Ich und Monsieur Roger
Roman
Hélène ist klein, zart, acht Jahre alt, nennt sich Joe und behauptet, zehn zu sein, damit sie den Job als Zeitungsausträgerin bekommt. Umgeben von drei Schwestern, einem Vater, der das Leben nur als melancholischer Trinker erträgt, und einer Mutter, die...
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Produktinformationen zu „Ich und Monsieur Roger “
Klappentext zu „Ich und Monsieur Roger “
Hélène ist klein, zart, acht Jahre alt, nennt sich Joe und behauptet, zehn zu sein, damit sie den Job als Zeitungsausträgerin bekommt. Umgeben von drei Schwestern, einem Vater, der das Leben nur als melancholischer Trinker erträgt, und einer Mutter, die sich mit drakonischer Strenge panzert, ist Joe manchmal etwas einsam, ganz wie Roger, der plötzlich im Garten des Nachbarhauses steht und flucht. Roger ist achtzig, ein begnadeter Grantler, dessen Flüche mit jeder Flasche Bier phantastischer werden. Wie Joe den lebensmüden Roger ins Leben zurückholt und er zum Schutzpatron dieses empfindsamen Mädchens wird, beschreibt Marie-Renée Lavoie aus Kanada mit viel Witz und Poesie.
Lese-Probe zu „Ich und Monsieur Roger “
Ich & Monsieur Roger von Marie-Renée Lavoie Aus dem Französischen von Norma Cassau und Andreas Jandl
[...]
In dieser Zeit zog Roger in unsere Straße. Als ich schlaftrunken von einer meiner Touren heimkehrte, nach denen ich nie wusste, ob ich tatsächlich Zeitungen ausgetragen hatte, kam mir plötzlich dieses gestrandete Wrack vor die Füße. Die Anwesenheit eines Fremden auf meinem Nachhauseweg brachte mich schnell zurück in die Welt der Irren.
Er saß auf einem kleinen Stuhl mit geblümtem Kunstlederbezug, auf dem Parkplatz des Hauses nebenan, eine schlecht gerollte Zigarette im dichten, weißen Bart, in den der Tabaksrauch karamellfarbene Strähnen eingefärbt hatte. Man hätte meinen können, er wäre schon immer da gewesen. Ein Mann der einfachen Viertel, die perfekte Inkarnation dessen, was man sich unter armen Leuten vorstellt. Kleidung aus einer anderen Zeit: ein kariertes Hemd über brauner Hose über weißen Socken in ausgelatschten Slippern. Er musste nur den Arm fallenlassen, um mit den Fingern an die O'Keefe-Flasche zu kommen, die als Verlängerung seines eigenen Körpers zu seinen Füßen stand. Ohne mit der Wimper zu zucken, griff er nach ihr mit der Genauigkeit eines Elektrikers, versenkte den Hals in seinem behaarten Schlund und rülpste laut. Das Echo hallte von den benachbarten Gebäuden zurück, bevor es sich, ohne weiteres Aufsehen oder Panik zu erregen, auf der um diese Zeit verlassenen Straße verlor. Verlassen bis auf mich, die ich noch einen Moment an der Straßenecke stehengeblieben war, um überstürzt aus Versailles zurückzueilen und diesen kümmerlichen Weihnachtsmann zu verarbeiten, der sich wie zu Hause fühlte.
... mehr
Und er war tatsächlich hier zu Hause. Im Souterrain bei den Simards, direkt nebenan, plötzlich sehr nah. Und ich würde an ihm vorbeimüssen, um zu mir ins Haus zu kommen.
Ich zerzauste mir die Haare.
Ein neuer Nachbar. Schon wieder. Noch einer, der sich dank der Mietergesetze an drei Monaten mietfreiem Wohnen erfreuen würde, während die Hauseigentümer dazu verdammt waren, sich das Nicht-Zahlen der Miete gefallen zu lassen. Und danach? Würde er bei Nacht und Nebel abhauen, wie die anderen auch, mit seinem Plunder in einem gemieteten Laster, den er ebenso wenig bezahlen würde. Oder er tarnte seine Flucht mit viel Hin- und Herfahren in einem alten, bis unters Dach vollgepackten Auto. Wie ein Feigling. Wie die anderen.
»Hallo, Hühnchen! Bist ganz schön klein für so 'n großen Sack!«
Jaja! Pöbeleien und billige Witze - Privilegien alter Knacker, die nichts anderes konnten. Noch so einer! Obwohl die Alten in Filmen immer sinnreiche, manchmal sogar weise Sachen sagten, tiefsinnige Wahrheiten, für deren Erkenntnis sie ein ganzes Leben gebraucht hatten. In meinem Viertel schwirrten häufig verlebte Perverse herum, enttäuscht und fertig mit der Welt, wenn nicht ganz und gar senil, die den lieben langen Tag dummes Zeug quatschten. Es gab nur eine Möglichkeit: Entweder die ganzen Opas in den Filmen waren erstunken und erlogen, oder die Dialoge wurden von jungen Leuten geschrieben, die noch Hoffnung in die Menschheit setzten. Weil ich schon wusste, wohin es führte, wollte ich das Thema Sack lieber nicht aufgreifen. Das unaufhörliche Gemurmel der Unterhaltungen, die aus den Wänden sickerten und sich von den umliegenden Balkonen ergossen, hatte mich diese Gefahren bereits gelehrt.
»Ist ganz schön früh für so 'n großes Bier!«
»Teufelsdreck, was soll ich tun, ich hasse Kaffee. Da krieg ich Sodbrennen von.«
»Nimm doch Pepto-Bismol.«
»Ha, ha, ha! Wie heißt'n du, du kleines Aas?«
»Ich hab keinen Namen, du große Schnapsnase.«
»Ha, ha, ha! Eine kleine Komikerin! Ich merk schon, hier gefällt's mir!«
»Bleibst du für immer?«
»Was dagegen?«
»Meine Mutter mag keine Leute, die so fluchen. Sie wird dir eins überbraten, wirst du sehen.«
»Heilige Krötenkacke, is deine Mutter, nicht meine.«
»Hm, meine Mutter kann ganz schön schimpfen, wenn ihr was nicht passt. Die wird dir die Hosen strammziehen. Pass auf.«
»Freut mich zu hör'n. Ist schon lang her, dass mir jemand was strammgezogen hat.«
Mit acht begriff ich noch nicht alles, verstand aber sehr wohl, dass er sich genüsslich über meine Mutter und mich lustig machte. Mit meinem Vater musste ich ihm nicht kommen, mein Vater war weder stark, noch hatte er ansatzweise wen auch immer zur Rechenschaft gezogen. In seiner Qualität als neuer Nachbar hätte der Alte nicht lange gebraucht, das zu merken.
»Wie heißt du?«
»Monsieur Roger.«
»Warst du auch in der Anstalt?«
»Oh ja! Dreißig Jahre in dieser miesen Klapse, verfluchte Scheiße.«
»Und, bist du geheilt?«
»Natürlich nicht, ich war ganz normal, als ich da reinkam, bin erst später verrückt geworden. Ha, ha, ha!«
Immer dieselben Witze.
»Wieso bist'n dann da rein?«
»Jemand muss den blöden Verrückten doch den Arsch abwischen, sonst sitzen die den ganzen Tag in ihrer Scheiße. Dazu braucht man so Kotzbrocken wie mich, denen von nichts schlecht wird!«
»Aha. Na auf jeden Fall kriegst du bald Kopfschmerzen, wenn du da wohnen bleibst.«
»Warum?«
»Die Dicke.«
»Meinst du die fette Qualle über mir?«
»Wir nennen sie nur Badaboum, wie das Hockey-Maskottchen. Darfst du ihr aber nicht sagen, ist gemein.«
Das wuchtige Nachbarsmädchen, ein Einzelkind, trug mit seinen kaum sechzehn Jahren an die hundert Kilo mit sich herum, eine Minipli-Dauerwelle und die entsprechende Laune als von allen schlecht behandeltes Opfer, dem Legionen inkompetenter Ärzte wagten vorzuhalten, es sei zum Großteil für seine Lage selbst verantwortlich. Gargantua Simard, ihr Vater, von Beruf herzkrank, führte seine imposante Wampe auf dem Balkon spazieren, stets mit einem schmuddelig gelben Unterhemd bekleidet, durch das man seine wabbeligen, an rohen Teig erinnernden Brüste sah, und fluchte auf ziemlich alles. Die arme Mutter ging putzen und besorgte obendrein noch ganz allein den Haushalt, wie eine Heilige. Da sie sich fast normal fortbewegte, wenn ihre Arbeit es zuließ, war sie die Zielscheibe für die sauer eingelegten Boshaftigkeiten der beiden. Doch je mehr sie angefahren wurde, desto mehr lächelte sie. Sie betrieb eine Art Stimmungs-Photosynthese, dank derer die Atmosphäre einigermaßen gut zum Atmen wurde. Den beiden dickbäuchigen, -beinigen, -arschigen, -köpfigen, doppelkinnigen Gallespuckern mit ihren aufgesetzten Gipsfressen war es noch nie in den Sinn gekommen, auch mal nett zu sein.
Und genau diese lieben Leute würden ihm auf dem Kopf herumtrampeln. Nicht lange, und der Fall wäre erledigt.
»Wieso hast du ein Gewehr?«
Das Gewehr, das ich zunächst für den Gehstock des verrückten Alten gehalten hatte, steckte kopfüber in einem Riss im Asphalt und hielt Wache.
