Ich war die Gefangene meines Vaters
Alice Lawrence musste ein schreckliches Schicksal hinnehmen. Sie war über viele Jahre hinweg die Gefangene ihres Vaters und wurde von ihm missbraucht und erniedrigt. In ihrem Buch bricht sie endlich ihr Schweigen.
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Produktinformationen zu „Ich war die Gefangene meines Vaters “
Alice Lawrence musste ein schreckliches Schicksal hinnehmen. Sie war über viele Jahre hinweg die Gefangene ihres Vaters und wurde von ihm missbraucht und erniedrigt. In ihrem Buch bricht sie endlich ihr Schweigen.
Klappentext zu „Ich war die Gefangene meines Vaters “
Alice wächst in verschiedenen trostlosen Vorstädten im Norden Englands auf. Seit ihrer Kindheit ebenso wie ihre fünf Geschwister vom Vater misshandelt, fühlt sie sich schlecht und wertlos. Die Mutter ist selbst Opfer des gewalttätigen Vaters und findet nicht die Kraft, Alice beizustehen. Der ältere Bruder geht nach einem erbitterten Streit mit dem Vater eigene Wege. Alice wird gehalten wie eine Gefangene. Nur auf Geheiß des kontrollsüchtigen Vaters darf sie die Wohnung verlassen. Sie verliert jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Als die Mutter keine Kinder mehr bekommen kann, wird für Alice alles nur noch schlimmer. Der Vater missbraucht sie in erster Linie mit dem Ziel, sich mehr Kindergeld zu sichern. Sechs Mal wird Alice von ihrem Peiniger schwanger. Nach vier Fehlgeburten und einer Totgeburt bringt sie ein Mädchen zur Welt. Doch das Baby ist schwerstbehindert und überlebt nur wenige Monate. Der Tod ihrer Tochter lässt Alice aufbegehren. Sie entzieht sich der Kontrolle des Vaters und findet Unterschlupf bei ihrem älteren Bruder. Dort eröffnete sich ihr eine vollkommen neue Welt. Aber Alice muss erst lernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Immer wieder holt ihre Vergangenheit sie ein, bis sie schließlich den Befreiungsschlag wagt.
Lese-Probe zu „Ich war die Gefangene meines Vaters “
Ich war die Gefangene meines Vaters von Alice LawrenceProlog
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Ich stelle den Backofen an und beuge mich hinunter, um die Kühlschranktür zu öffnen. Heute wird es spät mit dem Abendessen, weil wir zu lange im Park gewesen sind. Eigentlich hätte ich die Kinder längst ins Bett bringen sollen, weil sie morgen früh zur Schule müssen, aber es war so schön, ihnen beim Spielen zuzuschauen - als Tom seinem Ball hinterherjagte, haben Emma und Lily lauthals gelacht. Da brachte ich es nicht fertig, sie nach Hause zu scheuchen. Ich wusste doch, wie viel Spaß es ihnen machte, an der frischen Luft zu sein. Nun sind wir aber endlich zu Hause, und die Mädchen essen schon einmal einen Joghurt, denn es wird noch eine ganze Weile dauern, bis das Essen fertig ist. Tom ist müde und sehr ungeduldig, und während ich die Würstchen aus dem Kühlschrank hole und auf das Backblech lege, schlingt er seine Arme um meine Beine.
»Hunger, Mummy«, sagt er, als ich das Blech in den Ofen schiebe.
»Es dauert nicht mehr lange, mein Kleiner«, sage ich.
Ich gebe Tom einen Kuss auf sein Haar - es ist so weich und riecht süßlich. Dann nehme ich ihn auf den Arm und trage ihn ins Wohnzimmer. Die Mädchen spielen, und ich gehe zum Fernseher, der in der Ecke vor sich hin plärrt. Es laufen Nachrichten, die die Kinder überhaupt nicht interessieren, aber sobald ich den Apparat leiser stelle, hagelt es stets Proteste. Trotzdem beuge ich mich hinunter, um den Knopf zu betätigen.
Auf dem Bildschirm erscheint ein Gesicht, und eine Stimme sagt: »Ein Österreicher gab zu, dass er seine Tochter vierundzwanzig Jahre lang in einem geheimen Kerker gefangen hielt.«
Meine Hand erstarrt mitten in der Bewegung.
»Josef Fritzl gab der Polizei gegenüber an, er sei der Vater aller sieben Kinder seiner Tochter Elizabeth.«
Ich bekomme keine Luft mehr. In meinem Kopf rauscht es.
»Wie seitens der Polizei bestätigt wurde, war Miss Fritzl während ihrer Gefangenschaft sechs Mal schwanger. Ein Baby starb kurz nach einer Zwillingsgeburt. Drei Kinder wurden von Miss Fritzls Eltern aufgezogen. Der Vater hatte behauptet, seine Tochter habe die Familie verlassen. Drei weitere Kinder lebten zusammen mit ihr eingesperrt im Keller eines unscheinbaren Vorstadthauses in Amstetten, Österreich.«
Mir zittern die Knie, und ich mache ein paar Schritte rückwärts. Mein Körper fühlt sich an wie aus Blei. Tom hat erneut seine Arme um mich geschlungen, und ich möchte mich ihm zuwenden, aber ich schaffe es nicht, den Kopf zu drehen und ihn anzusehen.
Auf dem Bildschirm erscheint das Foto eines Mannes. Graues Haar und Schnauzer. Unrasiert. Blaue Augen. Tote Augen. Genau wie die Augen jenes Mannes, der mich so lange gefangen hielt.
Bilder schießen mir durch den Kopf. Der Schlüssel, der sich im Schloss der Eingangstür dreht. Vernagelte Fenster. Messer und Pistolen, blank poliert in seinem Schrank.
Ich versuche, so ruhig wie möglich weiterzuatmen.
Elizabeth. Ihr Vater. Sechs Mal schwanger. Genau wie ich. Sechs Kinder, die überlebten. Nicht wie bei mir. Unwillkürlich muss ich an Jonathan und Caitlin denken, und mein Herz setzt einen Augenblick lang aus.
Elizabeth war die ganze Zeit über in einem Kerker? Immerhin konnte ich manchmal frische Luft auf meinem Gesicht spüren, auch wenn er mich keine Minute lang aus den Augen ließ. Ich konnte einen Blick auf das Leben erhaschen, auch wenn ich nicht daran teilhaben durfte und immer wieder eingesperrt wurde.
»Mummy?«
Ich hebe den Kopf. Lily steht vor mir.
