Immerstill
Thriller
In einer eisigen Winternacht verschwinden
zwei Jugendliche spurlos. Die örtliche
Polizei tappt im Dunkeln, findet keinerlei
Anhaltspunkte und mit der Zeit gerät der
Fall in Vergessenheit. Doch dann, auf den
Tag genau drei Jahre später,...
zwei Jugendliche spurlos. Die örtliche
Polizei tappt im Dunkeln, findet keinerlei
Anhaltspunkte und mit der Zeit gerät der
Fall in Vergessenheit. Doch dann, auf den
Tag genau drei Jahre später,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Immerstill “
In einer eisigen Winternacht verschwinden
zwei Jugendliche spurlos. Die örtliche
Polizei tappt im Dunkeln, findet keinerlei
Anhaltspunkte und mit der Zeit gerät der
Fall in Vergessenheit. Doch dann, auf den
Tag genau drei Jahre später, werden wieder
zwei junge Menschen vermisst. Die Medien
wittern eine Tragödie und in dem kleinen
Dorf wächst die Nervosität. Als eine misshandelte
Leiche gefunden wird, bricht
Panik aus.
zwei Jugendliche spurlos. Die örtliche
Polizei tappt im Dunkeln, findet keinerlei
Anhaltspunkte und mit der Zeit gerät der
Fall in Vergessenheit. Doch dann, auf den
Tag genau drei Jahre später, werden wieder
zwei junge Menschen vermisst. Die Medien
wittern eine Tragödie und in dem kleinen
Dorf wächst die Nervosität. Als eine misshandelte
Leiche gefunden wird, bricht
Panik aus.
Klappentext zu „Immerstill “
In einer eisigen Winternacht verschwinden zwei Jugendliche spurlos. Die örtliche Polizei tappt im Dunkeln, findet keinerlei Anhaltspunkte und mit der Zeit gerät der Fall in Vergessenheit. Doch dann, auf den Tag genau drei Jahre später, werden wieder zwei junge Menschen vermisst. Die Medien wittern eine Tragödie und in dem kleinen Dorf wächst die Nervosität. Als eine misshandelte Leiche gefunden wird, bricht Panik aus.
Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Immerstill “
Roman Klementovic - ImmerstillMONTAG, 9.FEBRUAR
1
Das Heizungsgebläse lief auf Hochtouren, damit die
Scheiben nicht weiter beschlugen, der blassgelbe Duftbaum,
auf dem »Tropical« stand und der nur noch nach
Karton roch, baumelte wild vom Rückspiegel herunter,
und Roxettes »It must have been love« dröhnte aus den
Boxen des Autoradios. Normalerweise liebte ich solche
Rock-Schnulzen, aber jetzt war ich gar nicht in der Stimmung
dafür. Ein Blick auf den Tacho - 39 km/h - und
das auf der Bundesstraße. Aber mehr ließen die stockdunkle
Nacht, der nasse Asphalt und die dichten Nebelschwaden
nicht zu.
Verfluchter Winter!
Ich hing knapp hinter der Windschutzscheibe und
klammerte mich verkrampft am Lenkrad fest, während
sich der schmale Lichtkegel der Scheinwerfer durch
die Dunkelheit schnitt. Das endlose Schwarz links und
rechts davon war mir unheimlich. Meine Hände waren
schweißnass, meine Augen brannten und immer wieder
schossen mir dieselben Fragen durch den Kopf: Wo
konnte sie nur stecken? War ihr etwas passiert? Und
wieso ausgerechnet jetzt, genau drei Jahre danach? War
es Zufall oder hatte ihr Verschwinden mit den Geschehnissen
von damals zu tun? Ich machte mir große Sorgen.
Glaubte nicht daran, dass ich übertrieben reagierte.
Kurzes Hoffen, als mein Handy auf dem Beifahrersitz
läutete. Doch es war nicht sie, die mich endlich zurück10
rief. Auf dem Display erschien schon wieder nur Toms
Name. Ich drehte Roxette lauter und zwang mich, nicht
ranzugehen.
It must have been love but it's over now
It's where the water flows, it's where the wind blows
...
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der schrille
Standardklingelton verstummte. Erst jetzt merkte ich,
dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten und
scheinbar jeden Muskel meines Körpers angespannt
hatte. Ich atmete tief durch, versuchte locker zu
... mehr
werden,
doch es wollte mir nicht gelingen.
Ich fühlte mich verloren. Einsam. Und aus irgendeinem
Grund auch schuldig.
Seit geraumer Zeit war ich keinem anderen Fahrzeug
mehr begegnet. Ich sehnte mich nach irgendeinem
Lebenszeichen, hätte mich schon über ein fahles Licht
in weiter Ferne gefreut. Aber nichts.
Langsam nahm ein Verkehrsschild in der Dunkelheit
vor mir Formen an. Ich kniff meine Augen zu schmalen
Schlitzen und versuchte etwas zu erkennen. Dann endlich:
»Grundendorf 9 km«.
Bald hatte ich es also geschafft. Dabei wusste ich gar
nicht so recht, ob ich mich wirklich darüber freuen sollte.
Beim Gedanken daran, meinen Vater gleich wiederzusehen,
verkrampfte sich mein Magen. Es war nicht so, dass
ich ihn nicht gernhatte. Es war nur - ach, ich weiß auch
nicht. Irgendwie passten wir ganz einfach nicht zueinander,
hatten uns nichts mehr zu sagen. Und seit dem
Tod meiner Mutter war alles noch komplizierter geworden.
Mein Vater meldete sich mittlerweile nur noch zu
Weihnachten und an meinem Geburtstag, und wenn er
bei einem meiner seltenen Anrufe einmal ranging, redete
er kaum etwas, und man musste ihm jeden einzelnen
Wortfetzen aus der Nase ziehen. Tagein, tagaus verkroch
er sich in seiner Werkstatt und arbeitete dort von frühmorgens
bis spät in die Nacht hinein. Die Arbeit war
zu seinem einzigen Lebensinhalt geworden. Ansonsten
wusste ich kaum mehr etwas über ihn.
