich dort aufhielt, konnte das spüren. In dieser beinahe lichtlosen Enge gedieh nichts, und doch war es ein Ort von unvergleichlicher, wilder Schönheit und nicht nachlassendem Reiz. Kristallklares Wasser umspülte sanft gerundete Felsen, polierte Kiesel zu Edelsteinen, staute sich in Trichtern und Becken, um dann aus einem schmalen Loch hervorzuschießen, sich in die Tiefe zu stürzen und mit Brüllen und Tosen an den Felsen zu nagen, die ihm schutzlos ausgeliefert waren. Überall war es feucht; Gischt spritzte auf, Tag und Nacht, Wasserkaskaden perlten aus großer Höhe hinab, um den flüssigen Reichtum dieser Welt zu mehren. Stille gab es hier nicht, und wer die Zeichen nicht erkennen wollte, dem schrie das Wasser seine Warnung ins Gesicht: Du bist hier nur geduldet, und wenn es mir gefällt, dann spüle ich dich hinweg und spucke dich talabwärts als etwas wieder aus, das meiner mehr entspricht als einem Menschen. Roman erinnerte sich an die Klamm im Sommer, wenn es die hoch am Himmel stehende Sonne schaffte, ein paar Strahlen hier herunterzuschicken. Dann glitzerte und funkelte diese Welt, und in der Gischt spannten sich Regenbogen zwischen den Wänden wie Brücken. An Sommertagen hielt Roman sich gern unten in der Höllentalklamm auf, doch jetzt, im Winter, zudem am Abend, war dies ein unheimlicher und Angst einflößender Ort. Im Hintergrund röhrte der tragbare Dieselgenerator, der den Strom für die beiden Halogenscheinwerfer erzeugte. Ein geisterhafter Vorhang aus Schneeflocken trieb durchs Licht. Wie vorhergesagt hatte der Schneefall noch zugenommen, wenngleich hier unten in der Klamm nicht viel davon ankam. Dafür spürten sie quasi als Ausgleich vom Wind aber umso mehr. Es waren scharfe, eiskalte Fallwinde, die auf dem Rücken des Wassers durch die Schlucht ritten. Mit tauben Fingern band Roman Jäger das Ende des Sicherungsseils in einen Haken mit Karabiner ein, der sich schon seit Jahren in der Felswand in der Nähe des Beckens befand. Denn in diesem natürlichen Becken, das von den Bergrettern Stopselzieher genannt wurde, sammelten sich die Körper, die oberhalb der Eisernen Brücke in die Klamm stürzten. Hier gab es häufiger Einsätze mit Totenbergung. Roman kehrte mit dem Seil zu seinem Kollegen zurück. Hans Dachner hockte auf einem Felsblock am Rande des Beckens. Er trug einen schwarzen Trockentauchanzug ohne Helm und Brille. Zwar würde er nicht tauchen müssen, aber ohne den Anzug könnte er die Temperatur des Wassers keine zwei Minuten ertragen. Hans nahm ihm das Seil ab und sicherte sich mit einem Achterknoten an seinem Klettergurt ein. Er und Georg Lorenz, der ebenfalls einen Tauchanzug trug, hatten sich bereit erklärt, in den Hammersbach zu steigen, um die Leiche zu bergen. »Das wird auch mit Anzug verflucht kalt«, sagte Roman. Er selbst zitterte immer noch, trotz seiner wattierten, dichten Kleidung, trotz des heißen Tees, den er in der letzten halben Stunde becherweise getrunken hatte. Die Kälte, die ihn zittern ließ, kam von innen, da half kein Heißgetränk, und es würde noch eine Weile dauern, bis sie verschwand. Im Moment wurde sie sogar nur noch durchdringender, sobald er nur kurz die Augen schloss. Dann sah er sofort den Blick der jungen Frau, diese durchdringend blauen Augen, die Angst darin. Sie hatte sich vor ihm gefürchtet, so sehr, dass sie sich aus seinem Griff befreit hatte, und Roman verstand einfach nicht, warum. Es war zwei Stunden her, aber sein rechter Arm schmerzte immer noch bis hoch ins Schultergelenk. Anfangs war er sogar taub gewesen. Er ertappte sich immer wieder dabei, wie er die Hand zur Faust ballte, so als müsse er etwas festhalten. »Nur kurz rein und wieder raus, mehr ist nicht drin«, sagte Hans und riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich suche ganz bestimmt nicht das Becken nach irgendwelchen persönlichen Gegenständen ab. Das kannst du dem Leitenbacher gleich sagen. Soll er doch seine eigenen Leute schicken.