Im Licht der roten Erde
Ein Australien-Roman
Als sich Susan und Veronica einer Reisegruppe auf den Spuren der Aborigines anschließen, ahnen sie nicht, wie sehr dies ihr Leben verändern soll: Für die Journalistin Veronica wird ein jahrelang vergeblich verfolgter Traum endlich wahr...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Im Licht der roten Erde “
Als sich Susan und Veronica einer Reisegruppe auf den Spuren der Aborigines anschließen, ahnen sie nicht, wie sehr dies ihr Leben verändern soll: Für die Journalistin Veronica wird ein jahrelang vergeblich verfolgter Traum endlich wahr werden. Die Anwältin Susan wiederum findet auf dieser Reise ihre Berufung: Um für die Gleichberechtigung der Aborigines zu kämpfen, setzt sie selbst ihre Liebe zu dem wohlhabenden Farmer Andrew aufs Spiel ...
Klappentext zu „Im Licht der roten Erde “
Als sich Susan und Veronica einer Reisegruppe auf denSpuren der Aborigines anschließen, ahnen sie nicht, wie sehr dies ihr Leben verändern soll: Für die Journalistin Veronica wird ein jahrelang vergeblich verfolgter Traum endlich wahr werden.
Die Anwältin Susan wiederum findet auf dieser Reise ihre Berufung: Um für die Gleichberechtigung der
Aborigines zu kämpfen, setzt sie selbst ihre Liebe zu dem wohlhabenden Farmer Andrew aufs Spiel ...
Lese-Probe zu „Im Licht der roten Erde “
Im Licht der roten Erde von Di Morrissey... mehr
Der Mann war weder alt noch jung. Er war in einem Alter, das Weisheit kennt, Schmerz, und in dem man dennoch nach vorn blickt, mit strahlenden Augen und hoffnungsvollem Herzen.
Er war schlank und straff wie kräftiger, gespannter Zwirn, die Muskeln und Sehnen seines Körpers präzise definiert wie auf einem anatomischen Schaubild. Die gräuliche Erdfarbe auf der glänzenden dunklen Haut war zu einer rissigen Kruste getrocknet. Er saß im rostroten Staub, die schwarzen Augen mit der traditionellen Farbe für Zeremonien umringt, und blickte in die Ferne ... weiter noch, ins Traumzeitland seiner Ahnen.
Das Traumzeitland - spirit land - war erschaffen worden von den wandjina, Wolken- und Regengeistern, die sich in menschlicher Gestalt mit einem Kranz aus Blitzen oder Wolken um den Kopf zeigten. Sie hatten riesige wachsame Augen, aber keinen Mund. Die wandjina zogen durch dieses Land und prägten die topographischen Eigenschaften der Landschaft - die Berge und Höhen, die Schluchten und heiligen, energiespeichernden wunggud-Gewässer -, bis sie in die Höhlen gelangten, wo sie ihre Bilder auf die Wände malten und wieder im Erdboden versanken.
Diese Wesen jenseits der Zeiten waren dem Songmaster vertraut. Ihr Wissen war geborgen in den Geschichten, die über unzählige Generationen hinweg überliefert wurden, in den Traumliedern seiner Leute und ihres Landes.
Er streckte die Beine aus, hob sein didgeridoo auf und setzte das aus Bienenwachs geknetete Mundstück an die Lippen; das Ende des langen Holzrohrs blieb am Boden. Die Natur war Schöpferin dieses Instruments, das aus dem Erdreich kam, dem Land seiner Ahnen. Seine Form, seine Dicke, das Holz, von Termiten zerlöchert, verliehen ihm Leben und eine eigene Stimme.
Er blähte die Wangen und ließ seinen Atem kraftvoll durch das Eukalyptusrohr strömen. Die Luft entwich neben seinen Zehen und mit ihr ein nachhallender Ton, der im Boden vibrierte, zurückkehrte in die Natur und tief ins Herz der Erde, ins Innerste des Traumzeitlandes, drang.
Er sang zu den wandjina, den mächtigen Geistern, die über dieses Land wachten, die jene bestraften, welche die Gesetze missachteten, die die Kindgeister beaufsichtigten, welche in den wunggud-Gewässern auf ihre Empfängnis warteten, die Regen brachten und die Weisheit der Ältesten lenkten.
Und so sang er ... von den Felsen und Bäumen und Pflanzen und Tieren. Von den Wesen, die all diese Dinge geschaffen hatten, und von seinem Volk, damals und jetzt.
»... und es wird ein Kind kommen, welches die Menschen versöhnt und eins werden lässt.«
Der Anfang ...
Rosige Dämmerung senkte sich auf Los Angeles herab. Der Verkehr auf dem Beverly Boulevard wurde zunehmend dichter. Doktor Hal Silverstein stand an seinem Bürofenster im zwölften Stock und blickte über die Gebäude von Beverly Hills hinweg in einen Himmel, der von roten und goldenen Streifen durchzogen war. Es amüsierte ihn, dass diese Stadt ihre spektakulären Sonnenuntergänge der Smogschicht zu verdanken hatte, die zu der elenden Luftqualität L. A.s beitrug. Er blickte auf die Blechschlange hinab, die sich mit leuchtenden Rücklichtern durch die Vororte wand, das letzte Licht des Tages, gespiegelt von glänzendem Lack.
»Haben Sie irgendeine Idee, worum es sich handeln könnte? « Die Stimme der Frau klang gereizt, mürrisch.
Der Psychiater wandte sich vom Fenster ab und blickte seine Patientin an. »Nein. Das habe ich nicht, um ehrlich zu sein.«
»Man kann doch mit Sicherheit noch einen anderen Test machen, ein weiteres Blutbild, irgendetwas ...?«
»Rowena, wir haben jeden der Medizinwissenschaft bekannten Test gemacht, und alles, was uns die Ärzte sagen können, ist, dass es sich möglicherweise um eine Art Virus handelt, den Sie sich in Australien eingefangen haben ...«
Der Frau traten Tränen in die Augen. »Aber es bringt mich um! Mein Gott, da wird man doch was machen können ...«
Der Psychiater nestelte an seiner Gucci-Krawatte, dann nahm er seiner Patientin gegenüber Platz. Er machte sich Sorgen um ihre psychische Stabilität, doch was ihn wirklich schockierte, war die rapide Verschlechterung ihres körperlichen Zustands. Selbst in einer Stadt, die Magerkeit zum Ideal erhoben hatte, wirkte sie dürr wie ein Stöckchen, wenngleich die Ärzte Magersucht ausschlossen. Durch den unerklärlichen Gewichtsverlust zeichneten sich ihre Knochen scharf unter der Haut ab und ließen sie transparent erscheinen wie Seidenpapier. Ihre normale Farbe war einer ungesunden, käsigen Blässe gewichen, knittrige Haut hing faltig um ihren Hals - ein Anblick, bei dem die Damen von L. A. normalerweise zum nächsten Schönheitschirurgen rannten.
Er streckte die Hand aus und legte sie auf ihre. »Sie haben viel Gewicht verloren. Ich weiß, dass Sie ständig müde sind und sich gleichzeitig rastlos fühlen, aber wir können einfach keine körperliche Ursache dafür ausmachen.«
»Was ist mit dem Kopfweh, den Schmerzen und den Träumen - Alpträume, keine normalen Träume, entsetzliche Alpträume ...« Sie schrie fast vor Verzweiflung.
Doktor Silverstein setzte einen mitfühlenden Gesichtsausdruck auf und suchte nach angemessenen Worten, obwohl er seine Patientin am liebsten geschüttelt hätte. In seinen Augen war sie nichts als eine weitere verwöhnte Neurotikerin, eine anspruchsvolle Tyrannin, ein typisches Exemplar dieser reichen Zicken, die niemals auf dem Boden der Realität gestanden hatten. Eingehend betrachtete er die großgewachsene Frau mittleren Alters, ihr flammend rotes Haar, ihre braunen Augen mit dem gelblichen Schimmer. Sie hatte etwas von einem Wildhund, schoss es ihm durch den Kopf.
»Erzählen Sie mir noch einmal davon«, sagte er in beschwichtigendem Ton, um sie abzulenken. Sie schien ruhiger zu werden, wenn sie ihm von ihren Alpträumen berichtete. Der Psychiater blickte zu seiner Schreibtischuhr hinüber. Sie bezahlte ihn nach Stunden, rief er sich ins Gedächtnis. Er hatte also alle Zeit der Welt. Und so lehnte er sich zurück, während sie die Augen schloss und zu erzählen begann:
»Ich gehe durch Gras, das meine Oberschenkel streift. Ich fasse eine Handvoll davon, um es zu teilen, und zerschneide mir die Handflächen wie an rasiermesserscharfen Klingen; Blut tropft von meinen Fingern zu Boden. Zu allen Seiten erheben sich riesige dunkle Felsen, aber sie wirken nicht stabil; sie scheinen sich in einer unsicheren Balance zu befinden, als könnten sie auf mich herabstürzen. Der Himmel ist blauer als jedes Blau, das ich bislang gesehen habe, und er scheint sich zu bauschen wie ein Zelt, so dass ich fürchte, er wird sich herabsenken und mich ersticken.«
»Haben Sie Angst?«
»Nein. Ich möchte weitergehen. Ich sehe eine Öffnung zwischen den Felsen und eine Höhle. Ich klettere hinauf und kauere mich in die Kühle des Überhangs. Dort sind diese fantastischen Malereien an den Wänden und uralte weiße Handabdrücke. Ich lege meine eigene Hand auf einen weißen Abdruck und hinterlasse einen Blutfleck. Dann sehe ich sie ... sie starren mich an ...«
»Was? Was starrt Sie an?«
»Totenköpfe. Entsetzliche Gesichter, rot angemalt ... sie blicken mich zornig an. Und dann fangen die Geräusche an ...«
»Was für Geräusche?«, hakte Doktor Silverstein nach.
»Wehklagen ... Weinen ... unheimliche Laute. Offenbar stammen sie von Menschen, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Ich weiß, dass sie mir etwas mitzuteilen versuchen. «
Sie ließ ihr Gesicht in die Hände sinken und fing an zu zittern. »Die Kimberley ist eine so schöne Gegend ... die Leute - einfach großartig. Aber seit meiner Rückkehr höre ich nachts diese Stimmen ... Es ist, als wären sie in meinem Körper und versuchten, hinauszugelangen.« Sie öffnete die Augen und bedachte den Mann ihr gegenüber mit einem wilden Blick. »Sie oder ich, darum geht es hier. In mir herrscht Krieg - sie versuchen, die Kontrolle über mich zu erlangen. Sie versuchen, mich umzubringen.«
Der Psychiater aus L. A. mit seiner Sonnenbräune, dem im Sports Club getrimmten Körper und seiner Designer-Kleidung war ein Mann, dessen beruflicher und sozialer Radius sich kaum über La Brea im Osten und den Olympic Boulevard im Süden hinaus erstreckte und erst recht nicht über den Vorwahlbereich 310, der Santa Monica, Malibu, Pacific Palisades, Compton, Torrance, Beverly Hills und Catalina Island umfasste. Urlaub bedeutete für ihn Bermudas oder Baja. Und so konnte er absolut nicht begreifen, was Rowena Singer, die Tochter eines prominenten Filmmoguls, die seit ihrer letzten Scheidung in der Villa ihres Vaters in Brentwood lebte, in primitivste Verhältnisse unter die Eingeborenen einer Wüste in Westaustralien verschlagen hatte.
