Ich war mein größter Feind
Autobiografie
Mit „Ich war mein größter Feind" legt die beliebte österreichische Schauspielerin und Tatort-Komissarin Adele Neuhauer ein sehr persönliches und berührendes Buch vor. Sie schreibt offen über ein Leben voller schwieriger...
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Produktinformationen zu „Ich war mein größter Feind “
Mit „Ich war mein größter Feind" legt die beliebte österreichische Schauspielerin und Tatort-Komissarin Adele Neuhauer ein sehr persönliches und berührendes Buch vor. Sie schreibt offen über ein Leben voller schwieriger Entscheidungen und mutiger Aufbrüche. Adele Neuhausers Biografie ist aber nicht nur schonungslos ehrlich sondern auch humorvoll und optimistisch. Es wird klar, dass die Wahlwienerin mit der markanten Stimme immer wieder zuversichtlich und neugierig in die Zukunft geblickt hat, und das auch weiterhin tut. Ein Buch über eine beeindruckende Frau, die die Stolpersteine des Lebens auf ihre ganz eigene Art gemeistert hat.
Klappentext zu „Ich war mein größter Feind “
Adele Neuhauser ist ein Kind zweier Welten. Als ihr griechischer Vater und ihre österreichische Mutter sich trennen, beschließt die erst 9-jährige Adele beim Vater zu leben - eine Entscheidung, die Gefühle von Schuld und Zerrissenheit auslöst. Sie wird sich und ihrer Umwelt sechs Selbstmordversuche antun. Aber sie übersteht diese schwere Zeit und geht weiter.
Lese-Probe zu „Ich war mein größter Feind “
Adele Neuhauser - Ich war mein größter FeindBIN ICH'S ODER BIN ICH'S NICHT?
Ich werde nie erfahren, ob eine große Balletttänzerin aus mir
geworden wäre. Mit neun Jahren hatte ich mit dem Ballett
begonnen - viel zu spät, wie einem jede durchschnittliche
französische oder russische Ballettmeisterin sofort versichern
wird: Mein Körper war nicht mehr ausreichend
formbar, außerdem entsprach mein ganzer Körperbau nicht
jener Feingliedrigkeit, die beim Ballett so überaus geschätzt
wird.
Aber wenn ich wirklich mit Fred Astaire tanzen wollte,
dann musste ich doch endlich einmal damit anfangen, das
Tanzen überhaupt zu lernen. Außerdem habe ich mein
ganzes Leben lang ungern aufgegeben, das traf wohl auch
schon auf mein neunjähriges, balletthungriges Ich zu. Also
verordnete ich mir selbst strenge Disziplin und schaffte
drei Jahre später die Aufnahme als Elevin an der Wiener
Volksoper - ein erster, wichtiger Schritt in eine große tänzerische
Zukunft.
Kurz darauf verletzte ich mich beim Training an der
Achillesferse: Meine Tanzkarriere war gelaufen, noch bevor
sie überhaupt begonnen hatte.
Wenn ich also aufgrund dieses Malheurs auch niemals
herausfinden werde, ob eine Primaballerina aus mir
geworden wäre (ich vermute: nein), so weiß ich doch heute
immerhin eines: Hätte ich Karriere als Tänzerin gemacht,
sie wäre schon seit mindestens zwei Jahrzehnten wieder aus
und vorbei.
Auch aktive Kugelstoßerinnen und Speerwerferinnen
gibt es in meinem jetzigen Alter zumindest nicht auf olympischem
Niveau. Mein Ballettmeister von der Balletschule,
an der ich mich auf die Zeit an der Volksoper vorbereitete,
hatte mich immer damit gequält und schikaniert: „Du bist
eine Athletin, du solltest Kugelstoßen anstatt zu tanzen."
Nach meiner Achillessehnenverletzung, die mich zwar
... mehr
beim
Ballett behinderte, nicht aber beim Sport, nahm ich ihn
beim Wort und schleuderte fortan meine gesamte Schulzeit
lang schwere Eisenkugeln und lange Wurfspeere von mir.
Irgendwie fühlte ich mich auf diese Weise mit Griechenland
verbunden. Herrlich war das - auch wenn ich eine Leichtathletik-
Profikarriere zum Glück nie ernsthaft in Betracht
gezogen habe.
Und es gab da noch das Wasserballett: Dort war man
zwar mehr unter Wasser als oberhalb, aber ich wollte mich
auch in dieser Sportart versuchen. Josephine Baker war mein
unerreichtes Vorbild. Ich war ein Kind mit vielen Talenten
und noch viel mehr Träumen.
Trotz dieser Talente und trotz meines Ehrgeizes rasselte
ich allerdings bei der Aufnahmeprüfung für's Gymnasium
durch, was meinem intellektuellen Vater, einem akademischen
Architekten, schweres Kopfzerbrechen bereitete. Er
dachte sich, seine Tochter könne so blöd doch gar nicht sein
und ließ mich sogar einen Intelligenztest machen, bei dem
mir damals auch prompt überdurchschnittliche Intelligenz
konstatiert wurde. Dass mein „Versagen" mit dem seelischen
Stress zusammenhing, den die Trennung meiner Eltern
bei mir verursacht hatte, daran konnte oder wollte er wohl
einfach nicht denken.
So besuchte ich nach meiner Volksschulzeit notgedrungen
erst einmal die Hauptschule am Hebbelplatz im zehnten
Wiener Gemeindebezirk. Dort hatten wir einen Religionslehrer,
der mein Gesangstalent entdeckte und mit mir das
„Ave Maria" von Schubert einstudierte, das ich anlässlich
eines Besuchs meiner Schule beim legendären Wiener
Kardinal König zum Besten geben durfte. Nachmittags,
wenn die Schule keinen Betrieb hatte, übten wir gemeinsam:
Er öffnete alle Türen, rannte die Gänge hinauf und hinunter,
um festzustellen, wo ich noch zu hören war und ob meine
Stimme auch wirklich trägt. Schließlich kam der große Tag.
Ich sang mein „Ave Maria" vor dem Altar der Jungfrau Maria
im Stephansdom, und nach meinem Vortrag trat Kardinal
König dicht an mich heran und fragte, was ich denn später
einmal werden wolle.
„Schauspielerin", antwortete ich spontan.
„Ja", sagte er bestimmt und fügte schmunzelnd hinzu,
„das passt!"
Es sollte noch ein weiter Weg werden, aber immerhin
hatte ich damit quasi schon den kirchlichen Segen eingeholt.
Zunächst führte mich mein weiterer Bildungsweg allerdings
an eine sogenannte „Höhere Lehranstalt für Wirtschaftliche
Frauenberufe", im österreichischen Volksmund auch als
„Knödelakademie" bezeichnet, eine Klosterschule im dritten
Bezirk. „Mädchen, die diese Schule besucht haben, wurden
immer sehr gerne geheiratet", eröffnete uns die Direktorin
bei einer Ansprache zur Feier unserer Aufnahme an der
Schule, und ich wähnte mich in einem ganz falschen Film.
Weil ich leidenschaftlich gerne Gedichte vortrug und in
Schulaufführungen voller Inbrunst spielte, drängten meine
Schulkolleginnen mich eines Tages, ich solle mich doch auf
eine Ausschreibung des Theaters an der Wien bewerben.
Es wurde ein junges talentiertes Mädchen für die Rolle der
„Gigi" im gleichnamigen Musical gesucht.
Sie mussten mich eigentlich nicht lange überreden,
doch ich hatte ein Problem: Das Theater an der Wien verlangte
für die Bewerbung die Einsendung eines Fotos. Das
einzig aktuelle Foto von mir, das ich auftreiben konnte,
war im Sommerurlaub entstanden und dokumentierte den
Besuch eines orthodoxen Klosters in Griechenland - ich
trug darauf ein Kopftuch und war auch nicht alleine auf dem
Foto abgebildet. Deshalb schnipselte ich mich aus dem Bild
heraus, bis es auf Passfotogröße schrumpfte, und schickte es
ein. Eingeladen wurde ich, aber genommen haben sie mich
dann trotzdem nicht.
Ablehnung gehört in der Schauspielerei nun einmal
dazu und ist, im Gegensatz zu einer verletzten Achillessehne,
kein Gottesurteil, das war mir schon damals klar. Und
irgendwie hatte ich auch das sichere Gefühl, die Leute vom
Theater an der Wien hatten mich gar nicht so übel gefunden.