« Roman legte Hans eine Hand auf die Schulter. Der Neoprenanzug fühlte sich an wie eine Reptilienhaut. »Ich regele das, keine Bange.« Roman warf einen Blick aufs Wasser. Es staute sich an dieser Stelle, bevor es zwischen großen Blöcken hindurch über eine Kante floss und drei Meter in die Tiefe stürzte. Gut anderthalb Meter tief war das Becken und groß genug für einige Kehrwasser, und genau darin hatte sich unter einem Haufen angetriebenen Holzes die Leiche der jungen Frau verfangen. Vom Weg aus war nur ein Arm zu sehen, der im stark bewegten Wasser auf und ab trieb und ihnen in seinem violetten Jackenärmel zuzuwinken schien. Ein grauenhafter Anblick, der Roman erneut einen Schauer über den Rücken trieb. Eine so tiefe innerliche Kälte wie heute hatte er noch nie empfunden, selbst in jener Nacht nicht, als er in fünftausend Metern Höhe am Denali in der Alaska Range biwakiert hatte. Er zog sich die Wollmütze tiefer in die Stirn, bedeckte seine Ohren damit und stellte den Fleecekragen der Jacke höher. Mehrere Personen befanden sich auf dem schmalen Weg an dieser engen Stelle der Klamm. Das Scheinwerferlicht strahlte sie von hinten an und warf ihre Schatten auf die steile graue Wand, die jenseits des Beckens aufragte. Links außen hockte auf Knien Anton Schäffler, der Chef der Bergrettung. Er schoss mit einer Digitalkamera Fotos, außerdem würde er die Bergung der Leiche mit der Videofunktion festhalten. Sobald das Blitzlicht der Kamera aufleuchtete, verschwanden die Schatten der Männer, und der winkende Arm wurde für den Bruchteil einer Sekunde zum Mittelpunkt der Umgebung. Neben Anton stand Dr. Tobias Schollerer, ihr Bereitschaftsarzt. Er trat von einem Bein aufs andere, rieb sich immer wieder die Hände, schien die Kälte damit aber auch nicht vertreiben zu können. Roman hatte Tobias selbst angerufen und wusste daher, dass er ihn quasi aus dem Bett geholt hatte. Tobias hatte eine 24-Stunden-Schicht im Krankenhaus hinter sich und war wenig begeistert gewesen, in dieser Nacht noch einmal rauszumüssen, aber er war als Einziger verfügbar gewesen. Ein paar Schritte entfernt wartete Oberkommissar Leitenbacher rauchend auf die Bergung der Leiche. Roman hatte schon mit ihm gesprochen, sozusagen eine erste Aussage gemacht und war dabei das Gefühl nicht losgeworden, dass der Kommissar ihm nicht glaubte - zumindest nicht den Teil, in dem die Frau sich seinem Griff entwunden hatte, um in den Tod stürzen zu können. Leitenbacher hielt es nicht für notwendig, Verstärkung aus seinen eigenen Reihen anzufordern, denn glasklarer konnte ein Selbstmord kaum sein. Was gibt es da noch zu ermitteln?, waren seine lapidaren Worte gewesen. Roman mochte den fünfundfünfzigjährigen untersetzten Mann nicht besonders. Er benahm sich oft überheblich und war nicht nur nach Romans Meinung ein fauler Hund, der zu viel trank und auf seine Pensionierung wartete. Roman schob sich zwischen Anton und Tobias. Sein Chef hörte mit dem Fotografieren auf und kam aus der Hocke hoch. »Die beiden sind jetzt so weit«, sagte Roman. »Und sie hat wirklich nichts gesagt?«, fragte Tobias Schollerer. Er hatte erneut seine Brille abgenommen und rieb auf den Gläsern herum. Die Umgebungskälte, die Luftfeuchtigkeit und die Hitze der Scheinwerfer ließen sie dauernd beschlagen. Ohne Brille wirkte er noch jünger, und man war kaum gewillt, ihm seinen Doktortitel abzukaufen. Roman schüttelte den Kopf. »Kein Wort.« Rechts von ihnen schob sich Hans Dachner auf das Becken zu. Anton nahm sein Funkgerät an die Wange. »Alles klar da oben?«, fragte er. »Von hier kommt nichts«, antwortete eine schwer verständliche Stimme. Sie gehörte ihrem Kollegen Richard Stangl, der sich mehr als fünfzehn Meter oberhalb des Beckens an einer Abbruchkante befand. Von dieser günstigen Position aus beobachtete er mit einem Nachtsichtgerät den Flusslauf, was in der Dunkelheit und bei dem Schneefall schwierig war. Er sollte rechtzeitig warnen, falls Treibholz angespült wurde. Für die beiden Jungs im Wasser war das gefährlich, denn es würde mit hoher Geschwindigkeit über die Kante schießen und ins Becken stürzen. Zwar lag der letzte Sturm zwei Wochen zurück, sodass kein neues Holz in die Klamm geweht worden war, trotzdem konnte sich jederzeit ein verkeilter Stamm irgendwo losreißen und seine Schussfahrt fortsetzen. »Alles klar, ihr könnt!