»Ist alles okay, Mummy? Du siehst so komisch aus.«
»Alles okay, mein Liebling«, flüstere ich und nehme sie in den Arm. »Ich will dich nur mal kurz drücken.«
Emma kommt angelaufen, und ich schlinge die Arme um meine Kinder, spüre ihre Wärme und versuche, die Bilder zu verdrängen, die in meinem Kopf aufsteigen.
‚Er ist weg‘, sage ich mir immer wieder. ‚Du hast dafür gesorgt, dass er weg ist.‘
Aber mein Körper lässt sich nicht beruhigen. Während ich die Mädchen und ihren Bruder in den Armen halte, bekomme ich kaum Luft, und mein Herz rast.
Ich war also nicht die Einzige.
Es gab noch jemanden wie meinen Vater.
Noch eine Tochter wie mich.
Elizabeth.
Kapitel 1
Ein Großteil meiner Vergangenheit ist tief in mir verschlossen, so viele Erinnerungen, verdrängt in die hintersten, dunkelsten Winkel. Ich habe Angst, sie freizulassen. Es ist, als stünde ich am Meer und das Wasser umspülte meine Zehen, und ich weiß, dass jederzeit eine Welle über mir brechen kann. Wenn man in der Hölle gewesen ist, lernt man zu vergessen, damit man so schnell wie möglich entkommen kann, falls man in seinen Träumen dorthin zurückgeführt wird.
Aber ich kann die Vergangenheit nicht ewig unter Verschluss halten, und ich hoffe, meine Geschichte ist ein Beweis dafür, dass es Monster nicht nur im Märchen gibt und dass schlimme Ereignisse aus den Nachrichten nicht immer in einer anderen Welt geschehen, sondern gleich hinter der nächsten Ecke passieren können. Jahrelang war ich eingesperrt, in Häusern, die aussahen wie alle anderen. Manchmal durfte ich hinaus, aber ein Gefängnis besteht eben nicht nur aus Gitterstäben. Ich saß nicht in einem Turm und träumte von einem Prinzen, der kommen würde, um mich zu retten. Ich wartete auf einen ganz normalen Menschen, der die Hand ausstrecken würde, um mir zu helfen. Mir, der man eingeredet hatte, nichts wert zu sein. Ein Niemand, ein Schatten, ein Freak.
Viele Erinnerungen an meine Kindheit sind nur noch in Bruchstücken vorhanden, und es fällt mir schwer, sie zeitlich einzuordnen. Aber ich kann mich an bestimmten Anhaltspunkten orientieren - zum Beispiel daran, ob meine jüngeren Geschwister noch Babys oder Kleinkinder waren. Das hilft mir, alles in die richtige Reihenfolge zu bringen. Meine früheste Erinnerung ist die an Weihnachten, als meine kleine Schwester Laura etwa ein Jahr alt war. Demnach muss ich ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, mein älterer Bruder Michael acht und der kleine Simon fünf.
Ich brauchte eine Zeit lang, um mich daran zu gewöhnen, eine Schwester zu haben, denn meine Brüder und ich waren lange unter uns gewesen. Bevor Laura kam, hatte man uns schon einmal gesagt, wir würden noch einen Bruder oder eine Schwester bekommen, und wir waren ganz aufgeregt und überlegten uns Namen für das Kleine. Wir Kinder wurden alle nach jemand Bestimmtem benannt, nach Verwandten oder nach Mums Lieblingsmusikern und -schauspielern.
Doch nachdem wir verfolgt hatten, wie Mums Bauch immer dicker wurde, verschwand sie eines Tages und kam mit leeren Händen zurück. Sie sah verändert aus, leichenblass, und erklärte uns, dass die Ärzte sich noch um das Baby kümmern müssten. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich im Stillen immer wieder zu fragen, was passiert war, denn über unseren Bruder oder unsere Schwester wurde nicht mehr gesprochen. Als ich älter war, erzählte Mum mir, dass es ein Junge gewesen sei, eine Totgeburt, und dass sie die Schuld daran trage, weil sie so dumm gewesen sei, die Möbel zu verrücken. Aber als sie mir das sagte, konnte sie mir nicht in die Augen sehen, und da war ich mir nicht sicher, ob ich ihr glauben sollte.
Als Mum uns dann erneut erzählte, sie würde ein Baby bekommen, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Würde sie dieses Mal wirklich ein Kind mit nach Hause bringen? Das tat sie - ein kleines Mädchen namens Laura. Und da ich schon zwei Brüder hatte, freute ich mich sehr darüber. Obwohl ich noch klein war, machte es mir Spaß, Mum beim Versorgen des Babys zu helfen.
Als das nächste Weihnachtsfest vor der Tür stand, wartete ich aufgeregt auf den Weihnachtsmann. Wir hatten nicht viel Spielzeug, und das meiste war für die Jungen gedacht - Soldaten und Autos aus Plastik. Einige Wochen vor Weihnachten hatte ich in einem Werbekatalog ein Puppenhaus gesehen, mit pinkfarbenen Wänden, geblümten Vorhängen und Möbeln in jedem Zimmer. Das wünschte ich mir sehnlichst. Im Jahr zuvor hatte ich eine Barbiepuppe bekommen, die zwar nicht in einem glitzernden Karton verpackt war wie jene, die ich in den Geschäften gesehen hatte, aber ich fand sie trotzdem toll. Und nun sollte sie ein schönes Haus bekommen und darin wohnen. Dann konnten Laura und ich damit spielen.
‚Ich muss brav sein‘, sagte ich mir jeden Abend. ‚Dann bekomme ich vielleicht das Puppenhaus.‘
Als ich Mum erzählte, was ich mir wünschte, empfahl sie mir, einen Brief an den Weihnachtsmann zu schreiben.
Vielleicht kann ich Daddy zum Lächeln oder sogar zum Lachen bringen, dachte ich, als ich den Brief schrieb. Dann weiß der Weihnachtsmann, dass ich brav gewesen bin.
Natürlich wusste ich schon damals, dass Weihnachten bei uns nicht so war wie bei anderen Leuten. Ich hatte mitbekommen, wie die anderen Mädchen in der Schule von Weihnachtsbäumen und Truthähnen erzählten, und all das gab es bei uns nicht. Trotzdem wünschte ich mir das Puppenhaus, wartete geduldig auf das Fest und träumte jeden Abend davon. Als der ersehnte Tag endlich da war, packten Michael und Simon ihre Geschenke aus. Sie bekamen Spielzeugpistolen. Wir wussten, dass Dad sich für so etwas begeisterte, denn er hatte sich einen Schild an die Wand gehängt, aus dem echte Messer herausragten, und das hieß: Auch meinen Brüdern mussten solche Spielsachen gefallen. Als die beiden ihre Geschenke sahen, fingen sie an, sich um eine der Pistolen zu zanken, und plötzlich hörte ich etwas knacken. Mir wurde ganz flau im Magen.