»Rowena, wer hat Ihnen von diesem Ort erzählt, von der Kimberley? Warum sind Sie dorthin gegangen?«, fragte er vorsichtig. Zum ersten Mal schwang Neugier in seiner Stimme mit.
Sie blickte ihn an, dann schloss sie die Augen, schlang die Arme um ihren Oberkörper und schaukelte sanft vor und zurück. »Ardjani hat mir davon erzählt. Er ist ein Stammesältester der Aborigines, ein Prophet, ein weiser Mann. Ich bin ihm hier in L. A. begegnet. Er hat mir vom Songmaster erzählt, dem Mann, der das didgeridoo spielt und die Lieder der Barradja singt. Ardjani sagt, der Songmaster singt die überlieferten Geschichten aus der Vergangenheit, die davon handeln, dass die Barradja die ersten Menschen auf diesem Planeten waren. Er kommt zu Ardjanis Stamm, erklärt die Gegenwart und sagt die Zukunft voraus.«
»Wo haben Sie diesen Ardjani kennengelernt?«
»Auf einer Benefizveranstaltung im Museum of Contemporary Art, bei einer Ausstellung über Aborigine-Kunst. Als ich Ardjani begegnete, wusste ich, dass ich ihm folgen musste ... Mir war die Idee gekommen, einen Dokumentarfilm über ihn und seine Leute zu drehen. Doch etwas lief schief. Etwas Schlimmes ist passiert. Dabei hatte ich wirklich nichts Böses im Sinn.«
»Was haben Sie denn getan? Was ist geschehen?«
Sie gab keine Antwort, hörte aber auch nicht auf zu schaukeln.
Doktor Silverstein starrte hinaus auf den verblassenden Himmel über der Stadt der Engel. Schließlich sagte er: »Ich kann nichts mehr für Sie tun. Ich glaube, Sie müssen nach Australien zurückkehren und diesen Ardjani fragen, ob er Ihnen helfen kann.«
Der Kopf des Wachmanns sackte auf die Brust, als ihn die Müdigkeit übermannte. Mit einem Ruck riss er das Kinn hoch, die Augen nach wie vor geschlossen, doch wieder fi el sein Kopf nach vorn und blieb diesmal auf dem Kragen liegen. Er sank in tiefen Schlaf.
Die schmale Gestalt einer jungen Frau, die leise durch den Bogengang zur Victorian Art Gallery mit den Ausstellungsstücken der Aborigines schlüpfte, bemerkte er nicht, vermutlich hätte er ihr ohnehin keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Gerade einmal achtzehn, in einem formlosen Hippiekleid über einem langärmeligen gestrickten Baumwolloberteil, das feine braune Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, ging sie an einem Schaukasten mit Beispielen für Weberei, Rindenmalerei, Holzschalen und Töpfen vorbei. Ihre weichen Sandalen machten keine Geräusche auf dem polierten Parkett, und während sie lief, hielt sie das Kind fest in den Armen, das sie in ein im Nacken verknotetes Tuch gewickelt hatte. Sie blickte auf das schlafende Baby her ab - dunkle, gebogene Wimpern, ein Mund, so vollkommen geformt, dass sie nicht anders konnte, als ihren Kopf zu senken und mit den Lippen über die rosige Knospe zu streichen, die sich so geschickt und besitzergreifend um ihre Brustwarzen schloss.
Sie kam an den zeitgenössischen Sammlungen vorbei, die ringsum an den Wänden hingen, Werke von Freddie Timms, Rover Thomas, Queenie McKenzie, Paddy Jaminji. Vor einer in Ockertönen gehaltenen Acrylzeichnung zweier sonderbarer Figuren auf Ingres-Papier blieb sie stehen. Wandjina- Beobachtung. Rosie Kaminyarli 1983 stand mit Bleistift in einer Ecke. Die primitiven Gesichter, umgeben von einer Art Heiligenschein, mit riesigen Augen, doch ohne Münder, was ihnen beinahe etwas Außerirdisches verlieh, starrten sie an.
Das Mädchen band das Tuch im Nacken auf. Obwohl sie selbst fast noch ein Kind war, war es unverkennbar mütterliche Fürsorge, mit der sie den Säugling hielt, welcher sich jetzt regte und wimmerte. Das leise Weinen ließ sie die Milch spüren, die sich schmerzhaft in ihren Brüsten staute. Das Baby wand sich in seiner engen Umhüllung, und sie ging mit ihm hinüber zu einer Wand mit Ausstellungsstücken, die einen Teil der kleinen Galerie verdeckte. Dort hockte sie sich auf den Fußboden und breitete das Tuch unter dem Säugling aus. Einen Augenblick verharrte sie und ließ das Kind an einem ihrer Fingerknöchel saugen. Eine kleine Hand schloss sich darum. Sie blickte auf die zarten Fingerchen mit den winzigen rosa Nägeln, die sich gerade erst gebildet hatten, und strich mit der Hand von dem flaumigen Babyköpfchen bis zu den vollkommenen Füßchen in dem Baumwolltuch.
Das Tuch war von Hand bedruckt und zeigte ein kindliches Muster aus rundlichen Eulen mit abstehenden spitzen Federn. Kleine Strichmännchen in merkwürdiger Tracht waren zwischen den weißen Vögeln mit den Hakenschnäbeln auf dem rostroten Stoff verstreut.
Das Mädchen stand auf, blickte auf das schläfrige Baby hin ab und prägte sich jeden seiner Züge ein, als wolle sie sie in ihr Herz brennen. Dann drehte sie sich mit tränenüberströmtem Gesicht um und ging eilig hinter den reichverzierten Baumstammsärgen in eine angrenzende Abteilung und nahm von dort aus die Rolltreppe hinunter zum Haupteingang.
Ein kühler Wind strich durch die Swanston Street, und der Himmel verfinsterte sich zu einem spätnachmittäglichen Grau. In der Victorian Art Gallery fuhr der Wachmann mit einem Ruck aus dem Schlaf. Er streckte sich erschrocken und blickte sich schuldbewusst um, wobei er sich fragte, was ihn wohl geweckt haben mochte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass das Museum bald schließen würde. Ächzend erhob er sich, und dann hörte er, was ihn aufgeschreckt hatte: Durch die kalten, leeren Ausstellungsräume hallte das Wimmern eines Babys. Der Wachmann eilte in die Aborigine- Abteilung, aus der das Weinen drang, nachdrücklicher inzwischen. Er durchquerte den Raum, und als er um die Ausstellungswand in der Nähe des Schaukastens bog, sah er das Bündel auf dem Fußboden liegen und stieß einen Fluch aus. Das Baby wimmerte erneut. Der Wachmann ging in die Hocke und hob es vorsichtig auf. Sofort drehte es sich zu seiner Brust und suchte nach Milch.
Das Mädchen saß zusammengekauert auf einem Straßenbahnsitz und hatte die Arme fest um sich geschlungen. Ihre Augen brannten, die vollen Brüste spannten und tropften. Sie verspürte ein schmerzhaftes Ziehen im Bauch, das sie dar an erinnerte, dass ihr Kind weinte und nach ihr verlangte. Ihre Lippen bewegten sich stumm, als sie sich innerlich wieder und wieder vorsagte: »Es ist am besten so ...«
Als die Nachtschwester das Baby aus dem Umschlagtuch wickelte, stieß sie auf eine Nachricht, die an das winzige Hemdchen geheftet war:
»Bitte kümmern Sie sich um meine Tochter. Es ist für mich die einzige Möglichkeit, ihr zu helfen. Ich habe kein Geld. Meine Eltern haben mich rausgeworfen. Ich weiß nicht, wo mein Freund ist. Mein Baby ist zur Hälfte Aborigine, daher möchte ich, dass es bei seinem Stamm aufwächst, wo alle Kinder als Teil einer großen Familie aufgezogen werden. Bitte finden Sie seine Aborigine-Familie. Ich denke, meine Tochter hat es dort besser. Ich möchte nicht, dass mein Freund in Schwierigkeiten gerät, denn ich liebe ihn wirklich. Vielleicht werde ich mein Baby eines Tages wiedersehen.«
In der Fernfahrerkneipe am Hume Highway, wo kräftiges Fastfood ohne großes Brimborium, dafür aber mit viel freundlichem Geplauder serviert wurde, hing ein Fernseher hinter dem Tresen. Die Kellnerin wischte sich Kartoffelbrei von der fleckigen Schürze und verfolgte die Morgennachrichten. Ein Polizeisprecher bat die junge Mutter dringend, sich zu melden und medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
»Ts, ts, armes Ding. Wie kann eine Mutter so etwas tun? Bestimmt ist sie selbst noch ein Kind. Obwohl es ein merkwürdiger Ort ist, um ein Baby auszusetzen ...«, sagte sie nachdenklich.
Der stämmige Fahrer auf dem Hocker vor dem Tresen hörte nicht auf, gebratene Koteletts, Eier und Kartoffelbrei in sich hineinzuschaufeln, und sagte mit vollem Mund: »Wahrscheinlich so 'n verdammtes Abo-Mädchen, das in Schwierigkeiten geraten ist. Die wissen doch gar nicht, was Verantwortung heißt oder was richtig und was falsch ist.«
Ein Geräusch übertönte das andere: das Zischen des Gaskochers, das Brutzeln der Hamburger-Scheiben, das Spritzen von Bratfett, das Gemurmel der Gäste am Tresen und an den Tischen und - sozusagen als Sahnehäubchen - die blecherne Stimme des Nachrichtensprechers.
»Ich dachte, die hätten's so mit der Familie, bei dem ganzen Wirbel, den sie um die Kinder gemacht haben, die man ihnen damals weggenommen hat«, sagte die Kellnerin. Im Fernsehen lief jetzt ein Interview mit dem Wachmann der Galerie.
»Nur wenn dabei Geld für sie rausspringt, Schätzchen. Von denen hört man nur dann etwas, wenn sie irgendwelche Ansprüche geltend machen. Wir werfen denen Milliarden in den Rachen, und was hat das gebracht? Sie kaufen sich Autos, fahren sie zu Schrott und verlangen neue. Ständig sind sie unterwegs zu irgendwelchen Zusammenkünften, um der Regierung noch mehr Geld für dies und das rauszuleiern, oder sie lassen sich volllaufen und vermöbeln ihre Frauen, schmeißen Fensterscheiben ein oder pennen auf der Straße. Verfluchte Verschwendung von Steuergeldern. Wenn's nach mir ginge, sollte man sie alle zurück in den Busch schicken.« Er aß den Rest Kartoffelbrei mit der Bratensoße, die nicht auf seinem stramm über der Wampe gespannten T-Shirt gelandet war.
»Dann magst du die Aborigines also nicht?«
»Persönlich hab ich nichts gegen die, hatte noch nie was mit ihnen zu tun. Aber zum Teufel, ich les doch die Zeitungen. Dieser ganze Aborigine-Aufstand ist eine Schweinerei, und zwar seit Jahren. Wie ich schon sagte: Verschwendung von Steuergeldern.«
»Nun, wir können sie nicht zurückschicken, so viel steht fest«, sagte die Kellnerin schmunzelnd. »Es ist jetzt unser Land, also müssen wir wohl damit leben. Die haben wir am Hals wie ich meine Schwiegermutter.«
»Das stimmt, aber wir müssen sie ja nicht auch noch sonntags zum Mittagessen einladen. Das Beste für das Baby wäre, es käme zu einem anständigen australischen Ehepaar, das keine Kinder kriegen kann - wenn es ihnen nichts ausmacht, dass es dunkle Haut hat.«
»Sie könnten ja immer noch behaupten, es käme von den Inseln«, schlug die Kellnerin vor.