Da verspürte ich kaum Ablehnung.
Aus diesem Grund sagte ich ein paar Monate später zu
meinem Vater kurz, bündig und selbstbewusst: „Papa, ich
will auf eine Schauspielschule!" Er antwortete mit der klassischen
Elternreplik, aus Literatur und Film ebenso tausendfach
bekannt wie aus dem echten Leben: „Lern doch zuerst
etwas Anständiges, Bodenständiges, das dir Sicherheit verschafft.
Schauspielerin kannst du dann immer noch werden."
Er betrachtete mein Vorhaben zu diesem Zeitpunkt sicher
als Kinderei, ich war ja auch wirklich noch ein halbes Kind,
mit gerade einmal zwölfeinhalb Jahren. Aber egal: Ich wollte
Schauspielerin werden, und das möglichst rasch.
Drei Jahre drückte ich noch die Schulbank, ohne meinen
Berufswunsch dabei aus den Augen zu verlieren. Dann zog
ich mit sechzehn Jahren von zu Hause aus und gemeinsam
mit meinem damaligen Freund Dieter in eine kleine Altbauwohnung.
Für die Schulabmeldung fälschte ich kurzerhand
die Unterschrift meines Vaters und bewarb mich ohne sein
Wissen beim berühmten Max-Reinhardt-Seminar. Zum
damaligen Zeitpunkt, Mitte der Siebzigerjahre, unterrichteten
dort unter anderem Sammy Molcho und Erni Mangold.
Große Namen, vor denen ich aber keinen übertriebenen
Respekt hatte. Auch das vielleicht eine kleine Geste des
Aufbegehrens gegen meinen Vater, der immer andächtig
von „dem" und „der" sprach, womit er seine Ehrfurcht vor
prominenten und angesehenen Menschen zum Ausdruck
brachte, mit denen man sich nach Möglichkeit gut stellen
sollte. Ich fand damals, und finde es heute noch, dass er
das nicht nötig gehabt hätte: Mein Vater war ein großartiger
Mann, der sich auf seinen Beruf verstand und sein Licht
nicht unter den Scheffel hätte stellen müssen, auch wenn er
keinen berühmten Namen hatte.
Protektion war mir immer schon ein Gräuel. Mich interessierten
die großen Namen und das damit so oft verbundene
Speichellecken derer, die sie im Munde führten, schon
als Teenager nicht. Diese Einstellung verträgt sich übrigens
auch wunderbar mit meinem überaus schlechten Namensgedächtnis,
das bis heute immer wieder dazu beiträgt, dass
ich ganz einfach nicht weiß, was für ein Großer da gerade
neben mir steht - weshalb ich mich den vermeintlichen oder
tatsächlichen Titanen gegenüber weniger verklemmt und
beeindruckt zeige als vielleicht manch andere. Bei der Aufnahmeprüfung
am Reinhardt-Seminar war ich mit meinem
Zug zur naiven Normalität allerdings ein Fremdkörper. Über
hundert junge Schauspielanwärter hatten sich beworben,
darunter zahllose sichtbar schräge Vögel und extrovertierte
Gestalten, die zugleich von einer zur Schau gestellten Lässigkeit
und Coolness getragen waren, am ehesten den heutigen
Berlin-Hipstern vergleichbar.
Ich hatte sofort das Gefühl, dass sie viel besser hierher
ins kleine Schlosstheater passten als ich, weil ich diesen
„Wow - interessante Person!"-Faktor für mein Gefühl nicht
mitbrachte.
Die erste Runde der Prüfung begann für mich auch gleich
mit einem peinlichen Moment: Mir war bei der Anmeldung
absolute Anonymität zugesichert worden. Als sich aber die
Tore zum Schlosstheater für mich öffneten, wurde ich von
einer Stimme für alle laut und deutlich hörbar angekündigt:
„Adele Neuhauser, 16 Jahre alt, Höhere Lehranstalt für
wirtschaftliche Frauenberufe." Ich fühlte mich vorgeführt,
nicht ernst genommen - und angelogen hatten sie mich im
Hinblick auf die zugesicherte Anonymität auch noch. Meine
Knie wurden so weich, ich befürchtete, den Weg hinauf zur
Bühne nicht mehr zu schaffen.
Von Erni Mangold bekam ich die Aufgabe gestellt,
etwas im Raum zu suchen, mein Text sollte dabei das
Vaterunser sein. Da die Höhere Lehranstalt eine Klosterschule
war, konnte ich immerhin mit Textsicherheit glänzen,
und überhaupt fand ich die Aufgabe nicht besonders schwer.
Aber gerade als ich dadurch wieder etwas mehr Zuversicht
gewonnen hatte und Erni Mangold uns entließ, raunte sie
mir zur Verabschiedung einen kryptischen Satz zu: „Auch
wenn Ihre Tante oder Ihre Oma sagt, Sie sollen Schauspielerin
werden ..."
Den ersten Durchgang hatte ich dennoch bestanden.
Aber der unvollständige Satz ging mir nicht aus dem Kopf.
Leider war meine Kraft am nächsten Tag recht gering, ich
war nämlich vor lauter Stress krank geworden. Ausgerechnet
in dieser zweiten Runde sollte ich etwas vorsingen, war
heiser, schmiss dann auch noch die Nerven und wurde folgerichtig: abgelehnt.
Für mich brach eine Welt zusammen. Ich war sechzehn Jahre
alt, hatte mich ohne Wissen meiner Eltern von der Schule
abgemeldet und verfügte über keinen Plan B. Natürlich hätte
ich die Flinte ins Korn werfen können. Aber um was zu tun?
Meine Verzweiflung dauerte nicht lange an. Ich war einmal
umgefallen, jetzt hieß es ganz einfach, wieder aufzustehen
und den einmal gewählten Weg weiterzugehen. Ich war und
bin ein hartnäckiger Mensch. Ich bringe Sachen gerne zu
Ende, und zwar am liebsten gleich, weil ich weiß, dass mir
einen Tag später vielleicht schon die Energie fehlt, die ich
brauche, um die Dinge ins Rollen zu bringen. Schon als
junges Mädchen hatte ich etwas gelernt, was meine ganze
Schauspielkarriere hindurch Gültigkeit behalten sollte:
Wenn ich müde und erschöpft bin, wenn ich fast schon zu
weinen beginne, weil alles gegen mich zu sein scheint und
kein Ende in Sicht ist - ausgerechnet dann liefere ich meine
besten Leistungen ab, habe meine sprühendsten Momente
und bin inspiriert. Vielleicht hatte der sadistische Ballettmeister
seinen Anteil an diesem Automatismus, wer weiß: Er
liebte es, uns Schülerinnen in die angespannten und schon
schmerzenden Muskeln zu zwicken oder sich auf unser
Becken zu knien, wenn wir noch nicht tief genug im Spagat
waren. Ich wollte also nach wie vor Schauspielerin werden,
und das auch immer noch sofort. Auf die Idee, mich in
Berlin oder München zur Aufnahmeprüfung anzumelden,
kam ich damals nicht. Darum bewarb ich mich kurzerhand
an der Schauspielschule Krauss in Wien, wo ich prompt aufgenommen
wurde. Nebenbei arbeitete ich bei einer Schauspielagentur,
um mir ein Minimum an Lebensunterhalt zu
verdienen. Nachdem der erste Ärger über meine Schulabmeldung
bei meinem Vater verflogen war, bekam ich auch
ein wenig finanzielle Unterstützung von ihm. Eigentlich war
er wirklich ziemlich sauer über meinen Alleingang, aber ich
hatte ein ganz gutes Argument: Meine Mutter war auch erst
sechzehn Jahre alt gewesen, als sie meinen Vater geheiratet
hatte. Die Ehe hatte nicht gehalten, aber das war in diesem
Fall wohl kaum der Punkt. Wenn eine Sechzehnjährige alt
genug zum Heiraten war, wieso sollte dann eine andere
Sechzehnjährige nicht alt genug sein, ihren eigenen beruflichen
Weg zu gehen?