In der Dunkelheit vor mir tauchte endlich die scharfe
Abzweigung nach Grundendorf auf. Ich drosselte die
Geschwindigkeit weiter, verließ die Bundesstraße und
folgte einer schmalen, schlecht asphaltierten Landstraße
mit unzähligen Schlaglöchern und tiefen Regenpfützen.
Auf einmal schien es mir, als ob der Nebel dichter
und die Nacht noch schwärzer geworden war. Die alten
Kirsch- und Nussbäume zu beiden Seiten der Straße
sahen wie bizarre Wesen aus, die mich an der Weiterfahrt
hindern wollten.
So nahe war ich meinem Heimatdorf schon lange nicht
mehr gewesen. Ein eiskalter Schauer lief mir über den
Rücken, die Erinnerung an die Ereignisse von damals
übermannte mich. Drei Jahre und zwei Tage war es nun
schon her, dass Linda und Markus verschwunden waren.
Drei Jahre und zwei Tage der Ungewissheit, was mit
ihnen geschehen war. Hatten sie das alljährliche Grundendorfer
Faschingsfest am Abend ihres Verschwindens
jemals erreicht? Niemand hatte es mit Sicherheit sagen
können, da fast alle Gäste verkleidet gewesen waren.
Waren sie gemeinsam durchgebrannt? Kaum vorstellbar,
da Markus als Einzelgänger galt und die hübsche und
frühreife Linda wohl kaum etwas mit ihm angefangen
hätte. Waren sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen,
entführt oder gar ermordet worden? Auch dafür gab es
nicht die geringsten Anhaltspunkte. Ihr spurloses Verschwinden
war bis heute ein Rätsel.
Ich hatte schon lange nicht mehr an die beiden gedacht,
sie waren zu einer vagen Erinnerung verblasst, die
irgendwie unwirklich erschien - bis zum heutigen späten
Nachmittag jedenfalls. Seitdem spukten die Ereignisse
von damals in meinem Kopf herum, und ich war
auf dem Weg in meine alte Heimat Grundendorf. Der
Grund? Wenige Stunden zuvor hatte ich einen Anruf
von meinem Vater bekommen.
Ich war gerade in einem Meeting mit zwei präpotenten
und nervtötenden Vertretern gewesen, die glaubten,
mich mit ihrer breitbeinigen Sitzhaltung, ihrem schmierigen
Grinsen und ihren anzüglichen Witzen beeindrucken
zu können, als mein stumm geschaltetes Handy
vor mir auf dem Tisch zu vibrieren begann.
»Papa«, zeigte das Display an, und augenblicklich
regte sich ein ungutes Gefühl in mir. Instinktiv wusste
ich, dass etwas passiert war. Ich griff zum Telefon, hetzte
aus der Galerie hinaus in die eisige Kälte und ließ die
beiden notgeilen Affen alleine zurück.
»Hallo, Papa.«
»Lisa?« Seine Stimme war brüchig.
»Ja?«
»Störe ich dich?«
»Nein, nein - es geht schon.«
»Gut ... wie ... wie geht's dir?«
»Ganz okay.«
»Mh.«
»Und dir, Papa?«
»Ich ruf an, weil ... weil ...«
»Was ist los?«
Ein tiefes Seufzen. »Maria ... sie ist ...«
Das ungute Gefühl in mir war schlagartig zu Angst
geworden, als mein Vater den Namen meiner Schwester
ausgesprochen hatte. Sie hatte sich in jeder Faser meines
Körpers festgesetzt. Mein Herz schlug schneller.
Meine Stimme zitterte: »Was ist mit Maria?«
»Sie ist verschwunden. Seit dem Faschingsfest am
Samstag.«
2
Still, es war totenstill. Und kalt. Ich saß mit meinem
Vater in der kleinen Küche meines Elternhauses und
rieb mir die Hände, weil es mich fröstelte.
Seit meinem Auszug vor etwas mehr als zweieinhalb
Jahren hatte sich auf den ersten Blick kaum etwas verändert.
Doch bei genauerer Betrachtung fiel mir auf, wie
heruntergekommen mittlerweile alles war. Die Orchidee
auf dem Fensterbrett war verendet, die Wanduhr über
der Mikrowelle war stehen geblieben und zeigte sechs
nach neun an. Zwei der vier flammenförmigen Glühbirnen
der Deckenleuchte waren kaputt, die anderen beiden
waren verstaubt und gaben nur mehr ein fahles Licht ab.
An der Decke und in den Ecken hingen Spinnweben,
auf den hellgrauen Wandfliesen hinter dem Herd klebten
eingetrocknete Sugospritzer, und im Küchenrollenhalter
steckte eine nackte Kartonrolle. Der Messerblock
aus Kiefernholz, den ich meinem Vater zu seinem letzten
Geburtstag geschenkt hatte, wirkte unbenützt und als
ob er nicht hierhergehörte. Nur das gerahmte Familienfoto
hing immer noch neben dem schweren Holzkreuz
über dem Esstisch. Es war im September 2011 an Tante
Hannelores Geburtstag entstanden. Meine Eltern strahlten
darauf, meine Schwester auch. Obwohl ich mich
erinnere, diesen Tag sehr genossen zu haben, war mein
Gesichtsausdruck ernst. Als ob ich damals bereits geahnt
hatte, dass schon wenige Wochen später das Unglück
über uns hereinbrechen würde. Dass meine Mutter bald
nicht mehr bei uns sein würde.
Ich versuchte die schmerzhaften Erinnerungen abzuschütteln
und wandte mich meinem Vater zu, der mir
zusammengesunken und mit hängendem Kopf gegenübersaß.