»Tja, das ist nicht unser Problem. Gutes Essen, Cheryl. Was bin ich dir schuldig?«
»Zwölf Dollar. Kommst du nächste Woche wieder vorbei?«
»Schätze schon. Es sei denn, ich hab mal Glück und gewinne im Lotto. Bis dann, Schätzchen.«
Der Lastwagenfahrer schob seine Geldbörse in die Tasche des Neopren-Getränkekühlers, den er auf dem Rücken trug. Gelb-schwarze Football-Socken bauschten sich über seinen Blundstone-Schuhen. Er überquerte die Straße und öffnete die Kabinentür des staubverschmierten, mit sechzig Tonnen beladenen Kenworth T600. Mit einem Griff in die Hose richtete der truckie seine Eier, während er sich mit der anderen Hand hochzog und auf den Fahrersitz schwang. Er drehte den Zündschlüssel, lauschte dem vertrauten Zischen, wenn die Luft aus den Bremsen wich, schob eine Slim-Dusty- Kassette in den Rekorder, legte den ersten Gang ein, trat aufs Gaspedal und schob sich vorsichtig auf den Highway.
Slim und er fielen gerade in den zweiten Refrain ein, als er hinter sich eine Bewegung wahrnahm. In der Schlafkoje hinter den Vordersitzen, die seine Frau mit einer kleinen Gardine abgetrennt hatte, regte sich etwas. Der truckie verlagerte sein Gewicht und blickte über die Schulter. »Verflucht! « Der T600 geriet leicht ins Schleudern, und er packte das Lenkrad und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, dann drehte er sich erneut nach hinten.
Zwischen der geteilten Gardine blickte ihm das blasse, verängstigte Gesicht eines Teenagers entgegen. Sein erster, spontaner Gedanke war: Das riecht nach Ärger. Die Männer auf dem Highway hatten eine Nase dafür.
»Wer zum Teufel bist du? Du hättest verdammt noch mal fragen können, ob du mitfahren darfst. Komm da raus.« Er deutete auf den Platz neben sich. Ohne Widerspruch kletterte das Mädchen zwischen den Sitzen hindurch auf die Beifahrerseite und kauerte sich dicht an die Tür.
Der truckie warf ihr einen raschen Blick zu und schaute wieder auf die Straße. Sie sah krank aus, hatte rote, verquollene Augen und war ungekämmt. Du lieber Gott, nicht auch noch eine Drogensüchtige! »Du musst nicht kotzen, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es geht schon, ich bin nur hungrig. « Ihre Stimme klang sanft, wohl artikuliert. Vermutlich war sie von zu Hause abgehauen oder von einem Freund. Sie konnte nicht viel älter als siebzehn sein. In diesem Alter nahm man sich Liebesdinge noch sehr zu Herzen. »Im Handschuhfach ist Schokolade. Bedien dich.«
Schweigend fuhr er weiter, während sie damit beschäftigt war, das Einwickelpapier aufzureißen und kleine Vierecke Frucht & Nuss in sich hineinzustopfen. Sie schob noch mehr Schokostücke in ihren vollen Mund, dann drehte sie sich zu ihm um und hielt ihm den Rest hin.
»Kannste behalten. Hab gerade erst gefrühstückt. Sieht aus, als könntest du's vertragen.«
Sie nickte und konzentrierte sich aufs Essen.
Als sie fertig war, knüllte sie das Papier zusammen und bedankte sich.
»Also, was ist los? Warum hast du dich da hinten versteckt? Weshalb hältst du nicht draußen den Daumen raus? Wohin willst du überhaupt?«
»Sydney. Wie weit fahren Sie?«
»Das ist dein Glückstag. Eigentlich dürfen wir nämlich gar keine Anhalter mitnehmen. Bringt mich bei meiner Firma in Teufels Küche. Macht zu viele Probleme.«
»Ich werde Ihnen keine Probleme machen.«
Der Fahrer grinste bei der Vorstellung, wie dieser Hungerhaken von Mädchen ihm zu Leibe rückte, doch als er sah, wie ihre Tränen zu fließen begannen, sagte er mit fester Stimme: »Jetzt fang mal nicht an zu heulen. Es macht mir nichts aus, dass du hier sitzt, aber ich ertrage kein Geheule, keine Qualmerei, und ich will mir auch nicht deine Lebensgeschichte anhören.«
Das Mädchen nickte - fügsam, dankbar, erleichtert, nicht reden zu müssen.
Im Vakuum des dröhnenden Motors, der nur von Slim Dustys Gitarrenschlag auf seinem Country-Hits-Goldalbum übertönt wurde, fuhren sie dahin. Ein-, zweimal warf der truckie dem Mädchen einen Seitenblick zu. Sie hatte ihren Kopf gegen das Fenster gelehnt und die Augen geschlossen, ein Ausdruck von unendlicher Traurigkeit und Schmerz lag in ihren feinen Zügen. Kleine Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn, ihr braunes Haar hing feucht herab, auf ihren Wangen waren rosa Flecken - die einzigen Farbtupfer in ihrem blassen Gesicht.
Der Fahrer stellte die Klimaanlage ein und schloss unwillig das Fenster in der Hoffnung, die künstliche Kälte würde ihr Unwohlsein lindern.
Sie fuhren mehrere Stunden lang. Ab und an wurde die ländliche Gegend unterbrochen von den typischen Highway- Auswürfen: Vereinzelte Tankstellen, kleine Geschäfte, Teestuben und billige Motels fügten sich in Grüppchen zusammen und wurden wieder ersetzt von Bäumen und Streifen dichtbewaldeten Staatsforsts. Es war, als zöge man einen Vorhang beiseite und lüde die Touristen ein, das schmale Asphaltband für einen Abstecher zu verlassen, die Gegend zu erkunden und zu genießen. Sorglos, dem nach Süden, Städtchen und Städten zufließenden Verkehr entgegen, während sich zu beiden Seiten hin Gebiete erstreckten, die daran gemahnten, dass es dort draußen noch immer die ungezähmte Wildnis gab.
Das Mädchen bewegte sich, und er fragte sich, ob sie eingeschlafen war. In was für einen Traum auch immer sie gesunken war - er begann sie zu überwältigen: Plötzlich wurde aus den vereinzelten Tränen ein unaufhaltsamer Strom, heftige Schluchzer ließen ihre zerbrechliche Gestalt erbeben.
»Ist alles in Ordnung? Was ist los, Schätzchen?«
Eine Weile brachte sie kein Wort heraus, dann: »Ich hab's mir anders überlegt. Ich ... muss ... zurück.«
»Herrgott! Ich drehe nicht um. Wohin willst du überhaupt zurück?«
Sie rang die Hände, dann ballte sie eine Faust, steckte sie sich in den Mund und biss sich auf die Fingerknöchel. Ihre fahle Haut sah durchsichtig aus, als wäre jeder Tropfen Blut daraus gewichen, jede Energie, jegliches Leben.
»Wir sind nur noch ein paar Kilometer von der Grenze entfernt. Ich besorg dir in Corryong was zu essen, und du entscheidest, was du tun willst. Warten kann ich nicht, ich muss mich an meinen Terminplan halten.«
Zum ersten Mal blickte sie ihn direkt an, ließ die Faust in den Schoß fallen und fasste mit der anderen Hand zum Türgriff. »Ich muss aussteigen ... jetzt. Ich muss zurück.«
»Himmel, Schätzchen, immer mit der Ruhe. Ich kann dich hier nicht rauslassen, mitten im gottverdammten Nichts.«
»Ich muss raus.« Ihre Stimme wurde fest. »Jetzt. Bitte.« Sie fingerte am Türgriff.
»Pass auf! Nun warte doch.« Leise fluchend hielt der truckie Ausschau nach einer Stelle, die breit und lang genug war, um sicher anhalten zu können. Mit knirschendem Getriebe und quietschenden Bremsen kam der Sattelschlepper zum Stehen, und noch bevor der Motor verstummt war, hatte das Mädchen die Beifahrertür aufgerissen.
»Die Gegend hier ist nicht sicher! Was tust du nur?«, rief er, als sie auf den Asphalt hinunterglitt. Sie hatte nicht mehr bei sich als eine kleine Handtasche, die sie quer über die Schulter gehängt hatte, nicht mehr Schutz als ihre Jeansjacke über dem leichten Hippiekleid.
Das verkniffene Gesicht des Mädchens erschien unten an der Fahrertür und blickte zu ihm hinauf. Sie wirkte entschlossen. »Danke. Vielen Dank. Ich weiß, was ich zu tun habe. Es war ein Fehler.«
Sie ging auf die andere Straßenseite und blieb dort mit über der Brust verschränkten Armen stehen.
»Bist du sicher?«, rief der Fahrer ihr nach.
Sie winkte ihm kurz, und er ließ den Motor an, setzte den Blinker und fuhr wieder auf den Highway. Der Verkehr war spärlich um diese Zeit, und er hoffte, sie würde nicht allzu lange auf eine Mitfahrgelegenheit warten müssen.
Im fernen Nordwesten, an einem Ort namens Bungarra - benannt nach dem großen Waran -, wahrscheinlich einer der elendsten, sonnenverbranntesten, entbehrungsreichsten Flecken auf der australischen Landkarte, legte eine alte Frau ihren Pinsel nieder und richtete sich ächzend auf. Sie blickte auf die Leinwand, versehen mit den leuchtenden Acrylfarben, die auf der roten Erde lagen. Das war ihre letzte Geschichte.
Ihre Zeit war gekommen. Sie hatte den Statistiken getrotzt und ihre Zeitgenossen um Jahrzehnte überlebt.
Graues Haar war in dünnen Büscheln hinter ihre Ohren gestrichen, das Gesicht zerfurcht von Falten, der Körper plump, fett von stärkehaltigem Essen, Zucker und Erfrischungsgetränken. Florrie war müde. Der Treibstoff künstlerischen Schaffens, der Florence Namurras Kunstgewerbe befeuert und ihr einen Ruf bei Kunstliebhabern auf der ganzen Welt beschert hatte - nicht zu vergessen ein gutes Einkommen -, ging in dem Augenblick zur Neige, in dem sie ihren Pinsel niederlegte.
Vor gerade mal neun Jahren hatte sie damit begonnen. Das erste Mal hatte eine weiße Dame von der Wohlfahrt den Frauen in den 1970ern Farben gebracht, Wachs, Pigmente, Baumwolle und Leinwände, doch Florrie hatte sich im Hintergrund gehalten, scheinbar desinteressiert vor ein Lagerfeuer gekauert, umgeben von verstreuten Besitztümern, räudigen Hunden und Enkelkindern. Dann, früh an einem frischen Morgen nach ihrer morgendlichen Tasse Tee, hatte sie die alte graue Decke abgeworfen, die sie als Umhang trug, und verkündet, sie sei bereit, sich an »diese Malerei« zu machen. Sie hatte keinerlei Rat oder Vorschläge beherzigt, sondern den anderen den Rücken gekehrt und allein gearbeitet, hatte ihre eigene Technik mit Punkten und Linien entwickelt und Leinwand für Leinwand mit kräftigen, lebendigen Strichen versehen, die ihre Geschichten erzählten.