Diese Logik schmeckte meinem Vater gar nicht, aber
auf die Dauer blieb ihm nicht viel anderes übrig, als mir
meinen festen Willen zu lassen. Immerhin war ich an der
Schauspielschule Krauss aufgenommen worden, aus einer
Träumerei hatte sich somit bereits ein Stück weit ein konkreter,
umsetzbarer Plan entwickelt. Und mein Vater fand einen
raffinierten Weg, einigermaßen die Kontrolle über mich
zu behalten. Mein Freund Dieter und ich hatten, bevor ich
mich an der Schauspielschule beworben hatte, gemeinsam
bei meinem Vater gewohnt. Nun, da wir ausgezogen waren,
lud er mich und Dieter so oft in seine Wohnung ein, dass
wir irgendwann quasi wieder bei meinem Vater wohnten.
Da wir wenig Geld hatten, waren wir nicht schwer von den
Vorzügen zu überzeugen, uns bei ihm verköstigen zu lassen.
So wusste er immer darüber Bescheid, was in meinem Leben
vorging, und mit der Zeit entwickelte er auch wieder großes
Vertrauen in mich.
An eine Schauspielschule gekommen zu sein, machte mich
aber noch nicht zur Schauspielerin. Vom Unterricht war ich
ein wenig enttäuscht, vom Engagement mancher Mitschüler
ebenso. Ich hatte mir das alles ein bisschen energetischer und
ernsthafter vorgestellt, als es sich dort darstellte. Gemeinsame
Rollenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen gab es
zwar, aber sie lief irgendwie recht technisch und für mein
Gefühl mit zu wenig Begeisterung für meinen Traumberuf
ab. Zusätzlich verunsicherte mich meine Rhetorik-Lehrerin
bald mit der Frage: „Was sind Sie denn jetzt, ein Manderl
oder ein Weiberl?"
Eine eigenartige Frage, fand ich. Aber es stimmte schon
irgendwie: Wenn ich zum Unterricht kam, war ich nachlässig
gekleidet, und in der Schule hatte mein Spitzname „Wurzelsepp"
gelautet. Das klingt nicht besonders feminin und war
auch sicher nicht so gemeint. Insofern hatte die Rhetorik-
Lehrerin mit ihrer vielleicht nur rhetorisch gemeinten Frage
zielgenau einen wunden Punkt bei mir getroffen. Ich war
mir selber nicht sicher, ob ich Männchen oder Weibchen war
- weniger in sexueller Hinsicht, als im Hinblick auf meine
Energie, mein Lebensgefühl, meine Ausstrahlung, meine
Wirkung nach außen.
Die Tatsache, dass mich meine Mutter bereits als Zwölfjährige
zum Frauenarzt geschleppt und mir eigenmächtig
die Einnahme der Antibabypille verordnet hatte, mochte
zu meinen diesbezüglichen Problemen einiges beigetragen
haben. Wir schrieben das Jahr 1971, die damals zugelassenen
Präparate hatten selbstverständlich noch ganz andere hormonale
Wirkstoffe als heutzutage. Nicht gerade optimal für
eine Zwölfjährige, die einen noch nicht ausgereiften Körper
hatte und in ihrer Entwicklung durch die Hormoneinnahme
vollkommen durcheinander geriet.
Zu meiner hormonellen Verwirrung hatten sich im
Laufe meines Heranwachsens noch weitere Irritationen
gesellt. Ich lebte zwar im Prinzip glücklich mit meinem Vater
zusammen und wir hatten auch sehr viel Spaß miteinander,
reisten gemeinsam nach Florenz und Venedig und machten
uns zeitweise ein ziemlich schönes Leben. Gleichzeitig fühlte
ich mich, durch die Abwesenheit einer (anderen) Frau im
Leben meines Vaters, fast wie in einer platonischen Ehe mit
ihm. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, erwartete
ich seine Rückkehr aus dem Büro. Er beschenkte mich mit
schönen Kleidern oder einem Burberry-Mantel. Ich freute
mich zwar, aber so gekleidet entsprach ich nicht gerade
dem durchschnittlichen Bild einer Hauptschülerin aus dem
zehnten Bezirk und fühlte mich ziemlich unwohl darin. In
meiner Klosterschule wurden von allen Schülerinnen blaue
Arbeitsmäntel getragen, um die sozialen Unterschiede nicht
in der Wahl der Kleidung sichtbar werden zu lassen.
Wenn ich nun außerhalb der Schule die Geschenke meines Vaters
anzog, kam ich mir in unserer Gegend abgehoben und in
unpassender Weise damenhaft vor. Ich passte einfach nicht
dazu. Meine Mutter wiederum konfrontierte mich mit ihren
Liebesproblemen und Männerbekanntschaften bereits
in einem Alter, in dem ich lieber noch überhaupt nichts
darüber gewusst hätte. War ich bei ihr zu Besuch, behandelte
sie mich mitunter mehr wie eine Schwester oder gute
Freundin, und nicht als ihre noch ziemlich kindliche und
schüchterne Tochter, die ich damals noch war. Ich hatte bei
meinen Eltern jahrelang das Gefühl, in ihrer Gegenwart
nicht Kind im eigentlichen Sinn sein zu können - das war
manchmal schön und schmeichelhaft, insgesamt aber entfremdete
es mich vielleicht auch von mir und überforderte
mich.Das war unter anderem immer schon einer der Gründe
gewesen, warum ich mich zur Schauspielerei hingezogen
gefühlt hatte. Wenn ich als Kind vor dem Spiegel stand
und mir verschiedene Rollen ausdachte, bei deren Darstellung
ich mit meinem Spiegelbild spielte, machte mir das
nicht nur riesigen Spaß. Ich entfernte mich damit gleichzeitig
in spürbar heilsamer Art und Weise von den Belastungen
meines eigentlichen Ichs, öffnete mir die Welt in ihren
Formen, Farben und Gestalten und befreite mich für eine
Weile von jenen Gefühlen des Selbstzweifels und manchmal
auch Selbsthasses, die mich sonst oft überfielen. Vor dem
Spiegel bekam ich außerdem den ersten Applaus meines
Lebens: Ich hatte ein Cocktailkleid meiner Mutter angezogen,
das bei mir bodenlang fiel, und tanzte zur Musik von
Edmundo Ros' Bigband - eine der Lieblingsplatten meines
Vaters. Auf dem Flachdach gegenüber machten ein paar
Bauarbeiter oder Dachdecker gerade Mittagspause, beobachteten
meine Darbietung durch das geöffnete Balkonfenster
und applaudierten am Ende meines Auftritts: Was für ein
wunderbares Gefühl!
Letztlich tauchte aber in mir immer wieder das Schuldgefühl
auf, meine Mutter verraten zu haben, indem ich
mich nach der Trennung meiner Eltern mit neun Jahren
entschieden hatte, bei meinem Vater zu leben. Ein unsinniger
Gedanke, denn ich hatte mich keineswegs gegen meine
Mutter, sondern einfach für meinen Vater entschieden.
Trotzdem plagte mich lange, sehr lange Zeit diese vermeintliche
Schuld. Denn die Damen von der Fürsorge, die uns zur
Zeit der Trennung meiner Eltern mehrere Besuche abstatteten,
fragten mich immer wieder, ob es denn wirklich mein
Wunsch war, bei meinem Vater zu bleiben, ob ich nicht doch
lieber mit meinen beiden Brüdern zu meiner Mutter wollte.
Erst viele Jahre später gestand mir meine Mutter, dass sie
uns drei Kinder gar nicht zusammen zu sich nehmen hätte
können - es wäre sich weder finanziell noch organisatorisch
ausgegangen. Damals aber schien es mir meine freie Entscheidung
zu sein, und diese vermeintliche Freiheit der Wahl
sollte mich noch lange schwer plagen.
In Rollen zu schlüpfen half mir dagegen insofern,
als ich schon als Kleinkind bemerkt hatte, wie gut die
Menschen in meinem Umfeld mit mir umgingen, wenn ich
sie zum Lachen bringen konnte. Das Lachen ist nahe an der
Liebe, das begriff ich bald. So speiste sich meine Begeisterung
für die Schauspielerei aus zwei unterschiedlichen
Quellen, dem Wunsch nach Distanz zu mir selbst, und der
Hoffnung, die Menschen zu begeistern und auf diese Weise
positive Gefühle in ihnen zu wecken. Beides ist mir bis
heute erhalten geblieben, und von beidem gab es für mein
Gefühl an der Schauspielschule zu wenige Möglichkeiten,
es auszuprobieren. Wenn ich endlich herausfinden wollte,
wer und was ich eigentlich war, ob mein künstlerisches Tun
gut und wertvoll für mich selbst und die Welt sein konnte,
musste ich nicht nur üben, sondern auch spielen, und zwar
vor echtem Publikum.