Der Mensch vor mir hatte so gar nichts mehr
mit meinem Vater auf dem Familienfoto zu tun. Er wirkte
verwahrlost und viel zu alt für seine 47 Jahre - und daran
hatte nicht nur der zottelige Vollbart Schuld, den er sich
vor einigen Monaten hatte wachsen lassen und der sein
breites Kinn verdeckte. Nein, vor allem auch die tiefen
Falten in seinem Gesicht, die sich seit Mutters Tod so
rasant vermehrten, ließen ihn älter aussehen - sie wirkten
wie Hunderte feine Risse in einer Fensterscheibe, die
sich im eisig kalten Wintersturm immer weiter ausbreiteten.
Mein Vater starrte regungslos auf die dunkelgrauen,
verstaubten Bodenfliesen. Der alte Holzstuhl knarrte ab
und zu unter seinem Gewicht. Der Kräutertee, den ich
ihm vorhin gemacht hatte, stand unberührt vor ihm auf
dem Tisch. Er schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Ich
nippte an meinem. Er war bereits kalt geworden und
schmeckte nach nichts. Der Heizkörper gab ein Glucksen
von sich. Der Wasserhahn begann zu tropfen.
»Warum hast du mich nicht schon früher angerufen?
«, fragte ich schließlich nach einer langen Zeit des
Schweigens.
Er sagte nichts, begann stattdessen an seinen langen
grau melierten Barthaaren zu zupfen. Ich konnte ihm
ansehen, dass er in seinen Gedanken nicht hier bei mir,
sondern bei Maria war.
»Papa?«
Schwerfälliges Durchatmen. »Musst du denn morgen
nicht zur Arbeit?«
»Ich habe mir ein paar Tage freigeschaufelt.«
»Das geht so einfach?«
»Papa, es ist meine Galerie. Mach dir darum keine
Sorgen.« Es wäre der falsche Zeitpunkt gewesen, meinem
Vater von den finanziellen Problemen und den ausbleibenden
Kunden zu erzählen. Davon, dass es ziemlich
sicher niemanden kratzte, wenn die Galerie ein paar
Tage geschlossen blieb.
»Ah.«
»Warum hast du denn nicht schon früher etwas gesagt?«
Mein Vater seufzte, schien völlig kraftlos. »Ich weiß
auch nicht, ich ...«
Ich starrte ihn an, wartete auf eine Fortsetzung. Sie
kam nicht.
»Hat Maria vielleicht irgendetwas gesagt oder ist sie
komisch gewesen, bevor sie verschwunden ist?«
»Nein«, sagte er und kaute an seiner Unterlippe.
Als ich schon gar nicht mehr damit rechnete, fuhr
er fort: »Sie hat nur gesagt, dass sie sich dann fertig
machen und auf das Faschingsfest gehen wollte. Ich
bin in die Werkstatt gegangen und erst nach ein paar
Stunden zurück ins Haus gekommen. Da ist sie schon
weg gewesen.«
»Und seitdem hast du nichts mehr von ihr gehört?«
Er nickte kaum merklich.
»Und ihr Handy war immer ausgeschaltet?«
Wieder wortloses Nicken.
Ich rieb mir mit beiden Händen das Gesicht, atmete
tief durch, versuchte trotz meiner innerlichen Anspannung
einen klaren Kopf zu behalten und logisch zu denken.
»Hast du die Leute im Ort gefragt, ob sie wer gesehen
hat?«
»Ja.«
»Wann?«
»Heute.«
»Wieso erst heute?«
»Ich dachte ... ich ...« Der Satz verlief im Nichts.
»Wen hast du denn gefragt?«
»Ein paar Leute halt.«
»Was heißt ›ein paar‹?«
»Na, einige halt.«
Ein tiefer Atemzug. »Und keiner weiß etwas?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und was ist mit Marias Freundinnen? Hast du mit
denen schon gesprochen?«
»Schon, aber ...« Er begann wieder an seinem Bart
zu zupfen.
Es war offensichtlich, dass mein Vater das Problem
nicht wahrhaben wollte. Aber ebenso klar war, dass uns
stummes Hoffen nicht weiterbringen würde.
»Papa, wir müssen ...«
»Du hättest nicht extra kommen müssen, Lisa. Es wird
schon nichts passiert sein«, unterbrach er mich und versuchte
sich in einem Lächeln, was ihm gründlich misslang.
»Papa!«
Er sah mich an wie ein kleiner, trauriger Junge, der
nicht wusste, warum er hier bei mir sitzen und sich rechtfertigen
musste.
»Hast du schon die Polizei informiert?«
Sein Blick wanderte zum Familienfoto an der Wand.
Er blieb stumm.
»Hast du oder hast du nicht?«
»Noch nicht.«
»Und warum nicht? Worauf willst du warten?«
»Vielleicht kommt sie ja noch.«
»Papa, Maria ist seit Samstagabend verschwunden.
Jetzt haben wir Montag, bald Mitternacht.«
Der Mund meines Vaters öffnete sich, aber es drangen
keine Worte daraus.
»Wir müssen die Polizei informieren«, drängte ich
ihn, obwohl mir selbst unwohl dabei war. Das Wiedersehen
mit Patrick würde bestimmt nicht leicht werden.
Ich versuchte mir erst gar nicht auszumalen, wie
er wohl reagieren würde, wenn ich auf einmal vor ihm
stand.
Es dauerte eine Weile, dann sah mich mein Vater an.
»Gleich morgen früh, in Ordnung?«
Zögerliches Nicken.
D I E N S TA G , 1 0 . F E B R U A R
3
Kurz vor 1 Uhr nachts.
Mein Vater hatte sich schlafen gelegt. Besser gesagt,
war er irgendwann nach einer endlosen Zeit des Schweigens
aufgestanden, hatte etwas gemurmelt, von dem ich
annahm, dass es »Gute Nacht« bedeuten sollte und hatte
sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen. Ich bezweifelte
allerdings, dass er in dieser Nacht auch nur eine
Minute Schlaf finden würde.