»Du hast sie kaputt gemacht, du kleiner Scheißer!«, schrie Dad und stürzte sich auf Michael.
Als mein Vater nach ihm schlug, zog es meinem Bruder die Beine weg. Ich schnappte mir die kleine Laura und verkroch mich hinter dem Sofa. Dort versteckten wir uns immer, wenn Daddy wütend wurde. Zusammengekauert hörte ich, dass Michael anfing zu weinen. Wir mussten leise sein, damit wir nicht auch noch Ärger bekamen. Ich hörte ein weiteres Knacken und hielt Laura fest. Dad hatte die kaputte Pistole zerbrochen und schleuderte die beiden Hälften durch das Wohnzimmer.
»Gefällt sie dir jetzt, hä?«, brüllte er Michael an. »Das war's mit deiner Scheißpistole! Die andere kriegt dein Bruder.«
Ich wartete ab, bis es im Wohnzimmer endlich wieder ruhig war, und kroch hinter dem Sofa hervor. Dad saß vor dem Fernseher. Der Streit war vorbei. Vielleicht würde ich nun mein Geschenk bekommen. Als Mum mir dann ein kleines Päckchen gab, klopfte mein Herz wie wild.
Ich starrte es an. Es war nicht groß genug für ein Puppenhaus, und als ich das Papier aufriss, fand ich eine Brosche, die ich schon einmal im Schmuckkasten meiner Mutter gesehen hatte, es war ein cremefarbener Frauenkopf vor beigefarbenem Hintergrund. Ich konnte den Blick nicht von der Brosche wenden, und obwohl ich wusste, dass ich es nicht hätte tun sollen, fing ich an zu weinen. Ich hatte mir doch so sehr das Puppenhaus gewünscht. Ich konnte die Tränen einfach nicht zurückhalten, vor allem als ich daran denken musste, dass meine Barbiepuppe auf unserem schmuddeligen Teppich lag, anstatt in einem schönen Haus zu wohnen.
»Hör auf mit dem Geplärre!«, brüllte Dad und drehte sich zu mir um. »Man kriegt nicht immer das, was man sich wünscht.« Ich schaute ihn erschrocken an.
»Nimm gefälligst das, was man dir gibt«, schrie Dad, und sein Blick verfinsterte sich. »Und jetzt verschwinde hier!«
Mit der Brosche in meiner ausgestreckten Hand ging ich zur Tür. Hinter mir hörte ich Dad vor sich hin brummen, und als ich den Türknauf drehte, rief er nach mir.
»Alice?«, schnauzte er mich an, und sofort wandte ich mich zu ihm um. »Hast du immer noch nicht kapiert, dass es diesen dämlichen Weihnachtsmann nicht gibt, du dumme Kuh?«
Schon immer war mir bewusst, dass ich nicht so war wie andere Mädchen. Wenn man in der ärmlichen Gegend einer Großstadt im Norden Englands aufwächst, kapiert man schnell, dass es eine Menge Leute gibt, die sich nicht viel leisten können. Große Familien, zusammengepfercht in endlosen Häuserreihen, Kinder, die an Straßenecken vor den Geschäften herumlungern, allesamt Leute, die nur so gerade über die Runden kommen. In meiner Familie war das Geld zwar nicht knapper als bei vielen anderen, aber trotzdem waren wir anders. Und das lag an meinem Dad.
Viele der Männer in unserem Viertel arbeiteten auf dem Bau oder asphaltierten Straßen. Dad nicht. Als er meiner Mum begegnete, war er auch Arbeiter. Meine Mutter hatte damals einen Job in einer Fabrik. Dort verdiente sie nicht viel, doch immerhin war sie dadurch unabhängig. Aber nachdem sie meinen Vater kennengelernt hatte, war es damit bald vorbei. Mit einundzwanzig gab sie ihren Job auf, um zu heiraten. Sie verdiente fortan ein wenig Geld dazu, als Babysitter der Kinder seines Bruders. Und drei Monate später kam mein Bruder Michael auf die Welt.
Mein Dad oder der Idiot, wie ich ihn heute meistens nenne, sah wohl nicht ein, warum man überhaupt arbeiten sollte. Nachdem er einen Unfall gehabt hatte, gab er seine Stelle auf, und ich glaube, danach hat er nie wieder erwogen, arbeiten zu gehen und den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen. Jedenfalls habe ich nie beobachtet, dass er jemals in seinem Leben auch nur einen Finger krumm gemacht hätte. Eigentlich lag er den ganzen Tag lang im Bett vor dem Fernseher. In jeder Wohnung und in jedem Haus, wo wir wohnten, stand sein Bett im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Er war sogar zu faul, um sich in einen Sessel zu setzen, und sein Lieblingstag war der ‚Zahltag‘. Dann holte er sich die Sozialhilfe ab, der wir es verdankten, dass wir etwas zum Anziehen und etwas zu essen hatten. Er erhob sich nur selten, meistens um Gewichte zu heben, damit seine Muskeln noch kräftiger wurden. Oft saß er sogar dabei vor dem Fernseher, und wir alle sahen voller Ehrfurcht, wie stark er war.
Dad stammte aus einer rauen Familie - ein weitverzweigter Haufen von Verwandten, die sich aufführten wie Stammesbrüder. Aber das war nicht der eigentliche Grund dafür, weshalb Dad anders war. Außenstehenden mochte es vielleicht nicht auffallen, wir aber wussten: Er hatte etwas Düsteres an sich, das wie eine zweite Haut an uns allen klebte. Nachts träumten wir, er würde kommen und uns holen, und dann wachten wir auf unseren von Urin durchnässten Laken so verängstigt auf, dass wir kaum wagten zu atmen. Tagsüber waren wir die wildesten Kinder der ganzen Gegend. Dann versuchten wir, alles andere zu vergessen - kletterten auf Dächer, durchstreiften die Straßen und fingen Streit mit anderen Kindern an.
Dad hasste es, wenn wir die Aufmerksamkeit auf uns zogen, denn es bedeutete, dass Freunde, Verwandte oder Nachbarn uns neugierig beäugten. Wenn jemand an unsere Tür klopfte und unsere Schandtaten berichtete, behielt er uns deshalb endlose Tage lang im Haus, um uns klarzumachen, dass wir keinen Ärger mehr machen sollten. Die Prügel, die er uns verabreichte, waren eine Warnung: Wir sollten niemanden auf uns aufmerksam machen. Er schlug uns mit bloßen Händen, mit einem Spazierstock oder einem schweren Gewichthebergürtel. Ich bekam manchmal eine Tracht, aber das meiste kriegten meine Brüder ab, insbesondere Michael.