Nach meinem ersten Ausbildungsjahr ging ich noch nicht
ganz achtzehnjährig auf meine erste Schauspieltournee, die
mir ausgerechnet meine Rhetorik-Lehrerin vermittelt hatte.
Wahrscheinlich hoffte auch sie, dass ich mich in der Praxis
besser kennenlernen würde. Die Tournee dauerte ein halbes
Jahr, unser Hauptstandort war die „Neue Werkbühne" in
München, an den wir zwischen den verschiedenen Vorführungsblöcken
immer wieder zurückkehrten.
Dieses „Wir" war kein Ensemble im herkömmlichen
Sinn. Es handelte sich um ein schauspielerndes Ehepaar
mittleren Alters, das sich gemeinsam mit mir und ihrer alten
Mutter beziehungsweise Schwiegermutter in einem VW
Variant auf den Weg durch die deutsche Provinz machte. Ich
musste auf den langen Fahrten hinten neben der alten Frau
sitzen, deren Aufgabe bei den Aufführungen lediglich darin
bestand, hinter der Bühne einen Kassettenrekorder ein- und
auszuschalten.
Zu viert, oder eigentlich zu dritt, wenn man die Mutter
nicht als vollwertige Schauspielerin mitrechnen möchte,
spielten wir ausschließlich in Schulen Brechts „Kaukasischen
Kreidekreis". Aus Eitelkeit oder Idiotie war entschieden
worden, die beiden Frauenrollen absichtlich falsch zu
besetzen, sodass mir die Rolle der bösen Gouverneurin
zufiel, während meine etwa 47-jährige Chefin in der Rolle
des jungen Mädchens namens Grusche aufblühen durfte.
Daneben war ich angehalten, mich um Auf- und Abbau des
Bühnenbilds zu kümmern und die Schüler darauf vorzubereiten,
wie sie die Kollektivrolle des Volks zu übernehmen
hatten. Dabei war es mir strengstens untersagt, persönlichen
Kontakt mit den Schülern aufzunehmen, die doch meistens
ungefähr im selben Alter wie ich waren.
Nach ein paar Monaten kam die Routine und ich begann,
in den Pensionen, in denen wir zur Übernachtung einquartiert
waren, alleine größere Mengen Rotwein zu trinken. In
einer dieser Pensionen hatte ich mutterseelenallein meinen
achtzehnten Geburtstag begangen, auf den niemand mit
mir anstieß. Ich hatte Theater spielen wollen, aber dieser
schlechte Witz von einer Schauspieltournee hatte mit allem,
was ich mir davon erhofft hatte, nicht das Geringste zu tun.
Ich war bald dermaßen verzweifelt, dass ich mir Möglichkeiten
ausdachte, aus dem Vertrag auszusteigen, der mich ein
halbes Jahr lang an diese Höllentournee band.
Einfach abzuhauen kam für mich selbstverständlich
nicht in Frage. Weniger wegen zu befürchtender Konsequenzen
im Hinblick auf meine Ausbildung, die ich für meine
Freiheit durchaus in Kauf genommen hätte. Es erschien
mir einfach nicht richtig, mich sozusagen grundlos aus der
Verantwortung zu stehlen, es passte nicht zu dem Bild, das
ich von mir selbst als Kämpferin und konsequenter junger
Frau hatte, die die Dinge, die sie begonnen hat, auch zu Ende
bringt.
Als ich wieder einmal allein in meinem Zimmer saß,
schon ein paar Gläser Rotwein intus hatte und mir ziemlich
düster zu Mute war, fragte ich mich, was denn eigentlich passieren
würde, wenn ich plötzlich erkrankte.
Nein, dachte ich, das genügt nicht. Krank kann man
auch Theater spielen, sogar mit hohem Fieber geht das, dann
beißt man halt die Zähne zusammen.
Also überlegte ich weiter: Was wäre, wenn ich mich verletzen
würde, mir - nur als beliebiges Beispiel - den Arm
bräche? Das wäre natürlich eine andere Geschichte. Ein
gebrochener Arm würde mir nicht nur das Spielen erschweren,
sondern mir vor allem den Auf- und Abbau des Bühnenbildes
unmöglich machen. Ja, mit gebrochenem Arm,
so schloss ich, wäre es keine Schande, die Tournee vorzeitig
abzubrechen. Niemand könnte etwas dafür, ein dummer
Zufall, höhere Gewalt eben, wie sie immer wieder einmal
passiert.
Ich ging zum Waschbecken und schlug meinen rechten
Unterarm mehrfach heftig gegen die Keramikkante. Es
tat wahnsinnig weh. Als der Schmerz ein wenig nachließ
und ich meinen Arm begutachtete, war nicht mehr als ein
harmlos aussehender Kratzer zu erkennen. Es folgte darauf
zwar am nächsten Tag ein beachtliches Hämatom, aber für
einen Abbruch der Tournee hatte ich mich damit leider
nicht qualifiziert. Woraus ich immerhin lernte, dass ich über
starke Knochen verfügte, nicht aber über einen ausreichend
starken Willen, um mir vorsätzlich den Arm zu brechen, was
auch wirklich eine Schnapsidee war. Ich musste also bis zum
Ende des Vertrages durchhalten.
Mein einziges Highlight in dieser ganzen Zeit waren die
Münchner Jazzkeller. Es war damals, in den Siebzigern,
so, dass es in München in puncto Jazzlokale einiges zu
entdecken gab. Wenn ich also gerade nicht durch die Provinz
tingelte, durfte ich mich ein wenig wie Billie Holiday fühlen
und in verrauchten Clubs avantgardistischen Saxophon-Soli
lauschen. Damals erwachte eine Liebe zum Jazz in mir, die
von meinem Sohn Julian, der heute ein großartiger Musiker
ist, Jahrzehnte später in gewisser Weise weitergetragen
werden sollte.
In einem dieser Münchner Jazz-Clubs lernte ich auch
eine faszinierende Frau kennen, mit der mich für die Dauer
meines Aufenthalts eine intensive Beziehung verband. Da
war plötzliche eine Wärme, die ich dringend brauchte, es
war irgendwie berauschend mütterlich. Sie war wesentlich
älter als ich, und eigentlich hätte ich bis zu diesem Zeitpunkt
nicht gedacht, dass ich mich von einer Frau angezogen
fühlen könnte. In dieser Hinsicht war es, trotz der furchtbaren
Tournee, doch noch eine inspirierende und neue Erlebniswelten
erschließende Zeit, wenn auch auf einem ganz
anderen Gebiet, als ich erwartet hatte.
Zur selben Zeit lebte ich in einer festen Beziehung
mit einem Mann, den ich während meiner Schauspielausbildung
kennengelernt hatte und der in Wien inzwischen
schon sehnsüchtig auf mich wartete - so war ich fest überzeugt.
Als die Tournee endlich beendet war und ich in Wien
vor Wiedersehensfreude strahlend in unsere gemeinsame
Wohnung eintrat, lag er gerade mit einer anderen Frau im
Bett.
„Entschuldige, ich hole nur schnell meine Sachen, ich
bin sofort weg", sagte ich, um mein Gesicht zu wahren und
uns allen eine unnötige Szene zu ersparen. Zeit, die Koffer
zu packen. Und dann stand ich auf der Straße und hatte
keine Ahnung, wo ich jetzt eigentlich hingehen sollte.
Obwohl mich mein Vater bestimmt sofort aufgenommen
hätte, wollte ich nicht zu ihm zurückgehen, es
hätte sich zu sehr als Demütigung angefühlt. Stattdessen
rief ich meine Mutter an und kam vorübergehend bei ihr
unter. Bald meldete sich mein frischgebackener Ex-Freund
bei mir: Allerdings nicht, um mich zurückzugewinnen,
was ihm nach dieser „Begrüßung" ohnehin nicht mehr
gelungen wäre. Da er vielleicht ein wenig von schlechtem
Gewissen geplagt oder aber eben doch einfach ein lieber
Kerl war, vermittelte er mir meine erste wirklich eigene
Wohnung, die ich von dem auf der Tournee verdienten
Geld und dem Nebenjob bei der Schauspielagentur gerade
einmal so finanzieren konnte.