»Kann ich nicht sagen, sonst muss ich dich umbringen.«
Wirklich, immer dieselben Witze. Ich war acht Jahre alt und ich hatte es satt. Also habe ich die Unterhaltung sein lassen. Das konnte ja was geben. Als er mich im Haus wähnte, war er langsam aufgestanden, aber ich beobachtete ihn heimlich durch den Spalt an der Eingangstür, die ein Keil aus Pressholz immer offen hielt. Er stellte sich wenige Daumenbreit vor die Hauswand, fummelte mit seinen Fingern herum, wackelte mit dem Hintern und pinkelte. Unschuldig pfeifend, als wartete er auf den Bus. Wahrscheinlich belustigte ihn die Vorstellung, wie die Nachbarn ein Eckchen ihrer beschlagenen Fenster freirieben und ihm dabei zusahen. Der kleine Strom, von dem ein sicher übelriechender Dunst aufstieg, färbte zunächst die Mauer dunkel, bevor er sich im Morgentau verlor, nunmehr vereint mit Katzenpisse, Spuckepfützen und alten Zigarettenstummeln. Die ortsübliche Mischung.
[...]
Meine Mutter schickte mich kurz vor dem Essen häufig zu Papillon, um einen Liter Milch zu kaufen, ein Brot, eine Dose Tomatensuppe. Dafür musste ich zunächst die Handtasche meiner Mutter suchen, die in unserer kleinen Wohnung immer irgendwo verlorenging, und ihr dann den dicken Geldbeutel aus zartlila Leder hinhalten. So ein hässliches Ding, wie es in den Sechzigerjahren beliebt war, in ihrer Jugend. Nachdem sie den Beutel in alle Richtungen gedreht und alle Fächer durchsucht hatte, änderte sie häufig ihren Plan, mit finsterer Miene.
»Ach, dann eben nicht. Dann gibt es eben Cornflakes.«
»Doch nicht Cornflakes zum Abendessen!«
»Warum nicht?«
»Hab ich heute Morgen schon gegessen.«
»Dann esst ihr eben was anderes.«
»Zum Beispiel?«
»Spiel nicht die Märtyrerin. Wir haben Äpfel...«
»Zum Abendessen?«
»Shit! Nerv jetzt nicht rum.«
Beim Klang dieses kurzen englischen Wortes, dessen Sinn sich mir noch nicht erschloss, kam mir eine äußerst heldenhafte Idee: Ich musste nur darauf achten, was bald fehlen würde, vor allem im Kühlschrank, mit dessen Inhalt und Verwaltung ich mich vorzüglich auskannte, um dann, bevor ich meine Mutter darauf hinwies, in ihrem Geldbeutel das nötige Geld zu deponieren. Kühlschrank und Regal konnten sich leeren, wie sie wollten, ich würde immer einen Weg finden, sie aufzufüllen. Zur Not würde ich Millionen von Zeitungen austragen, leichten Herzens, über die Gehwegfugen hopsend, von der Last der Welt befreit, auf dem Weg zu ausreichendem Verdienst, um eine gute Ernte Erbsendosen einzufahren. Das Lächeln meiner Mutter würde nie wieder aus ihrem Gesicht verschwinden.
Anfangs funktionierte es gut, die seltsam gefalteten Dollars, die meine Mutter in nicht dafür gedachten Fächern fand, freuten sie, ohne sie allzu sehr zu überraschen. Sie sagte nur »Sieh mal einer an!« und streckte mir stolz mein Geld entgegen. Es war herrlich.
Abends traten die Falten ihren Dienst aber wieder an, wenn das Bier ausging und meine Mutter genötigt war, an ihren Geldbeutel zu gehen. Sie hatte sich schnell an einen Zauber gewöhnt, der nicht funktionierte, wenn ich nachts in mein Zimmer verbannt war. Ich kam nicht an ihre Handtasche, ohne mich zu zeigen. Mein Plan hatte Lücken. Dann öffnete und schloss sie hektisch ihre Börse, damit etwas passierte, aber ihre Hoffnung änderte nichts an der Realität. Ich beobachtete sie aus meinem Winkel und litt mit ihr. Wie sehr hätte ich einen Umhang brauchen können, der mich unsichtbar machte.
Es war diese Ohnmacht, über der ich nachts in den nicht enden wollenden, schlaflosen Stunden brütete. Sie und ein Haufen anderer Probleme: Wie konnte ich es anstellen, in der Schule so schnell zu rennen wie Isabelle-¬ , wie konnte ich möglichst schnell sehr lange Haare bekommen, wie konnte ich meine Brüste am Wachsen hindern, wie verhindern, dass Papa sich morgens vor der Arbeit übergeben musste, etc. Nahezu immer in diesen Momenten größter existenzieller Fragen tauchte die Kleine in der Tür unseres Zimmers auf, dem von Jeanne und mir, und mit ihr die Erinnerung, dass es im Leben Probleme gab, die keinen Aufschub duldeten.
»Iss kanni lafen.«
»Du musst schlafen, wenn du wachsen willst.«
»Nee.«
»Oh doch.«
»Nein, iss hap Anst.«
»Angst wovor?«
»Vo di Pinnen.«
»Aber nein, Mottchen, es ist Winter. Da gibt's keine Spinnen. «
»Nee, ni Ottchen.«
»Okay. Nicht Mottchen. Dann Didine?«
»Nee, ni Didine. Di-di-ne.«
»Okay. Komm, Catherine, alle schlafen, hier sind keine Viecher.«
»Iss hap Pinnen desehen.«
»Aber nein, komm jetzt.«
Sie sprang in mein Bett und kuschelte sich zusammengerollt an mich, ihren Hintern schön rund gegen meinen Bauch gedrückt. Dann machte ich Schattenspiele an der Wand, bis sie einschlief, als glücklich schnurrende kleine Schwester, für die das Leben aus dunklen hopsenden Wölfen und Hasen bestand.
»Lach nicht zu laut, Jeanne schläft.«
»Is lustig.«
»Der Hase ist lustig?«
»Jahh. Un lieb.«
»Und der Wolf, ist der lieb, der Wolf ?«
»Nee. Pöse.«
»Manchmal gibt's auch liebe Wölfe¬...«
»Jahh.«
Häufig musste ich weinen, sobald sie eingeschlafen war, meistens aus Angst: Ich hatte keine Ahnung, wie man Rechnungen, Steuern und Gebühren bezahlte und all das regelte, was in meinen Augen nur ein Haufen blöder Umschläge war, voll mit kleinen, komplizierten Zahlen. In meinem kleinen Nachtkokon waren wir beide allein auf der verlorenen, feindseligen, kriegsverseuchten Welt, und ich zerbrach mir den Kopf, wie wir Kabelfernsehen abonnieren konnten. Unterdessen erzählte ich ihr Geschichten, um ihren kindlichen Glauben nicht zu gefährden.
Sobald ich sah, dass die Vorratsschränke sich leerten, legte ich kleine Summen in die Geldbörse meiner Mutter, um keinen Verdacht zu erregen. Entgegen allem Anschein geschah das aus reinem Egoismus: Ich berauschte mich an ihrer, wenn auch flüchtigen, Erleichterung, und mir fielen Tonnen von Blei von den Schultern, die eigentlich noch zu schmal waren, um die Sorgen der Erwachsenen mitzutragen.
[...]
Nichts half: Mein Körper entwickelte sich nicht so, wie ich es mir vorstellte. Ich hatte mir die Kraft und den Mut für eine ganze Armee angegessen, doch die Magerkeit, diese schamlose Hyäne, nutzte eine genetische Veranlagung und klammerte sich an meinen Knochen fest. Kein Fleisch wollte hier ansetzen; mein Körper war ein Kuchen, der nicht aufging, eine Soße, die nicht andicken wollte, ein Desaster.
Manchmal glaube ich, die Dinge wären anders gelaufen, wenn ich kräftiger gebaut gewesen wäre.
Als jemand, der seit zwei fast Jahren jeden Morgen zur gleichen Zeit das Haus verließ, war ich ein leichtes Opfer, wie jeder Dieb mit einem gewissen Ehrgeiz augenblicklich bestätigen würde. Ich misstraute nichts und niemandem, die Auswüchse des Bösen in der Welt da draußen hatten mich noch nicht erreicht. Zwar spürte ich im Echo dessen, was bis zu mir vordrang, einige Bewegung, aber noch war es nur undefinierbarer Krawall, den ich mit einem Liedchen einfach überdecken konnte, wie kleine Mädchen es trällern, wenn sie durch dunkle Wälder mit lauernden Wölfen gehen.
Als ich die Treppe des großen Hauses der Morins herunterstieg - es war das einzige Einfamilienhaus in der Straße, also ein großes Haus -, sah ich einen unbekannten Mann mit forschem Schritt auf mich zukommen, wie jemand, der gleich eine Strafpredigt halten will. Und wie er da so näher kam, verwandelte ich mich instinktiv in ein kleines Reh, das beim plötzlichen Anblick des Jägers erstarrt. Der Mann zeigte keine der üblichen, mir bestens bekannten Anzeichen des Irrsinns: Sein Gang schwankte nicht, die Arme folgten den symmetrischen und gleichmäßigen Bewegungen des Körpers und der Beine, sein Kopf wandte sich entsprechend der Notwendigkeit, hierhin oder dorthin zu schauen, und seine Augen, die weder Wesen noch Dinge scheuten, schienen im vollen Besitz ihres Sehvermögens. Was konkret hieß, er nahm mich wahr und peilte mich an, mich, die ich seit Langem glaubte, in diesen pechschwarzen Morgenstunden unsichtbar zu sein.
Der Mann bewegte sich also gezielt auf mich zu - in der Intention, mit mir zu interagieren.
Dann lag ich auf dem Boden, den Kopf in einen Mauerwinkel gedrückt, und verstand nichts mehr. Mit einer Hand riss er an den Gurten meiner Zeitungstasche herum, die ich umgehängt hatte, mit der anderen hielt er meine beiden Handgelenke, eine riesige Eisenzange, die meine Arme zusammendrückte. Aus meinem Mund nicht der leiseste Mucks. Obwohl ich einen Druck spürte, so fest, als bräche man mir die dünnen, ach so dünnen Knochen - allerdings tat es nicht weh, ich war vollkommen eingenommen von meinem Wunsch, nicht zu sterben. Steinchen drückten sich in meinen Kopf, den er gegen den Asphalt presste, ohne dass ich irgendwelchen Schmerz spürte. Dieser Körper gehörte mir kaum mehr, betraf mich kaum noch.
