Im Schutz des Morgens / Grace Valley Bd.1
Roman. Deutsche Erstveröffentlichung
Für June wird ein Traum wahr, als sie als Ärztin in ihr idyllisches Heimatstädtchen Grace Valley zurückkehrt. Tag und Nacht ist sie für ihre Patienten da, für Romatik bleibt kein Platz. Bis ein attraktiver Unbekannter ihr...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Im Schutz des Morgens / Grace Valley Bd.1 “
Für June wird ein Traum wahr, als sie als Ärztin in ihr idyllisches Heimatstädtchen Grace Valley zurückkehrt. Tag und Nacht ist sie für ihre Patienten da, für Romatik bleibt kein Platz. Bis ein attraktiver Unbekannter ihr völlig den Kopf verdreht. Doch diese Liebe muss unbedingt geheim bleiben...
Klappentext zu „Im Schutz des Morgens / Grace Valley Bd.1 “
Grace Valley Ein Ort zum Träumen!Tagsüber schließt niemand die Türen ab, auf den Fensterbänken stehen köstlich duftende Kuchen zum Auskühlen und die Bewohner sind wie eine Familie. Das ist es, was June Hudson so an ihrem Heimatstädtchen Grace Valley mag. Und weshalb sie nach ihrem Studium in der Großstadt zurückgekehrt ist, um die Arztpraxis ihres Vaters zu übernehmen. Sie geht mit Herz und Seele in ihrer Arbeit auf und kümmert sich zu jeder Tages- und Nachtzeit um die Menschen im Ort. Platz für Romantik bleibt da nicht. Bis ein gut aussehender Unbekannter ihren Weg kreuzt und sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Doch diese Liebe muss ein Geheimnis bleiben, denn Jim Post muss seine Identität verbergen.
Lese-Probe zu „Im Schutz des Morgens / Grace Valley Bd.1 “
Grace Valley - Im Schutz des Morgens von Robyn CarrÜbersetzer: Gisela Schmitt
1. KAPITEL
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Als June Hudson noch ein kleines Mädchen war, dachte sie immer, sie würde Arzthelferin bei ihrem Vaters werden. Schon damals hatte sie begriffen, dass Doc Hudson das Leben der gesamten Stadt in seinen fähigen Händen hatte. Später machte June eine Ausbildung zur Krankenschwester, und sie hätte sicher auch ihren Abschluss gemacht, wäre nicht ihrem Chemieprofessor in Berkeley aufgefallen, dass sie ein besonderes Talent für die wissenschaftliche Arbeit hatte. Also wechselte sie mit der Zustimmung ihres Vaters an die medizinische Fakultät.
Während der Semesterferien arbeitete sie bei ihrem Dad. Bei ihm lernte sie nicht nur die Arbeit eines Allgemeinmediziners kennen, sondern die Aufgaben eines Landarztes. Und das war ein großer Unterschied. Oft musste man auf dem Land mit weniger Ausstattung und Geräten auskommen, außerdem mussten sie häufig improvisieren, um die Patienten erfolgreich zu behandeln. June empfand es als weitaus anregender und herausfordernder als die Spezialisierung auf ein besonderes Fachgebiet. Welcher Arzt in San Francisco wurde schon um zwei Uhr nachts angerufen, damit man die Opfer eines Verkehrsunfalls zusammenflickte, weil der Rettungshubschrauber noch nicht da war? Wer fuhr nachts raus zu einem Holzfällercamp, um einen Mann und eventuell auch seine verletzte Gliedmaßen in das nächstgelegene Krankenhaus zu bringen?
Zwölf Jahre später kehrte June endgültig nach Grace Valley zurück, als frisch gebackene, idealistische junge Ärztin. Doch sie musste feststellen, dass sie in der Zwischenzeit einiges über das Landleben vergessen hatte.