Ich kehrte wieder in die vertraute Fadesse der Schauspielschule
Krauss zurück und wusste, so konnte es für
mich nicht mehr lange weitergehen. Das einzige, was mir
wirklich Freude machte und mich interessierte, war der
Fecht-Unterricht. Da die meisten meiner Kommilitonen
gerade diesen Unterricht schwänzten, war ich mit dem
Fechtlehrer oft alleine und wir studierten die wildesten
Gefechte über Tische und Sessel ein, wie man sie aus den
alten Mantel-und-Degen-Filmen der goldenen Cinemascope-
Zeit kennt.
Bald darauf meldete ich den Wunsch an, zur sogenannten
Zweiten Kontrollprüfung anzutreten, dem überraschenderweise
stattgegeben wurde. Ich bestand die Prüfung
und bekam auch gleich den Studienabschluss mit Auszeichnung
dazu. Nun war ich ganz offiziell ausgebildete Schauspielerin.
Erst als ich, mein Diplom in der Hand, die Tür
der Schauspielschule Krauss hinter mir schloss, wurde mir
so richtig klar, was das bedeutete: Fast gar nichts, nämlich.
Ich verfügte über keinerlei Kontakte in der Branche und
hatte auch keine Ahnung, wie ich mir welche schaffen
sollte.
Ich hatte das Zeug, Schauspielerin zu sein, das spürte
ich, es wirklich zu werden, musste ich mir aber erst noch
beweisen - und natürlich meinem Publikum.
©BRANDSTÄTTER
Ballett behinderte, nicht aber beim Sport, nahm ich ihn
beim Wort und schleuderte fortan meine gesamte Schulzeit
lang schwere Eisenkugeln und lange Wurfspeere von mir.
Irgendwie fühlte ich mich auf diese Weise mit Griechenland
verbunden. Herrlich war das - auch wenn ich eine Leichtathletik-
Profikarriere zum Glück nie ernsthaft in Betracht
gezogen habe.
Und es gab da noch das Wasserballett: Dort war man
zwar mehr unter Wasser als oberhalb, aber ich wollte mich
auch in dieser Sportart versuchen. Josephine Baker war mein
unerreichtes Vorbild. Ich war ein Kind mit vielen Talenten
und noch viel mehr Träumen.
Trotz dieser Talente und trotz meines Ehrgeizes rasselte
ich allerdings bei der Aufnahmeprüfung für's Gymnasium
durch, was meinem intellektuellen Vater, einem akademischen
Architekten, schweres Kopfzerbrechen bereitete. Er
dachte sich, seine Tochter könne so blöd doch gar nicht sein
und ließ mich sogar einen Intelligenztest machen, bei dem
mir damals auch prompt überdurchschnittliche Intelligenz
konstatiert wurde. Dass mein „Versagen" mit dem seelischen
Stress zusammenhing, den die Trennung meiner Eltern
bei mir verursacht hatte, daran konnte oder wollte er wohl
einfach nicht denken.
So besuchte ich nach meiner Volksschulzeit notgedrungen
erst einmal die Hauptschule am Hebbelplatz im zehnten
Wiener Gemeindebezirk. Dort hatten wir einen Religionslehrer,
der mein Gesangstalent entdeckte und mit mir das
„Ave Maria" von Schubert einstudierte, das ich anlässlich
eines Besuchs meiner Schule beim legendären Wiener
Kardinal König zum Besten geben durfte. Nachmittags,
wenn die Schule keinen Betrieb hatte, übten wir gemeinsam:
Er öffnete alle Türen, rannte die Gänge hinauf und hinunter,
um festzustellen, wo ich noch zu hören war und ob meine
Stimme auch wirklich trägt. Schließlich kam der große Tag.
Ich sang mein „Ave Maria" vor dem Altar der Jungfrau Maria
im Stephansdom, und nach meinem Vortrag trat Kardinal
König dicht an mich heran und fragte, was ich denn später
einmal werden wolle.
„Schauspielerin", antwortete ich spontan.
„Ja", sagte er bestimmt und fügte schmunzelnd hinzu,
„das passt!"
Es sollte noch ein weiter Weg werden, aber immerhin
hatte ich damit quasi schon den kirchlichen Segen eingeholt.
Zunächst führte mich mein weiterer Bildungsweg allerdings
an eine sogenannte „Höhere Lehranstalt für Wirtschaftliche
Frauenberufe", im österreichischen Volksmund auch als
„Knödelakademie" bezeichnet, eine Klosterschule im dritten
Bezirk. „Mädchen, die diese Schule besucht haben, wurden
immer sehr gerne geheiratet", eröffnete uns die Direktorin
bei einer Ansprache zur Feier unserer Aufnahme an der
Schule, und ich wähnte mich in einem ganz falschen Film.
Weil ich leidenschaftlich gerne Gedichte vortrug und in
Schulaufführungen voller Inbrunst spielte, drängten meine
Schulkolleginnen mich eines Tages, ich solle mich doch auf
eine Ausschreibung des Theaters an der Wien bewerben.
Es wurde ein junges talentiertes Mädchen für die Rolle der
„Gigi" im gleichnamigen Musical gesucht.
Sie mussten mich eigentlich nicht lange überreden,
doch ich hatte ein Problem: Das Theater an der Wien verlangte
für die Bewerbung die Einsendung eines Fotos. Das
einzig aktuelle Foto von mir, das ich auftreiben konnte,
war im Sommerurlaub entstanden und dokumentierte den
Besuch eines orthodoxen Klosters in Griechenland - ich
trug darauf ein Kopftuch und war auch nicht alleine auf dem
Foto abgebildet. Deshalb schnipselte ich mich aus dem Bild
heraus, bis es auf Passfotogröße schrumpfte, und schickte es
ein. Eingeladen wurde ich, aber genommen haben sie mich
dann trotzdem nicht.
Ablehnung gehört in der Schauspielerei nun einmal
dazu und ist, im Gegensatz zu einer verletzten Achillessehne,
kein Gottesurteil, das war mir schon damals klar. Und
irgendwie hatte ich auch das sichere Gefühl, die Leute vom
Theater an der Wien hatten mich gar nicht so übel gefunden.
Da verspürte ich kaum Ablehnung.
Aus diesem Grund sagte ich ein paar Monate später zu
meinem Vater kurz, bündig und selbstbewusst: „Papa, ich
will auf eine Schauspielschule!" Er antwortete mit der klassischen
Elternreplik, aus Literatur und Film ebenso tausendfach
bekannt wie aus dem echten Leben: „Lern doch zuerst
etwas Anständiges, Bodenständiges, das dir Sicherheit verschafft.
Schauspielerin kannst du dann immer noch werden."
Er betrachtete mein Vorhaben zu diesem Zeitpunkt sicher
als Kinderei, ich war ja auch wirklich noch ein halbes Kind,
mit gerade einmal zwölfeinhalb Jahren. Aber egal: Ich wollte
Schauspielerin werden, und das möglichst rasch.
Drei Jahre drückte ich noch die Schulbank, ohne meinen
Berufswunsch dabei aus den Augen zu verlieren. Dann zog
ich mit sechzehn Jahren von zu Hause aus und gemeinsam
mit meinem damaligen Freund Dieter in eine kleine Altbauwohnung.
Für die Schulabmeldung fälschte ich kurzerhand
die Unterschrift meines Vaters und bewarb mich ohne sein
Wissen beim berühmten Max-Reinhardt-Seminar. Zum
damaligen Zeitpunkt, Mitte der Siebzigerjahre, unterrichteten
dort unter anderem Sammy Molcho und Erni Mangold.
Große Namen, vor denen ich aber keinen übertriebenen
Respekt hatte. Auch das vielleicht eine kleine Geste des
Aufbegehrens gegen meinen Vater, der immer andächtig
von „dem" und „der" sprach, womit er seine Ehrfurcht vor
prominenten und angesehenen Menschen zum Ausdruck
brachte, mit denen man sich nach Möglichkeit gut stellen
sollte. Ich fand damals, und finde es heute noch, dass er
das nicht nötig gehabt hätte: Mein Vater war ein großartiger
Mann, der sich auf seinen Beruf verstand und sein Licht
nicht unter den Scheffel hätte stellen müssen, auch wenn er
keinen berühmten Namen hatte.