»Michael, Simon«, donnerte Dad, wenn er hörte, dass die beiden sich anschrien. »Hier rein!«
Dann rannten meine Brüder ins Wohnzimmer und standen ängstlich vor meinem Vater.
»Glaubt ihr etwa, ich höre euer dämliches Geschrei nicht?«, brüllte er sie an. »Na gut, wenn ihr euch unbedingt prügeln wollt, dann macht weiter!«
Ohne weitere Aufforderung wussten die beiden, was sie nun zu tun hatten. Sie fielen übereinander her, traten und boxten sich, und der Idiot sah grinsend zu. Michael war gegenüber Simon immer im Vorteil, weil er größer war, und mein jüngerer Bruder holte sich eine blutige Nase und ein blaues Auge. Simon gab niemals nach, aber irgendwann hörte Michael auf, ihn weiter zu bearbeiten, weil er wusste, dass er gewonnen hatte. Dann knöpfte der Idiot ihn sich vor, denn aus irgendeinem Grund galt Simon nie als der Schuldige. Das war immer Michael.
»Du bist ein verdammter Unruhestifter - immer prügelst du dich mit deinem Bruder«, brüllte der Idiot und verpasste Michael anschließend eine Ohrfeige oder versohlte ihm den Hintern.
Es ist schwer zu sagen, wie oft wir geschlagen wurden, aber ich glaube, es verging nicht eine einzige Woche, in der nicht einer von uns eine ‚Tracht‘ bekam, wie wir es nannten. Und seit ich alt genug war, kannte ich die Gefahr, die darin bestand, dass mein Vater eigentlich aus zwei Vätern bestand. Der eine hatte sanfte dunkelbraune Augen, und manchmal verzog sich sein Mund zu einem Grinsen, das mein Herz höher schlagen ließ. Das war der Mann, der die Leute auf der Straße anlächelte, und ich hoffte stets, ich könnte ihn dazu bringen, zu Hause ebenso freundlich zu sein. Manchmal konnte ich das auch. Dann lächelte er mich tatsächlich an, wenn ich etwa neben ihm ins Bett kroch, um mich vor der klirrenden Kälte zu schützen, die alles in unserem Haus klamm werden ließ. Ab und zu setzte er sich im Bett auf und ließ mich auf den Kissen hinter seinem Rücken hocken, mit meinen Beinen auf seinen Schultern, und ich tat so, als suchte ich in seinem Haar nach Läusen.
»Einen Penny für die großen, einen halben Penny für die kleinen«, sagte er dann feixend und lehnte sich zurück.
Die seltenen Gelegenheiten, bei denen ich ihn fröhlich stimmte, brachten mich dazu, es verzweifelt immer wieder zu versuchen. Aber je älter ich wurde, desto mehr wurde mir klar, dass es beinahe unmöglich war. Sobald sich die Tür zur Außenwelt geschlossen hatte, schien er zu einem anderen Menschen zu werden. Wenn ich für Dad in der Schule ein Bild gemalt hatte und es ihm gab, zerriss er es. Wenn ich ihm eine Tasse Tee brachte, warf er sie nach mir. Dann wurden seine Augen schwarz, sein Gesicht verzog sich, und sein Mund öffnete sich, um mich anzuschreien. Wir alle hatten Verbrennungen, weil wir uns immer wieder an heißem Tee und dem Essen verbrühten, das er uns ins Gesicht schleuderte.
Ich lebte in ständiger Angst davor, was er als Nächstes tun würde - immer bereit, die Flucht zu ergreifen. Es war, als lauerte eine zusammengerollte Schlange in meiner Magengrube, die plötzlich hervorschoss und zubiss. Am schlimmsten war es, dass man immer auf der Hut sein musste.
Nicht nur wir Kinder hatten Angst, sondern auch meine Mutter. Ich wusste, dass es nicht immer so gewesen war. Michael hatte mir erzählt, dass Mum, als wir klein waren, mit Dad ins Pub ging. Das hieß, es musste Zeiten gegeben haben, in denen sie Spaß miteinander hatten. Offenbar war sie noch kurz vor Lauras Geburt mit ihm im Pub gewesen und am darauffolgenden Abend auch, denn die Stammgäste hatten fünfundsiebzig Pfund für das neue Baby gesammelt und nicht schlecht über Mums Konstitution gestaunt.
Aber alles, woran ich mich erinnere, ist eine Frau, deren Gesicht von der gleichen Angst überschattet ist, die auch ich spürte. Mum wusste genauso gut wie ich, dass ihr eine Strafe blühte, wenn sie etwas falsch machte.
Mum hatte schöne, warm blickende Augen. Wenn Dad nicht hinschaute, nahm sie mich oft kurz in den Arm, und wenn ich hingefallen war, säuberte sie behutsam und geduldig die Wunden an meinen Knien. Wenn er abends ins Pub ging, um Darts zu spielen, legte sie ihre Elvis-Schallplatten auf, sang dazu und tanzte mit mir. Oder sie sang uns Kinderlieder vor. Wenn genug Geld da war, wärmte sie Wasser für ein Bad, und das war für uns Kinder stets ein großes Vergnügen. Anschließend trocknete sie uns ab, rubbelte unser Haar trocken und brachte uns ins Bett. Und dann gab es einen Gutenachtkuss. Wir alle mochten es, wenn sie uns in den Arm nahm und küsste, und wir wussten, dass Mum tat, was sie konnte, um uns Geborgenheit zu geben und uns vor unserem Vater zu schützen.
»Wenn ihr nicht leiser seid, wird Dad wieder wütend«, ermahnte sie uns, wenn sie abends in unser Zimmer kam und wir noch spielten. »Seid lieber ruhig.«
Und wenn sich der Idiot über den Geräuschpegel im Kinderzimmer beschwerte, hörten wir sie sagen, dass sie sich uns vorknöpfen würde. Anschließend kam sie zu uns und flüsterte: »Wir machen jetzt ein Spiel. Ich tue so, als würde ich euch Ohrfeigen geben, und ihr müsst schreien, auch wenn es gar nicht wehtut.«
Ich war der Meinung, dass Spiele einen zum Lachen bringen sollten, so wie das Versteckspiel mit meinen Brüdern und Laura. Aber ich tat, was Mum verlangte, und schrie, so laut ich konnte, denn ich wusste: Das kam uns allen zugute. Wenn ich bei diesem Spiel nicht mitmachte, würde Dad uns verdreschen und Mum bestrafen, und ich hasste es, wenn ihr wehgetan wurde. Ich habe nie gesehen, dass sie eine Tracht bekam, aber ich konnte es abends hören - das Geschrei und die dumpfen Schläge, als würde jemand gegen die Wand geschubst. Am nächsten Tag war Mum diejenige, die blaue Flecken oder eine aufgeplatzte Lippe hatte. Aber sie sprach nie darüber und weinte auch niemals, wenn wir dabei waren. Doch ich wusste, was mit ihr geschehen war. Das Schlimmste war, die Bilder vor Augen zu haben und zu wissen, dass man vielleicht als Nächster dran war, aber nie sicher zu sein, wann das sein würde.