Da waren zum einen die Menschen, die nur sehr zögerlich Vertrauen zu ihr fassten. Ein neuer Arzt, noch dazu eine Frau! Dabei kannten alle sie seit Ewigkeiten. Sie musste erst ein paar Jahre als Elmers Assistentin arbeiten, bevor man sie ernst nahm. Und sie musste ein paar, von den Einheimischen als medizinische Wunder bezeichnete, Taten vollbringen, bevor sie den ersten Holzfäller ohne Stiefel sehen durfte. Selbst jetzt noch, da Elmer in Ruhestand war, gab es Männer, die sich erst an June wandten, nachdem sie bei ihrem Vater gewesen waren, der sie dann zu ihr schickte. Oft hielt er für diese Art von Patienten eine Sprechstunde im Café, an der Tankstelle oder auf der Post ab. Doch bei den meisten Menschen im Tal hatte sich mittlerweile herumgesprochen, dass June die zuständige Ärztin war. Abgesehen davon war ihr Vater ihr auf professioneller und persönlicher Ebene ein großer Halt. Seit Junes Mutter vor neun Jahren gestorben war, waren sie beide füreinander da.
Zum anderen galt in Grace Valley die alte Regel, dass man sich schon im neunten Schuljahr seinen späteren Ehemann auszusuchen hatte - zumindest, wenn man sein restliches Leben in dieser Stadt verbringen wollte. Was hatte sie sich nur gedacht?
Dass eines Tages ganz zufällig ein gut aussehender Junggeselle in die Stadt kommen und sich unsterblich in sie verlieben würde, während sie seinen verletzten Knöchel verarztete? June war inzwischen siebenunddreißig, und ihre beiden besten Freunde waren ihr Dad und Tom Toopeek. Sie hatte auch einige gute Bekannte in ihrem Quilt-Club, den Graceful Women, und hielt Kontakt zu ihren alten Schulfreundinnen. Einsam war sie also nicht, aber die letzte richtige Verabredung mit einem Mann war bestimmt fünf Jahre her. Elmer dachte lange, sie wäre noch Jungfrau, was sie merkwürdig und lächerlich fand. Zum Glück stimmte es auch nicht. Allerdings war sie inzwischen ganz schön festgefahren - und wohl auch zu unabhängig, um in einer Beziehung einfach nur das hübsche Beiwerk zu spielen. Gegen ein bisschen Romantik in ihrem Leben hätte sie trotzdem nichts einzuwenden.
Grace Valley war ursprünglich ein Fischer- und Bauerndorf gewesen. Es lag am Schnittpunkt von drei Countys, etwas näher an Mendocino County als an Trinity und Humboldt. In Rockport gab es ein kleines Krankenhaus, ein etwas größeres in Eureka, und als June und Elmer vor zehn Jahren ihre gemeinsame Praxis eröffnet hatten, hatte die Leute das als Extravaganz angesehen. Eine Arztpraxis in einer Stadt mit neunhundert Einwohnern! Heute lebten in Grace Valley eintausend fünfhundert vierundsechzig Menschen, und die Praxis war notwendiger denn je.
June parkte gleich hinter der Praxis, neben Charlotte Burnhams Wagen. Charlotte war sechzig Jahre alt und schon Arzthelferin bei ihrem Vater gewesen. Eine taffere oder effizientere Kraft ließ sich kaum finden. Aber auch keine mürrischere. Der einzige Mensch, bei dem sich Charlotte jemals bemühte, freundlich zu sein, war Elmer. Trotzdem war ihr Ehemann Bud ziemlich vernarrt in sie. Inzwischen war June schon seit einer ganzen Weile die offizielle Ärztin, allerdings schien Charlotte diesen Übergang nicht wirklich mitbekommen zu haben. Natürlich erledigte sie die ihr von June aufgetragenen Aufgaben, dennoch behandelte sie sie immer noch weniger als Chefin, sondern vielmehr wie das kleine Mädchen, das seinen Vater in der Praxis besuchte. Doch June hatte aufgehört, sich darüber zu ärgern. Sie hatte einfach ihre Rachegelüste ausgelebt, indem sie Jessica Wiley einstellte, was Charlotte als schrecklichen Fluch empfand.
Charlotte trat gerade aus dem Hintertür, um eine Zigarette zu rauchen, da stieg June aus ihren Jeep. In der Praxis war Rauchen selbstverständlich nicht gestattet. Charlotte würde jetzt eine extralange Zigarette rauchen, husten, wieder an die Arbeit gehen und über kurz oder lang die nächste Kippe brauchen. Neben der Hintertreppe stand eine Kaffeedose, die zur Hälfte mit Zigarettenstummeln gefüllt war. Schon seit Jahren versuchte June, Charlotte zum Aufhören zu bewegen.