«, rief Anton den Kollegen in den Taucheranzügen zu. Er musste gegen den Lärm der Generatoren, des Windes und des tosenden Wassers anbrüllen und hob zusätzlich einen aufrechten Daumen in die Luft. Hans erwiderte das Zeichen, nickte und marschierte los. Georg sicherte ihn zunächst vom Ufer aus. »Haben Ihre Jungs auch Masken dabei?«, fragte Leitenbacher, der näher gekommen war. Roman sah auf den kleinen Mann hinab. Er trug eine dick gepolsterte Daunenjacke, in der er noch kleiner und runder wirkte als ohnehin schon. Die braune Strickmütze hatte er tief in die Stirn gezogen. »Wofür?« Leitenbacher zuckte mit den Schultern und zog an seiner Zigarette. Sie war feucht und glomm kaum noch. »Wenn sie keine Papiere in den Taschen hat, müssen wir den Grund absuchen.« »Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß dabei«, sagte Roman. »Von uns macht das niemand, dafür ist das Wasser viel zu kalt. Sie können dankbar sein, dass wir den Leichnam für Sie bergen.« Leitenbacher sah ihn von unten herauf an. Er hatte einen starren, unangenehmen Blick. In seinen buschigen Augenbrauen verfingen sich Schneeflocken. »Warum machen Sie es nicht? Sie haben sie schließlich fallen lassen ... Ach nein, ich vergaß, sie hat sich Ihnen ja entwunden.« Roman spürte geradezu, wie es in seinem Kopf klick machte und eine bestimmte Schaltstelle den Weg freigab. Er kannte diesen Automatismus, diese kindische Reaktion auf Kritik oder Häme, die er einfach nicht im Zaum halten konnte. Mit den richtigen Worten konnte man in Sekundenschnelle Wut bei ihm auslösen. Er machte zwei schnelle Schritte auf den Oberkommissar zu, baute sich vor ihm auf, wollte die Arme heben, um ihn umzustoßen, spürte im selben Moment aber, wie ihn jemand zurückhielt. Es war Anton Schäffler, und Roman verstand erst viel später, dass sein Chef ihn vor einer riesengroßen Dummheit bewahrte. »Hör auf«, flüsterte Anton ihm zu. »Das lohnt nicht.« Leitenbacher stand einfach nur da und sah Roman an. Mit einem Blick, der alles und nichts ausdrückte, der gelangweilt, gleichgültig und abschätzend war. Er war zwei Köpfe kleiner als Roman und körperlich in wesentlich schlechterer Verfassung, zeigte aber keinerlei Furcht. In diesem Teil der Welt konnte ein Beamter sich noch auf die Autorität seines Titels verlassen. Noch. Roman fixierte ihn, suchte nach Worten, irgendwas Treffendes, vielleicht in Richtung der Wodkaflaschen, die Leitenbacher wöchentlich aus dem Supermarkt schleppte, doch ihm fiel auf die Schnelle nichts ein. Seine Wut blockierte ihn. Also wandte er sich schweigend ab und ging zu seinen Kollegen zurück. Ein Arschloch konnte er sich nicht verkneifen und war sicher, dass Leitenbacher es hörte. Doch der steckte es kommentarlos weg. »Die hängt fest«, rief Hans Dachner und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich. Er stand bis zum Brustkorb in dem eiskalten, sprudelnden Wasser, hatte sich weit vorgebeugt und versuchte ohne Sicht, nur durch Tasten, die Leiche aus dem Treibgut zu befreien. »Ein Bein ... Ich bekomme ihr Bein nicht frei.« »Was kann helfen?«, rief Anton ihm zu. »Eine Knochensäge«, sagte Tobias Schollerer leise und fing sich den giftigen Blick des Bergwachtchefs ein. »Eine Säge, ich brauche eine Fuchsschwanzsäge«, rief Hans ihnen tatsächlich zu. Roman lief zu dem Dieselgenerator. Daneben befand sich die Kiste mit der Ausrüstung. Er holte die handliche Säge heraus und lief zum Becken zurück. Georg nahm sie ihm ab und watete zu seinem Kollegen hinüber. Roman konnte sehen, wie er trotz des Tauchanzugs kurz die Luft anhielt und das Gesicht verzog. Vom Ufer aus konnte niemand hören, was die beiden besprachen. Schließlich beugte sich Georg ganz weit unter