Ich hatte Angst, unendliche Angst. Mehr nicht. Ich verstand nicht. Doch wenn ich verstanden hätte, wäre meine Angst nicht kleiner gewesen.
Dann kippte der Mann plötzlich zur Seite, und ich rollte mich instinktiv zu einer kleinen Kugel zusammen, wie eine Spinne, die ihre Beine anzieht, um so zu tun, als sei sie etwas anderes - ein Stein, Moos -, zumindest bis man ihr keine Beachtung mehr schenkt. Ich hielt den Kopf fest, zwischen Armen und Beinen eingeklemmt in einem Schraubstock, den ich nie wieder lösen würde. Ich hörte lautes Getöse, durchsetzt von Geschrei und Geschnaufe, dann Rennen, den Knall einer Schrotflinte und erneutes Schreien, das der junge Tag in seinem Hunger nach Lärm sofort wieder verschluckte. Es folgte eine Litanei von Flüchen in mir wohlbekanntem Stil, befeuert von gutturaler, fast tierischer Wut.
Lange wollte ich so liegen bleiben, sehr lange. Durfte kein Risiko mehr eingehen; um mich wieder sicher zu fühlen, mussten einige Lenze ins Land ziehen. Ohnehin hatte mein Körper einen Staatsstreich verübt, ich konnte ihn unmöglich wieder unter Kontrolle bringen. Ich war verdammt zu sterben - oder schlimmer, zu leben - wie ein zusammengefalteter Klappstuhl. Eine Art Selbstmord durch Implosion. Die Totenwache hatte auch schon begonnen, ich hörte jemanden Gebete murmeln.
»...heilige Krötenpisse¬... Drecksauerei¬... Sankt Stinkearsch und Marienmist...«
Der alte Griesgram fluchte vor sich hin, während er wieder Atem schöpfte. Er hatte mich entimplodiert. Diese Reibeisenstimme, die allen Heiligen des Himmels bei lebendigem Leibe die Haut abriss, erschien mir in diesem Moment so schön, so beruhigend, dass ich vor Glück aufschluchzte. Die Geschichte würde ein gutes Ende nehmen. Roger war da.
Langsam konnte ich mich immer weiter entknoten und sehen, was los war. Vor mir stand auf wackeligen Beinen, die Hände auf die Knie gestützt, Roger, er suchte sein Gleichgewicht und einen Trick, um nicht in die Luft zu gehen; das war schwierig, wenn die Sicherung erst einmal raus war. Der Ärmel seines Pullovers sog nervös das Blut weg, das Roger aus der Nase lief, erstaunlicherweise rotes wie bei allen anderen Menschen, die ich vor ihm habe bluten sehen - ich hatte mir wohl vorgestellt, er bestünde aus etwas anderem. Er forcierte seine Atemlosigkeit ein wenig, so musste er keine Dinge sagen, die ich nicht unbedingt hören wollte. Zum Glück konnte er mit seinem Rest Religiosität immerhin den Eindruck erwecken, sich zu unterhalten.
»Dieses dumme alte Arschgesichtswasser¬... Drecksackkarre ¬... verfluchter, elender Scheibenkleister-...«
Sogar unter diesen Umständen entschärfte er seine Flüche. Meine Mutter hatte ganze Arbeit geleistet.
Als der Schmerz sich schließlich genehmigte, in einige Bereiche meines Körpers vorzudringen, sahen meine einen Spaltbreit geöffneten Augen ein paar Schaulustige, die sich langsam heranwagten, wie Soldaten, die nach langer Gefechtsnacht zögerlich aus dem Schützengraben stiegen. Ich war soeben irreparabel beschädigt und zerdrückt worden, doch das sah man von außen nicht. Mein ganzes Ich, das sich während des ewig dauernden Angriffs in eine Staubwolke aufgelöst hatte, war so perfekt heruntergerieselt, dass der neu zusammengesetzte Körper bis auf wenige blaue Stellen intakt war. Ich war anscheinend eine durch Wunder Geheilte, was den anerkennend lächelnden Leuten sehr gefiel: Sie hatten nun eine Geschichte mit gutem Ende parat, die sie die nächsten zwanzig Jahre würden erzählen können. Natürlich sind schöne Stürze sehr beliebt, bringen sie doch Abwechslung ins Leben. Die Kollateralschäden, die mein unversehrter Körper tunlichst verbarg, würde ich schon irgendwie verschmerzen. Statistisch gesehen blieben mir immerhin noch gute siebzig Jahre, um damit fertigzuwerden.
Schwer beladen mit dem Schrot, das ihm Beine und Hinterteil spickte, war der wütende Verbrecher bald geschnappt worden. Roger hatte erst aufgehört zu beten, als er die Nachricht vernommen hatte.
Danach erzählte ich hundert Mal dieselbe Geschichte, traf einen Haufen Leute, die einen Haufen Dinge wissen wollten, die ich nicht wusste - und die mir den Eindruck vermittelten, viel mehr darüber zu wissen als ich -, dann zeigte ich mit dem Finger auf jemanden, ein Mal, zwei Mal, drei Mal, immer auf denselben. Die Sache nahm ihren Lauf. Ich bekam zwölf Dollar für jeden verpassten Schultag. Doch konnte ich sie unmöglich in die Blechkiste zu den anderen Scheinen legen, die sich mangels Ausgabeideen dort ansammelten, sie wären durch die Nähe zueinander kontaminiert worden. Also warf ich sie jedes Mal in den nächstbesten Gully, der mir unter den Fuß kam.
Es war das Ende der Fahnenstange. Schon früher hatten mich manche Entdeckungen um Teile meiner Ahnungslosigkeit gebracht, doch nie war es etwas so Schwerwiegendes gewesen. Als ich sechs war, entdeckte ich beispielsweise im Abstand von nur einer Woche erst hinten zusammengequetscht in der kaputten Gefriertruhe sämtliche Geschenke des Weihnachtsmanns und dann neben den Sicherungen im Schrank über dem Trockner den kleinen Jesus, der eigentlich noch gar nicht geboren war. Damit verlor ich auf einen Schlag einen ganzen Haufen Glaubensgewissheiten. Aber der Schmerz darüber wurde schnell abgelöst von der Wonne, all diese Geheimnisse mit meinen Eltern zu teilen, die mich darum baten, weiter so zu tun als ob, damit meine kleinen Schwestern noch zu ihrem heiligen Recht kamen, an irgendwelchen Unsinn glauben zu dürfen. Im Grunde war es nur eine Variante desselben Spiels. Allein das Bild meiner Eltern, die ich fortan bei allem, was sie taten, irgendwie verdächtigte, hatte sich durch diese frommen Lügen verändert.
Diesmal war es ganz anders; ich erlitt einen heftigen Verlust unwiederbringlicher Ahnungslosigkeit. Nicht einmal die Großtaten meiner Heldin machten mir Mut. Die Übertragung klappte nicht. Lange hatte ich geglaubt, man könnte sich einen Grundstock an Verhaltensweisen anlegen, die dem wackeren Krieger dann in der Schlacht zur Verfügung stünden, so dass er mit dieser List jede Art Schwäche wettmachen könne und keinen Schaden zu befürchten habe. Auch hatte ich geglaubt, das Leben ließe sich mit einer gewissen Anstrengung erlernen, wie das Konjugieren der unregelmäßigen Verben, und dass ein wenig Erinnerungsvermögen im rechten Moment immer das passende Wissen abrufen würde. Ich hatte mich ernsthaft für unverwundbar gehalten. Da ich Oscar so treu in alle Schlachten gefolgt war, hätte ich zwangsläufig ein guter Kämpfer sein müssen. Aber der Angst stand ich plötzlich alleine gegenüber, wehrlos wie ein neugeborenes Kind, ohne Geschichten, aus denen ich schöpfen konnte. Mein Gehirn hatte nur Lähmung, Leere und Blackout hervorgebracht. Ich war weder mutig noch tapfer oder sonst etwas, und all die Heldentaten, die ich in meiner Vorstellung üblicherweise mit größter Leichtigkeit ausfocht, blieben tief in meinem Geist vergraben. Ich hatte ja nicht mal ein Schwert. Und man konnte mich mit einer Hand zerbröseln wie einen Cracker. Mir blieb nur Desillusion hinsichtlich allem, was ich sein wollte, aber niemals sein würde.
Ich war zehn Jahre alt und musste nochmal ganz von vorne anfangen. Wie gesagt, es war das Ende.
Mein einziger Trost lag in der Bestätigung, dass ich von Anfang an recht gehabt hatte: Mädchen sein brachte nur Probleme.
Der Verbrecher kam übrigens nicht aus der Irrenanstalt.
Roger machte sich Vorwürfe, und mir tat es leid, ihn in diese Lage gebracht zu haben. Er hatte meinen Wunsch nur zum Teil respektiert, er war mir morgens weiterhin gefolgt, gegen meinen Willen, aber nur von Weitem und nicht mehr systematisch. Dennoch hatte er mich gerettet.
Weil ich ihm für seinen Ungehorsam danken und ihm zeigen wollte, dass ich durchaus mit einem zweiten Schatten leben konnte, stahl ich ihm eines Abends, als der Alkohol ihn früher als sonst schachmatt gesetzt hatte, seinen Thron aus ramponiertem Kunstleder. Sein Stuhl weckte schon lange keine Begehrlichkeiten mehr, so dass er ihn abends einfach draußen stehen ließ. Das Ding wäre jedem Dieb ein wahrer Klotz am Bein gewesen.