...
Übersetzung: Heike Holtsch
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ich stelle den Backofen an und beuge mich hinunter, um die Kühlschranktür zu öffnen. Heute wird es spät mit dem Abendessen, weil wir zu lange im Park gewesen sind. Eigentlich hätte ich die Kinder längst ins Bett bringen sollen, weil sie morgen früh zur Schule müssen, aber es war so schön, ihnen beim Spielen zuzuschauen - als Tom seinem Ball hinterherjagte, haben Emma und Lily lauthals gelacht. Da brachte ich es nicht fertig, sie nach Hause zu scheuchen. Ich wusste doch, wie viel Spaß es ihnen machte, an der frischen Luft zu sein. Nun sind wir aber endlich zu Hause, und die Mädchen essen schon einmal einen Joghurt, denn es wird noch eine ganze Weile dauern, bis das Essen fertig ist. Tom ist müde und sehr ungeduldig, und während ich die Würstchen aus dem Kühlschrank hole und auf das Backblech lege, schlingt er seine Arme um meine Beine.
»Hunger, Mummy«, sagt er, als ich das Blech in den Ofen schiebe.
»Es dauert nicht mehr lange, mein Kleiner«, sage ich.
Ich gebe Tom einen Kuss auf sein Haar - es ist so weich und riecht süßlich. Dann nehme ich ihn auf den Arm und trage ihn ins Wohnzimmer. Die Mädchen spielen, und ich gehe zum Fernseher, der in der Ecke vor sich hin plärrt. Es laufen Nachrichten, die die Kinder überhaupt nicht interessieren, aber sobald ich den Apparat leiser stelle, hagelt es stets Proteste. Trotzdem beuge ich mich hinunter, um den Knopf zu betätigen.
Auf dem Bildschirm erscheint ein Gesicht, und eine Stimme sagt: »Ein Österreicher gab zu, dass er seine Tochter vierundzwanzig Jahre lang in einem geheimen Kerker gefangen hielt.«
Meine Hand erstarrt mitten in der Bewegung.
»Josef Fritzl gab der Polizei gegenüber an, er sei der Vater aller sieben Kinder seiner Tochter Elizabeth.«
Ich bekomme keine Luft mehr. In meinem Kopf rauscht es.
»Wie seitens der Polizei bestätigt wurde, war Miss Fritzl während ihrer Gefangenschaft sechs Mal schwanger. Ein Baby starb kurz nach einer Zwillingsgeburt. Drei Kinder wurden von Miss Fritzls Eltern aufgezogen. Der Vater hatte behauptet, seine Tochter habe die Familie verlassen. Drei weitere Kinder lebten zusammen mit ihr eingesperrt im Keller eines unscheinbaren Vorstadthauses in Amstetten, Österreich.«
Mir zittern die Knie, und ich mache ein paar Schritte rückwärts. Mein Körper fühlt sich an wie aus Blei. Tom hat erneut seine Arme um mich geschlungen, und ich möchte mich ihm zuwenden, aber ich schaffe es nicht, den Kopf zu drehen und ihn anzusehen.
Auf dem Bildschirm erscheint das Foto eines Mannes. Graues Haar und Schnauzer. Unrasiert. Blaue Augen. Tote Augen. Genau wie die Augen jenes Mannes, der mich so lange gefangen hielt.
Bilder schießen mir durch den Kopf. Der Schlüssel, der sich im Schloss der Eingangstür dreht. Vernagelte Fenster. Messer und Pistolen, blank poliert in seinem Schrank.
Ich versuche, so ruhig wie möglich weiterzuatmen.
Elizabeth. Ihr Vater. Sechs Mal schwanger. Genau wie ich. Sechs Kinder, die überlebten. Nicht wie bei mir. Unwillkürlich muss ich an Jonathan und Caitlin denken, und mein Herz setzt einen Augenblick lang aus.
Elizabeth war die ganze Zeit über in einem Kerker? Immerhin konnte ich manchmal frische Luft auf meinem Gesicht spüren, auch wenn er mich keine Minute lang aus den Augen ließ. Ich konnte einen Blick auf das Leben erhaschen, auch wenn ich nicht daran teilhaben durfte und immer wieder eingesperrt wurde.
»Mummy?«
Ich hebe den Kopf. Lily steht vor mir.
»Ist alles okay, Mummy? Du siehst so komisch aus.«
»Alles okay, mein Liebling«, flüstere ich und nehme sie in den Arm. »Ich will dich nur mal kurz drücken.«
Emma kommt angelaufen, und ich schlinge die Arme um meine Kinder, spüre ihre Wärme und versuche, die Bilder zu verdrängen, die in meinem Kopf aufsteigen.
‚Er ist weg‘, sage ich mir immer wieder. ‚Du hast dafür gesorgt, dass er weg ist.‘
Aber mein Körper lässt sich nicht beruhigen. Während ich die Mädchen und ihren Bruder in den Armen halte, bekomme ich kaum Luft, und mein Herz rast.
Ich war also nicht die Einzige.
Es gab noch jemanden wie meinen Vater.
Noch eine Tochter wie mich.
Elizabeth.
Kapitel 1
Ein Großteil meiner Vergangenheit ist tief in mir verschlossen, so viele Erinnerungen, verdrängt in die hintersten, dunkelsten Winkel. Ich habe Angst, sie freizulassen. Es ist, als stünde ich am Meer und das Wasser umspülte meine Zehen, und ich weiß, dass jederzeit eine Welle über mir brechen kann. Wenn man in der Hölle gewesen ist, lernt man zu vergessen, damit man so schnell wie möglich entkommen kann, falls man in seinen Träumen dorthin zurückgeführt wird.