"Frustzigarette?", erkundigte sich June.
Charlotte holte tief Luft. "Heute benötige ich sie noch mehr als sonst", gab sie von sich.
"Ach ja? Hat Jessie sich für Sie extra schick gemacht?"
"Warten Sie's ab." Sie nahm den nächsten Zug.
Jessica, die Sprechstundenhilfe, war zwanzig. Sie hatte die Schule geschmissen, war aber trotzdem die beste Bürokraft, die June je hatte. Sie war sehr klug, einfallsreich und schnell im Kopf, doch sie war auch ein wenig seltsam. Ihre Outfits waren immer äußerst auffällig. June war schon ganz gespannt, als sie jetzt in die Praxis ging. Die schwerfällige Charlotte und die avantgardistische Jessica sorgten immer für Abwechslung. Sie waren nicht gerade wie Mutter und Tochter.
Oder ... vielleicht doch?
June trat sich die Schuhe ab und stellte die schlammverkrusteten Stiefel vor die Tür, damit sie in der Sonne trocknen konnten. Auf dem Weg zur Praxis lag das Haus des alten Mikos Silva, und sie fuhr regelmäßig bei ihm vorbei, um ihm den Blutdruck zu messen. Seine Auffassung davon, es auf ihre Empfehlung hin "ruhig angehen" zu lassen, sah so aus, dass er bis 4.30 Uhr schlief und nur die Hälfte von der Arbeit erledigte, die er zu machen hatte. An diesem Morgen hatte sie in der Scheune nach ihm suchen müssen. Ein Farmer vom alten Schlag, wie Mikos einer war, konnte nicht lange still sitzen. Er hatte Angst, er könnte tot umfallen, wenn er nichts arbeitet - ungeachtet aller medizinischen Ratschläge, die ihn zum Gegenteil bewegen sollten.
June schlüpfte in ihre Clogs und machte sich auf den Weg in die vorderen Praxisräume. Eigentlich wollte sie einen guten Morgen wünschen, aber der schockierende Anblick von Jessicas Haar kam ihr dazwischen.
Das Mädchen war ein Gruffti - so bezeichnete sie sich zumindest selbst. Schwarze Kleidung, viele Piercings an den seltsamsten Stellen, schwarzer Nagellack und Lippenstift. Es existierten jedoch keine Beweise dafür, dass sie irgendwelche schrecklichen Dinge tat - wie Menschenopfer bringen oder so etwas, trotz ihres Erscheinungsbilds, das unwillkürlich darauf schließen ließ. Heute jedoch schoss Jessica den Vogel ab. Sie hatte sich die Haare abrasiert bis auf einen bunten Irokesenkamm, der sich stolz in die Höhe reckte und dessen gewagte Strähnen in Lila, Blau, Rot, Orange und Gelb bei jeder ihrer Bewegungen hin und her tanzten.
June war sich nicht sicher, wie lange sie ihre Sprechstundenhilfe angestarrt hatte, doch in diesem Moment kehrte Charlotte an ihren Arbeitsplatz zurück. June tauschte einen Blick mit ihr, der nichts als grimmiges Elend verriet. Und die Warnung: Wehe, Sie sagen ein Wort der Bewunderung zu ihr. Als June ins kleine Wartezimmer guckte, musste sie feststellen, dass alle sechs Augenpaare der wartenden Patienten ebenfalls auf die Irokesenfrisur gerichtet waren. Darin spiegelte sich eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Faszination.
"Es geht gleich los", teilte sie den Wartenden mit. "Guten Morgen, Jessica. Neue Frisur?"
Jessica sah von ihrer Arbeit auf, lächelte sie auf entzückendste Weise an, denn sie war eine entzückende Person, und nickte. Durch das Nicken gerieten ihre verschiedenen Piercings in Bewegung - die in den Ohren, der Augenbraue, der Nase und vermutlich auch an anderen Stellen, die sich June lieber nicht vorstellen mochte.
June schnappte sich den Stapel mit Patientenkarteien, den Charlotte ihr hingelegt hatte, und schritt zu ihrem Büro. Die Krankenschwester folgte ihr ins Zimmer und schloss dann die Tür.