Der Schustermeister war nach einem kurzen Telefonat eilfertig gekommen, um das abgetakelte Ding, das ich erfolglos versucht hatte, ihm zu beschreiben, und das im Anfang ein Stuhl gewesen sein musste, wie vereinbart abzuholen. Roger hing daran wie an nichts anderem. Es war der Stuhl seiner Frau, mit dem sie sich damals, als sie auf der ¬. Avenue wohnten, zwischen zwei Ladungen Wäsche kurz an die frische Luft setzte und die vorbeifahrenden Autos beobachtete. Bevor sie für immer fortging. Seine Erinnerungen waren fest an diesen Stuhl gebunden. Die Zeit ließ so viele Bilder der geliebten Frau verschwimmen, dass er einen reellen, greifbaren Anker brauchte, damit sie nicht ganz verschwand. Ich wollte, dass er mit Leder bezogen wurde, mit echtem, um dem Ganzen etwas Fortbestand zu geben, dass man ihn neu polsterte und wieder schön machte, ein bisschen. So wie er früher mal gewesen sein musste, nur haltbarer. Eine Woche vor der Aktion habe ich an einer nicht so abgewetzten Stelle unter dem Sitz sogar ein kleines Stück Kunstleder aus den Klammern lösen und für den Schuster klauen können, damit er ein Leder fand, das dem Kunstleder perfekt nachempfunden war. Verkehrte Welt. Ich hatte ihn auch gebeten, zu prüfen, ob die Verstrebungen hielten. Ob es Rost gab. Und ob die Beine Schutzkappen drunter hatten. Er brach in Lachen aus und hielt sich den Bauch.
»Und das alles soll ich auch noch heut Nacht machen?«
»Nein, nein, das natürlich nicht. Also das Meiste machen Sie heute Abend, und wenn Sie nicht alles schaffen, weil Sie zu müde sind, machen Sie vielleicht morgen früh weiter. Aber ziemlich früh, denn er steht wirklich nicht spät auf. Ich muss den Stuhl zurückstellen, bevor er auf ist, sonst dreht er durch.«
»Ha, ha, ha!«
Er lachte so heftig, dass ich Angst hatte, er würde platzen. Es war wirklich ein schlechter Moment, mich im Stich zu lassen, mitten im größten Projekt meines Lebens.
»Warum lachen Sie so?«
»Ha, ha, ha!«
»Ich werde alles richtig bezahlen. Keine Sorge. Ich arbeite. «
»Ha, ha, ha!«
»Und dazu einen Bonus für die Spätschicht.«
»HA, HA, HA!«
Die Idee mit dem Bonus kam von meiner Mutter.
»Zehn Dollar Bonus«, sagte ich und glaubte, ihn mit dem großen Steak zu beeindrucken, das er sich davon kaufen könnte.
Nichts zu machen, sein Lachen verdoppelte sich noch. Seine tränenströmenden Augen waren blutunterlaufen, bald hätte das Herz nichts mehr zu pumpen, es wurde riskant. Ich musste energisch eingreifen, einen anderen Schuster kannte ich nicht.
»Das ist sehr wichtig für mich...«
»Ha, ha, ha...«
»Ein Dankeschön für Roger...«
»Ha, ha, ha...«
»Dafür, dass er dem Dicken eins draufgegeben hat, der mich vergewaltigen wollte...«
»Ha... hmpf...«
Schnell floss das Blut zurück in die Organe, die es zu versorgen hatte, und mein Schuster wurde finster wie eine griechische Tragödie. Was mir paradoxerweise garantierte, dass er am Leben blieb. Seine Brauen senkten sich langsam wieder über die Augen, und sein trauriger Kinderkopf folgte der Bewegung. Seine Finger suchten nach einer Beschäftigung, verteilten ein wenig Staub auf seinen Kleidern.
»Du bist die Kleine¬...«
Die Sache hatte sich herumgesprochen, und einige Resonanzen waren zwischen zwei Hammerschlägen beim Absatzbesohlen sogar bis in seine kleine Schusterwerkstatt gedrungen.
Er zeigte sich einverstanden und verzichtete sogar auf den Bonus, als ich ihm von der historischen Bedeutsamkeit des Stuhls erzählte. Schließlich reichte er mir seine aus sehr knorrigem Holz geschnitzte Pranke und verpflichtete sich, gemessen an der Kraft, die er dort hineingab, den Thron so gut herzurichten, wie er konnte. Alles, was ich von seiner Arbeit kannte, ließ mich das Beste hoffen.
Der Schuster hat mir nie verraten, was es ihn gekostet hatte, den Haufen aus Schrott und Synthetik in ein wahres Meisterwerk zu verwandeln. Verlangt hat er von mir , ¬Dollar, damit es echt klang. Ich spielte mit. Man darf Leuten nie das Vergnügen verderben, das sie haben, wenn sie anderen eine Freude machen. Immerhin konnte ich mit ihm einen halben Bonus aushandeln, was eine andere Art war, ihm Vergnügen zu bereiten, da es mir Freude machte, wenn er annahm, und es ihm Freude machte, mir Freude zu machen. Wieder reichte er mir seine große schwielige Hand, und ich spürte, dass er und ich nicht ganz derselben Gattung angehörten; mir fehlte noch viel von diesem Leben, das einem irgendwann ein Fresko in die Handflächen grub. Hinter dem ungehobelten Klotz verbarg sich ein guter Mensch. Fast so wie bei dem anderen da.
Die Farbe am Holz war noch ein bisschen feucht, als ich den Stuhl wieder an seinen Platz stellte, aber wenn man nicht dranfasste, würde es gehen, hatte mir der Schustermeister versichert. Als Roger auftauchte, bemerkte er zunächst nichts. Mit seiner üblichen Anmut kratzte er sich gähnend die Weichteile, streckte sich unter Absonderung einiger Gase und begann, die sichtbaren Teile des Viertels von seinem Parkplatz aus zu inspizieren. Wie jeden Morgen eine erste Inaugenscheinnahme dieser Welt, die ihm immer noch seinen Abtritt verwehrte. Er legte die Hand auf die Stuhllehne, zog sie aber sofort zurück, als hätte er sich an ihr verbrannt. Sein Kopf rotierte wie bei einem aufgeschreckten Vogel in alle Richtungen, suchte¬... einen Zeugen, einen Schuldigen, doch ich war gut versteckt. Er trat ein paar Schritte zurück, den Bart fest umklammert, so wie andere sich kneifen, und näherte sich wieder auf Zehenspitzen, als wolle er das Trugbild nicht zerstören. Erst da kam mir kurz der Gedanke, vielleicht einen Fehler begangen und einen Zauber beendet zu haben, der ohne Plastikfetzen nicht mehr funktionierte. Was, wenn ich ihm alles genommen hatte, was ihm von seiner Frau, die er nie ersetzen wollte, geblieben war? Nachdem er sich von der Wirklichkeit seines neuen alten Stuhls überzeugt hatte, pflückte er den kleinen Zettel von der Sitzfläche, den ich für alle Fälle dort hingelegt hatte, blickte kurz darauf und verzog sich dann in seine Kellerwohnung, aus der er, bis ich zur Schule aufbrechen musste, nicht mehr hervorkam. Das war's, ich hatte alles verdorben. Nun wollte er erst recht krepieren. Und ich war schuld.
So ging ich dann lernen, wie man den Umfang einiger einfacher geometrischer Figuren errechnete, des Kreises oder des Quadrats, woraus eines Tages bei Bedarf durch Wissenstransfer die Fähigkeit erwachsen würde, Schwimmbäder und Häuser zu bauen - in der Überzeugung, einen Menschen umgebracht zu haben.
Halb verrückt vor Angst rannte ich nach der Schule nach Hause und entdeckte Roger auf seinem Posten: Er saß bequem auf seinem neuen Stuhl und rauchte, die Beine zum allgemeinen Wohlbefinden breit gespreizt, mit der Ruhe eines Mannes, der gerade erfolgreich ein paar schwere Möbel getragen hatte. Sein breites Lächeln, das er mir servierte, als er mich sah, schmeckte nach heißer Hühnerbrühe an einem kalten Wintertag. Ein weiterer Weltuntergang, der ausblieb; diesmal war ich sehr froh. Ohne ein Wort ging ich zu ihm und setzte mich auf eine alte umgedrehte Milchkiste. In der von heimkehrenden Schülern belebten Stille hielten wir das Schweigen für eine Weile aus, während wir einfach das Spielen und Springen der heimziehenden Horde verfolgten, die sich so aus der Regungslosigkeit befreite, zu der man sie den ganzen Tag über verurteilt hatte.
»Die Farbe geht so?«
»Genau gleich.«
»Good.«
Der Sohn von Madame Latulipe kam heulend vorbei. Man hatte ihm mal wieder die Schultasche geklaut und deren Inhalt mitten auf der Straße ausgeschüttet, um ihn für die übermäßige Liebe seiner Mutter büßen zu lassen, die ihre »kleine Sonne« jeden Morgen bis zum Schulhof begleitete. Dazu hieß er auch noch Gilbert Gilbert.
»Findest du's nicht schlimm?«
»Warum sollte ich's schlimm finden?«
»Darum.«
»Nee, ich find's nicht schlimm.«
Daraufhin wartete ich ein paar Sekunden und erhob mich. Nun konnte ich nach Hause gehen. Man hatte mich freigesprochen.
»Joe?«
»Ja?«
»Tu mir das trotzdem nicht nochmal an, heiliger...«
Seine Stimme klang süß wie nach einem großen Streit, wenn man lieber leise spricht und die Worte ein wenig wiegt, um sie sagen zu lassen, alles sei wieder vorbei. So dass man zustimmen wollte, auch wenn man nicht verstand.
»Okay.«
»Hab schon verdammt lang kein Geschenk mehr gekriegt. Das letzte Mal weiß ich schon gar nicht mehr.«
Gefühlsausbruch. In mir stiegen Tränen auf, die sich das alles mal genauer ansehen wollten. Tonartwechsel, bevor alles davonschwamm.