Protektion war mir immer schon ein Gräuel. Mich interessierten
die großen Namen und das damit so oft verbundene
Speichellecken derer, die sie im Munde führten, schon
als Teenager nicht. Diese Einstellung verträgt sich übrigens
auch wunderbar mit meinem überaus schlechten Namensgedächtnis,
das bis heute immer wieder dazu beiträgt, dass
ich ganz einfach nicht weiß, was für ein Großer da gerade
neben mir steht - weshalb ich mich den vermeintlichen oder
tatsächlichen Titanen gegenüber weniger verklemmt und
beeindruckt zeige als vielleicht manch andere. Bei der Aufnahmeprüfung
am Reinhardt-Seminar war ich mit meinem
Zug zur naiven Normalität allerdings ein Fremdkörper. Über
hundert junge Schauspielanwärter hatten sich beworben,
darunter zahllose sichtbar schräge Vögel und extrovertierte
Gestalten, die zugleich von einer zur Schau gestellten Lässigkeit
und Coolness getragen waren, am ehesten den heutigen
Berlin-Hipstern vergleichbar.
Ich hatte sofort das Gefühl, dass sie viel besser hierher
ins kleine Schlosstheater passten als ich, weil ich diesen
„Wow - interessante Person!"-Faktor für mein Gefühl nicht
mitbrachte.
Die erste Runde der Prüfung begann für mich auch gleich
mit einem peinlichen Moment: Mir war bei der Anmeldung
absolute Anonymität zugesichert worden. Als sich aber die
Tore zum Schlosstheater für mich öffneten, wurde ich von
einer Stimme für alle laut und deutlich hörbar angekündigt:
„Adele Neuhauser, 16 Jahre alt, Höhere Lehranstalt für
wirtschaftliche Frauenberufe." Ich fühlte mich vorgeführt,
nicht ernst genommen - und angelogen hatten sie mich im
Hinblick auf die zugesicherte Anonymität auch noch. Meine
Knie wurden so weich, ich befürchtete, den Weg hinauf zur
Bühne nicht mehr zu schaffen.
Von Erni Mangold bekam ich die Aufgabe gestellt,
etwas im Raum zu suchen, mein Text sollte dabei das
Vaterunser sein. Da die Höhere Lehranstalt eine Klosterschule
war, konnte ich immerhin mit Textsicherheit glänzen,
und überhaupt fand ich die Aufgabe nicht besonders schwer.
Aber gerade als ich dadurch wieder etwas mehr Zuversicht
gewonnen hatte und Erni Mangold uns entließ, raunte sie
mir zur Verabschiedung einen kryptischen Satz zu: „Auch
wenn Ihre Tante oder Ihre Oma sagt, Sie sollen Schauspielerin
werden ..."
Den ersten Durchgang hatte ich dennoch bestanden.
Aber der unvollständige Satz ging mir nicht aus dem Kopf.
Leider war meine Kraft am nächsten Tag recht gering, ich
war nämlich vor lauter Stress krank geworden. Ausgerechnet
in dieser zweiten Runde sollte ich etwas vorsingen, war
heiser, schmiss dann auch noch die Nerven und wurde folgerichtig: abgelehnt.
Für mich brach eine Welt zusammen. Ich war sechzehn Jahre
alt, hatte mich ohne Wissen meiner Eltern von der Schule
abgemeldet und verfügte über keinen Plan B. Natürlich hätte
ich die Flinte ins Korn werfen können. Aber um was zu tun?
Meine Verzweiflung dauerte nicht lange an. Ich war einmal
umgefallen, jetzt hieß es ganz einfach, wieder aufzustehen
und den einmal gewählten Weg weiterzugehen. Ich war und
bin ein hartnäckiger Mensch. Ich bringe Sachen gerne zu
Ende, und zwar am liebsten gleich, weil ich weiß, dass mir
einen Tag später vielleicht schon die Energie fehlt, die ich
brauche, um die Dinge ins Rollen zu bringen. Schon als
junges Mädchen hatte ich etwas gelernt, was meine ganze
Schauspielkarriere hindurch Gültigkeit behalten sollte:
Wenn ich müde und erschöpft bin, wenn ich fast schon zu
weinen beginne, weil alles gegen mich zu sein scheint und
kein Ende in Sicht ist - ausgerechnet dann liefere ich meine
besten Leistungen ab, habe meine sprühendsten Momente
und bin inspiriert. Vielleicht hatte der sadistische Ballettmeister
seinen Anteil an diesem Automatismus, wer weiß: Er
liebte es, uns Schülerinnen in die angespannten und schon
schmerzenden Muskeln zu zwicken oder sich auf unser
Becken zu knien, wenn wir noch nicht tief genug im Spagat
waren. Ich wollte also nach wie vor Schauspielerin werden,
und das auch immer noch sofort. Auf die Idee, mich in
Berlin oder München zur Aufnahmeprüfung anzumelden,
kam ich damals nicht. Darum bewarb ich mich kurzerhand
an der Schauspielschule Krauss in Wien, wo ich prompt aufgenommen
wurde. Nebenbei arbeitete ich bei einer Schauspielagentur,
um mir ein Minimum an Lebensunterhalt zu
verdienen. Nachdem der erste Ärger über meine Schulabmeldung
bei meinem Vater verflogen war, bekam ich auch
ein wenig finanzielle Unterstützung von ihm. Eigentlich war
er wirklich ziemlich sauer über meinen Alleingang, aber ich
hatte ein ganz gutes Argument: Meine Mutter war auch erst
sechzehn Jahre alt gewesen, als sie meinen Vater geheiratet
hatte. Die Ehe hatte nicht gehalten, aber das war in diesem
Fall wohl kaum der Punkt. Wenn eine Sechzehnjährige alt
genug zum Heiraten war, wieso sollte dann eine andere
Sechzehnjährige nicht alt genug sein, ihren eigenen beruflichen
Weg zu gehen?
Diese Logik schmeckte meinem Vater gar nicht, aber
auf die Dauer blieb ihm nicht viel anderes übrig, als mir
meinen festen Willen zu lassen. Immerhin war ich an der
Schauspielschule Krauss aufgenommen worden, aus einer
Träumerei hatte sich somit bereits ein Stück weit ein konkreter,
umsetzbarer Plan entwickelt. Und mein Vater fand einen
raffinierten Weg, einigermaßen die Kontrolle über mich
zu behalten. Mein Freund Dieter und ich hatten, bevor ich
mich an der Schauspielschule beworben hatte, gemeinsam
bei meinem Vater gewohnt. Nun, da wir ausgezogen waren,
lud er mich und Dieter so oft in seine Wohnung ein, dass
wir irgendwann quasi wieder bei meinem Vater wohnten.
Da wir wenig Geld hatten, waren wir nicht schwer von den
Vorzügen zu überzeugen, uns bei ihm verköstigen zu lassen.
So wusste er immer darüber Bescheid, was in meinem Leben
vorging, und mit der Zeit entwickelte er auch wieder großes
Vertrauen in mich.
An eine Schauspielschule gekommen zu sein, machte mich
aber noch nicht zur Schauspielerin. Vom Unterricht war ich
ein wenig enttäuscht, vom Engagement mancher Mitschüler
ebenso. Ich hatte mir das alles ein bisschen energetischer und
ernsthafter vorgestellt, als es sich dort darstellte. Gemeinsame
Rollenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen gab es
zwar, aber sie lief irgendwie recht technisch und für mein
Gefühl mit zu wenig Begeisterung für meinen Traumberuf
ab. Zusätzlich verunsicherte mich meine Rhetorik-Lehrerin
bald mit der Frage: „Was sind Sie denn jetzt, ein Manderl
oder ein Weiberl?"
Eine eigenartige Frage, fand ich. Aber es stimmte schon
irgendwie: Wenn ich zum Unterricht kam, war ich nachlässig
gekleidet, und in der Schule hatte mein Spitzname „Wurzelsepp"
gelautet. Das klingt nicht besonders feminin und war
auch sicher nicht so gemeint. Insofern hatte die Rhetorik-
Lehrerin mit ihrer vielleicht nur rhetorisch gemeinten Frage
zielgenau einen wunden Punkt bei mir getroffen. Ich war
mir selber nicht sicher, ob ich Männchen oder Weibchen war
- weniger in sexueller Hinsicht, als im Hinblick auf meine
Energie, mein Lebensgefühl, meine Ausstrahlung, meine
Wirkung nach außen.