"Ich bin am Ende mit meiner Kraft", stieß Charlotte stöhnend aus.
"Nehmen Sie's leicht. Es ist nur eine Frisur." June musste sich auf die Zunge beißen, um nicht eine Bemerkung über Charlottes eigene Frisur zu machen, dunkelrot getönt mit leichtem Hang zum Lila, die immer so aussah, als hätte sie schon vor zwei Wochen nachgetönt werden müssen, weil das Grau durchkam.
"Das dürfen Sie ihr nicht durchgehen lassen!", monierte die ältere Frau.
"Charlotte, sie ist ein sehr nettes Mädchen und eine sehr effiziente Kraft." Fast hätte June laut gelacht. "Sie bringt Farbe in unsere Praxis!"
"Wieso erlaubt ihr Vater ihr diesen Irrsinn?"
Charlotte und Bud hatten sechs Kinder großgezogen. Keins von ihnen hatte es sich jemals getraut, den Scheitel auf der falschen Seite zu tragen oder sich gar die Haare zu abzurasieren oder zu färben. Doch Jessicas Vater, Scott, ein fröhlicher, toleranter Künstler, der bereits mit zweiundvierzig Witwer war, überließ es seiner Tochter, ihren eigenen Weg zu gehen. June fand diesen Erziehungsstil gut, auch wenn sie das Charlotte gegenüber niemals zugeben würde.
"Was haben Sie zu Jessie gesagt?", erkundigte sie sich.
"Ich habe beschlossen, überhaupt nicht zu reagieren."
"Sie nehmen sich Jessicas Kleidung und Frisuren unnötig zu Herzen, Charlotte. Vielleicht sollten Sie mal mit jemandem darüber reden? Wie wäre es mit einem Besuch bei Dr Powell?" Jerry Powell war der Seelenklempner - ein promovierter Psychologe mit Schwerpunkt Familientherapie. Er hatte sich auf der Suche nach einem ruhigen, friedlichen Leben nach Grace Valley zurückgezogen, nachdem er zwanzig Jahre lang eine Praxis in Silicon Valley geführt hatte.
"Wieso sollte ich mit dem Spinner reden?"
Jerry Powell war vermutlich ein ausgezeichneter Therapeut - nur haftete er der unerschütterlichen Überzeugung an, dass er einst von Außerirdischen entführt wurde.
"Seine Überzeugungen unterscheiden sich nicht sonderlich von denen der meisten Einwohner hier", wandte June ein.
"Von uns glaubt doch niemand an außerirdische Raumschiffe, um Himmels willen!"
"Oh nein", erwiderte June lachend. "Natürlich nicht. An Engel, vergrabene Schätze, indianische Geister, verborgene Höhlen und Big Foot - ja. Aber doch nicht an Raumschiffe!"
Copyright © 2000 by Robyn Carr
Als June Hudson noch ein kleines Mädchen war, dachte sie immer, sie würde Arzthelferin bei ihrem Vaters werden. Schon damals hatte sie begriffen, dass Doc Hudson das Leben der gesamten Stadt in seinen fähigen Händen hatte. Später machte June eine Ausbildung zur Krankenschwester, und sie hätte sicher auch ihren Abschluss gemacht, wäre nicht ihrem Chemieprofessor in Berkeley aufgefallen, dass sie ein besonderes Talent für die wissenschaftliche Arbeit hatte. Also wechselte sie mit der Zustimmung ihres Vaters an die medizinische Fakultät.
Während der Semesterferien arbeitete sie bei ihrem Dad. Bei ihm lernte sie nicht nur die Arbeit eines Allgemeinmediziners kennen, sondern die Aufgaben eines Landarztes. Und das war ein großer Unterschied. Oft musste man auf dem Land mit weniger Ausstattung und Geräten auskommen, außerdem mussten sie häufig improvisieren, um die Patienten erfolgreich zu behandeln. June empfand es als weitaus anregender und herausfordernder als die Spezialisierung auf ein besonderes Fachgebiet. Welcher Arzt in San Francisco wurde schon um zwei Uhr nachts angerufen, damit man die Opfer eines Verkehrsunfalls zusammenflickte, weil der Rettungshubschrauber noch nicht da war? Wer fuhr nachts raus zu einem Holzfällercamp, um einen Mann und eventuell auch seine verletzte Gliedmaßen in das nächstgelegene Krankenhaus zu bringen?