»Und, sitzt du gut?«
»Alter Schneckenfurz, so bequem, dass ich drauf verrecken möchte. Ich will nie mehr aufstehen.«
»Good.«
»Redest du jetzt Englisch?«
»Nein, nein, nur so 'n paar Worte. Aber in der Schule kenn ich ein Mädchen, die spricht immer nur Englisch.«
»Die haut bald ab, das dauert nicht lange.«
»Warum?«
»Darum, kleine Kakerlake. Mein Sohn hat Englisch gelernt, und weg war er.«
»Wohin?«
»Schweine-weit.«
»Kommt er nie her?«
»Nein, ist zu weit.«
»Ich lerne nur ein bisschen Englisch.«
»Good.«
Wir lachten ein wenig, um das Gespräch angenehm ausklingen zu lassen. Dann verließ ich »Vater Goriot« leichten Herzens und beobachtete ihn im Gehen heimlich aus dem Augenwinkel. Es war lustig zu sehen, wie er sich vom Stuhl erhob, die Hose hochzog und sich nur langsam wieder setzte, um das Möbel ausgiebig zu betrachten. Wenn sich jemand näherte, um ihn zu grüßen, erhob er sich prompt, ganz gegen seine Art, und zwang denjenigen heranzukommen. Dann würde er es vielleicht sehen. Und Roger könnte ihm sagen: »Ein Geschenk.«
[...]
© Carl Hanser Verlag München 2013.
Und er war tatsächlich hier zu Hause. Im Souterrain bei den Simards, direkt nebenan, plötzlich sehr nah. Und ich würde an ihm vorbeimüssen, um zu mir ins Haus zu kommen.
Ich zerzauste mir die Haare.
Ein neuer Nachbar. Schon wieder. Noch einer, der sich dank der Mietergesetze an drei Monaten mietfreiem Wohnen erfreuen würde, während die Hauseigentümer dazu verdammt waren, sich das Nicht-Zahlen der Miete gefallen zu lassen. Und danach? Würde er bei Nacht und Nebel abhauen, wie die anderen auch, mit seinem Plunder in einem gemieteten Laster, den er ebenso wenig bezahlen würde. Oder er tarnte seine Flucht mit viel Hin- und Herfahren in einem alten, bis unters Dach vollgepackten Auto. Wie ein Feigling. Wie die anderen.
»Hallo, Hühnchen! Bist ganz schön klein für so 'n großen Sack!«
Jaja! Pöbeleien und billige Witze - Privilegien alter Knacker, die nichts anderes konnten. Noch so einer! Obwohl die Alten in Filmen immer sinnreiche, manchmal sogar weise Sachen sagten, tiefsinnige Wahrheiten, für deren Erkenntnis sie ein ganzes Leben gebraucht hatten. In meinem Viertel schwirrten häufig verlebte Perverse herum, enttäuscht und fertig mit der Welt, wenn nicht ganz und gar senil, die den lieben langen Tag dummes Zeug quatschten. Es gab nur eine Möglichkeit: Entweder die ganzen Opas in den Filmen waren erstunken und erlogen, oder die Dialoge wurden von jungen Leuten geschrieben, die noch Hoffnung in die Menschheit setzten. Weil ich schon wusste, wohin es führte, wollte ich das Thema Sack lieber nicht aufgreifen. Das unaufhörliche Gemurmel der Unterhaltungen, die aus den Wänden sickerten und sich von den umliegenden Balkonen ergossen, hatte mich diese Gefahren bereits gelehrt.
»Ist ganz schön früh für so 'n großes Bier!«
»Teufelsdreck, was soll ich tun, ich hasse Kaffee. Da krieg ich Sodbrennen von.«
»Nimm doch Pepto-Bismol.«
»Ha, ha, ha! Wie heißt'n du, du kleines Aas?«
»Ich hab keinen Namen, du große Schnapsnase.«
»Ha, ha, ha! Eine kleine Komikerin! Ich merk schon, hier gefällt's mir!«
»Bleibst du für immer?«
»Was dagegen?«
»Meine Mutter mag keine Leute, die so fluchen. Sie wird dir eins überbraten, wirst du sehen.«
»Heilige Krötenkacke, is deine Mutter, nicht meine.«
»Hm, meine Mutter kann ganz schön schimpfen, wenn ihr was nicht passt. Die wird dir die Hosen strammziehen. Pass auf.«
»Freut mich zu hör'n. Ist schon lang her, dass mir jemand was strammgezogen hat.«
Mit acht begriff ich noch nicht alles, verstand aber sehr wohl, dass er sich genüsslich über meine Mutter und mich lustig machte. Mit meinem Vater musste ich ihm nicht kommen, mein Vater war weder stark, noch hatte er ansatzweise wen auch immer zur Rechenschaft gezogen. In seiner Qualität als neuer Nachbar hätte der Alte nicht lange gebraucht, das zu merken.
»Wie heißt du?«
»Monsieur Roger.«
»Warst du auch in der Anstalt?«
»Oh ja! Dreißig Jahre in dieser miesen Klapse, verfluchte Scheiße.«
»Und, bist du geheilt?«
»Natürlich nicht, ich war ganz normal, als ich da reinkam, bin erst später verrückt geworden. Ha, ha, ha!«
Immer dieselben Witze.
»Wieso bist'n dann da rein?«
»Jemand muss den blöden Verrückten doch den Arsch abwischen, sonst sitzen die den ganzen Tag in ihrer Scheiße. Dazu braucht man so Kotzbrocken wie mich, denen von nichts schlecht wird!«
»Aha. Na auf jeden Fall kriegst du bald Kopfschmerzen, wenn du da wohnen bleibst.«
»Warum?«
»Die Dicke.«
»Meinst du die fette Qualle über mir?«
»Wir nennen sie nur Badaboum, wie das Hockey-Maskottchen. Darfst du ihr aber nicht sagen, ist gemein.«
Das wuchtige Nachbarsmädchen, ein Einzelkind, trug mit seinen kaum sechzehn Jahren an die hundert Kilo mit sich herum, eine Minipli-Dauerwelle und die entsprechende Laune als von allen schlecht behandeltes Opfer, dem Legionen inkompetenter Ärzte wagten vorzuhalten, es sei zum Großteil für seine Lage selbst verantwortlich. Gargantua Simard, ihr Vater, von Beruf herzkrank, führte seine imposante Wampe auf dem Balkon spazieren, stets mit einem schmuddelig gelben Unterhemd bekleidet, durch das man seine wabbeligen, an rohen Teig erinnernden Brüste sah, und fluchte auf ziemlich alles. Die arme Mutter ging putzen und besorgte obendrein noch ganz allein den Haushalt, wie eine Heilige. Da sie sich fast normal fortbewegte, wenn ihre Arbeit es zuließ, war sie die Zielscheibe für die sauer eingelegten Boshaftigkeiten der beiden. Doch je mehr sie angefahren wurde, desto mehr lächelte sie. Sie betrieb eine Art Stimmungs-Photosynthese, dank derer die Atmosphäre einigermaßen gut zum Atmen wurde. Den beiden dickbäuchigen, -beinigen, -arschigen, -köpfigen, doppelkinnigen Gallespuckern mit ihren aufgesetzten Gipsfressen war es noch nie in den Sinn gekommen, auch mal nett zu sein.
Und genau diese lieben Leute würden ihm auf dem Kopf herumtrampeln. Nicht lange, und der Fall wäre erledigt.
»Wieso hast du ein Gewehr?«
Das Gewehr, das ich zunächst für den Gehstock des verrückten Alten gehalten hatte, steckte kopfüber in einem Riss im Asphalt und hielt Wache.
»Kann ich nicht sagen, sonst muss ich dich umbringen.«
Wirklich, immer dieselben Witze. Ich war acht Jahre alt und ich hatte es satt. Also habe ich die Unterhaltung sein lassen. Das konnte ja was geben. Als er mich im Haus wähnte, war er langsam aufgestanden, aber ich beobachtete ihn heimlich durch den Spalt an der Eingangstür, die ein Keil aus Pressholz immer offen hielt. Er stellte sich wenige Daumenbreit vor die Hauswand, fummelte mit seinen Fingern herum, wackelte mit dem Hintern und pinkelte. Unschuldig pfeifend, als wartete er auf den Bus. Wahrscheinlich belustigte ihn die Vorstellung, wie die Nachbarn ein Eckchen ihrer beschlagenen Fenster freirieben und ihm dabei zusahen. Der kleine Strom, von dem ein sicher übelriechender Dunst aufstieg, färbte zunächst die Mauer dunkel, bevor er sich im Morgentau verlor, nunmehr vereint mit Katzenpisse, Spuckepfützen und alten Zigarettenstummeln. Die ortsübliche Mischung.
[...]
Meine Mutter schickte mich kurz vor dem Essen häufig zu Papillon, um einen Liter Milch zu kaufen, ein Brot, eine Dose Tomatensuppe. Dafür musste ich zunächst die Handtasche meiner Mutter suchen, die in unserer kleinen Wohnung immer irgendwo verlorenging, und ihr dann den dicken Geldbeutel aus zartlila Leder hinhalten. So ein hässliches Ding, wie es in den Sechzigerjahren beliebt war, in ihrer Jugend. Nachdem sie den Beutel in alle Richtungen gedreht und alle Fächer durchsucht hatte, änderte sie häufig ihren Plan, mit finsterer Miene.
»Ach, dann eben nicht. Dann gibt es eben Cornflakes.«
»Doch nicht Cornflakes zum Abendessen!«
»Warum nicht?«
»Hab ich heute Morgen schon gegessen.«
»Dann esst ihr eben was anderes.«
»Zum Beispiel?«
»Spiel nicht die Märtyrerin. Wir haben Äpfel...«
»Zum Abendessen?«
»Shit! Nerv jetzt nicht rum.«
Beim Klang dieses kurzen englischen Wortes, dessen Sinn sich mir noch nicht erschloss, kam mir eine äußerst heldenhafte Idee: Ich musste nur darauf achten, was bald fehlen würde, vor allem im Kühlschrank, mit dessen Inhalt und Verwaltung ich mich vorzüglich auskannte, um dann, bevor ich meine Mutter darauf hinwies, in ihrem Geldbeutel das nötige Geld zu deponieren. Kühlschrank und Regal konnten sich leeren, wie sie wollten, ich würde immer einen Weg finden, sie aufzufüllen. Zur Not würde ich Millionen von Zeitungen austragen, leichten Herzens, über die Gehwegfugen hopsend, von der Last der Welt befreit, auf dem Weg zu ausreichendem Verdienst, um eine gute Ernte Erbsendosen einzufahren. Das Lächeln meiner Mutter würde nie wieder aus ihrem Gesicht verschwinden.