Die Tatsache, dass mich meine Mutter bereits als Zwölfjährige
zum Frauenarzt geschleppt und mir eigenmächtig
die Einnahme der Antibabypille verordnet hatte, mochte
zu meinen diesbezüglichen Problemen einiges beigetragen
haben. Wir schrieben das Jahr 1971, die damals zugelassenen
Präparate hatten selbstverständlich noch ganz andere hormonale
Wirkstoffe als heutzutage. Nicht gerade optimal für
eine Zwölfjährige, die einen noch nicht ausgereiften Körper
hatte und in ihrer Entwicklung durch die Hormoneinnahme
vollkommen durcheinander geriet.
Zu meiner hormonellen Verwirrung hatten sich im
Laufe meines Heranwachsens noch weitere Irritationen
gesellt. Ich lebte zwar im Prinzip glücklich mit meinem Vater
zusammen und wir hatten auch sehr viel Spaß miteinander,
reisten gemeinsam nach Florenz und Venedig und machten
uns zeitweise ein ziemlich schönes Leben. Gleichzeitig fühlte
ich mich, durch die Abwesenheit einer (anderen) Frau im
Leben meines Vaters, fast wie in einer platonischen Ehe mit
ihm. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, erwartete
ich seine Rückkehr aus dem Büro. Er beschenkte mich mit
schönen Kleidern oder einem Burberry-Mantel. Ich freute
mich zwar, aber so gekleidet entsprach ich nicht gerade
dem durchschnittlichen Bild einer Hauptschülerin aus dem
zehnten Bezirk und fühlte mich ziemlich unwohl darin. In
meiner Klosterschule wurden von allen Schülerinnen blaue
Arbeitsmäntel getragen, um die sozialen Unterschiede nicht
in der Wahl der Kleidung sichtbar werden zu lassen.
Wenn ich nun außerhalb der Schule die Geschenke meines Vaters
anzog, kam ich mir in unserer Gegend abgehoben und in
unpassender Weise damenhaft vor. Ich passte einfach nicht
dazu. Meine Mutter wiederum konfrontierte mich mit ihren
Liebesproblemen und Männerbekanntschaften bereits
in einem Alter, in dem ich lieber noch überhaupt nichts
darüber gewusst hätte. War ich bei ihr zu Besuch, behandelte
sie mich mitunter mehr wie eine Schwester oder gute
Freundin, und nicht als ihre noch ziemlich kindliche und
schüchterne Tochter, die ich damals noch war. Ich hatte bei
meinen Eltern jahrelang das Gefühl, in ihrer Gegenwart
nicht Kind im eigentlichen Sinn sein zu können - das war
manchmal schön und schmeichelhaft, insgesamt aber entfremdete
es mich vielleicht auch von mir und überforderte
mich.Das war unter anderem immer schon einer der Gründe
gewesen, warum ich mich zur Schauspielerei hingezogen
gefühlt hatte. Wenn ich als Kind vor dem Spiegel stand
und mir verschiedene Rollen ausdachte, bei deren Darstellung
ich mit meinem Spiegelbild spielte, machte mir das
nicht nur riesigen Spaß. Ich entfernte mich damit gleichzeitig
in spürbar heilsamer Art und Weise von den Belastungen
meines eigentlichen Ichs, öffnete mir die Welt in ihren
Formen, Farben und Gestalten und befreite mich für eine
Weile von jenen Gefühlen des Selbstzweifels und manchmal
auch Selbsthasses, die mich sonst oft überfielen. Vor dem
Spiegel bekam ich außerdem den ersten Applaus meines
Lebens: Ich hatte ein Cocktailkleid meiner Mutter angezogen,
das bei mir bodenlang fiel, und tanzte zur Musik von
Edmundo Ros' Bigband - eine der Lieblingsplatten meines
Vaters. Auf dem Flachdach gegenüber machten ein paar
Bauarbeiter oder Dachdecker gerade Mittagspause, beobachteten
meine Darbietung durch das geöffnete Balkonfenster
und applaudierten am Ende meines Auftritts: Was für ein
wunderbares Gefühl!
Letztlich tauchte aber in mir immer wieder das Schuldgefühl
auf, meine Mutter verraten zu haben, indem ich
mich nach der Trennung meiner Eltern mit neun Jahren
entschieden hatte, bei meinem Vater zu leben. Ein unsinniger
Gedanke, denn ich hatte mich keineswegs gegen meine
Mutter, sondern einfach für meinen Vater entschieden.
Trotzdem plagte mich lange, sehr lange Zeit diese vermeintliche
Schuld. Denn die Damen von der Fürsorge, die uns zur
Zeit der Trennung meiner Eltern mehrere Besuche abstatteten,
fragten mich immer wieder, ob es denn wirklich mein
Wunsch war, bei meinem Vater zu bleiben, ob ich nicht doch
lieber mit meinen beiden Brüdern zu meiner Mutter wollte.
Erst viele Jahre später gestand mir meine Mutter, dass sie
uns drei Kinder gar nicht zusammen zu sich nehmen hätte
können - es wäre sich weder finanziell noch organisatorisch
ausgegangen. Damals aber schien es mir meine freie Entscheidung
zu sein, und diese vermeintliche Freiheit der Wahl
sollte mich noch lange schwer plagen.
In Rollen zu schlüpfen half mir dagegen insofern,
als ich schon als Kleinkind bemerkt hatte, wie gut die
Menschen in meinem Umfeld mit mir umgingen, wenn ich
sie zum Lachen bringen konnte. Das Lachen ist nahe an der
Liebe, das begriff ich bald. So speiste sich meine Begeisterung
für die Schauspielerei aus zwei unterschiedlichen
Quellen, dem Wunsch nach Distanz zu mir selbst, und der
Hoffnung, die Menschen zu begeistern und auf diese Weise
positive Gefühle in ihnen zu wecken. Beides ist mir bis
heute erhalten geblieben, und von beidem gab es für mein
Gefühl an der Schauspielschule zu wenige Möglichkeiten,
es auszuprobieren. Wenn ich endlich herausfinden wollte,
wer und was ich eigentlich war, ob mein künstlerisches Tun
gut und wertvoll für mich selbst und die Welt sein konnte,
musste ich nicht nur üben, sondern auch spielen, und zwar
vor echtem Publikum.
Nach meinem ersten Ausbildungsjahr ging ich noch nicht
ganz achtzehnjährig auf meine erste Schauspieltournee, die
mir ausgerechnet meine Rhetorik-Lehrerin vermittelt hatte.
Wahrscheinlich hoffte auch sie, dass ich mich in der Praxis
besser kennenlernen würde. Die Tournee dauerte ein halbes
Jahr, unser Hauptstandort war die „Neue Werkbühne" in
München, an den wir zwischen den verschiedenen Vorführungsblöcken
immer wieder zurückkehrten.
Dieses „Wir" war kein Ensemble im herkömmlichen
Sinn. Es handelte sich um ein schauspielerndes Ehepaar
mittleren Alters, das sich gemeinsam mit mir und ihrer alten
Mutter beziehungsweise Schwiegermutter in einem VW
Variant auf den Weg durch die deutsche Provinz machte. Ich
musste auf den langen Fahrten hinten neben der alten Frau
sitzen, deren Aufgabe bei den Aufführungen lediglich darin
bestand, hinter der Bühne einen Kassettenrekorder ein- und
auszuschalten.
Zu viert, oder eigentlich zu dritt, wenn man die Mutter
nicht als vollwertige Schauspielerin mitrechnen möchte,
spielten wir ausschließlich in Schulen Brechts „Kaukasischen
Kreidekreis". Aus Eitelkeit oder Idiotie war entschieden
worden, die beiden Frauenrollen absichtlich falsch zu
besetzen, sodass mir die Rolle der bösen Gouverneurin
zufiel, während meine etwa 47-jährige Chefin in der Rolle
des jungen Mädchens namens Grusche aufblühen durfte.
Daneben war ich angehalten, mich um Auf- und Abbau des
Bühnenbilds zu kümmern und die Schüler darauf vorzubereiten,
wie sie die Kollektivrolle des Volks zu übernehmen
hatten. Dabei war es mir strengstens untersagt, persönlichen
Kontakt mit den Schülern aufzunehmen, die doch meistens
ungefähr im selben Alter wie ich waren.