Ich war alleine in der kalten Küche zurückgeblieben,
hatte ein wenig abgewartet und mich dann auf Zehenspitzen
die Stufen hinauf in den ersten Stock und durch
den finsteren Flur in Marias Zimmer geschlichen. Bei
jedem verräterischen Knarren der Stufen und des alten
Holzbodens hielt ich inne und verzog mein Gesicht
unwillkürlich zu einer Grimasse. Ich wollte nicht, dass
mein Vater mich dabei hörte, wollte ihn nicht beunruhigen.
Doch in mir hatte sich längst eine beißende Unruhe
festgesetzt, und pausenlos quälte mich die gleiche Frage:
War Maria in Gefahr?
Behutsam schloss ich ihre Zimmertür hinter mir
und machte rasch das Licht an. Ich hasste Dunkelheit.
Keine Ahnung, warum, aber sie machte mir Angst. Selbst
jetzt noch, mit meinen 24 Jahren. Selbst hier in meinem
Elternhaus, in dem ich mehr als 21 Jahre und somit den
Großteil meines Lebens gewohnt hatte. Vielleicht war
irgendein Erlebnis in meiner Kindheit daran schuld, viel22
leicht eine letzte Erinnerung an ein früheres Leben, vielleicht
ein dummer Film, den ich längst verdrängt hatte.
Während die Energiesparlampe nur langsam ihre volle
Leuchtkraft entfaltete, sah ich mich im Zimmer meiner
Schwester um. Trotz der Leere konnte ich ihre Anwesenheit
regelrecht spüren. Maria war mittlerweile zu einer
jungen Frau herangewachsen, das konnte ich deutlich
erkennen. Die grelle rote Wandfarbe war einem schlichten
Weiß gewichen, unter dem Dachfenster stand eine
prächtig gedeihende schulterhohe Palme. Die Poster von
gut aussehenden Schauspielern und Boybands mit nackten
Oberkörpern waren von den Wänden verschwunden
- mit 20 war man selbst auf dem Land zu alt dafür.
Sie waren durch Ikea-Bilder, die Metropolen wie New
York, London und Paris zeigten, ersetzt worden. Waren
sie etwa Ausdruck einer Sehnsucht meiner Schwester?
Hatte sie aus ihrem Leben ausbrechen wollen? Weg aus
Grundendorf, diesem kleinen, trostlosen Kaff? Oder
waren die Bilder nur Zeuge eines konformen, postpubertären
Geschmacks? So vieles hatte sich verändert, aber
von ihrem einäugigen Stoffhund Rufus hatte Maria sich
nicht trennen können - er lag unbeirrt auf dem Kopfpolster
und starrte an die Decke, als wäre nichts passiert.
Ein Blick in ihren Kleiderkasten. Er war vollgestopft,
fast jeder Bügel belegt. Auch die Unterwäscheladen
quollen über. Ich musste die Sockenknäuele flachdrücken,
um die Lade schließen zu können, ein BH-Träger
schaute heraus, ich stopfte ihn hinein. Das unterstrich
meine Vermutung, dass Maria nicht einfach ausgerissen
war - dann hätte sie doch zumindest Kleidung für ein
paar Tage mitgenommen.
Auf der schmalen Kommode an der Fußseite des ungemachten
Betts standen ein kleines Keramikschälchen mit
unzähligen Ketten, Ohrringen und sonstigem Modeschmuck,
daneben zwei pastellfarbene Parfümfläschchen
und ein paar gerahmte Fotos. Ein Klassenfoto in
einem weißen Holzrahmen erregte meine Aufmerksamkeit.
Ich nahm es in die Hand und betrachtete es näher.
Es war vor knapp vier Jahren aufgenommen worden,
weniger als ein Jahr vor Lindas Verschwinden. Maria war
damals 17 gewesen und trug ihre braune Mähne noch so
lang, dass sie ihr fast bis zum Hintern reichte - als ich
sie zum letzten Mal gesehen hatte, waren sie nur noch
schulterlang gewesen. Sie strahlte in die Kamera - ein
schiefes Lächeln, frech und unbekümmert, wie es ihre
Art war. Wenn sie diesen Blick aufgesetzt hatte, konnte
man sich nie sicher sein, was sie gerade dachte oder im
Schilde führte. Ich glaube, das wusste Maria genau - und
sie genoss es. Links daneben ihre damalige beste Freundin
Linda. Auch sie lächelte - ein liebliches, verspieltes
und selbstbewusstes Lächeln, eines von der Sorte »mir
geht es gut und die Welt ist schön«. Was für ein wunderschönes
Mädchen sie doch gewesen war. Und so viel reifer,
als es ihre 17 Jahre hätten vermuten lassen. Bestimmt
hatte sie einer ganzen Reihe von Burschen im Dorf den
Kopf verdreht.
Bilder blitzten vor meinem geistigen Auge auf, Erinnerungen
an die unzähligen Abende, an denen Linda bei
Maria übernachtet hatte. Bei uns im Haus. Hier in diesem
Zimmer. In dem Bett, neben dem ich gerade stand.
Ich setzte mich an die Kante, streifte mit den Fingerspitzen
über den Flanellbezug von Marias Polster, nahm
ihren Stoffhund und drückte ihn ganz fest an mich. Als
ich die Augen schloss, war es fast so, als konnte ich ihre
Anwesenheit spüren, ihrer beider Stimmen hören, ihr
Lachen.
Ich legte Rufus zurück auf den Polster und warf einen
letzten Blick auf das Klassenfoto. In der hintersten Reihe
rechts außen stand Markus. Obwohl er von so vielen
Menschen umgeben war, wirkte er irgendwie einsam,
sein Gesichtsausdruck war nichtssagend, fast schon leer.
Mir wurde klar, dass ich ihn überhaupt nicht gekannt
hatte, er mir bis zu seinem Verschwinden kaum aufgefallen
war und ich fast nichts über ihn wusste - bis auf
das, was die Leute im Dorf hinter vorgehaltenen Händen
über ihn redeten: dass er etwas langsam im Kopf
war, ein wenig zurückgeblieben halt.
Maria. Linda. Markus. Drei Menschen aus demselben
Dorf. Aus derselben Klasse. Alle drei spurlos verschwunden.