Anfangs funktionierte es gut, die seltsam gefalteten Dollars, die meine Mutter in nicht dafür gedachten Fächern fand, freuten sie, ohne sie allzu sehr zu überraschen. Sie sagte nur »Sieh mal einer an!« und streckte mir stolz mein Geld entgegen. Es war herrlich.
Abends traten die Falten ihren Dienst aber wieder an, wenn das Bier ausging und meine Mutter genötigt war, an ihren Geldbeutel zu gehen. Sie hatte sich schnell an einen Zauber gewöhnt, der nicht funktionierte, wenn ich nachts in mein Zimmer verbannt war. Ich kam nicht an ihre Handtasche, ohne mich zu zeigen. Mein Plan hatte Lücken. Dann öffnete und schloss sie hektisch ihre Börse, damit etwas passierte, aber ihre Hoffnung änderte nichts an der Realität. Ich beobachtete sie aus meinem Winkel und litt mit ihr. Wie sehr hätte ich einen Umhang brauchen können, der mich unsichtbar machte.
Es war diese Ohnmacht, über der ich nachts in den nicht enden wollenden, schlaflosen Stunden brütete. Sie und ein Haufen anderer Probleme: Wie konnte ich es anstellen, in der Schule so schnell zu rennen wie Isabelle-¬ , wie konnte ich möglichst schnell sehr lange Haare bekommen, wie konnte ich meine Brüste am Wachsen hindern, wie verhindern, dass Papa sich morgens vor der Arbeit übergeben musste, etc. Nahezu immer in diesen Momenten größter existenzieller Fragen tauchte die Kleine in der Tür unseres Zimmers auf, dem von Jeanne und mir, und mit ihr die Erinnerung, dass es im Leben Probleme gab, die keinen Aufschub duldeten.
»Iss kanni lafen.«
»Du musst schlafen, wenn du wachsen willst.«
»Nee.«
»Oh doch.«
»Nein, iss hap Anst.«
»Angst wovor?«
»Vo di Pinnen.«
»Aber nein, Mottchen, es ist Winter. Da gibt's keine Spinnen. «
»Nee, ni Ottchen.«
»Okay. Nicht Mottchen. Dann Didine?«
»Nee, ni Didine. Di-di-ne.«
»Okay. Komm, Catherine, alle schlafen, hier sind keine Viecher.«
»Iss hap Pinnen desehen.«
»Aber nein, komm jetzt.«
Sie sprang in mein Bett und kuschelte sich zusammengerollt an mich, ihren Hintern schön rund gegen meinen Bauch gedrückt. Dann machte ich Schattenspiele an der Wand, bis sie einschlief, als glücklich schnurrende kleine Schwester, für die das Leben aus dunklen hopsenden Wölfen und Hasen bestand.
»Lach nicht zu laut, Jeanne schläft.«
»Is lustig.«
»Der Hase ist lustig?«
»Jahh. Un lieb.«
»Und der Wolf, ist der lieb, der Wolf ?«
»Nee. Pöse.«
»Manchmal gibt's auch liebe Wölfe¬...«
»Jahh.«
Häufig musste ich weinen, sobald sie eingeschlafen war, meistens aus Angst: Ich hatte keine Ahnung, wie man Rechnungen, Steuern und Gebühren bezahlte und all das regelte, was in meinen Augen nur ein Haufen blöder Umschläge war, voll mit kleinen, komplizierten Zahlen. In meinem kleinen Nachtkokon waren wir beide allein auf der verlorenen, feindseligen, kriegsverseuchten Welt, und ich zerbrach mir den Kopf, wie wir Kabelfernsehen abonnieren konnten. Unterdessen erzählte ich ihr Geschichten, um ihren kindlichen Glauben nicht zu gefährden.
Sobald ich sah, dass die Vorratsschränke sich leerten, legte ich kleine Summen in die Geldbörse meiner Mutter, um keinen Verdacht zu erregen. Entgegen allem Anschein geschah das aus reinem Egoismus: Ich berauschte mich an ihrer, wenn auch flüchtigen, Erleichterung, und mir fielen Tonnen von Blei von den Schultern, die eigentlich noch zu schmal waren, um die Sorgen der Erwachsenen mitzutragen.
[...]
Nichts half: Mein Körper entwickelte sich nicht so, wie ich es mir vorstellte. Ich hatte mir die Kraft und den Mut für eine ganze Armee angegessen, doch die Magerkeit, diese schamlose Hyäne, nutzte eine genetische Veranlagung und klammerte sich an meinen Knochen fest. Kein Fleisch wollte hier ansetzen; mein Körper war ein Kuchen, der nicht aufging, eine Soße, die nicht andicken wollte, ein Desaster.
Manchmal glaube ich, die Dinge wären anders gelaufen, wenn ich kräftiger gebaut gewesen wäre.
Als jemand, der seit zwei fast Jahren jeden Morgen zur gleichen Zeit das Haus verließ, war ich ein leichtes Opfer, wie jeder Dieb mit einem gewissen Ehrgeiz augenblicklich bestätigen würde. Ich misstraute nichts und niemandem, die Auswüchse des Bösen in der Welt da draußen hatten mich noch nicht erreicht. Zwar spürte ich im Echo dessen, was bis zu mir vordrang, einige Bewegung, aber noch war es nur undefinierbarer Krawall, den ich mit einem Liedchen einfach überdecken konnte, wie kleine Mädchen es trällern, wenn sie durch dunkle Wälder mit lauernden Wölfen gehen.
Als ich die Treppe des großen Hauses der Morins herunterstieg - es war das einzige Einfamilienhaus in der Straße, also ein großes Haus -, sah ich einen unbekannten Mann mit forschem Schritt auf mich zukommen, wie jemand, der gleich eine Strafpredigt halten will. Und wie er da so näher kam, verwandelte ich mich instinktiv in ein kleines Reh, das beim plötzlichen Anblick des Jägers erstarrt. Der Mann zeigte keine der üblichen, mir bestens bekannten Anzeichen des Irrsinns: Sein Gang schwankte nicht, die Arme folgten den symmetrischen und gleichmäßigen Bewegungen des Körpers und der Beine, sein Kopf wandte sich entsprechend der Notwendigkeit, hierhin oder dorthin zu schauen, und seine Augen, die weder Wesen noch Dinge scheuten, schienen im vollen Besitz ihres Sehvermögens. Was konkret hieß, er nahm mich wahr und peilte mich an, mich, die ich seit Langem glaubte, in diesen pechschwarzen Morgenstunden unsichtbar zu sein.
Der Mann bewegte sich also gezielt auf mich zu - in der Intention, mit mir zu interagieren.
Dann lag ich auf dem Boden, den Kopf in einen Mauerwinkel gedrückt, und verstand nichts mehr. Mit einer Hand riss er an den Gurten meiner Zeitungstasche herum, die ich umgehängt hatte, mit der anderen hielt er meine beiden Handgelenke, eine riesige Eisenzange, die meine Arme zusammendrückte. Aus meinem Mund nicht der leiseste Mucks. Obwohl ich einen Druck spürte, so fest, als bräche man mir die dünnen, ach so dünnen Knochen - allerdings tat es nicht weh, ich war vollkommen eingenommen von meinem Wunsch, nicht zu sterben. Steinchen drückten sich in meinen Kopf, den er gegen den Asphalt presste, ohne dass ich irgendwelchen Schmerz spürte. Dieser Körper gehörte mir kaum mehr, betraf mich kaum noch.
Ich hatte Angst, unendliche Angst. Mehr nicht. Ich verstand nicht. Doch wenn ich verstanden hätte, wäre meine Angst nicht kleiner gewesen.
Dann kippte der Mann plötzlich zur Seite, und ich rollte mich instinktiv zu einer kleinen Kugel zusammen, wie eine Spinne, die ihre Beine anzieht, um so zu tun, als sei sie etwas anderes - ein Stein, Moos -, zumindest bis man ihr keine Beachtung mehr schenkt. Ich hielt den Kopf fest, zwischen Armen und Beinen eingeklemmt in einem Schraubstock, den ich nie wieder lösen würde. Ich hörte lautes Getöse, durchsetzt von Geschrei und Geschnaufe, dann Rennen, den Knall einer Schrotflinte und erneutes Schreien, das der junge Tag in seinem Hunger nach Lärm sofort wieder verschluckte. Es folgte eine Litanei von Flüchen in mir wohlbekanntem Stil, befeuert von gutturaler, fast tierischer Wut.
Lange wollte ich so liegen bleiben, sehr lange. Durfte kein Risiko mehr eingehen; um mich wieder sicher zu fühlen, mussten einige Lenze ins Land ziehen. Ohnehin hatte mein Körper einen Staatsstreich verübt, ich konnte ihn unmöglich wieder unter Kontrolle bringen. Ich war verdammt zu sterben - oder schlimmer, zu leben - wie ein zusammengefalteter Klappstuhl. Eine Art Selbstmord durch Implosion. Die Totenwache hatte auch schon begonnen, ich hörte jemanden Gebete murmeln.
»...heilige Krötenpisse¬... Drecksauerei¬... Sankt Stinkearsch und Marienmist...«
Der alte Griesgram fluchte vor sich hin, während er wieder Atem schöpfte. Er hatte mich entimplodiert. Diese Reibeisenstimme, die allen Heiligen des Himmels bei lebendigem Leibe die Haut abriss, erschien mir in diesem Moment so schön, so beruhigend, dass ich vor Glück aufschluchzte. Die Geschichte würde ein gutes Ende nehmen. Roger war da.