Innerhalb von zwei Jahren hatte sie den großen Durchbruch erzielt. Die alte Frau aus dem Outback wurde als Kunstikone gefeiert, die Händler rissen sich um sie, Galerien fragten nach ihren Werken. Geld floss ins Lager, das jedoch
genauso schnell wieder verschwunden war, gemäß dem Aborigine- Grundsatz »Was dein ist, ist auch mein«. Schon bald machten es die Ansprüche der Gemeinschaft erforderlich, dass sie die meiste Zeit des Tages mit Malen verbrachte: noch ein Auto, mehr Bares, mehr, mehr. Das Talent, das Ansehen, das Geld, die Anerkennung brachten ein ganzes Spektrum an Kunsthändlern mit sich, skrupellos, hellhörig, durchtrieben, die sich um Florries Werke rissen. Touristen zogen zu dem heruntergekommenen Lager und baten sie, auf die Schnelle »eine kleine Florrie« für sie zu malen. Sie tat ihnen den Gefallen, so waren die Aborigines nun mal. Aber jetzt war Florrie ausgelaugt. Saftlos wie eine alte Frucht.
Sie entfernte sich vom Feuer, ging an der zerbeulten Wellblechhütte vorbei, in der sie auf dem Boden schlief - ein Bett hatte sie immer verschmäht. Die alte Aborigine hielt auf eine Gruppe spindeldürrer Eukalyptusbäume zu und legte sich auf ihre Mutter Erde. Dort zog sie ihre alte graue Decke eng um sich und ruhte sich aus. Und schlief. Und starb.
Florries Geist war jetzt frei. Er löste sich aus dem Körper, der ihn gehalten hatte, stieg auf und trat seine Reise zu ihren Ahnen an, zu ihren bei der Geburt verstorbenen Kindern und deren Vätern, zu ihren Freunden.
Binnen weniger Tage kreisten die Aasgeier über dem Lager und ließen sich nieder.
Susan Massey trocknete sich ab und zog sich an. Im Radio liefen die ABC-Morgennachrichten. Ihre Gedanken waren bei dem Fall, den sie heute Morgen vor Gericht bringen würde. Sie öffnete ihren Schrank und blickte sehnsüchtig auf ihre Lieblingsbuschmontur, doch sie entschied sich für einen dunkelblauen Anzug und eine elegante weiße Seidenbluse. In einem kleinen Anfall von Trotz befestigte sie eine Eidechsenbrosche aus Markasit an ihrem Revers und wandte sich dem Radio zu. Der Nachrichtensprecher hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt.
Eine der erfolgreichsten Aborigine-Malerinnen der Bungarra- Künstlerkolonie in der nordwestaustralischen Kimberley-Region ist tot. Es wird angenommen, dass die Frau über achtzig Jahre alt war. International bekannt geworden ist die Künstlerin durch zwei ihrer Meisterwerke in Acryl, die gerade erst für mehr als eine halbe Million Dollar nach Europa verkauft wurden. Die Familie der Verstorbenen hat gebeten, ihren Namen gemäß dem Brauch der Aborigines ungenannt zu lassen.
»Ich wette, die Kunsthändler stürmen mit gierig ausgestreckten Händen so schnell sie können nach Nordwesten«, mutmaßte Susan und stellte das Radio ab, dann nahm sie ihre Autoschlüssel und ging zur Tür hinaus.
Sie legte die Lederumhängetasche, die sie als Aktentasche benutzte, auf den Beifahrersitz, suchte im Autoradio nach FM, dem Sender mit ihrer Lieblingsmusik, und hörte die Acht-Uhr-Nachrichten. FM hatte keine Bedenken, die Bräuche der Aborigines zu missachten.
In der Kimberley ... berühmte Aborigine-Künstlerin Florence Namurra ... besser bekannt als Florrie, die alte Dame des Outback ... ist gestorben. Florrie hat noch nicht verkaufte Kunstwerke von unschätzbarem Wert hinterlassen. Bedeutende Galerien in Übersee haben bereits damit begonnen, für die Bilder zu bieten, ausgegangen wird von einem Stück- preis von bis zu dreihunderttausend Dollar.
Susan stellte das Radio leise, um sich auf ihren Auftritt vor dem Familienrichter zu konzentrieren. Sie hatte ein gutes Gefühl, was den Ausgang des Falls betraf: Ihre Argumentation war tadellos, sie hatte sorgfältig die Fakten zusammengetragen und ihrem Klienten klare Anweisungen gegeben, wie er sich zu verhalten hatte. Außerdem war seine Frau eine alkoholabhängige Schlampe, da hatte er das Sorgerecht für die Kinder doch wohl verdient.
Die Schwestern hatten das ausgesetzte Mädchen Sunny genannt. Jeder, der den kleinen Sonnenschein sah, musste lächeln. Die Frau von der Fürsorgestelle für Aborigine-Kinder, die gekommen war, um das Baby abzuholen, zuckte die Achseln, als sie den Namen auf der Kennkarte über dem Krankenhausbettchen sah. Sie wusste, dass das Kind später bei der üblichen Zeremonie, die sie mit ihrem Volk und ihrem Land vereinigte, einen anderen Namen bekommen würde. Ob Vater oder Mutter Aborigine waren, spielte dabei keine Rolle, sie würde ihr Erbe einfordern können, dachte Joyce Guwarri. In der Gemeinschaft der Aborigines bestünde kein Zweifel daran, dass das Baby zu ihnen gehörte, genau wie kein Zweifel daran bestand, dass der Vater Aborigine war: Keine Aborigine-Mutter hätte ihr Kind verlassen, das wusste Joyce.
Das Baby war warm angezogen und hatte alle vier Stunden vom Pflegepersonal ein Fläschchen bekommen. Das Tuch, das um die Kleine geschlungen gewesen war, lag gewaschen und zusammengefaltet am Fußende des Bettchens. Joyce nahm es, schüttelte es auseinander und betrachtete die Eulen, die ihres Wissens eine Traumgeschichte erzählten. Aber wessen dreaming stellten sie dar?
Alan Carmichael löschte die Lichter in seiner Galerie, aktivierte den Alarm und schloss ab. Die Straße war nass, und schräg herabfallende Regenschleier trübten das Licht der Straßenlaternen, die kleine Lichtpfützen auf den Gehsteigen schimmern ließen. Passanten hasteten mit hochgezogenen Schultern durch die späte Abenddämmerung heimwärts. Achselzuckend zog er sein Tweed-Jackett über der Brust zusammen und fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar, das in der Straßenbeleuchtung verfrühte Anzeichen von Silber erkennen ließ. Er zögerte, dann wandte er sich zur Exhibition Street und winkte einem Taxi. »Preston. Chambers Street.«
Der Fahrer warf ihm einen fragenden Blick zu, als sie vor einem verwinkelten Haus mit wehender Flagge - ein schwarzer und ein roter Blockstreifen mit einer gelben Scheibe darin - sowie einem Schild mit der Aufschrift »Fürsorgestelle für Aborigine-Kinder« anhielten.
Drinnen fühlte er sich sogleich willkommen. Keine Formalitäten. Eine Tasse Tee, eine gesprächige Rezeptionistin - eine koori aus Victoria oder New South Wales -, dann eine strahlende Sozialarbeiterin.
»Was kann ich für Sie tun?« Joyces Blick war offen. Dieser elegante Weiße um die vierzig, der etwas von einem Künstler an sich hatte, zählte nicht zu den üblichen Besuchern.
»Ich wollte Ihnen ein paar Fragen stellen über das Baby, das in der Kunstgalerie ausgesetzt wurde.«
»Wenn Sie über eine Adoption nachdenken, muss ich Sie leider enttäuschen. Die Kleine ist kein Kind für weiße Leute. Sie ist eine Aborigine, und sie wird zu ihren Angehörigen kommen.«
Er lächelte. »Ein befreundeter Polizist hat mich angerufen, ein Aborigine-Sergeant, und um meine Hilfe gebeten.«
»Sie sind ein Detective?« Ihre Herzlichkeit kühlte leicht ab.
»Nein, keineswegs. Ich betreibe eine Galerie für Aborigi- ne-Kunst. Er dachte, ich wäre vielleicht in der Lage, die Muster auf dem Babytuch zuzuordnen.«
Joyces Misstrauen schwand. »Oh, das würde uns sehr helfen. Wir sind nämlich mit unserer Weisheit am Ende und völlig ratlos, was die Familie anbelangt. Die arme Mutter, es muss schwer für sie gewesen sein, so ein süßes Ding abzugeben. «
Sie gingen an einem Speisesaal vorbei, in dem Teenager und alte Männer zusammen beim Essen saßen - »Schwarze «, wie die Ureinwohner Australiens im Allgemeinen genannt wurden. In einem Gemeinschaftsraum spielten zwei Jungen Billard, mehrere Mädchen schauten fern. Zwischen zwei Räumen war eine Wand eingerissen worden, um eine Art Krankenstation zu schaffen, in der eine ordentliche Reihe von Betten stand. Ein Fenster ging auf einen Vorstadtgarten. Ein altes Eisengitterbettchen stand davor, mittendrin lag ein gelbes Bündel. Es sah nicht größer aus als eine Familienportion fish and chips. Gut verpackt, fertig zum Mitnehmen. Alan beobachtete, wie Joyce ein Eckchen der Decke zurückschlug. Das Baby rührte sich nicht. Bei seinem Anblick spürte Alan die unerwartete Anziehungskraft eines lieblich schlummernden, schutzlosen Geschöpfs. Unweigerlich dachte er an zu Hause, an den Geruch von Milch und Talkumpuder, an ein Köpfchen, das sich an seinen Hals schmiegte, an die dämmernde Erkenntnis von Liebe in großen, unbedarften Augen, und er berührte das weiche dunkle Haar auf dem Babykopf. »Sie ist wirklich eine ganz Süße.«
»Ich hole die Schachtel mit ihren Sachen.« Joyce durchstöberte eine Plastikbox mit Windeln, Kleidung und einem Fläschchen. Ganz unten lag, gewaschen und zusammengefaltet, ein handbedrucktes Tuch. Sie reichte es Alan, der es öffnete und die Bilder und Symbole betrachtete.
»Die sind mir schon mal untergekommen, aber ich muss erst meine Unterlagen durchgehen, um sie richtig zuordnen zu können. Darf ich das mitnehmen?«
»Ich denke schon. Was meinen Sie, woher es kommt?«
»Ich habe viel Zeit bei Künstlern in der Kimberley verbracht, dort habe ich diese Eule gesehen. Ich kenne eine Weiße, die mit den Aborigines arbeitet und mich bald besuchen kommt. Ihr würde ich das Tuch gern zeigen.«
Alan faltete den Baumwollstoff wieder zusammen und legte ihn in eine Plastiktüte, die Joyce ihm gereicht hatte. »Ich frage mich, ob die Mutter aus der Kimberley nach Melbourne gekommen ist«, sagte er. »Vielleicht ist sie auch in der Stadt aufgewachsen und kennt die Eulengeschichte, hat aber keine Ahnung, wer ihre Leute sind.«
»Möglicherweise weiß sie es nicht, weil sie eine Weiße ist. Vielleicht ist ja der Vater des Babys Aborigine.« Die Fürsorgerin beobachtete Alans Reaktion. »Also, Sie können das Tuch mitnehmen, aber vorher zeigen Sie mir bitte irgendeinen Ausweis, hinterlassen Ihre Adresse und Telefonnummer und bestätigen, dass Sie es innerhalb einer Woche zurückbringen werden.« Sie griff nach einem Notizblock mit dem Kopf der Fürsorgestelle für Aborigine-Kinder und reichte ihn Alan zusammen mit einem Stift. »Ich hoffe, Sie können helfen, um des Babys willen.«
Die schwarze Frau und der weiße Mann blickten auf das dunkelhäutige Kind ohne Familie, ohne Namen ... ohne das Wissen, dass es eines Tages für die Verflechtung vieler Leben verantwortlich sein würde.
Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp
Vollständige Taschenbuchausgabe Februar 2013 Knaur Taschenbuch © 1997 Di Morrissey
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2011 Knaur Verlag
Der Mann war weder alt noch jung. Er war in einem Alter, das Weisheit kennt, Schmerz, und in dem man dennoch nach vorn blickt, mit strahlenden Augen und hoffnungsvollem Herzen.
Er war schlank und straff wie kräftiger, gespannter Zwirn, die Muskeln und Sehnen seines Körpers präzise definiert wie auf einem anatomischen Schaubild. Die gräuliche Erdfarbe auf der glänzenden dunklen Haut war zu einer rissigen Kruste getrocknet. Er saß im rostroten Staub, die schwarzen Augen mit der traditionellen Farbe für Zeremonien umringt, und blickte in die Ferne ... weiter noch, ins Traumzeitland seiner Ahnen.
Das Traumzeitland - spirit land - war erschaffen worden von den wandjina, Wolken- und Regengeistern, die sich in menschlicher Gestalt mit einem Kranz aus Blitzen oder Wolken um den Kopf zeigten. Sie hatten riesige wachsame Augen, aber keinen Mund. Die wandjina zogen durch dieses Land und prägten die topographischen Eigenschaften der Landschaft - die Berge und Höhen, die Schluchten und heiligen, energiespeichernden wunggud-Gewässer -, bis sie in die Höhlen gelangten, wo sie ihre Bilder auf die Wände malten und wieder im Erdboden versanken.
Diese Wesen jenseits der Zeiten waren dem Songmaster vertraut. Ihr Wissen war geborgen in den Geschichten, die über unzählige Generationen hinweg überliefert wurden, in den Traumliedern seiner Leute und ihres Landes.
Er streckte die Beine aus, hob sein didgeridoo auf und setzte das aus Bienenwachs geknetete Mundstück an die Lippen; das Ende des langen Holzrohrs blieb am Boden. Die Natur war Schöpferin dieses Instruments, das aus dem Erdreich kam, dem Land seiner Ahnen. Seine Form, seine Dicke, das Holz, von Termiten zerlöchert, verliehen ihm Leben und eine eigene Stimme.
Er blähte die Wangen und ließ seinen Atem kraftvoll durch das Eukalyptusrohr strömen. Die Luft entwich neben seinen Zehen und mit ihr ein nachhallender Ton, der im Boden vibrierte, zurückkehrte in die Natur und tief ins Herz der Erde, ins Innerste des Traumzeitlandes, drang.
Er sang zu den wandjina, den mächtigen Geistern, die über dieses Land wachten, die jene bestraften, welche die Gesetze missachteten, die die Kindgeister beaufsichtigten, welche in den wunggud-Gewässern auf ihre Empfängnis warteten, die Regen brachten und die Weisheit der Ältesten lenkten.
Und so sang er ... von den Felsen und Bäumen und Pflanzen und Tieren. Von den Wesen, die all diese Dinge geschaffen hatten, und von seinem Volk, damals und jetzt.
»... und es wird ein Kind kommen, welches die Menschen versöhnt und eins werden lässt.«
Der Anfang ...
Rosige Dämmerung senkte sich auf Los Angeles herab. Der Verkehr auf dem Beverly Boulevard wurde zunehmend dichter. Doktor Hal Silverstein stand an seinem Bürofenster im zwölften Stock und blickte über die Gebäude von Beverly Hills hinweg in einen Himmel, der von roten und goldenen Streifen durchzogen war. Es amüsierte ihn, dass diese Stadt ihre spektakulären Sonnenuntergänge der Smogschicht zu verdanken hatte, die zu der elenden Luftqualität L. A.s beitrug. Er blickte auf die Blechschlange hinab, die sich mit leuchtenden Rücklichtern durch die Vororte wand, das letzte Licht des Tages, gespiegelt von glänzendem Lack.
»Haben Sie irgendeine Idee, worum es sich handeln könnte? « Die Stimme der Frau klang gereizt, mürrisch.
Der Psychiater wandte sich vom Fenster ab und blickte seine Patientin an. »Nein. Das habe ich nicht, um ehrlich zu sein.«
»Man kann doch mit Sicherheit noch einen anderen Test machen, ein weiteres Blutbild, irgendetwas ...?«
»Rowena, wir haben jeden der Medizinwissenschaft bekannten Test gemacht, und alles, was uns die Ärzte sagen können, ist, dass es sich möglicherweise um eine Art Virus handelt, den Sie sich in Australien eingefangen haben ...«
Der Frau traten Tränen in die Augen. »Aber es bringt mich um! Mein Gott, da wird man doch was machen können ...«
Der Psychiater nestelte an seiner Gucci-Krawatte, dann nahm er seiner Patientin gegenüber Platz. Er machte sich Sorgen um ihre psychische Stabilität, doch was ihn wirklich schockierte, war die rapide Verschlechterung ihres körperlichen Zustands. Selbst in einer Stadt, die Magerkeit zum Ideal erhoben hatte, wirkte sie dürr wie ein Stöckchen, wenngleich die Ärzte Magersucht ausschlossen. Durch den unerklärlichen Gewichtsverlust zeichneten sich ihre Knochen scharf unter der Haut ab und ließen sie transparent erscheinen wie Seidenpapier. Ihre normale Farbe war einer ungesunden, käsigen Blässe gewichen, knittrige Haut hing faltig um ihren Hals - ein Anblick, bei dem die Damen von L. A. normalerweise zum nächsten Schönheitschirurgen rannten.
Er streckte die Hand aus und legte sie auf ihre. »Sie haben viel Gewicht verloren. Ich weiß, dass Sie ständig müde sind und sich gleichzeitig rastlos fühlen, aber wir können einfach keine körperliche Ursache dafür ausmachen.«
»Was ist mit dem Kopfweh, den Schmerzen und den Träumen - Alpträume, keine normalen Träume, entsetzliche Alpträume ...« Sie schrie fast vor Verzweiflung.
Doktor Silverstein setzte einen mitfühlenden Gesichtsausdruck auf und suchte nach angemessenen Worten, obwohl er seine Patientin am liebsten geschüttelt hätte. In seinen Augen war sie nichts als eine weitere verwöhnte Neurotikerin, eine anspruchsvolle Tyrannin, ein typisches Exemplar dieser reichen Zicken, die niemals auf dem Boden der Realität gestanden hatten. Eingehend betrachtete er die großgewachsene Frau mittleren Alters, ihr flammend rotes Haar, ihre braunen Augen mit dem gelblichen Schimmer. Sie hatte etwas von einem Wildhund, schoss es ihm durch den Kopf.
»Erzählen Sie mir noch einmal davon«, sagte er in beschwichtigendem Ton, um sie abzulenken. Sie schien ruhiger zu werden, wenn sie ihm von ihren Alpträumen berichtete. Der Psychiater blickte zu seiner Schreibtischuhr hinüber. Sie bezahlte ihn nach Stunden, rief er sich ins Gedächtnis. Er hatte also alle Zeit der Welt. Und so lehnte er sich zurück, während sie die Augen schloss und zu erzählen begann:
»Ich gehe durch Gras, das meine Oberschenkel streift. Ich fasse eine Handvoll davon, um es zu teilen, und zerschneide mir die Handflächen wie an rasiermesserscharfen Klingen; Blut tropft von meinen Fingern zu Boden. Zu allen Seiten erheben sich riesige dunkle Felsen, aber sie wirken nicht stabil; sie scheinen sich in einer unsicheren Balance zu befinden, als könnten sie auf mich herabstürzen. Der Himmel ist blauer als jedes Blau, das ich bislang gesehen habe, und er scheint sich zu bauschen wie ein Zelt, so dass ich fürchte, er wird sich herabsenken und mich ersticken.«
»Haben Sie Angst?«
»Nein. Ich möchte weitergehen. Ich sehe eine Öffnung zwischen den Felsen und eine Höhle. Ich klettere hinauf und kauere mich in die Kühle des Überhangs. Dort sind diese fantastischen Malereien an den Wänden und uralte weiße Handabdrücke. Ich lege meine eigene Hand auf einen weißen Abdruck und hinterlasse einen Blutfleck. Dann sehe ich sie ... sie starren mich an ...«
»Was? Was starrt Sie an?«
»Totenköpfe. Entsetzliche Gesichter, rot angemalt ... sie blicken mich zornig an. Und dann fangen die Geräusche an ...«
»Was für Geräusche?«, hakte Doktor Silverstein nach.
»Wehklagen ... Weinen ... unheimliche Laute. Offenbar stammen sie von Menschen, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Ich weiß, dass sie mir etwas mitzuteilen versuchen. «
Sie ließ ihr Gesicht in die Hände sinken und fing an zu zittern. »Die Kimberley ist eine so schöne Gegend ... die Leute - einfach großartig. Aber seit meiner Rückkehr höre ich nachts diese Stimmen ... Es ist, als wären sie in meinem Körper und versuchten, hinauszugelangen.« Sie öffnete die Augen und bedachte den Mann ihr gegenüber mit einem wilden Blick. »Sie oder ich, darum geht es hier. In mir herrscht Krieg - sie versuchen, die Kontrolle über mich zu erlangen. Sie versuchen, mich umzubringen.«
Der Psychiater aus L. A. mit seiner Sonnenbräune, dem im Sports Club getrimmten Körper und seiner Designer-Kleidung war ein Mann, dessen beruflicher und sozialer Radius sich kaum über La Brea im Osten und den Olympic Boulevard im Süden hinaus erstreckte und erst recht nicht über den Vorwahlbereich 310, der Santa Monica, Malibu, Pacific Palisades, Compton, Torrance, Beverly Hills und Catalina Island umfasste. Urlaub bedeutete für ihn Bermudas oder Baja. Und so konnte er absolut nicht begreifen, was Rowena Singer, die Tochter eines prominenten Filmmoguls, die seit ihrer letzten Scheidung in der Villa ihres Vaters in Brentwood lebte, in primitivste Verhältnisse unter die Eingeborenen einer Wüste in Westaustralien verschlagen hatte.
»Rowena, wer hat Ihnen von diesem Ort erzählt, von der Kimberley? Warum sind Sie dorthin gegangen?«, fragte er vorsichtig. Zum ersten Mal schwang Neugier in seiner Stimme mit.
Sie blickte ihn an, dann schloss sie die Augen, schlang die Arme um ihren Oberkörper und schaukelte sanft vor und zurück. »Ardjani hat mir davon erzählt. Er ist ein Stammesältester der Aborigines, ein Prophet, ein weiser Mann. Ich bin ihm hier in L. A. begegnet. Er hat mir vom Songmaster erzählt, dem Mann, der das didgeridoo spielt und die Lieder der Barradja singt. Ardjani sagt, der Songmaster singt die überlieferten Geschichten aus der Vergangenheit, die davon handeln, dass die Barradja die ersten Menschen auf diesem Planeten waren. Er kommt zu Ardjanis Stamm, erklärt die Gegenwart und sagt die Zukunft voraus.«
»Wo haben Sie diesen Ardjani kennengelernt?«
»Auf einer Benefizveranstaltung im Museum of Contemporary Art, bei einer Ausstellung über Aborigine-Kunst. Als ich Ardjani begegnete, wusste ich, dass ich ihm folgen musste ... Mir war die Idee gekommen, einen Dokumentarfilm über ihn und seine Leute zu drehen. Doch etwas lief schief. Etwas Schlimmes ist passiert. Dabei hatte ich wirklich nichts Böses im Sinn.«
»Was haben Sie denn getan? Was ist geschehen?«
Sie gab keine Antwort, hörte aber auch nicht auf zu schaukeln.