Was ging hier vor?
Schuldgefühle überfielen mich, und ich konnte regelrecht
spüren, wie es mir den Magen zusammenzog.
Weshalb hatte ich mich nicht öfters bei meiner kleinen
Schwester gemeldet, hatte sie gefragt, wie es ihr ging oder
sie zu mir nach Wien eingeladen? Hatte es ausschließlich
an mir gelegen, dass unsere Beziehung so oberflächlich
geworden war? Gott, ich würde es nicht ertragen können,
wenn ihr etwas zugestoßen war.
Ich wischte mir die Augen trocken und stellte das
Foto zurück auf die Kommode. Rückte es sorgfältig
zurecht, strich noch einmal darüber und betete, dass es
Maria gut ging.
4
Später lag ich im schmalen Bett meines alten Zimmers,
das seit meinem Auszug unverändert geblieben war,
und starrte an die spärlich von meiner Nachttischlampe
erhellte und mit Spinnweben übersäte Decke. Die Wände
waren kahl und weiß gestrichen, alle Bilder hatte ich
beim Auszug mitgenommen. Keine Pflanzen, keine Farben.
Der Raum strahlte das aus, was er war - leblos und
verlassen. Das Fenster war etwas undicht, die Spinnweben
und die Vorhänge in ständiger Bewegung.
Es gelang mir nicht, meine Sorgen auszublenden und
einzuschlafen. Pausenlos dachte ich an meine Schwester
und versuchte mich zu erinnern, wann ich sie zum letzten
Mal gesehen oder mit ihr telefoniert und worüber
wir gesprochen hatten. War es an Weihnachten gewesen?
Doch sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich
nicht erinnern. Rastlos wälzte ich mich von einer Seite
zur anderen, immer und immer wieder. Der Holzrahmen
knarrte, die Federn der alten, durchgelegenen Matratze
quietschten und bohrten sich in meinen Rücken. Das
Bettzeug roch muffig, obwohl ich es zuvor erst frisch
überzogen hatte.
Ich tastete nach meinem Handy, das auf dem Nachtkästchen
lag. Es zeigte 2.23 Uhr. Außerdem drei verpasste
Anrufe und fünf SMS. Leider alle von Tom. Ich
zwang mich dazu, sie zu ignorieren, wählte zum gefühlten
100. Mal in den letzten Stunden Marias Nummer
und konnte die Anspannung kaum ertragen. Aber wieder
erklang sofort die Standardansage ihrer Mobilbox:
»Sie befinden sich in der Mobilbox der Nummer ...« Ich
wollte etwas sagen, fand aber meine Stimme nicht und
legte noch vor dem Piepton auf. Dann schrieb ich ihr
eine SMS: »Bitte melde dich bei mir oder Papa!!! Wir
machen uns Sorgen!!! Lisa«
Ich legte das Telefon zurück auf das Nachtkästchen
und wandte ihm den Rücken zu. Tu's nicht!, befahl ich
mir immer wieder. Tu's nicht! Eine Minute später wurde
ich doch schwach und las Toms SMS:
19:51: Es tut mir leid. Bitte ruf mich an, wenn du angekommen
bist. Kuss Tom
20:21: Lisa, es tut mir wirklich leid. Ich weiß auch
nicht, was in mich gefahren ist. Kuss Tom
22:38: Warum rufst du nicht zurück? Tom
23:17: Hoffe, du bist stolz auf dich. Glaubst du etwa,
das beeindruckt mich, wenn du mich ignorierst?
23:45: Es tut mir leid. Kuss
Ich seufzte. Griff nach meinem Magen und unterdrückte
die Tränen.
Mit zittrigen Fingern tippte ich zur Antwort: »Mir
tut es auch leid.« Ich grübelte, löschte den Text, schrieb:
»Ich rufe dich morgen früh an.« Ich starrte auf die Zeilen,
löschte auch diesen Text und schrieb: ›Bin gut angekommen.‹
Dann drückte ich auf Senden. Keine Minute später
war mein schlechtes Gewissen so groß, dass ich Tom
noch eine weitere SMS schickte: »Mir tut es auch leid.«
© Gmeiner-Verlag GmbH
doch es wollte mir nicht gelingen.
Ich fühlte mich verloren. Einsam. Und aus irgendeinem
Grund auch schuldig.
Seit geraumer Zeit war ich keinem anderen Fahrzeug
mehr begegnet. Ich sehnte mich nach irgendeinem
Lebenszeichen, hätte mich schon über ein fahles Licht
in weiter Ferne gefreut. Aber nichts.
Langsam nahm ein Verkehrsschild in der Dunkelheit
vor mir Formen an. Ich kniff meine Augen zu schmalen
Schlitzen und versuchte etwas zu erkennen. Dann endlich:
»Grundendorf 9 km«.
Bald hatte ich es also geschafft. Dabei wusste ich gar
nicht so recht, ob ich mich wirklich darüber freuen sollte.
Beim Gedanken daran, meinen Vater gleich wiederzusehen,
verkrampfte sich mein Magen. Es war nicht so, dass
ich ihn nicht gernhatte. Es war nur - ach, ich weiß auch
nicht. Irgendwie passten wir ganz einfach nicht zueinander,
hatten uns nichts mehr zu sagen. Und seit dem
Tod meiner Mutter war alles noch komplizierter geworden.
Mein Vater meldete sich mittlerweile nur noch zu
Weihnachten und an meinem Geburtstag, und wenn er
bei einem meiner seltenen Anrufe einmal ranging, redete
er kaum etwas, und man musste ihm jeden einzelnen
Wortfetzen aus der Nase ziehen. Tagein, tagaus verkroch
er sich in seiner Werkstatt und arbeitete dort von frühmorgens
bis spät in die Nacht hinein. Die Arbeit war
zu seinem einzigen Lebensinhalt geworden. Ansonsten
wusste ich kaum mehr etwas über ihn.