Nach ein paar Monaten kam die Routine und ich begann,
in den Pensionen, in denen wir zur Übernachtung einquartiert
waren, alleine größere Mengen Rotwein zu trinken. In
einer dieser Pensionen hatte ich mutterseelenallein meinen
achtzehnten Geburtstag begangen, auf den niemand mit
mir anstieß. Ich hatte Theater spielen wollen, aber dieser
schlechte Witz von einer Schauspieltournee hatte mit allem,
was ich mir davon erhofft hatte, nicht das Geringste zu tun.
Ich war bald dermaßen verzweifelt, dass ich mir Möglichkeiten
ausdachte, aus dem Vertrag auszusteigen, der mich ein
halbes Jahr lang an diese Höllentournee band.
Einfach abzuhauen kam für mich selbstverständlich
nicht in Frage. Weniger wegen zu befürchtender Konsequenzen
im Hinblick auf meine Ausbildung, die ich für meine
Freiheit durchaus in Kauf genommen hätte. Es erschien
mir einfach nicht richtig, mich sozusagen grundlos aus der
Verantwortung zu stehlen, es passte nicht zu dem Bild, das
ich von mir selbst als Kämpferin und konsequenter junger
Frau hatte, die die Dinge, die sie begonnen hat, auch zu Ende
bringt.
Als ich wieder einmal allein in meinem Zimmer saß,
schon ein paar Gläser Rotwein intus hatte und mir ziemlich
düster zu Mute war, fragte ich mich, was denn eigentlich passieren
würde, wenn ich plötzlich erkrankte.
Nein, dachte ich, das genügt nicht. Krank kann man
auch Theater spielen, sogar mit hohem Fieber geht das, dann
beißt man halt die Zähne zusammen.
Also überlegte ich weiter: Was wäre, wenn ich mich verletzen
würde, mir - nur als beliebiges Beispiel - den Arm
bräche? Das wäre natürlich eine andere Geschichte. Ein
gebrochener Arm würde mir nicht nur das Spielen erschweren,
sondern mir vor allem den Auf- und Abbau des Bühnenbildes
unmöglich machen. Ja, mit gebrochenem Arm,
so schloss ich, wäre es keine Schande, die Tournee vorzeitig
abzubrechen. Niemand könnte etwas dafür, ein dummer
Zufall, höhere Gewalt eben, wie sie immer wieder einmal
passiert.
Ich ging zum Waschbecken und schlug meinen rechten
Unterarm mehrfach heftig gegen die Keramikkante. Es
tat wahnsinnig weh. Als der Schmerz ein wenig nachließ
und ich meinen Arm begutachtete, war nicht mehr als ein
harmlos aussehender Kratzer zu erkennen. Es folgte darauf
zwar am nächsten Tag ein beachtliches Hämatom, aber für
einen Abbruch der Tournee hatte ich mich damit leider
nicht qualifiziert. Woraus ich immerhin lernte, dass ich über
starke Knochen verfügte, nicht aber über einen ausreichend
starken Willen, um mir vorsätzlich den Arm zu brechen, was
auch wirklich eine Schnapsidee war. Ich musste also bis zum
Ende des Vertrages durchhalten.
Mein einziges Highlight in dieser ganzen Zeit waren die
Münchner Jazzkeller. Es war damals, in den Siebzigern,
so, dass es in München in puncto Jazzlokale einiges zu
entdecken gab. Wenn ich also gerade nicht durch die Provinz
tingelte, durfte ich mich ein wenig wie Billie Holiday fühlen
und in verrauchten Clubs avantgardistischen Saxophon-Soli
lauschen. Damals erwachte eine Liebe zum Jazz in mir, die
von meinem Sohn Julian, der heute ein großartiger Musiker
ist, Jahrzehnte später in gewisser Weise weitergetragen
werden sollte.
In einem dieser Münchner Jazz-Clubs lernte ich auch
eine faszinierende Frau kennen, mit der mich für die Dauer
meines Aufenthalts eine intensive Beziehung verband. Da
war plötzliche eine Wärme, die ich dringend brauchte, es
war irgendwie berauschend mütterlich. Sie war wesentlich
älter als ich, und eigentlich hätte ich bis zu diesem Zeitpunkt
nicht gedacht, dass ich mich von einer Frau angezogen
fühlen könnte. In dieser Hinsicht war es, trotz der furchtbaren
Tournee, doch noch eine inspirierende und neue Erlebniswelten
erschließende Zeit, wenn auch auf einem ganz
anderen Gebiet, als ich erwartet hatte.
Zur selben Zeit lebte ich in einer festen Beziehung
mit einem Mann, den ich während meiner Schauspielausbildung
kennengelernt hatte und der in Wien inzwischen
schon sehnsüchtig auf mich wartete - so war ich fest überzeugt.
Als die Tournee endlich beendet war und ich in Wien
vor Wiedersehensfreude strahlend in unsere gemeinsame
Wohnung eintrat, lag er gerade mit einer anderen Frau im
Bett.
„Entschuldige, ich hole nur schnell meine Sachen, ich
bin sofort weg", sagte ich, um mein Gesicht zu wahren und
uns allen eine unnötige Szene zu ersparen. Zeit, die Koffer
zu packen. Und dann stand ich auf der Straße und hatte
keine Ahnung, wo ich jetzt eigentlich hingehen sollte.
Obwohl mich mein Vater bestimmt sofort aufgenommen
hätte, wollte ich nicht zu ihm zurückgehen, es
hätte sich zu sehr als Demütigung angefühlt. Stattdessen
rief ich meine Mutter an und kam vorübergehend bei ihr
unter. Bald meldete sich mein frischgebackener Ex-Freund
bei mir: Allerdings nicht, um mich zurückzugewinnen,
was ihm nach dieser „Begrüßung" ohnehin nicht mehr
gelungen wäre. Da er vielleicht ein wenig von schlechtem
Gewissen geplagt oder aber eben doch einfach ein lieber
Kerl war, vermittelte er mir meine erste wirklich eigene
Wohnung, die ich von dem auf der Tournee verdienten
Geld und dem Nebenjob bei der Schauspielagentur gerade
einmal so finanzieren konnte.
Ich kehrte wieder in die vertraute Fadesse der Schauspielschule
Krauss zurück und wusste, so konnte es für
mich nicht mehr lange weitergehen. Das einzige, was mir
wirklich Freude machte und mich interessierte, war der
Fecht-Unterricht. Da die meisten meiner Kommilitonen
gerade diesen Unterricht schwänzten, war ich mit dem
Fechtlehrer oft alleine und wir studierten die wildesten
Gefechte über Tische und Sessel ein, wie man sie aus den
alten Mantel-und-Degen-Filmen der goldenen Cinemascope-
Zeit kennt.
Bald darauf meldete ich den Wunsch an, zur sogenannten
Zweiten Kontrollprüfung anzutreten, dem überraschenderweise
stattgegeben wurde. Ich bestand die Prüfung
und bekam auch gleich den Studienabschluss mit Auszeichnung
dazu. Nun war ich ganz offiziell ausgebildete Schauspielerin.
Erst als ich, mein Diplom in der Hand, die Tür
der Schauspielschule Krauss hinter mir schloss, wurde mir
so richtig klar, was das bedeutete: Fast gar nichts, nämlich.
Ich verfügte über keinerlei Kontakte in der Branche und
hatte auch keine Ahnung, wie ich mir welche schaffen
sollte.
Ich hatte das Zeug, Schauspielerin zu sein, das spürte
ich, es wirklich zu werden, musste ich mir aber erst noch
beweisen - und natürlich meinem Publikum.
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... weniger
Autoren-Porträt von Adele Neuhauser
Adele Neuhauser startete ihre Karriere als Schauspielerin in Deutschland. In Regensburg spielte sie den Mephisto, in Mainz verlieh sie der Medea eine raubtierhafte Präsenz, in "Vier Frauen und ein Todesfall" ist sie eine resolute Amateur-Ermittlerin und seit 2010 ermittelt sie als Bibi Fellner an der Seite von Harald Krassnitzer im Wiener Tatort. Demnächst wird sie als Helene Weigel in einem Dokudrama über Bert Brecht zu sehen sein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Adele Neuhauser
- 2017, 4. Aufl., 224 Seiten, 50 farbige Abbildungen, Maße: 14,2 x 21,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: BRANDSTÄTTER
- ISBN-10: 3710600901
- ISBN-13: 9783710600906
- Erscheinungsdatum: 13.09.2017
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