Doktor Silverstein starrte hinaus auf den verblassenden Himmel über der Stadt der Engel. Schließlich sagte er: »Ich kann nichts mehr für Sie tun. Ich glaube, Sie müssen nach Australien zurückkehren und diesen Ardjani fragen, ob er Ihnen helfen kann.«
Der Kopf des Wachmanns sackte auf die Brust, als ihn die Müdigkeit übermannte. Mit einem Ruck riss er das Kinn hoch, die Augen nach wie vor geschlossen, doch wieder fi el sein Kopf nach vorn und blieb diesmal auf dem Kragen liegen. Er sank in tiefen Schlaf.
Die schmale Gestalt einer jungen Frau, die leise durch den Bogengang zur Victorian Art Gallery mit den Ausstellungsstücken der Aborigines schlüpfte, bemerkte er nicht, vermutlich hätte er ihr ohnehin keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Gerade einmal achtzehn, in einem formlosen Hippiekleid über einem langärmeligen gestrickten Baumwolloberteil, das feine braune Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, ging sie an einem Schaukasten mit Beispielen für Weberei, Rindenmalerei, Holzschalen und Töpfen vorbei. Ihre weichen Sandalen machten keine Geräusche auf dem polierten Parkett, und während sie lief, hielt sie das Kind fest in den Armen, das sie in ein im Nacken verknotetes Tuch gewickelt hatte. Sie blickte auf das schlafende Baby her ab - dunkle, gebogene Wimpern, ein Mund, so vollkommen geformt, dass sie nicht anders konnte, als ihren Kopf zu senken und mit den Lippen über die rosige Knospe zu streichen, die sich so geschickt und besitzergreifend um ihre Brustwarzen schloss.
Sie kam an den zeitgenössischen Sammlungen vorbei, die ringsum an den Wänden hingen, Werke von Freddie Timms, Rover Thomas, Queenie McKenzie, Paddy Jaminji. Vor einer in Ockertönen gehaltenen Acrylzeichnung zweier sonderbarer Figuren auf Ingres-Papier blieb sie stehen. Wandjina- Beobachtung. Rosie Kaminyarli 1983 stand mit Bleistift in einer Ecke. Die primitiven Gesichter, umgeben von einer Art Heiligenschein, mit riesigen Augen, doch ohne Münder, was ihnen beinahe etwas Außerirdisches verlieh, starrten sie an.
Das Mädchen band das Tuch im Nacken auf. Obwohl sie selbst fast noch ein Kind war, war es unverkennbar mütterliche Fürsorge, mit der sie den Säugling hielt, welcher sich jetzt regte und wimmerte. Das leise Weinen ließ sie die Milch spüren, die sich schmerzhaft in ihren Brüsten staute. Das Baby wand sich in seiner engen Umhüllung, und sie ging mit ihm hinüber zu einer Wand mit Ausstellungsstücken, die einen Teil der kleinen Galerie verdeckte. Dort hockte sie sich auf den Fußboden und breitete das Tuch unter dem Säugling aus. Einen Augenblick verharrte sie und ließ das Kind an einem ihrer Fingerknöchel saugen. Eine kleine Hand schloss sich darum. Sie blickte auf die zarten Fingerchen mit den winzigen rosa Nägeln, die sich gerade erst gebildet hatten, und strich mit der Hand von dem flaumigen Babyköpfchen bis zu den vollkommenen Füßchen in dem Baumwolltuch.
Das Tuch war von Hand bedruckt und zeigte ein kindliches Muster aus rundlichen Eulen mit abstehenden spitzen Federn. Kleine Strichmännchen in merkwürdiger Tracht waren zwischen den weißen Vögeln mit den Hakenschnäbeln auf dem rostroten Stoff verstreut.
Das Mädchen stand auf, blickte auf das schläfrige Baby hin ab und prägte sich jeden seiner Züge ein, als wolle sie sie in ihr Herz brennen. Dann drehte sie sich mit tränenüberströmtem Gesicht um und ging eilig hinter den reichverzierten Baumstammsärgen in eine angrenzende Abteilung und nahm von dort aus die Rolltreppe hinunter zum Haupteingang.
Ein kühler Wind strich durch die Swanston Street, und der Himmel verfinsterte sich zu einem spätnachmittäglichen Grau. In der Victorian Art Gallery fuhr der Wachmann mit einem Ruck aus dem Schlaf. Er streckte sich erschrocken und blickte sich schuldbewusst um, wobei er sich fragte, was ihn wohl geweckt haben mochte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass das Museum bald schließen würde. Ächzend erhob er sich, und dann hörte er, was ihn aufgeschreckt hatte: Durch die kalten, leeren Ausstellungsräume hallte das Wimmern eines Babys. Der Wachmann eilte in die Aborigine- Abteilung, aus der das Weinen drang, nachdrücklicher inzwischen. Er durchquerte den Raum, und als er um die Ausstellungswand in der Nähe des Schaukastens bog, sah er das Bündel auf dem Fußboden liegen und stieß einen Fluch aus. Das Baby wimmerte erneut. Der Wachmann ging in die Hocke und hob es vorsichtig auf. Sofort drehte es sich zu seiner Brust und suchte nach Milch.
Das Mädchen saß zusammengekauert auf einem Straßenbahnsitz und hatte die Arme fest um sich geschlungen. Ihre Augen brannten, die vollen Brüste spannten und tropften. Sie verspürte ein schmerzhaftes Ziehen im Bauch, das sie dar an erinnerte, dass ihr Kind weinte und nach ihr verlangte. Ihre Lippen bewegten sich stumm, als sie sich innerlich wieder und wieder vorsagte: »Es ist am besten so ...«
Als die Nachtschwester das Baby aus dem Umschlagtuch wickelte, stieß sie auf eine Nachricht, die an das winzige Hemdchen geheftet war:
»Bitte kümmern Sie sich um meine Tochter. Es ist für mich die einzige Möglichkeit, ihr zu helfen. Ich habe kein Geld. Meine Eltern haben mich rausgeworfen. Ich weiß nicht, wo mein Freund ist. Mein Baby ist zur Hälfte Aborigine, daher möchte ich, dass es bei seinem Stamm aufwächst, wo alle Kinder als Teil einer großen Familie aufgezogen werden. Bitte finden Sie seine Aborigine-Familie. Ich denke, meine Tochter hat es dort besser. Ich möchte nicht, dass mein Freund in Schwierigkeiten gerät, denn ich liebe ihn wirklich. Vielleicht werde ich mein Baby eines Tages wiedersehen.«
In der Fernfahrerkneipe am Hume Highway, wo kräftiges Fastfood ohne großes Brimborium, dafür aber mit viel freundlichem Geplauder serviert wurde, hing ein Fernseher hinter dem Tresen. Die Kellnerin wischte sich Kartoffelbrei von der fleckigen Schürze und verfolgte die Morgennachrichten. Ein Polizeisprecher bat die junge Mutter dringend, sich zu melden und medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
»Ts, ts, armes Ding. Wie kann eine Mutter so etwas tun? Bestimmt ist sie selbst noch ein Kind. Obwohl es ein merkwürdiger Ort ist, um ein Baby auszusetzen ...«, sagte sie nachdenklich.
Der stämmige Fahrer auf dem Hocker vor dem Tresen hörte nicht auf, gebratene Koteletts, Eier und Kartoffelbrei in sich hineinzuschaufeln, und sagte mit vollem Mund: »Wahrscheinlich so 'n verdammtes Abo-Mädchen, das in Schwierigkeiten geraten ist. Die wissen doch gar nicht, was Verantwortung heißt oder was richtig und was falsch ist.«
Ein Geräusch übertönte das andere: das Zischen des Gaskochers, das Brutzeln der Hamburger-Scheiben, das Spritzen von Bratfett, das Gemurmel der Gäste am Tresen und an den Tischen und - sozusagen als Sahnehäubchen - die blecherne Stimme des Nachrichtensprechers.
»Ich dachte, die hätten's so mit der Familie, bei dem ganzen Wirbel, den sie um die Kinder gemacht haben, die man ihnen damals weggenommen hat«, sagte die Kellnerin. Im Fernsehen lief jetzt ein Interview mit dem Wachmann der Galerie.
»Nur wenn dabei Geld für sie rausspringt, Schätzchen. Von denen hört man nur dann etwas, wenn sie irgendwelche Ansprüche geltend machen. Wir werfen denen Milliarden in den Rachen, und was hat das gebracht? Sie kaufen sich Autos, fahren sie zu Schrott und verlangen neue. Ständig sind sie unterwegs zu irgendwelchen Zusammenkünften, um der Regierung noch mehr Geld für dies und das rauszuleiern, oder sie lassen sich volllaufen und vermöbeln ihre Frauen, schmeißen Fensterscheiben ein oder pennen auf der Straße. Verfluchte Verschwendung von Steuergeldern. Wenn's nach mir ginge, sollte man sie alle zurück in den Busch schicken.« Er aß den Rest Kartoffelbrei mit der Bratensoße, die nicht auf seinem stramm über der Wampe gespannten T-Shirt gelandet war.
»Dann magst du die Aborigines also nicht?«
»Persönlich hab ich nichts gegen die, hatte noch nie was mit ihnen zu tun. Aber zum Teufel, ich les doch die Zeitungen. Dieser ganze Aborigine-Aufstand ist eine Schweinerei, und zwar seit Jahren. Wie ich schon sagte: Verschwendung von Steuergeldern.«
»Nun, wir können sie nicht zurückschicken, so viel steht fest«, sagte die Kellnerin schmunzelnd. »Es ist jetzt unser Land, also müssen wir wohl damit leben. Die haben wir am Hals wie ich meine Schwiegermutter.«
»Das stimmt, aber wir müssen sie ja nicht auch noch sonntags zum Mittagessen einladen. Das Beste für das Baby wäre, es käme zu einem anständigen australischen Ehepaar, das keine Kinder kriegen kann - wenn es ihnen nichts ausmacht, dass es dunkle Haut hat.«
»Sie könnten ja immer noch behaupten, es käme von den Inseln«, schlug die Kellnerin vor.
»Tja, das ist nicht unser Problem. Gutes Essen, Cheryl. Was bin ich dir schuldig?«
»Zwölf Dollar. Kommst du nächste Woche wieder vorbei?«
»Schätze schon. Es sei denn, ich hab mal Glück und gewinne im Lotto. Bis dann, Schätzchen.«
Der Lastwagenfahrer schob seine Geldbörse in die Tasche des Neopren-Getränkekühlers, den er auf dem Rücken trug. Gelb-schwarze Football-Socken bauschten sich über seinen Blundstone-Schuhen. Er überquerte die Straße und öffnete die Kabinentür des staubverschmierten, mit sechzig Tonnen beladenen Kenworth T600. Mit einem Griff in die Hose richtete der truckie seine Eier, während er sich mit der anderen Hand hochzog und auf den Fahrersitz schwang. Er drehte den Zündschlüssel, lauschte dem vertrauten Zischen, wenn die Luft aus den Bremsen wich, schob eine Slim-Dusty- Kassette in den Rekorder, legte den ersten Gang ein, trat aufs Gaspedal und schob sich vorsichtig auf den Highway.