Langsam konnte ich mich immer weiter entknoten und sehen, was los war. Vor mir stand auf wackeligen Beinen, die Hände auf die Knie gestützt, Roger, er suchte sein Gleichgewicht und einen Trick, um nicht in die Luft zu gehen; das war schwierig, wenn die Sicherung erst einmal raus war. Der Ärmel seines Pullovers sog nervös das Blut weg, das Roger aus der Nase lief, erstaunlicherweise rotes wie bei allen anderen Menschen, die ich vor ihm habe bluten sehen - ich hatte mir wohl vorgestellt, er bestünde aus etwas anderem. Er forcierte seine Atemlosigkeit ein wenig, so musste er keine Dinge sagen, die ich nicht unbedingt hören wollte. Zum Glück konnte er mit seinem Rest Religiosität immerhin den Eindruck erwecken, sich zu unterhalten.
»Dieses dumme alte Arschgesichtswasser¬... Drecksackkarre ¬... verfluchter, elender Scheibenkleister-...«
Sogar unter diesen Umständen entschärfte er seine Flüche. Meine Mutter hatte ganze Arbeit geleistet.
Als der Schmerz sich schließlich genehmigte, in einige Bereiche meines Körpers vorzudringen, sahen meine einen Spaltbreit geöffneten Augen ein paar Schaulustige, die sich langsam heranwagten, wie Soldaten, die nach langer Gefechtsnacht zögerlich aus dem Schützengraben stiegen. Ich war soeben irreparabel beschädigt und zerdrückt worden, doch das sah man von außen nicht. Mein ganzes Ich, das sich während des ewig dauernden Angriffs in eine Staubwolke aufgelöst hatte, war so perfekt heruntergerieselt, dass der neu zusammengesetzte Körper bis auf wenige blaue Stellen intakt war. Ich war anscheinend eine durch Wunder Geheilte, was den anerkennend lächelnden Leuten sehr gefiel: Sie hatten nun eine Geschichte mit gutem Ende parat, die sie die nächsten zwanzig Jahre würden erzählen können. Natürlich sind schöne Stürze sehr beliebt, bringen sie doch Abwechslung ins Leben. Die Kollateralschäden, die mein unversehrter Körper tunlichst verbarg, würde ich schon irgendwie verschmerzen. Statistisch gesehen blieben mir immerhin noch gute siebzig Jahre, um damit fertigzuwerden.
Schwer beladen mit dem Schrot, das ihm Beine und Hinterteil spickte, war der wütende Verbrecher bald geschnappt worden. Roger hatte erst aufgehört zu beten, als er die Nachricht vernommen hatte.
Danach erzählte ich hundert Mal dieselbe Geschichte, traf einen Haufen Leute, die einen Haufen Dinge wissen wollten, die ich nicht wusste - und die mir den Eindruck vermittelten, viel mehr darüber zu wissen als ich -, dann zeigte ich mit dem Finger auf jemanden, ein Mal, zwei Mal, drei Mal, immer auf denselben. Die Sache nahm ihren Lauf. Ich bekam zwölf Dollar für jeden verpassten Schultag. Doch konnte ich sie unmöglich in die Blechkiste zu den anderen Scheinen legen, die sich mangels Ausgabeideen dort ansammelten, sie wären durch die Nähe zueinander kontaminiert worden. Also warf ich sie jedes Mal in den nächstbesten Gully, der mir unter den Fuß kam.
Es war das Ende der Fahnenstange. Schon früher hatten mich manche Entdeckungen um Teile meiner Ahnungslosigkeit gebracht, doch nie war es etwas so Schwerwiegendes gewesen. Als ich sechs war, entdeckte ich beispielsweise im Abstand von nur einer Woche erst hinten zusammengequetscht in der kaputten Gefriertruhe sämtliche Geschenke des Weihnachtsmanns und dann neben den Sicherungen im Schrank über dem Trockner den kleinen Jesus, der eigentlich noch gar nicht geboren war. Damit verlor ich auf einen Schlag einen ganzen Haufen Glaubensgewissheiten. Aber der Schmerz darüber wurde schnell abgelöst von der Wonne, all diese Geheimnisse mit meinen Eltern zu teilen, die mich darum baten, weiter so zu tun als ob, damit meine kleinen Schwestern noch zu ihrem heiligen Recht kamen, an irgendwelchen Unsinn glauben zu dürfen. Im Grunde war es nur eine Variante desselben Spiels. Allein das Bild meiner Eltern, die ich fortan bei allem, was sie taten, irgendwie verdächtigte, hatte sich durch diese frommen Lügen verändert.
Diesmal war es ganz anders; ich erlitt einen heftigen Verlust unwiederbringlicher Ahnungslosigkeit. Nicht einmal die Großtaten meiner Heldin machten mir Mut. Die Übertragung klappte nicht. Lange hatte ich geglaubt, man könnte sich einen Grundstock an Verhaltensweisen anlegen, die dem wackeren Krieger dann in der Schlacht zur Verfügung stünden, so dass er mit dieser List jede Art Schwäche wettmachen könne und keinen Schaden zu befürchten habe. Auch hatte ich geglaubt, das Leben ließe sich mit einer gewissen Anstrengung erlernen, wie das Konjugieren der unregelmäßigen Verben, und dass ein wenig Erinnerungsvermögen im rechten Moment immer das passende Wissen abrufen würde. Ich hatte mich ernsthaft für unverwundbar gehalten. Da ich Oscar so treu in alle Schlachten gefolgt war, hätte ich zwangsläufig ein guter Kämpfer sein müssen. Aber der Angst stand ich plötzlich alleine gegenüber, wehrlos wie ein neugeborenes Kind, ohne Geschichten, aus denen ich schöpfen konnte. Mein Gehirn hatte nur Lähmung, Leere und Blackout hervorgebracht. Ich war weder mutig noch tapfer oder sonst etwas, und all die Heldentaten, die ich in meiner Vorstellung üblicherweise mit größter Leichtigkeit ausfocht, blieben tief in meinem Geist vergraben. Ich hatte ja nicht mal ein Schwert. Und man konnte mich mit einer Hand zerbröseln wie einen Cracker. Mir blieb nur Desillusion hinsichtlich allem, was ich sein wollte, aber niemals sein würde.
Ich war zehn Jahre alt und musste nochmal ganz von vorne anfangen. Wie gesagt, es war das Ende.
Mein einziger Trost lag in der Bestätigung, dass ich von Anfang an recht gehabt hatte: Mädchen sein brachte nur Probleme.
Der Verbrecher kam übrigens nicht aus der Irrenanstalt.
Roger machte sich Vorwürfe, und mir tat es leid, ihn in diese Lage gebracht zu haben. Er hatte meinen Wunsch nur zum Teil respektiert, er war mir morgens weiterhin gefolgt, gegen meinen Willen, aber nur von Weitem und nicht mehr systematisch. Dennoch hatte er mich gerettet.
Weil ich ihm für seinen Ungehorsam danken und ihm zeigen wollte, dass ich durchaus mit einem zweiten Schatten leben konnte, stahl ich ihm eines Abends, als der Alkohol ihn früher als sonst schachmatt gesetzt hatte, seinen Thron aus ramponiertem Kunstleder. Sein Stuhl weckte schon lange keine Begehrlichkeiten mehr, so dass er ihn abends einfach draußen stehen ließ. Das Ding wäre jedem Dieb ein wahrer Klotz am Bein gewesen.
Der Schustermeister war nach einem kurzen Telefonat eilfertig gekommen, um das abgetakelte Ding, das ich erfolglos versucht hatte, ihm zu beschreiben, und das im Anfang ein Stuhl gewesen sein musste, wie vereinbart abzuholen. Roger hing daran wie an nichts anderem. Es war der Stuhl seiner Frau, mit dem sie sich damals, als sie auf der ¬. Avenue wohnten, zwischen zwei Ladungen Wäsche kurz an die frische Luft setzte und die vorbeifahrenden Autos beobachtete. Bevor sie für immer fortging. Seine Erinnerungen waren fest an diesen Stuhl gebunden. Die Zeit ließ so viele Bilder der geliebten Frau verschwimmen, dass er einen reellen, greifbaren Anker brauchte, damit sie nicht ganz verschwand. Ich wollte, dass er mit Leder bezogen wurde, mit echtem, um dem Ganzen etwas Fortbestand zu geben, dass man ihn neu polsterte und wieder schön machte, ein bisschen. So wie er früher mal gewesen sein musste, nur haltbarer. Eine Woche vor der Aktion habe ich an einer nicht so abgewetzten Stelle unter dem Sitz sogar ein kleines Stück Kunstleder aus den Klammern lösen und für den Schuster klauen können, damit er ein Leder fand, das dem Kunstleder perfekt nachempfunden war. Verkehrte Welt. Ich hatte ihn auch gebeten, zu prüfen, ob die Verstrebungen hielten. Ob es Rost gab. Und ob die Beine Schutzkappen drunter hatten. Er brach in Lachen aus und hielt sich den Bauch.
»Und das alles soll ich auch noch heut Nacht machen?«
»Nein, nein, das natürlich nicht. Also das Meiste machen Sie heute Abend, und wenn Sie nicht alles schaffen, weil Sie zu müde sind, machen Sie vielleicht morgen früh weiter. Aber ziemlich früh, denn er steht wirklich nicht spät auf. Ich muss den Stuhl zurückstellen, bevor er auf ist, sonst dreht er durch.«
»Ha, ha, ha!«
Er lachte so heftig, dass ich Angst hatte, er würde platzen. Es war wirklich ein schlechter Moment, mich im Stich zu lassen, mitten im größten Projekt meines Lebens.