Aber ich kann die Vergangenheit nicht ewig unter Verschluss halten, und ich hoffe, meine Geschichte ist ein Beweis dafür, dass es Monster nicht nur im Märchen gibt und dass schlimme Ereignisse aus den Nachrichten nicht immer in einer anderen Welt geschehen, sondern gleich hinter der nächsten Ecke passieren können. Jahrelang war ich eingesperrt, in Häusern, die aussahen wie alle anderen. Manchmal durfte ich hinaus, aber ein Gefängnis besteht eben nicht nur aus Gitterstäben. Ich saß nicht in einem Turm und träumte von einem Prinzen, der kommen würde, um mich zu retten. Ich wartete auf einen ganz normalen Menschen, der die Hand ausstrecken würde, um mir zu helfen. Mir, der man eingeredet hatte, nichts wert zu sein. Ein Niemand, ein Schatten, ein Freak.
Viele Erinnerungen an meine Kindheit sind nur noch in Bruchstücken vorhanden, und es fällt mir schwer, sie zeitlich einzuordnen. Aber ich kann mich an bestimmten Anhaltspunkten orientieren - zum Beispiel daran, ob meine jüngeren Geschwister noch Babys oder Kleinkinder waren. Das hilft mir, alles in die richtige Reihenfolge zu bringen. Meine früheste Erinnerung ist die an Weihnachten, als meine kleine Schwester Laura etwa ein Jahr alt war. Demnach muss ich ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, mein älterer Bruder Michael acht und der kleine Simon fünf.
Ich brauchte eine Zeit lang, um mich daran zu gewöhnen, eine Schwester zu haben, denn meine Brüder und ich waren lange unter uns gewesen. Bevor Laura kam, hatte man uns schon einmal gesagt, wir würden noch einen Bruder oder eine Schwester bekommen, und wir waren ganz aufgeregt und überlegten uns Namen für das Kleine. Wir Kinder wurden alle nach jemand Bestimmtem benannt, nach Verwandten oder nach Mums Lieblingsmusikern und -schauspielern.
Doch nachdem wir verfolgt hatten, wie Mums Bauch immer dicker wurde, verschwand sie eines Tages und kam mit leeren Händen zurück. Sie sah verändert aus, leichenblass, und erklärte uns, dass die Ärzte sich noch um das Baby kümmern müssten. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich im Stillen immer wieder zu fragen, was passiert war, denn über unseren Bruder oder unsere Schwester wurde nicht mehr gesprochen. Als ich älter war, erzählte Mum mir, dass es ein Junge gewesen sei, eine Totgeburt, und dass sie die Schuld daran trage, weil sie so dumm gewesen sei, die Möbel zu verrücken. Aber als sie mir das sagte, konnte sie mir nicht in die Augen sehen, und da war ich mir nicht sicher, ob ich ihr glauben sollte.
Als Mum uns dann erneut erzählte, sie würde ein Baby bekommen, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Würde sie dieses Mal wirklich ein Kind mit nach Hause bringen? Das tat sie - ein kleines Mädchen namens Laura. Und da ich schon zwei Brüder hatte, freute ich mich sehr darüber. Obwohl ich noch klein war, machte es mir Spaß, Mum beim Versorgen des Babys zu helfen.
Als das nächste Weihnachtsfest vor der Tür stand, wartete ich aufgeregt auf den Weihnachtsmann. Wir hatten nicht viel Spielzeug, und das meiste war für die Jungen gedacht - Soldaten und Autos aus Plastik. Einige Wochen vor Weihnachten hatte ich in einem Werbekatalog ein Puppenhaus gesehen, mit pinkfarbenen Wänden, geblümten Vorhängen und Möbeln in jedem Zimmer. Das wünschte ich mir sehnlichst. Im Jahr zuvor hatte ich eine Barbiepuppe bekommen, die zwar nicht in einem glitzernden Karton verpackt war wie jene, die ich in den Geschäften gesehen hatte, aber ich fand sie trotzdem toll. Und nun sollte sie ein schönes Haus bekommen und darin wohnen. Dann konnten Laura und ich damit spielen.
‚Ich muss brav sein‘, sagte ich mir jeden Abend. ‚Dann bekomme ich vielleicht das Puppenhaus.‘
Als ich Mum erzählte, was ich mir wünschte, empfahl sie mir, einen Brief an den Weihnachtsmann zu schreiben.
Vielleicht kann ich Daddy zum Lächeln oder sogar zum Lachen bringen, dachte ich, als ich den Brief schrieb. Dann weiß der Weihnachtsmann, dass ich brav gewesen bin.
Natürlich wusste ich schon damals, dass Weihnachten bei uns nicht so war wie bei anderen Leuten. Ich hatte mitbekommen, wie die anderen Mädchen in der Schule von Weihnachtsbäumen und Truthähnen erzählten, und all das gab es bei uns nicht. Trotzdem wünschte ich mir das Puppenhaus, wartete geduldig auf das Fest und träumte jeden Abend davon. Als der ersehnte Tag endlich da war, packten Michael und Simon ihre Geschenke aus. Sie bekamen Spielzeugpistolen. Wir wussten, dass Dad sich für so etwas begeisterte, denn er hatte sich einen Schild an die Wand gehängt, aus dem echte Messer herausragten, und das hieß: Auch meinen Brüdern mussten solche Spielsachen gefallen. Als die beiden ihre Geschenke sahen, fingen sie an, sich um eine der Pistolen zu zanken, und plötzlich hörte ich etwas knacken. Mir wurde ganz flau im Magen.
»Du hast sie kaputt gemacht, du kleiner Scheißer!«, schrie Dad und stürzte sich auf Michael.
Als mein Vater nach ihm schlug, zog es meinem Bruder die Beine weg. Ich schnappte mir die kleine Laura und verkroch mich hinter dem Sofa. Dort versteckten wir uns immer, wenn Daddy wütend wurde. Zusammengekauert hörte ich, dass Michael anfing zu weinen. Wir mussten leise sein, damit wir nicht auch noch Ärger bekamen. Ich hörte ein weiteres Knacken und hielt Laura fest. Dad hatte die kaputte Pistole zerbrochen und schleuderte die beiden Hälften durch das Wohnzimmer.
»Gefällt sie dir jetzt, hä?«, brüllte er Michael an. »Das war's mit deiner Scheißpistole! Die andere kriegt dein Bruder.«
Ich wartete ab, bis es im Wohnzimmer endlich wieder ruhig war, und kroch hinter dem Sofa hervor. Dad saß vor dem Fernseher. Der Streit war vorbei. Vielleicht würde ich nun mein Geschenk bekommen. Als Mum mir dann ein kleines Päckchen gab, klopfte mein Herz wie wild.