Slim und er fielen gerade in den zweiten Refrain ein, als er hinter sich eine Bewegung wahrnahm. In der Schlafkoje hinter den Vordersitzen, die seine Frau mit einer kleinen Gardine abgetrennt hatte, regte sich etwas. Der truckie verlagerte sein Gewicht und blickte über die Schulter. »Verflucht! « Der T600 geriet leicht ins Schleudern, und er packte das Lenkrad und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, dann drehte er sich erneut nach hinten.
Zwischen der geteilten Gardine blickte ihm das blasse, verängstigte Gesicht eines Teenagers entgegen. Sein erster, spontaner Gedanke war: Das riecht nach Ärger. Die Männer auf dem Highway hatten eine Nase dafür.
»Wer zum Teufel bist du? Du hättest verdammt noch mal fragen können, ob du mitfahren darfst. Komm da raus.« Er deutete auf den Platz neben sich. Ohne Widerspruch kletterte das Mädchen zwischen den Sitzen hindurch auf die Beifahrerseite und kauerte sich dicht an die Tür.
Der truckie warf ihr einen raschen Blick zu und schaute wieder auf die Straße. Sie sah krank aus, hatte rote, verquollene Augen und war ungekämmt. Du lieber Gott, nicht auch noch eine Drogensüchtige! »Du musst nicht kotzen, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es geht schon, ich bin nur hungrig. « Ihre Stimme klang sanft, wohl artikuliert. Vermutlich war sie von zu Hause abgehauen oder von einem Freund. Sie konnte nicht viel älter als siebzehn sein. In diesem Alter nahm man sich Liebesdinge noch sehr zu Herzen. »Im Handschuhfach ist Schokolade. Bedien dich.«
Schweigend fuhr er weiter, während sie damit beschäftigt war, das Einwickelpapier aufzureißen und kleine Vierecke Frucht & Nuss in sich hineinzustopfen. Sie schob noch mehr Schokostücke in ihren vollen Mund, dann drehte sie sich zu ihm um und hielt ihm den Rest hin.
»Kannste behalten. Hab gerade erst gefrühstückt. Sieht aus, als könntest du's vertragen.«
Sie nickte und konzentrierte sich aufs Essen.
Als sie fertig war, knüllte sie das Papier zusammen und bedankte sich.
»Also, was ist los? Warum hast du dich da hinten versteckt? Weshalb hältst du nicht draußen den Daumen raus? Wohin willst du überhaupt?«
»Sydney. Wie weit fahren Sie?«
»Das ist dein Glückstag. Eigentlich dürfen wir nämlich gar keine Anhalter mitnehmen. Bringt mich bei meiner Firma in Teufels Küche. Macht zu viele Probleme.«
»Ich werde Ihnen keine Probleme machen.«
Der Fahrer grinste bei der Vorstellung, wie dieser Hungerhaken von Mädchen ihm zu Leibe rückte, doch als er sah, wie ihre Tränen zu fließen begannen, sagte er mit fester Stimme: »Jetzt fang mal nicht an zu heulen. Es macht mir nichts aus, dass du hier sitzt, aber ich ertrage kein Geheule, keine Qualmerei, und ich will mir auch nicht deine Lebensgeschichte anhören.«
Das Mädchen nickte - fügsam, dankbar, erleichtert, nicht reden zu müssen.
Im Vakuum des dröhnenden Motors, der nur von Slim Dustys Gitarrenschlag auf seinem Country-Hits-Goldalbum übertönt wurde, fuhren sie dahin. Ein-, zweimal warf der truckie dem Mädchen einen Seitenblick zu. Sie hatte ihren Kopf gegen das Fenster gelehnt und die Augen geschlossen, ein Ausdruck von unendlicher Traurigkeit und Schmerz lag in ihren feinen Zügen. Kleine Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn, ihr braunes Haar hing feucht herab, auf ihren Wangen waren rosa Flecken - die einzigen Farbtupfer in ihrem blassen Gesicht.
Der Fahrer stellte die Klimaanlage ein und schloss unwillig das Fenster in der Hoffnung, die künstliche Kälte würde ihr Unwohlsein lindern.
Sie fuhren mehrere Stunden lang. Ab und an wurde die ländliche Gegend unterbrochen von den typischen Highway- Auswürfen: Vereinzelte Tankstellen, kleine Geschäfte, Teestuben und billige Motels fügten sich in Grüppchen zusammen und wurden wieder ersetzt von Bäumen und Streifen dichtbewaldeten Staatsforsts. Es war, als zöge man einen Vorhang beiseite und lüde die Touristen ein, das schmale Asphaltband für einen Abstecher zu verlassen, die Gegend zu erkunden und zu genießen. Sorglos, dem nach Süden, Städtchen und Städten zufließenden Verkehr entgegen, während sich zu beiden Seiten hin Gebiete erstreckten, die daran gemahnten, dass es dort draußen noch immer die ungezähmte Wildnis gab.
Das Mädchen bewegte sich, und er fragte sich, ob sie eingeschlafen war. In was für einen Traum auch immer sie gesunken war - er begann sie zu überwältigen: Plötzlich wurde aus den vereinzelten Tränen ein unaufhaltsamer Strom, heftige Schluchzer ließen ihre zerbrechliche Gestalt erbeben.
»Ist alles in Ordnung? Was ist los, Schätzchen?«
Eine Weile brachte sie kein Wort heraus, dann: »Ich hab's mir anders überlegt. Ich ... muss ... zurück.«
»Herrgott! Ich drehe nicht um. Wohin willst du überhaupt zurück?«
Sie rang die Hände, dann ballte sie eine Faust, steckte sie sich in den Mund und biss sich auf die Fingerknöchel. Ihre fahle Haut sah durchsichtig aus, als wäre jeder Tropfen Blut daraus gewichen, jede Energie, jegliches Leben.
»Wir sind nur noch ein paar Kilometer von der Grenze entfernt. Ich besorg dir in Corryong was zu essen, und du entscheidest, was du tun willst. Warten kann ich nicht, ich muss mich an meinen Terminplan halten.«
Zum ersten Mal blickte sie ihn direkt an, ließ die Faust in den Schoß fallen und fasste mit der anderen Hand zum Türgriff. »Ich muss aussteigen ... jetzt. Ich muss zurück.«
»Himmel, Schätzchen, immer mit der Ruhe. Ich kann dich hier nicht rauslassen, mitten im gottverdammten Nichts.«
»Ich muss raus.« Ihre Stimme wurde fest. »Jetzt. Bitte.« Sie fingerte am Türgriff.
»Pass auf! Nun warte doch.« Leise fluchend hielt der truckie Ausschau nach einer Stelle, die breit und lang genug war, um sicher anhalten zu können. Mit knirschendem Getriebe und quietschenden Bremsen kam der Sattelschlepper zum Stehen, und noch bevor der Motor verstummt war, hatte das Mädchen die Beifahrertür aufgerissen.
»Die Gegend hier ist nicht sicher! Was tust du nur?«, rief er, als sie auf den Asphalt hinunterglitt. Sie hatte nicht mehr bei sich als eine kleine Handtasche, die sie quer über die Schulter gehängt hatte, nicht mehr Schutz als ihre Jeansjacke über dem leichten Hippiekleid.
Das verkniffene Gesicht des Mädchens erschien unten an der Fahrertür und blickte zu ihm hinauf. Sie wirkte entschlossen. »Danke. Vielen Dank. Ich weiß, was ich zu tun habe. Es war ein Fehler.«
Sie ging auf die andere Straßenseite und blieb dort mit über der Brust verschränkten Armen stehen.
»Bist du sicher?«, rief der Fahrer ihr nach.
Sie winkte ihm kurz, und er ließ den Motor an, setzte den Blinker und fuhr wieder auf den Highway. Der Verkehr war spärlich um diese Zeit, und er hoffte, sie würde nicht allzu lange auf eine Mitfahrgelegenheit warten müssen.
Im fernen Nordwesten, an einem Ort namens Bungarra - benannt nach dem großen Waran -, wahrscheinlich einer der elendsten, sonnenverbranntesten, entbehrungsreichsten Flecken auf der australischen Landkarte, legte eine alte Frau ihren Pinsel nieder und richtete sich ächzend auf. Sie blickte auf die Leinwand, versehen mit den leuchtenden Acrylfarben, die auf der roten Erde lagen. Das war ihre letzte Geschichte.
Ihre Zeit war gekommen. Sie hatte den Statistiken getrotzt und ihre Zeitgenossen um Jahrzehnte überlebt.
Graues Haar war in dünnen Büscheln hinter ihre Ohren gestrichen, das Gesicht zerfurcht von Falten, der Körper plump, fett von stärkehaltigem Essen, Zucker und Erfrischungsgetränken. Florrie war müde. Der Treibstoff künstlerischen Schaffens, der Florence Namurras Kunstgewerbe befeuert und ihr einen Ruf bei Kunstliebhabern auf der ganzen Welt beschert hatte - nicht zu vergessen ein gutes Einkommen -, ging in dem Augenblick zur Neige, in dem sie ihren Pinsel niederlegte.
Vor gerade mal neun Jahren hatte sie damit begonnen. Das erste Mal hatte eine weiße Dame von der Wohlfahrt den Frauen in den 1970ern Farben gebracht, Wachs, Pigmente, Baumwolle und Leinwände, doch Florrie hatte sich im Hintergrund gehalten, scheinbar desinteressiert vor ein Lagerfeuer gekauert, umgeben von verstreuten Besitztümern, räudigen Hunden und Enkelkindern. Dann, früh an einem frischen Morgen nach ihrer morgendlichen Tasse Tee, hatte sie die alte graue Decke abgeworfen, die sie als Umhang trug, und verkündet, sie sei bereit, sich an »diese Malerei« zu machen. Sie hatte keinerlei Rat oder Vorschläge beherzigt, sondern den anderen den Rücken gekehrt und allein gearbeitet, hatte ihre eigene Technik mit Punkten und Linien entwickelt und Leinwand für Leinwand mit kräftigen, lebendigen Strichen versehen, die ihre Geschichten erzählten.
Innerhalb von zwei Jahren hatte sie den großen Durchbruch erzielt. Die alte Frau aus dem Outback wurde als Kunstikone gefeiert, die Händler rissen sich um sie, Galerien fragten nach ihren Werken. Geld floss ins Lager, das jedoch
genauso schnell wieder verschwunden war, gemäß dem Aborigine- Grundsatz »Was dein ist, ist auch mein«. Schon bald machten es die Ansprüche der Gemeinschaft erforderlich, dass sie die meiste Zeit des Tages mit Malen verbrachte: noch ein Auto, mehr Bares, mehr, mehr. Das Talent, das Ansehen, das Geld, die Anerkennung brachten ein ganzes Spektrum an Kunsthändlern mit sich, skrupellos, hellhörig, durchtrieben, die sich um Florries Werke rissen. Touristen zogen zu dem heruntergekommenen Lager und baten sie, auf die Schnelle »eine kleine Florrie« für sie zu malen. Sie tat ihnen den Gefallen, so waren die Aborigines nun mal. Aber jetzt war Florrie ausgelaugt. Saftlos wie eine alte Frucht.
Sie entfernte sich vom Feuer, ging an der zerbeulten Wellblechhütte vorbei, in der sie auf dem Boden schlief - ein Bett hatte sie immer verschmäht. Die alte Aborigine hielt auf eine Gruppe spindeldürrer Eukalyptusbäume zu und legte sich auf ihre Mutter Erde. Dort zog sie ihre alte graue Decke eng um sich und ruhte sich aus. Und schlief. Und starb.