Zwölf Jahre später kehrte June endgültig nach Grace Valley zurück, als frisch gebackene, idealistische junge Ärztin. Doch sie musste feststellen, dass sie in der Zwischenzeit einiges über das Landleben vergessen hatte.
Da waren zum einen die Menschen, die nur sehr zögerlich Vertrauen zu ihr fassten. Ein neuer Arzt, noch dazu eine Frau! Dabei kannten alle sie seit Ewigkeiten. Sie musste erst ein paar Jahre als Elmers Assistentin arbeiten, bevor man sie ernst nahm. Und sie musste ein paar, von den Einheimischen als medizinische Wunder bezeichnete, Taten vollbringen, bevor sie den ersten Holzfäller ohne Stiefel sehen durfte. Selbst jetzt noch, da Elmer in Ruhestand war, gab es Männer, die sich erst an June wandten, nachdem sie bei ihrem Vater gewesen waren, der sie dann zu ihr schickte. Oft hielt er für diese Art von Patienten eine Sprechstunde im Café, an der Tankstelle oder auf der Post ab. Doch bei den meisten Menschen im Tal hatte sich mittlerweile herumgesprochen, dass June die zuständige Ärztin war. Abgesehen davon war ihr Vater ihr auf professioneller und persönlicher Ebene ein großer Halt. Seit Junes Mutter vor neun Jahren gestorben war, waren sie beide füreinander da.
Zum anderen galt in Grace Valley die alte Regel, dass man sich schon im neunten Schuljahr seinen späteren Ehemann auszusuchen hatte - zumindest, wenn man sein restliches Leben in dieser Stadt verbringen wollte. Was hatte sie sich nur gedacht?
Dass eines Tages ganz zufällig ein gut aussehender Junggeselle in die Stadt kommen und sich unsterblich in sie verlieben würde, während sie seinen verletzten Knöchel verarztete? June war inzwischen siebenunddreißig, und ihre beiden besten Freunde waren ihr Dad und Tom Toopeek. Sie hatte auch einige gute Bekannte in ihrem Quilt-Club, den Graceful Women, und hielt Kontakt zu ihren alten Schulfreundinnen. Einsam war sie also nicht, aber die letzte richtige Verabredung mit einem Mann war bestimmt fünf Jahre her. Elmer dachte lange, sie wäre noch Jungfrau, was sie merkwürdig und lächerlich fand. Zum Glück stimmte es auch nicht. Allerdings war sie inzwischen ganz schön festgefahren - und wohl auch zu unabhängig, um in einer Beziehung einfach nur das hübsche Beiwerk zu spielen. Gegen ein bisschen Romantik in ihrem Leben hätte sie trotzdem nichts einzuwenden.
Grace Valley war ursprünglich ein Fischer- und Bauerndorf gewesen. Es lag am Schnittpunkt von drei Countys, etwas näher an Mendocino County als an Trinity und Humboldt. In Rockport gab es ein kleines Krankenhaus, ein etwas größeres in Eureka, und als June und Elmer vor zehn Jahren ihre gemeinsame Praxis eröffnet hatten, hatte die Leute das als Extravaganz angesehen. Eine Arztpraxis in einer Stadt mit neunhundert Einwohnern! Heute lebten in Grace Valley eintausend fünfhundert vierundsechzig Menschen, und die Praxis war notwendiger denn je.
June parkte gleich hinter der Praxis, neben Charlotte Burnhams Wagen. Charlotte war sechzig Jahre alt und schon Arzthelferin bei ihrem Vater gewesen. Eine taffere oder effizientere Kraft ließ sich kaum finden. Aber auch keine mürrischere. Der einzige Mensch, bei dem sich Charlotte jemals bemühte, freundlich zu sein, war Elmer. Trotzdem war ihr Ehemann Bud ziemlich vernarrt in sie. Inzwischen war June schon seit einer ganzen Weile die offizielle Ärztin, allerdings schien Charlotte diesen Übergang nicht wirklich mitbekommen zu haben. Natürlich erledigte sie die ihr von June aufgetragenen Aufgaben, dennoch behandelte sie sie immer noch weniger als Chefin, sondern vielmehr wie das kleine Mädchen, das seinen Vater in der Praxis besuchte. Doch June hatte aufgehört, sich darüber zu ärgern. Sie hatte einfach ihre Rachegelüste ausgelebt, indem sie Jessica Wiley einstellte, was Charlotte als schrecklichen Fluch empfand.