In der Dunkelheit vor mir tauchte endlich die scharfe
Abzweigung nach Grundendorf auf. Ich drosselte die
Geschwindigkeit weiter, verließ die Bundesstraße und
folgte einer schmalen, schlecht asphaltierten Landstraße
mit unzähligen Schlaglöchern und tiefen Regenpfützen.
Auf einmal schien es mir, als ob der Nebel dichter
und die Nacht noch schwärzer geworden war. Die alten
Kirsch- und Nussbäume zu beiden Seiten der Straße
sahen wie bizarre Wesen aus, die mich an der Weiterfahrt
hindern wollten.
So nahe war ich meinem Heimatdorf schon lange nicht
mehr gewesen. Ein eiskalter Schauer lief mir über den
Rücken, die Erinnerung an die Ereignisse von damals
übermannte mich. Drei Jahre und zwei Tage war es nun
schon her, dass Linda und Markus verschwunden waren.
Drei Jahre und zwei Tage der Ungewissheit, was mit
ihnen geschehen war. Hatten sie das alljährliche Grundendorfer
Faschingsfest am Abend ihres Verschwindens
jemals erreicht? Niemand hatte es mit Sicherheit sagen
können, da fast alle Gäste verkleidet gewesen waren.
Waren sie gemeinsam durchgebrannt? Kaum vorstellbar,
da Markus als Einzelgänger galt und die hübsche und
frühreife Linda wohl kaum etwas mit ihm angefangen
hätte. Waren sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen,
entführt oder gar ermordet worden? Auch dafür gab es
nicht die geringsten Anhaltspunkte. Ihr spurloses Verschwinden
war bis heute ein Rätsel.
Ich hatte schon lange nicht mehr an die beiden gedacht,
sie waren zu einer vagen Erinnerung verblasst, die
irgendwie unwirklich erschien - bis zum heutigen späten
Nachmittag jedenfalls. Seitdem spukten die Ereignisse
von damals in meinem Kopf herum, und ich war
auf dem Weg in meine alte Heimat Grundendorf. Der
Grund? Wenige Stunden zuvor hatte ich einen Anruf
von meinem Vater bekommen.
Ich war gerade in einem Meeting mit zwei präpotenten
und nervtötenden Vertretern gewesen, die glaubten,
mich mit ihrer breitbeinigen Sitzhaltung, ihrem schmierigen
Grinsen und ihren anzüglichen Witzen beeindrucken
zu können, als mein stumm geschaltetes Handy
vor mir auf dem Tisch zu vibrieren begann.
»Papa«, zeigte das Display an, und augenblicklich
regte sich ein ungutes Gefühl in mir. Instinktiv wusste
ich, dass etwas passiert war. Ich griff zum Telefon, hetzte
aus der Galerie hinaus in die eisige Kälte und ließ die
beiden notgeilen Affen alleine zurück.
»Hallo, Papa.«
»Lisa?« Seine Stimme war brüchig.
»Ja?«
»Störe ich dich?«
»Nein, nein - es geht schon.«
»Gut ... wie ... wie geht's dir?«
»Ganz okay.«
»Mh.«
»Und dir, Papa?«
»Ich ruf an, weil ... weil ...«
»Was ist los?«
Ein tiefes Seufzen. »Maria ... sie ist ...«
Das ungute Gefühl in mir war schlagartig zu Angst
geworden, als mein Vater den Namen meiner Schwester
ausgesprochen hatte. Sie hatte sich in jeder Faser meines
Körpers festgesetzt. Mein Herz schlug schneller.
Meine Stimme zitterte: »Was ist mit Maria?«
»Sie ist verschwunden. Seit dem Faschingsfest am
Samstag.«
2
Still, es war totenstill. Und kalt. Ich saß mit meinem
Vater in der kleinen Küche meines Elternhauses und
rieb mir die Hände, weil es mich fröstelte.
Seit meinem Auszug vor etwas mehr als zweieinhalb
Jahren hatte sich auf den ersten Blick kaum etwas verändert.
Doch bei genauerer Betrachtung fiel mir auf, wie
heruntergekommen mittlerweile alles war. Die Orchidee
auf dem Fensterbrett war verendet, die Wanduhr über
der Mikrowelle war stehen geblieben und zeigte sechs
nach neun an. Zwei der vier flammenförmigen Glühbirnen
der Deckenleuchte waren kaputt, die anderen beiden
waren verstaubt und gaben nur mehr ein fahles Licht ab.
An der Decke und in den Ecken hingen Spinnweben,
auf den hellgrauen Wandfliesen hinter dem Herd klebten
eingetrocknete Sugospritzer, und im Küchenrollenhalter
steckte eine nackte Kartonrolle. Der Messerblock
aus Kiefernholz, den ich meinem Vater zu seinem letzten
Geburtstag geschenkt hatte, wirkte unbenützt und als
ob er nicht hierhergehörte. Nur das gerahmte Familienfoto
hing immer noch neben dem schweren Holzkreuz
über dem Esstisch. Es war im September 2011 an Tante
Hannelores Geburtstag entstanden. Meine Eltern strahlten
darauf, meine Schwester auch. Obwohl ich mich
erinnere, diesen Tag sehr genossen zu haben, war mein
Gesichtsausdruck ernst. Als ob ich damals bereits geahnt
hatte, dass schon wenige Wochen später das Unglück
über uns hereinbrechen würde. Dass meine Mutter bald
nicht mehr bei uns sein würde.
Ich versuchte die schmerzhaften Erinnerungen abzuschütteln
und wandte mich meinem Vater zu, der mir
zusammengesunken und mit hängendem Kopf gegenübersaß.
Der Mensch vor mir hatte so gar nichts mehr
mit meinem Vater auf dem Familienfoto zu tun. Er wirkte
verwahrlost und viel zu alt für seine 47 Jahre - und daran
hatte nicht nur der zottelige Vollbart Schuld, den er sich
vor einigen Monaten hatte wachsen lassen und der sein
breites Kinn verdeckte. Nein, vor allem auch die tiefen
Falten in seinem Gesicht, die sich seit Mutters Tod so
rasant vermehrten, ließen ihn älter aussehen - sie wirkten
wie Hunderte feine Risse in einer Fensterscheibe, die
sich im eisig kalten Wintersturm immer weiter ausbreiteten.