Florries Geist war jetzt frei. Er löste sich aus dem Körper, der ihn gehalten hatte, stieg auf und trat seine Reise zu ihren Ahnen an, zu ihren bei der Geburt verstorbenen Kindern und deren Vätern, zu ihren Freunden.
Binnen weniger Tage kreisten die Aasgeier über dem Lager und ließen sich nieder.
Susan Massey trocknete sich ab und zog sich an. Im Radio liefen die ABC-Morgennachrichten. Ihre Gedanken waren bei dem Fall, den sie heute Morgen vor Gericht bringen würde. Sie öffnete ihren Schrank und blickte sehnsüchtig auf ihre Lieblingsbuschmontur, doch sie entschied sich für einen dunkelblauen Anzug und eine elegante weiße Seidenbluse. In einem kleinen Anfall von Trotz befestigte sie eine Eidechsenbrosche aus Markasit an ihrem Revers und wandte sich dem Radio zu. Der Nachrichtensprecher hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt.
Eine der erfolgreichsten Aborigine-Malerinnen der Bungarra- Künstlerkolonie in der nordwestaustralischen Kimberley-Region ist tot. Es wird angenommen, dass die Frau über achtzig Jahre alt war. International bekannt geworden ist die Künstlerin durch zwei ihrer Meisterwerke in Acryl, die gerade erst für mehr als eine halbe Million Dollar nach Europa verkauft wurden. Die Familie der Verstorbenen hat gebeten, ihren Namen gemäß dem Brauch der Aborigines ungenannt zu lassen.
»Ich wette, die Kunsthändler stürmen mit gierig ausgestreckten Händen so schnell sie können nach Nordwesten«, mutmaßte Susan und stellte das Radio ab, dann nahm sie ihre Autoschlüssel und ging zur Tür hinaus.
Sie legte die Lederumhängetasche, die sie als Aktentasche benutzte, auf den Beifahrersitz, suchte im Autoradio nach FM, dem Sender mit ihrer Lieblingsmusik, und hörte die Acht-Uhr-Nachrichten. FM hatte keine Bedenken, die Bräuche der Aborigines zu missachten.
In der Kimberley ... berühmte Aborigine-Künstlerin Florence Namurra ... besser bekannt als Florrie, die alte Dame des Outback ... ist gestorben. Florrie hat noch nicht verkaufte Kunstwerke von unschätzbarem Wert hinterlassen. Bedeutende Galerien in Übersee haben bereits damit begonnen, für die Bilder zu bieten, ausgegangen wird von einem Stück- preis von bis zu dreihunderttausend Dollar.
Susan stellte das Radio leise, um sich auf ihren Auftritt vor dem Familienrichter zu konzentrieren. Sie hatte ein gutes Gefühl, was den Ausgang des Falls betraf: Ihre Argumentation war tadellos, sie hatte sorgfältig die Fakten zusammengetragen und ihrem Klienten klare Anweisungen gegeben, wie er sich zu verhalten hatte. Außerdem war seine Frau eine alkoholabhängige Schlampe, da hatte er das Sorgerecht für die Kinder doch wohl verdient.
Die Schwestern hatten das ausgesetzte Mädchen Sunny genannt. Jeder, der den kleinen Sonnenschein sah, musste lächeln. Die Frau von der Fürsorgestelle für Aborigine-Kinder, die gekommen war, um das Baby abzuholen, zuckte die Achseln, als sie den Namen auf der Kennkarte über dem Krankenhausbettchen sah. Sie wusste, dass das Kind später bei der üblichen Zeremonie, die sie mit ihrem Volk und ihrem Land vereinigte, einen anderen Namen bekommen würde. Ob Vater oder Mutter Aborigine waren, spielte dabei keine Rolle, sie würde ihr Erbe einfordern können, dachte Joyce Guwarri. In der Gemeinschaft der Aborigines bestünde kein Zweifel daran, dass das Baby zu ihnen gehörte, genau wie kein Zweifel daran bestand, dass der Vater Aborigine war: Keine Aborigine-Mutter hätte ihr Kind verlassen, das wusste Joyce.
Das Baby war warm angezogen und hatte alle vier Stunden vom Pflegepersonal ein Fläschchen bekommen. Das Tuch, das um die Kleine geschlungen gewesen war, lag gewaschen und zusammengefaltet am Fußende des Bettchens. Joyce nahm es, schüttelte es auseinander und betrachtete die Eulen, die ihres Wissens eine Traumgeschichte erzählten. Aber wessen dreaming stellten sie dar?
Alan Carmichael löschte die Lichter in seiner Galerie, aktivierte den Alarm und schloss ab. Die Straße war nass, und schräg herabfallende Regenschleier trübten das Licht der Straßenlaternen, die kleine Lichtpfützen auf den Gehsteigen schimmern ließen. Passanten hasteten mit hochgezogenen Schultern durch die späte Abenddämmerung heimwärts. Achselzuckend zog er sein Tweed-Jackett über der Brust zusammen und fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar, das in der Straßenbeleuchtung verfrühte Anzeichen von Silber erkennen ließ. Er zögerte, dann wandte er sich zur Exhibition Street und winkte einem Taxi. »Preston. Chambers Street.«
Der Fahrer warf ihm einen fragenden Blick zu, als sie vor einem verwinkelten Haus mit wehender Flagge - ein schwarzer und ein roter Blockstreifen mit einer gelben Scheibe darin - sowie einem Schild mit der Aufschrift »Fürsorgestelle für Aborigine-Kinder« anhielten.
Drinnen fühlte er sich sogleich willkommen. Keine Formalitäten. Eine Tasse Tee, eine gesprächige Rezeptionistin - eine koori aus Victoria oder New South Wales -, dann eine strahlende Sozialarbeiterin.
»Was kann ich für Sie tun?« Joyces Blick war offen. Dieser elegante Weiße um die vierzig, der etwas von einem Künstler an sich hatte, zählte nicht zu den üblichen Besuchern.
»Ich wollte Ihnen ein paar Fragen stellen über das Baby, das in der Kunstgalerie ausgesetzt wurde.«
»Wenn Sie über eine Adoption nachdenken, muss ich Sie leider enttäuschen. Die Kleine ist kein Kind für weiße Leute. Sie ist eine Aborigine, und sie wird zu ihren Angehörigen kommen.«
Er lächelte. »Ein befreundeter Polizist hat mich angerufen, ein Aborigine-Sergeant, und um meine Hilfe gebeten.«
»Sie sind ein Detective?« Ihre Herzlichkeit kühlte leicht ab.
»Nein, keineswegs. Ich betreibe eine Galerie für Aborigi- ne-Kunst. Er dachte, ich wäre vielleicht in der Lage, die Muster auf dem Babytuch zuzuordnen.«
Joyces Misstrauen schwand. »Oh, das würde uns sehr helfen. Wir sind nämlich mit unserer Weisheit am Ende und völlig ratlos, was die Familie anbelangt. Die arme Mutter, es muss schwer für sie gewesen sein, so ein süßes Ding abzugeben. «
Sie gingen an einem Speisesaal vorbei, in dem Teenager und alte Männer zusammen beim Essen saßen - »Schwarze «, wie die Ureinwohner Australiens im Allgemeinen genannt wurden. In einem Gemeinschaftsraum spielten zwei Jungen Billard, mehrere Mädchen schauten fern. Zwischen zwei Räumen war eine Wand eingerissen worden, um eine Art Krankenstation zu schaffen, in der eine ordentliche Reihe von Betten stand. Ein Fenster ging auf einen Vorstadtgarten. Ein altes Eisengitterbettchen stand davor, mittendrin lag ein gelbes Bündel. Es sah nicht größer aus als eine Familienportion fish and chips. Gut verpackt, fertig zum Mitnehmen. Alan beobachtete, wie Joyce ein Eckchen der Decke zurückschlug. Das Baby rührte sich nicht. Bei seinem Anblick spürte Alan die unerwartete Anziehungskraft eines lieblich schlummernden, schutzlosen Geschöpfs. Unweigerlich dachte er an zu Hause, an den Geruch von Milch und Talkumpuder, an ein Köpfchen, das sich an seinen Hals schmiegte, an die dämmernde Erkenntnis von Liebe in großen, unbedarften Augen, und er berührte das weiche dunkle Haar auf dem Babykopf. »Sie ist wirklich eine ganz Süße.«
»Ich hole die Schachtel mit ihren Sachen.« Joyce durchstöberte eine Plastikbox mit Windeln, Kleidung und einem Fläschchen. Ganz unten lag, gewaschen und zusammengefaltet, ein handbedrucktes Tuch. Sie reichte es Alan, der es öffnete und die Bilder und Symbole betrachtete.
»Die sind mir schon mal untergekommen, aber ich muss erst meine Unterlagen durchgehen, um sie richtig zuordnen zu können. Darf ich das mitnehmen?«
»Ich denke schon. Was meinen Sie, woher es kommt?«
»Ich habe viel Zeit bei Künstlern in der Kimberley verbracht, dort habe ich diese Eule gesehen. Ich kenne eine Weiße, die mit den Aborigines arbeitet und mich bald besuchen kommt. Ihr würde ich das Tuch gern zeigen.«
Alan faltete den Baumwollstoff wieder zusammen und legte ihn in eine Plastiktüte, die Joyce ihm gereicht hatte. »Ich frage mich, ob die Mutter aus der Kimberley nach Melbourne gekommen ist«, sagte er. »Vielleicht ist sie auch in der Stadt aufgewachsen und kennt die Eulengeschichte, hat aber keine Ahnung, wer ihre Leute sind.«
»Möglicherweise weiß sie es nicht, weil sie eine Weiße ist. Vielleicht ist ja der Vater des Babys Aborigine.« Die Fürsorgerin beobachtete Alans Reaktion. »Also, Sie können das Tuch mitnehmen, aber vorher zeigen Sie mir bitte irgendeinen Ausweis, hinterlassen Ihre Adresse und Telefonnummer und bestätigen, dass Sie es innerhalb einer Woche zurückbringen werden.« Sie griff nach einem Notizblock mit dem Kopf der Fürsorgestelle für Aborigine-Kinder und reichte ihn Alan zusammen mit einem Stift. »Ich hoffe, Sie können helfen, um des Babys willen.«
Die schwarze Frau und der weiße Mann blickten auf das dunkelhäutige Kind ohne Familie, ohne Namen ... ohne das Wissen, dass es eines Tages für die Verflechtung vieler Leben verantwortlich sein würde.
Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp
Vollständige Taschenbuchausgabe Februar 2013 Knaur Taschenbuch © 1997 Di Morrissey
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2011 Knaur Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Di Morrissey
Morrissey, DiDi Morrissey ist die erfolgreichste Autorin Australiens. Als Journalistin arbeitete sie für Frauenmagazine, Radio und Fernsehen, schrieb Drehbücher und Theaterstücke und wirkte an zahlreichen TV-Produktionen mit. Sie lebt heute auf einer Farm in Byron Bay, New South Wales. Di Morrissey wurde im Zuge der Australien Book Industry Awards für ihr Verdienst in der australischen Buchbranche der Lloyd O'Neil Award verliehen und damit für ihr Lebenswerk geehrt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Di Morrissey
- 2013, 560 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Kristina Lake-Zapp
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426508125
- ISBN-13: 9783426508121
- Erscheinungsdatum: 29.01.2013
Kommentare zu "Im Licht der roten Erde"
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Im Licht der roten Erde".
Kommentar verfassen