Charlotte trat gerade aus dem Hintertür, um eine Zigarette zu rauchen, da stieg June aus ihren Jeep. In der Praxis war Rauchen selbstverständlich nicht gestattet. Charlotte würde jetzt eine extralange Zigarette rauchen, husten, wieder an die Arbeit gehen und über kurz oder lang die nächste Kippe brauchen. Neben der Hintertreppe stand eine Kaffeedose, die zur Hälfte mit Zigarettenstummeln gefüllt war. Schon seit Jahren versuchte June, Charlotte zum Aufhören zu bewegen.
"Frustzigarette?", erkundigte sich June.
Charlotte holte tief Luft. "Heute benötige ich sie noch mehr als sonst", gab sie von sich.
"Ach ja? Hat Jessie sich für Sie extra schick gemacht?"
"Warten Sie's ab." Sie nahm den nächsten Zug.
Jessica, die Sprechstundenhilfe, war zwanzig. Sie hatte die Schule geschmissen, war aber trotzdem die beste Bürokraft, die June je hatte. Sie war sehr klug, einfallsreich und schnell im Kopf, doch sie war auch ein wenig seltsam. Ihre Outfits waren immer äußerst auffällig. June war schon ganz gespannt, als sie jetzt in die Praxis ging. Die schwerfällige Charlotte und die avantgardistische Jessica sorgten immer für Abwechslung. Sie waren nicht gerade wie Mutter und Tochter.
Oder ... vielleicht doch?
June trat sich die Schuhe ab und stellte die schlammverkrusteten Stiefel vor die Tür, damit sie in der Sonne trocknen konnten. Auf dem Weg zur Praxis lag das Haus des alten Mikos Silva, und sie fuhr regelmäßig bei ihm vorbei, um ihm den Blutdruck zu messen. Seine Auffassung davon, es auf ihre Empfehlung hin "ruhig angehen" zu lassen, sah so aus, dass er bis 4.30 Uhr schlief und nur die Hälfte von der Arbeit erledigte, die er zu machen hatte. An diesem Morgen hatte sie in der Scheune nach ihm suchen müssen. Ein Farmer vom alten Schlag, wie Mikos einer war, konnte nicht lange still sitzen. Er hatte Angst, er könnte tot umfallen, wenn er nichts arbeitet - ungeachtet aller medizinischen Ratschläge, die ihn zum Gegenteil bewegen sollten.
June schlüpfte in ihre Clogs und machte sich auf den Weg in die vorderen Praxisräume. Eigentlich wollte sie einen guten Morgen wünschen, aber der schockierende Anblick von Jessicas Haar kam ihr dazwischen.
Das Mädchen war ein Gruffti - so bezeichnete sie sich zumindest selbst. Schwarze Kleidung, viele Piercings an den seltsamsten Stellen, schwarzer Nagellack und Lippenstift. Es existierten jedoch keine Beweise dafür, dass sie irgendwelche schrecklichen Dinge tat - wie Menschenopfer bringen oder so etwas, trotz ihres Erscheinungsbilds, das unwillkürlich darauf schließen ließ. Heute jedoch schoss Jessica den Vogel ab. Sie hatte sich die Haare abrasiert bis auf einen bunten Irokesenkamm, der sich stolz in die Höhe reckte und dessen gewagte Strähnen in Lila, Blau, Rot, Orange und Gelb bei jeder ihrer Bewegungen hin und her tanzten.
June war sich nicht sicher, wie lange sie ihre Sprechstundenhilfe angestarrt hatte, doch in diesem Moment kehrte Charlotte an ihren Arbeitsplatz zurück. June tauschte einen Blick mit ihr, der nichts als grimmiges Elend verriet. Und die Warnung: Wehe, Sie sagen ein Wort der Bewunderung zu ihr. Als June ins kleine Wartezimmer guckte, musste sie feststellen, dass alle sechs Augenpaare der wartenden Patienten ebenfalls auf die Irokesenfrisur gerichtet waren. Darin spiegelte sich eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Faszination.