»Warum lachen Sie so?«
»Ha, ha, ha!«
»Ich werde alles richtig bezahlen. Keine Sorge. Ich arbeite. «
»Ha, ha, ha!«
»Und dazu einen Bonus für die Spätschicht.«
»HA, HA, HA!«
Die Idee mit dem Bonus kam von meiner Mutter.
»Zehn Dollar Bonus«, sagte ich und glaubte, ihn mit dem großen Steak zu beeindrucken, das er sich davon kaufen könnte.
Nichts zu machen, sein Lachen verdoppelte sich noch. Seine tränenströmenden Augen waren blutunterlaufen, bald hätte das Herz nichts mehr zu pumpen, es wurde riskant. Ich musste energisch eingreifen, einen anderen Schuster kannte ich nicht.
»Das ist sehr wichtig für mich...«
»Ha, ha, ha...«
»Ein Dankeschön für Roger...«
»Ha, ha, ha...«
»Dafür, dass er dem Dicken eins draufgegeben hat, der mich vergewaltigen wollte...«
»Ha... hmpf...«
Schnell floss das Blut zurück in die Organe, die es zu versorgen hatte, und mein Schuster wurde finster wie eine griechische Tragödie. Was mir paradoxerweise garantierte, dass er am Leben blieb. Seine Brauen senkten sich langsam wieder über die Augen, und sein trauriger Kinderkopf folgte der Bewegung. Seine Finger suchten nach einer Beschäftigung, verteilten ein wenig Staub auf seinen Kleidern.
»Du bist die Kleine¬...«
Die Sache hatte sich herumgesprochen, und einige Resonanzen waren zwischen zwei Hammerschlägen beim Absatzbesohlen sogar bis in seine kleine Schusterwerkstatt gedrungen.
Er zeigte sich einverstanden und verzichtete sogar auf den Bonus, als ich ihm von der historischen Bedeutsamkeit des Stuhls erzählte. Schließlich reichte er mir seine aus sehr knorrigem Holz geschnitzte Pranke und verpflichtete sich, gemessen an der Kraft, die er dort hineingab, den Thron so gut herzurichten, wie er konnte. Alles, was ich von seiner Arbeit kannte, ließ mich das Beste hoffen.
Der Schuster hat mir nie verraten, was es ihn gekostet hatte, den Haufen aus Schrott und Synthetik in ein wahres Meisterwerk zu verwandeln. Verlangt hat er von mir , ¬Dollar, damit es echt klang. Ich spielte mit. Man darf Leuten nie das Vergnügen verderben, das sie haben, wenn sie anderen eine Freude machen. Immerhin konnte ich mit ihm einen halben Bonus aushandeln, was eine andere Art war, ihm Vergnügen zu bereiten, da es mir Freude machte, wenn er annahm, und es ihm Freude machte, mir Freude zu machen. Wieder reichte er mir seine große schwielige Hand, und ich spürte, dass er und ich nicht ganz derselben Gattung angehörten; mir fehlte noch viel von diesem Leben, das einem irgendwann ein Fresko in die Handflächen grub. Hinter dem ungehobelten Klotz verbarg sich ein guter Mensch. Fast so wie bei dem anderen da.
Die Farbe am Holz war noch ein bisschen feucht, als ich den Stuhl wieder an seinen Platz stellte, aber wenn man nicht dranfasste, würde es gehen, hatte mir der Schustermeister versichert. Als Roger auftauchte, bemerkte er zunächst nichts. Mit seiner üblichen Anmut kratzte er sich gähnend die Weichteile, streckte sich unter Absonderung einiger Gase und begann, die sichtbaren Teile des Viertels von seinem Parkplatz aus zu inspizieren. Wie jeden Morgen eine erste Inaugenscheinnahme dieser Welt, die ihm immer noch seinen Abtritt verwehrte. Er legte die Hand auf die Stuhllehne, zog sie aber sofort zurück, als hätte er sich an ihr verbrannt. Sein Kopf rotierte wie bei einem aufgeschreckten Vogel in alle Richtungen, suchte¬... einen Zeugen, einen Schuldigen, doch ich war gut versteckt. Er trat ein paar Schritte zurück, den Bart fest umklammert, so wie andere sich kneifen, und näherte sich wieder auf Zehenspitzen, als wolle er das Trugbild nicht zerstören. Erst da kam mir kurz der Gedanke, vielleicht einen Fehler begangen und einen Zauber beendet zu haben, der ohne Plastikfetzen nicht mehr funktionierte. Was, wenn ich ihm alles genommen hatte, was ihm von seiner Frau, die er nie ersetzen wollte, geblieben war? Nachdem er sich von der Wirklichkeit seines neuen alten Stuhls überzeugt hatte, pflückte er den kleinen Zettel von der Sitzfläche, den ich für alle Fälle dort hingelegt hatte, blickte kurz darauf und verzog sich dann in seine Kellerwohnung, aus der er, bis ich zur Schule aufbrechen musste, nicht mehr hervorkam. Das war's, ich hatte alles verdorben. Nun wollte er erst recht krepieren. Und ich war schuld.
So ging ich dann lernen, wie man den Umfang einiger einfacher geometrischer Figuren errechnete, des Kreises oder des Quadrats, woraus eines Tages bei Bedarf durch Wissenstransfer die Fähigkeit erwachsen würde, Schwimmbäder und Häuser zu bauen - in der Überzeugung, einen Menschen umgebracht zu haben.
Halb verrückt vor Angst rannte ich nach der Schule nach Hause und entdeckte Roger auf seinem Posten: Er saß bequem auf seinem neuen Stuhl und rauchte, die Beine zum allgemeinen Wohlbefinden breit gespreizt, mit der Ruhe eines Mannes, der gerade erfolgreich ein paar schwere Möbel getragen hatte. Sein breites Lächeln, das er mir servierte, als er mich sah, schmeckte nach heißer Hühnerbrühe an einem kalten Wintertag. Ein weiterer Weltuntergang, der ausblieb; diesmal war ich sehr froh. Ohne ein Wort ging ich zu ihm und setzte mich auf eine alte umgedrehte Milchkiste. In der von heimkehrenden Schülern belebten Stille hielten wir das Schweigen für eine Weile aus, während wir einfach das Spielen und Springen der heimziehenden Horde verfolgten, die sich so aus der Regungslosigkeit befreite, zu der man sie den ganzen Tag über verurteilt hatte.
»Die Farbe geht so?«
»Genau gleich.«
»Good.«
Der Sohn von Madame Latulipe kam heulend vorbei. Man hatte ihm mal wieder die Schultasche geklaut und deren Inhalt mitten auf der Straße ausgeschüttet, um ihn für die übermäßige Liebe seiner Mutter büßen zu lassen, die ihre »kleine Sonne« jeden Morgen bis zum Schulhof begleitete. Dazu hieß er auch noch Gilbert Gilbert.
»Findest du's nicht schlimm?«
»Warum sollte ich's schlimm finden?«
»Darum.«
»Nee, ich find's nicht schlimm.«
Daraufhin wartete ich ein paar Sekunden und erhob mich. Nun konnte ich nach Hause gehen. Man hatte mich freigesprochen.
»Joe?«
»Ja?«
»Tu mir das trotzdem nicht nochmal an, heiliger...«
Seine Stimme klang süß wie nach einem großen Streit, wenn man lieber leise spricht und die Worte ein wenig wiegt, um sie sagen zu lassen, alles sei wieder vorbei. So dass man zustimmen wollte, auch wenn man nicht verstand.
»Okay.«
»Hab schon verdammt lang kein Geschenk mehr gekriegt. Das letzte Mal weiß ich schon gar nicht mehr.«
Gefühlsausbruch. In mir stiegen Tränen auf, die sich das alles mal genauer ansehen wollten. Tonartwechsel, bevor alles davonschwamm.
»Und, sitzt du gut?«
»Alter Schneckenfurz, so bequem, dass ich drauf verrecken möchte. Ich will nie mehr aufstehen.«
»Good.«
»Redest du jetzt Englisch?«
»Nein, nein, nur so 'n paar Worte. Aber in der Schule kenn ich ein Mädchen, die spricht immer nur Englisch.«
»Die haut bald ab, das dauert nicht lange.«
»Warum?«
»Darum, kleine Kakerlake. Mein Sohn hat Englisch gelernt, und weg war er.«
»Wohin?«
»Schweine-weit.«
»Kommt er nie her?«
»Nein, ist zu weit.«
»Ich lerne nur ein bisschen Englisch.«
»Good.«
Wir lachten ein wenig, um das Gespräch angenehm ausklingen zu lassen. Dann verließ ich »Vater Goriot« leichten Herzens und beobachtete ihn im Gehen heimlich aus dem Augenwinkel. Es war lustig zu sehen, wie er sich vom Stuhl erhob, die Hose hochzog und sich nur langsam wieder setzte, um das Möbel ausgiebig zu betrachten. Wenn sich jemand näherte, um ihn zu grüßen, erhob er sich prompt, ganz gegen seine Art, und zwang denjenigen heranzukommen. Dann würde er es vielleicht sehen. Und Roger könnte ihm sagen: »Ein Geschenk.«
[...]
© Carl Hanser Verlag München 2013.
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Autoren-Porträt von Marie-Renée Lavoie
Lavoie, Marie-RenéeMarie-Renée Lavoie wurde 1974 geboren. Sie unterrichtet Literatur am Collège de Maisonneuve in Montréal. Für ihren Debütroman wurde sie mit dem Prix Archambault ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marie-Renée Lavoie
- 2013, 256 Seiten, Maße: 13,6 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Norma Cassau, Andreas Jandl
- Verlag: Hanser Berlin
- ISBN-10: 3446243844
- ISBN-13: 9783446243842
- Erscheinungsdatum: 30.07.2013
Pressezitat
"Eine zutiefst berührende Geschichte über eine ungleiche Freundschaft und über die zähe Tapferkeit eines kleinen Mädchens." Saskia Stöcker, Freundin, 14.08.13
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