das Treibholz und begann zu sägen. Dabei geriet er immer wieder kurz unter Wasser, prustete und spie aus. Roman wurde unruhig. Er öffnete und schloss die Hände, trampelte von einem Bein aufs andere und wäre am liebsten selbst ins Wasser gegangen. Untätig zusehen zu müssen vertrug er nicht gut. Außerdem gaukelte seine Fantasie ihm vor, das klare Wasser des Beckens würde sich plötzlich rot verfärben und der abgesägte Arm der jungen Frau winkend zur Kante treiben, um sich dort am Felsgrat aufzustellen und mit einem letzten makabren Gruß zu verschwinden. Natürlich sägte Georg an einem Holzstück, nicht am Arm, das war Roman klar, aber seine Fantasie nutzte die Szene trotzdem gnadenlos aus. Anton filmte, Georg sägte, Hans zog, und plötzlich gab der Körper mit einem Ruck nach. Hans taumelte nach hinten, stolperte und verschwand kurz unter der Wasseroberfläche. Er kam sofort wieder hoch, spuckte Wasser aus und schüttelte den Kopf. Der Leichnam war frei. Die beiden Kollegen zogen ihn ans Ufer. Alle versammelten sich um den toten Körper. Die junge Frau lag auf dem Rücken. Sie trug keine Schuhe mehr, die Jacke war zerfetzt, hing nur noch an dem einen Ärmel, der Pullover darunter bis über die Brüste hochgeschoben. Das Haar klebte nass am Kopf und ließ ihren Schädel sehr schmal erscheinen. Ein Auge war geöffnet, das andere geschlossen. Die durch die extreme Kälte straff gespannte Gesichtshaut schimmerte bläulich, an der Schläfe klaffte ein langer Riss, durch den geborstener Schädelknochen blitzte. Die Wunde blutete nicht mehr, war sauber ausgespült und deshalb grausam deutlich zu sehen. Die Nase war gebrochen, hing in einem schiefen Winkel zum Gesicht, außerdem fehlte ein Ohr. Fransige Hautlappen hingen dort, wo es abgerissen war. Die Klamm hatte ihr Opfer durch die Mangel gedreht. Sie kannte keine Gnade. Roman musste sich für einen Moment abwenden. Tobias ging in die Hocke, um sie sich genauer anzusehen. Den Tod festzustellen war überflüssig. Von hinten schob sich Leitenbacher zwischen sie. »Wollen Sie sie beatmen?«, fuhr er den Arzt an, hockte sich ebenfalls hin und durchsuchte die Taschen der zerfetzten Jacke. »Na toll!«, raunzte er. »Keine Ausweispapiere. Sie muss es der Nachwelt natürlich besonders schwer machen. « »Dann viel Spaß beim Tauchen, Leitenbacher«, sagte Roman und sah den Oberkommissar an. »Sie können mich mal, Jäger«, konterte der, erhob sich und verschwand wortlos in der Nacht. Die anderen sahen ihm kopfschüttelnd nach, während Roman sich überwand und doch wieder die Leiche betrachtete. Wie alt mochte sie sein? Höchstens fünfundzwanzig. Was konnte einer so jungen Frau zugestoßen sein, dass der Tod die einzige Möglichkeit war? Und warum hatte sie ihn ausgerechnet hier gesucht, in der Höllentalklamm? Schneller hatte Mara Landau sich nie geduscht und umgezogen. Zehn Minuten nachdem sie Lauras SMS gelesen hatte, verließ sie das Fitness-Studio. Ihre Wohnung lag nicht weit entfernt, sie hätte zu Fuß hinübergehen können, warf aber stattdessen die Tasche mit der verschwitzten Sportkleidung auf den Rücksitz, klemmte sich hinters Steuer und fuhr los. Eigentlich hatte sie heute Abend nirgendwo mehr hingewollt, doch Lauras SMS hatte sie alarmiert.
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Autoren-Porträt von Andreas Winkelmann
Andreas Winkelmann, geboren im Dezember 1968, entdeckte schon in jungen Jahren seine Leidenschaft für unheimliche Geschichten. Als Berufener hielt er es in keinem Job lange aus, war unter anderem Soldat, Sportlehrer und Taxifahrer, blieb jedoch nur dem Schreiben treu. Er lebt heute mit seiner Familie nahe Bremen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Winkelmann
- 2013, 352 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475619
- ISBN-13: 9783442475612
- Erscheinungsdatum: 18.02.2013
Rezension zu „Höllental “
"Andreas Winkelmann ist eine ernsthafte Konkurrenz um den Thron des deutschen Thriller-Kings."
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