"Es geht gleich los", teilte sie den Wartenden mit. "Guten Morgen, Jessica. Neue Frisur?"
Jessica sah von ihrer Arbeit auf, lächelte sie auf entzückendste Weise an, denn sie war eine entzückende Person, und nickte. Durch das Nicken gerieten ihre verschiedenen Piercings in Bewegung - die in den Ohren, der Augenbraue, der Nase und vermutlich auch an anderen Stellen, die sich June lieber nicht vorstellen mochte.
June schnappte sich den Stapel mit Patientenkarteien, den Charlotte ihr hingelegt hatte, und schritt zu ihrem Büro. Die Krankenschwester folgte ihr ins Zimmer und schloss dann die Tür.
"Ich bin am Ende mit meiner Kraft", stieß Charlotte stöhnend aus.
"Nehmen Sie's leicht. Es ist nur eine Frisur." June musste sich auf die Zunge beißen, um nicht eine Bemerkung über Charlottes eigene Frisur zu machen, dunkelrot getönt mit leichtem Hang zum Lila, die immer so aussah, als hätte sie schon vor zwei Wochen nachgetönt werden müssen, weil das Grau durchkam.
"Das dürfen Sie ihr nicht durchgehen lassen!", monierte die ältere Frau.
"Charlotte, sie ist ein sehr nettes Mädchen und eine sehr effiziente Kraft." Fast hätte June laut gelacht. "Sie bringt Farbe in unsere Praxis!"
"Wieso erlaubt ihr Vater ihr diesen Irrsinn?"
Charlotte und Bud hatten sechs Kinder großgezogen. Keins von ihnen hatte es sich jemals getraut, den Scheitel auf der falschen Seite zu tragen oder sich gar die Haare zu abzurasieren oder zu färben. Doch Jessicas Vater, Scott, ein fröhlicher, toleranter Künstler, der bereits mit zweiundvierzig Witwer war, überließ es seiner Tochter, ihren eigenen Weg zu gehen. June fand diesen Erziehungsstil gut, auch wenn sie das Charlotte gegenüber niemals zugeben würde.
"Was haben Sie zu Jessie gesagt?", erkundigte sie sich.
"Ich habe beschlossen, überhaupt nicht zu reagieren."
"Sie nehmen sich Jessicas Kleidung und Frisuren unnötig zu Herzen, Charlotte. Vielleicht sollten Sie mal mit jemandem darüber reden? Wie wäre es mit einem Besuch bei Dr Powell?" Jerry Powell war der Seelenklempner - ein promovierter Psychologe mit Schwerpunkt Familientherapie. Er hatte sich auf der Suche nach einem ruhigen, friedlichen Leben nach Grace Valley zurückgezogen, nachdem er zwanzig Jahre lang eine Praxis in Silicon Valley geführt hatte.
"Wieso sollte ich mit dem Spinner reden?"
Jerry Powell war vermutlich ein ausgezeichneter Therapeut - nur haftete er der unerschütterlichen Überzeugung an, dass er einst von Außerirdischen entführt wurde.
"Seine Überzeugungen unterscheiden sich nicht sonderlich von denen der meisten Einwohner hier", wandte June ein.
"Von uns glaubt doch niemand an außerirdische Raumschiffe, um Himmels willen!"
"Oh nein", erwiderte June lachend. "Natürlich nicht. An Engel, vergrabene Schätze, indianische Geister, verborgene Höhlen und Big Foot - ja. Aber doch nicht an Raumschiffe!"
Copyright © 2000 by Robyn Carr
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Autoren-Porträt von Robyn Carr
Als Robyn Carr mit Ende Zwanzig ihrem Ehemann zu seinen Einsätzen als Air Force Helikopterpilot folgte, konnte sie ihren eigentlichen Beruf als Krankenschwester nicht mehr ausüben. So begann sie erst zu lesen, und dann selber zu schreiben. Inzwischen sind von der erfolgreichen Bestsellerautorin und Mutter von zwei Kindern zahlreiche Romances erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Robyn Carr
- 2014, 1., Aufl., 336 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gisela Schmitt
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3956490193
- ISBN-13: 9783956490194
- Erscheinungsdatum: 13.05.2014
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