Mein Vater starrte regungslos auf die dunkelgrauen,
verstaubten Bodenfliesen. Der alte Holzstuhl knarrte ab
und zu unter seinem Gewicht. Der Kräutertee, den ich
ihm vorhin gemacht hatte, stand unberührt vor ihm auf
dem Tisch. Er schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Ich
nippte an meinem. Er war bereits kalt geworden und
schmeckte nach nichts. Der Heizkörper gab ein Glucksen
von sich. Der Wasserhahn begann zu tropfen.
»Warum hast du mich nicht schon früher angerufen?
«, fragte ich schließlich nach einer langen Zeit des
Schweigens.
Er sagte nichts, begann stattdessen an seinen langen
grau melierten Barthaaren zu zupfen. Ich konnte ihm
ansehen, dass er in seinen Gedanken nicht hier bei mir,
sondern bei Maria war.
»Papa?«
Schwerfälliges Durchatmen. »Musst du denn morgen
nicht zur Arbeit?«
»Ich habe mir ein paar Tage freigeschaufelt.«
»Das geht so einfach?«
»Papa, es ist meine Galerie. Mach dir darum keine
Sorgen.« Es wäre der falsche Zeitpunkt gewesen, meinem
Vater von den finanziellen Problemen und den ausbleibenden
Kunden zu erzählen. Davon, dass es ziemlich
sicher niemanden kratzte, wenn die Galerie ein paar
Tage geschlossen blieb.
»Ah.«
»Warum hast du denn nicht schon früher etwas gesagt?«
Mein Vater seufzte, schien völlig kraftlos. »Ich weiß
auch nicht, ich ...«
Ich starrte ihn an, wartete auf eine Fortsetzung. Sie
kam nicht.
»Hat Maria vielleicht irgendetwas gesagt oder ist sie
komisch gewesen, bevor sie verschwunden ist?«
»Nein«, sagte er und kaute an seiner Unterlippe.
Als ich schon gar nicht mehr damit rechnete, fuhr
er fort: »Sie hat nur gesagt, dass sie sich dann fertig
machen und auf das Faschingsfest gehen wollte. Ich
bin in die Werkstatt gegangen und erst nach ein paar
Stunden zurück ins Haus gekommen. Da ist sie schon
weg gewesen.«
»Und seitdem hast du nichts mehr von ihr gehört?«
Er nickte kaum merklich.
»Und ihr Handy war immer ausgeschaltet?«
Wieder wortloses Nicken.
Ich rieb mir mit beiden Händen das Gesicht, atmete
tief durch, versuchte trotz meiner innerlichen Anspannung
einen klaren Kopf zu behalten und logisch zu denken.
»Hast du die Leute im Ort gefragt, ob sie wer gesehen
hat?«
»Ja.«
»Wann?«
»Heute.«
»Wieso erst heute?«
»Ich dachte ... ich ...« Der Satz verlief im Nichts.
»Wen hast du denn gefragt?«
»Ein paar Leute halt.«
»Was heißt ›ein paar‹?«
»Na, einige halt.«
Ein tiefer Atemzug. »Und keiner weiß etwas?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und was ist mit Marias Freundinnen? Hast du mit
denen schon gesprochen?«
»Schon, aber ...« Er begann wieder an seinem Bart
zu zupfen.
Es war offensichtlich, dass mein Vater das Problem
nicht wahrhaben wollte. Aber ebenso klar war, dass uns
stummes Hoffen nicht weiterbringen würde.
»Papa, wir müssen ...«
»Du hättest nicht extra kommen müssen, Lisa. Es wird
schon nichts passiert sein«, unterbrach er mich und versuchte
sich in einem Lächeln, was ihm gründlich misslang.
»Papa!«
Er sah mich an wie ein kleiner, trauriger Junge, der
nicht wusste, warum er hier bei mir sitzen und sich rechtfertigen
musste.
»Hast du schon die Polizei informiert?«
Sein Blick wanderte zum Familienfoto an der Wand.
Er blieb stumm.
»Hast du oder hast du nicht?«
»Noch nicht.«
»Und warum nicht? Worauf willst du warten?«
»Vielleicht kommt sie ja noch.«
»Papa, Maria ist seit Samstagabend verschwunden.
Jetzt haben wir Montag, bald Mitternacht.«
Der Mund meines Vaters öffnete sich, aber es drangen
keine Worte daraus.
»Wir müssen die Polizei informieren«, drängte ich
ihn, obwohl mir selbst unwohl dabei war. Das Wiedersehen
mit Patrick würde bestimmt nicht leicht werden.
Ich versuchte mir erst gar nicht auszumalen, wie
er wohl reagieren würde, wenn ich auf einmal vor ihm
stand.
Es dauerte eine Weile, dann sah mich mein Vater an.
»Gleich morgen früh, in Ordnung?«
Zögerliches Nicken.
D I E N S TA G , 1 0 . F E B R U A R
3
Kurz vor 1 Uhr nachts.
Mein Vater hatte sich schlafen gelegt. Besser gesagt,
war er irgendwann nach einer endlosen Zeit des Schweigens
aufgestanden, hatte etwas gemurmelt, von dem ich
annahm, dass es »Gute Nacht« bedeuten sollte und hatte
sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen. Ich bezweifelte
allerdings, dass er in dieser Nacht auch nur eine
Minute Schlaf finden würde.
Ich war alleine in der kalten Küche zurückgeblieben,
hatte ein wenig abgewartet und mich dann auf Zehenspitzen
die Stufen hinauf in den ersten Stock und durch
den finsteren Flur in Marias Zimmer geschlichen. Bei
jedem verräterischen Knarren der Stufen und des alten
Holzbodens hielt ich inne und verzog mein Gesicht
unwillkürlich zu einer Grimasse. Ich wollte nicht, dass
mein Vater mich dabei hörte, wollte ihn nicht beunruhigen.