Ich starrte es an. Es war nicht groß genug für ein Puppenhaus, und als ich das Papier aufriss, fand ich eine Brosche, die ich schon einmal im Schmuckkasten meiner Mutter gesehen hatte, es war ein cremefarbener Frauenkopf vor beigefarbenem Hintergrund. Ich konnte den Blick nicht von der Brosche wenden, und obwohl ich wusste, dass ich es nicht hätte tun sollen, fing ich an zu weinen. Ich hatte mir doch so sehr das Puppenhaus gewünscht. Ich konnte die Tränen einfach nicht zurückhalten, vor allem als ich daran denken musste, dass meine Barbiepuppe auf unserem schmuddeligen Teppich lag, anstatt in einem schönen Haus zu wohnen.
»Hör auf mit dem Geplärre!«, brüllte Dad und drehte sich zu mir um. »Man kriegt nicht immer das, was man sich wünscht.« Ich schaute ihn erschrocken an.
»Nimm gefälligst das, was man dir gibt«, schrie Dad, und sein Blick verfinsterte sich. »Und jetzt verschwinde hier!«
Mit der Brosche in meiner ausgestreckten Hand ging ich zur Tür. Hinter mir hörte ich Dad vor sich hin brummen, und als ich den Türknauf drehte, rief er nach mir.
»Alice?«, schnauzte er mich an, und sofort wandte ich mich zu ihm um. »Hast du immer noch nicht kapiert, dass es diesen dämlichen Weihnachtsmann nicht gibt, du dumme Kuh?«
Schon immer war mir bewusst, dass ich nicht so war wie andere Mädchen. Wenn man in der ärmlichen Gegend einer Großstadt im Norden Englands aufwächst, kapiert man schnell, dass es eine Menge Leute gibt, die sich nicht viel leisten können. Große Familien, zusammengepfercht in endlosen Häuserreihen, Kinder, die an Straßenecken vor den Geschäften herumlungern, allesamt Leute, die nur so gerade über die Runden kommen. In meiner Familie war das Geld zwar nicht knapper als bei vielen anderen, aber trotzdem waren wir anders. Und das lag an meinem Dad.
Viele der Männer in unserem Viertel arbeiteten auf dem Bau oder asphaltierten Straßen. Dad nicht. Als er meiner Mum begegnete, war er auch Arbeiter. Meine Mutter hatte damals einen Job in einer Fabrik. Dort verdiente sie nicht viel, doch immerhin war sie dadurch unabhängig. Aber nachdem sie meinen Vater kennengelernt hatte, war es damit bald vorbei. Mit einundzwanzig gab sie ihren Job auf, um zu heiraten. Sie verdiente fortan ein wenig Geld dazu, als Babysitter der Kinder seines Bruders. Und drei Monate später kam mein Bruder Michael auf die Welt.
Mein Dad oder der Idiot, wie ich ihn heute meistens nenne, sah wohl nicht ein, warum man überhaupt arbeiten sollte. Nachdem er einen Unfall gehabt hatte, gab er seine Stelle auf, und ich glaube, danach hat er nie wieder erwogen, arbeiten zu gehen und den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen. Jedenfalls habe ich nie beobachtet, dass er jemals in seinem Leben auch nur einen Finger krumm gemacht hätte. Eigentlich lag er den ganzen Tag lang im Bett vor dem Fernseher. In jeder Wohnung und in jedem Haus, wo wir wohnten, stand sein Bett im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Er war sogar zu faul, um sich in einen Sessel zu setzen, und sein Lieblingstag war der ‚Zahltag‘. Dann holte er sich die Sozialhilfe ab, der wir es verdankten, dass wir etwas zum Anziehen und etwas zu essen hatten. Er erhob sich nur selten, meistens um Gewichte zu heben, damit seine Muskeln noch kräftiger wurden. Oft saß er sogar dabei vor dem Fernseher, und wir alle sahen voller Ehrfurcht, wie stark er war.
Dad stammte aus einer rauen Familie - ein weitverzweigter Haufen von Verwandten, die sich aufführten wie Stammesbrüder. Aber das war nicht der eigentliche Grund dafür, weshalb Dad anders war. Außenstehenden mochte es vielleicht nicht auffallen, wir aber wussten: Er hatte etwas Düsteres an sich, das wie eine zweite Haut an uns allen klebte. Nachts träumten wir, er würde kommen und uns holen, und dann wachten wir auf unseren von Urin durchnässten Laken so verängstigt auf, dass wir kaum wagten zu atmen. Tagsüber waren wir die wildesten Kinder der ganzen Gegend. Dann versuchten wir, alles andere zu vergessen - kletterten auf Dächer, durchstreiften die Straßen und fingen Streit mit anderen Kindern an.
Dad hasste es, wenn wir die Aufmerksamkeit auf uns zogen, denn es bedeutete, dass Freunde, Verwandte oder Nachbarn uns neugierig beäugten. Wenn jemand an unsere Tür klopfte und unsere Schandtaten berichtete, behielt er uns deshalb endlose Tage lang im Haus, um uns klarzumachen, dass wir keinen Ärger mehr machen sollten. Die Prügel, die er uns verabreichte, waren eine Warnung: Wir sollten niemanden auf uns aufmerksam machen. Er schlug uns mit bloßen Händen, mit einem Spazierstock oder einem schweren Gewichthebergürtel. Ich bekam manchmal eine Tracht, aber das meiste kriegten meine Brüder ab, insbesondere Michael.
»Michael, Simon«, donnerte Dad, wenn er hörte, dass die beiden sich anschrien. »Hier rein!«
Dann rannten meine Brüder ins Wohnzimmer und standen ängstlich vor meinem Vater.
»Glaubt ihr etwa, ich höre euer dämliches Geschrei nicht?«, brüllte er sie an. »Na gut, wenn ihr euch unbedingt prügeln wollt, dann macht weiter!«
Ohne weitere Aufforderung wussten die beiden, was sie nun zu tun hatten. Sie fielen übereinander her, traten und boxten sich, und der Idiot sah grinsend zu. Michael war gegenüber Simon immer im Vorteil, weil er größer war, und mein jüngerer Bruder holte sich eine blutige Nase und ein blaues Auge. Simon gab niemals nach, aber irgendwann hörte Michael auf, ihn weiter zu bearbeiten, weil er wusste, dass er gewonnen hatte. Dann knöpfte der Idiot ihn sich vor, denn aus irgendeinem Grund galt Simon nie als der Schuldige. Das war immer Michael.
»Du bist ein verdammter Unruhestifter - immer prügelst du dich mit deinem Bruder«, brüllte der Idiot und verpasste Michael anschließend eine Ohrfeige oder versohlte ihm den Hintern.
Es ist schwer zu sagen, wie oft wir geschlagen wurden, aber ich glaube, es verging nicht eine einzige Woche, in der nicht einer von uns eine ‚Tracht‘ bekam, wie wir es nannten. Und seit ich alt genug war, kannte ich die Gefahr, die darin bestand, dass mein Vater eigentlich aus zwei Vätern bestand. Der eine hatte sanfte dunkelbraune Augen, und manchmal verzog sich sein Mund zu einem Grinsen, das mein Herz höher schlagen ließ. Das war der Mann, der die Leute auf der Straße anlächelte, und ich hoffte stets, ich könnte ihn dazu bringen, zu Hause ebenso freundlich zu sein. Manchmal konnte ich das auch. Dann lächelte er mich tatsächlich an, wenn ich etwa neben ihm ins Bett kroch, um mich vor der klirrenden Kälte zu schützen, die alles in unserem Haus klamm werden ließ. Ab und zu setzte er sich im Bett auf und ließ mich auf den Kissen hinter seinem Rücken hocken, mit meinen Beinen auf seinen Schultern, und ich tat so, als suchte ich in seinem Haar nach Läusen.
»Einen Penny für die großen, einen halben Penny für die kleinen«, sagte er dann feixend und lehnte sich zurück.
Die seltenen Gelegenheiten, bei denen ich ihn fröhlich stimmte, brachten mich dazu, es verzweifelt immer wieder zu versuchen. Aber je älter ich wurde, desto mehr wurde mir klar, dass es beinahe unmöglich war. Sobald sich die Tür zur Außenwelt geschlossen hatte, schien er zu einem anderen Menschen zu werden. Wenn ich für Dad in der Schule ein Bild gemalt hatte und es ihm gab, zerriss er es. Wenn ich ihm eine Tasse Tee brachte, warf er sie nach mir. Dann wurden seine Augen schwarz, sein Gesicht verzog sich, und sein Mund öffnete sich, um mich anzuschreien. Wir alle hatten Verbrennungen, weil wir uns immer wieder an heißem Tee und dem Essen verbrühten, das er uns ins Gesicht schleuderte.
Ich lebte in ständiger Angst davor, was er als Nächstes tun würde - immer bereit, die Flucht zu ergreifen. Es war, als lauerte eine zusammengerollte Schlange in meiner Magengrube, die plötzlich hervorschoss und zubiss. Am schlimmsten war es, dass man immer auf der Hut sein musste.
Nicht nur wir Kinder hatten Angst, sondern auch meine Mutter. Ich wusste, dass es nicht immer so gewesen war. Michael hatte mir erzählt, dass Mum, als wir klein waren, mit Dad ins Pub ging. Das hieß, es musste Zeiten gegeben haben, in denen sie Spaß miteinander hatten. Offenbar war sie noch kurz vor Lauras Geburt mit ihm im Pub gewesen und am darauffolgenden Abend auch, denn die Stammgäste hatten fünfundsiebzig Pfund für das neue Baby gesammelt und nicht schlecht über Mums Konstitution gestaunt.
Aber alles, woran ich mich erinnere, ist eine Frau, deren Gesicht von der gleichen Angst überschattet ist, die auch ich spürte. Mum wusste genauso gut wie ich, dass ihr eine Strafe blühte, wenn sie etwas falsch machte.
Mum hatte schöne, warm blickende Augen. Wenn Dad nicht hinschaute, nahm sie mich oft kurz in den Arm, und wenn ich hingefallen war, säuberte sie behutsam und geduldig die Wunden an meinen Knien. Wenn er abends ins Pub ging, um Darts zu spielen, legte sie ihre Elvis-Schallplatten auf, sang dazu und tanzte mit mir. Oder sie sang uns Kinderlieder vor. Wenn genug Geld da war, wärmte sie Wasser für ein Bad, und das war für uns Kinder stets ein großes Vergnügen. Anschließend trocknete sie uns ab, rubbelte unser Haar trocken und brachte uns ins Bett. Und dann gab es einen Gutenachtkuss. Wir alle mochten es, wenn sie uns in den Arm nahm und küsste, und wir wussten, dass Mum tat, was sie konnte, um uns Geborgenheit zu geben und uns vor unserem Vater zu schützen.
»Wenn ihr nicht leiser seid, wird Dad wieder wütend«, ermahnte sie uns, wenn sie abends in unser Zimmer kam und wir noch spielten. »Seid lieber ruhig.«
Und wenn sich der Idiot über den Geräuschpegel im Kinderzimmer beschwerte, hörten wir sie sagen, dass sie sich uns vorknöpfen würde. Anschließend kam sie zu uns und flüsterte: »Wir machen jetzt ein Spiel. Ich tue so, als würde ich euch Ohrfeigen geben, und ihr müsst schreien, auch wenn es gar nicht wehtut.«
Ich war der Meinung, dass Spiele einen zum Lachen bringen sollten, so wie das Versteckspiel mit meinen Brüdern und Laura. Aber ich tat, was Mum verlangte, und schrie, so laut ich konnte, denn ich wusste: Das kam uns allen zugute. Wenn ich bei diesem Spiel nicht mitmachte, würde Dad uns verdreschen und Mum bestrafen, und ich hasste es, wenn ihr wehgetan wurde. Ich habe nie gesehen, dass sie eine Tracht bekam, aber ich konnte es abends hören - das Geschrei und die dumpfen Schläge, als würde jemand gegen die Wand geschubst. Am nächsten Tag war Mum diejenige, die blaue Flecken oder eine aufgeplatzte Lippe hatte. Aber sie sprach nie darüber und weinte auch niemals, wenn wir dabei waren. Doch ich wusste, was mit ihr geschehen war. Das Schlimmste war, die Bilder vor Augen zu haben und zu wissen, dass man vielleicht als Nächster dran war, aber nie sicher zu sein, wann das sein würde.
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Übersetzung: Heike Holtsch
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Alice Lawrence, MEGAN LLOYD DAVIES
Alice Lawrence führte jahrelang das Leben einer Gefangenen. In den 1970er Jahren in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, wurde sie sechzehn Jahre lang von ihrem Vater missbraucht. Mit Hilfe ihres älteren Bruders gelang ihr die Flucht aus dem gewalttätigen Elternhaus. Sie heiratete, bekam zwei Kinder und brachte ihren Vater vor Gericht. Doch ihre Ehe scheiterte unter dem Druck der Gerichtsverhandlung. Inzwischen lebt Alice Lawrence in einer neuen glücklichen Beziehung und hat ein weiteres Kind.Megan Lloyd Davies arbeitete als Journalistin für den Daily Mirror. Inzwischen ist sie Redakteurin beim Grazia Magazine und Co-Autorin zahlreicher Bestseller.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Alice Lawrence , MEGAN LLOYD DAVIES
- 2012, 1, 304 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650840
- ISBN-13: 9783863650841
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