Doch in mir hatte sich längst eine beißende Unruhe
festgesetzt, und pausenlos quälte mich die gleiche Frage:
War Maria in Gefahr?
Behutsam schloss ich ihre Zimmertür hinter mir
und machte rasch das Licht an. Ich hasste Dunkelheit.
Keine Ahnung, warum, aber sie machte mir Angst. Selbst
jetzt noch, mit meinen 24 Jahren. Selbst hier in meinem
Elternhaus, in dem ich mehr als 21 Jahre und somit den
Großteil meines Lebens gewohnt hatte. Vielleicht war
irgendein Erlebnis in meiner Kindheit daran schuld, viel22
leicht eine letzte Erinnerung an ein früheres Leben, vielleicht
ein dummer Film, den ich längst verdrängt hatte.
Während die Energiesparlampe nur langsam ihre volle
Leuchtkraft entfaltete, sah ich mich im Zimmer meiner
Schwester um. Trotz der Leere konnte ich ihre Anwesenheit
regelrecht spüren. Maria war mittlerweile zu einer
jungen Frau herangewachsen, das konnte ich deutlich
erkennen. Die grelle rote Wandfarbe war einem schlichten
Weiß gewichen, unter dem Dachfenster stand eine
prächtig gedeihende schulterhohe Palme. Die Poster von
gut aussehenden Schauspielern und Boybands mit nackten
Oberkörpern waren von den Wänden verschwunden
- mit 20 war man selbst auf dem Land zu alt dafür.
Sie waren durch Ikea-Bilder, die Metropolen wie New
York, London und Paris zeigten, ersetzt worden. Waren
sie etwa Ausdruck einer Sehnsucht meiner Schwester?
Hatte sie aus ihrem Leben ausbrechen wollen? Weg aus
Grundendorf, diesem kleinen, trostlosen Kaff? Oder
waren die Bilder nur Zeuge eines konformen, postpubertären
Geschmacks? So vieles hatte sich verändert, aber
von ihrem einäugigen Stoffhund Rufus hatte Maria sich
nicht trennen können - er lag unbeirrt auf dem Kopfpolster
und starrte an die Decke, als wäre nichts passiert.
Ein Blick in ihren Kleiderkasten. Er war vollgestopft,
fast jeder Bügel belegt. Auch die Unterwäscheladen
quollen über. Ich musste die Sockenknäuele flachdrücken,
um die Lade schließen zu können, ein BH-Träger
schaute heraus, ich stopfte ihn hinein. Das unterstrich
meine Vermutung, dass Maria nicht einfach ausgerissen
war - dann hätte sie doch zumindest Kleidung für ein
paar Tage mitgenommen.
Auf der schmalen Kommode an der Fußseite des ungemachten
Betts standen ein kleines Keramikschälchen mit
unzähligen Ketten, Ohrringen und sonstigem Modeschmuck,
daneben zwei pastellfarbene Parfümfläschchen
und ein paar gerahmte Fotos. Ein Klassenfoto in
einem weißen Holzrahmen erregte meine Aufmerksamkeit.
Ich nahm es in die Hand und betrachtete es näher.
Es war vor knapp vier Jahren aufgenommen worden,
weniger als ein Jahr vor Lindas Verschwinden. Maria war
damals 17 gewesen und trug ihre braune Mähne noch so
lang, dass sie ihr fast bis zum Hintern reichte - als ich
sie zum letzten Mal gesehen hatte, waren sie nur noch
schulterlang gewesen. Sie strahlte in die Kamera - ein
schiefes Lächeln, frech und unbekümmert, wie es ihre
Art war. Wenn sie diesen Blick aufgesetzt hatte, konnte
man sich nie sicher sein, was sie gerade dachte oder im
Schilde führte. Ich glaube, das wusste Maria genau - und
sie genoss es. Links daneben ihre damalige beste Freundin
Linda. Auch sie lächelte - ein liebliches, verspieltes
und selbstbewusstes Lächeln, eines von der Sorte »mir
geht es gut und die Welt ist schön«. Was für ein wunderschönes
Mädchen sie doch gewesen war. Und so viel reifer,
als es ihre 17 Jahre hätten vermuten lassen. Bestimmt
hatte sie einer ganzen Reihe von Burschen im Dorf den
Kopf verdreht.
Bilder blitzten vor meinem geistigen Auge auf, Erinnerungen
an die unzähligen Abende, an denen Linda bei
Maria übernachtet hatte. Bei uns im Haus. Hier in diesem
Zimmer. In dem Bett, neben dem ich gerade stand.
Ich setzte mich an die Kante, streifte mit den Fingerspitzen
über den Flanellbezug von Marias Polster, nahm
ihren Stoffhund und drückte ihn ganz fest an mich. Als
ich die Augen schloss, war es fast so, als konnte ich ihre
Anwesenheit spüren, ihrer beider Stimmen hören, ihr
Lachen.
Ich legte Rufus zurück auf den Polster und warf einen
letzten Blick auf das Klassenfoto. In der hintersten Reihe
rechts außen stand Markus. Obwohl er von so vielen
Menschen umgeben war, wirkte er irgendwie einsam,
sein Gesichtsausdruck war nichtssagend, fast schon leer.
Mir wurde klar, dass ich ihn überhaupt nicht gekannt
hatte, er mir bis zu seinem Verschwinden kaum aufgefallen
war und ich fast nichts über ihn wusste - bis auf
das, was die Leute im Dorf hinter vorgehaltenen Händen
über ihn redeten: dass er etwas langsam im Kopf
war, ein wenig zurückgeblieben halt.
Maria. Linda. Markus. Drei Menschen aus demselben
Dorf. Aus derselben Klasse. Alle drei spurlos verschwunden.
Was ging hier vor?
Schuldgefühle überfielen mich, und ich konnte regelrecht
spüren, wie es mir den Magen zusammenzog.
Weshalb hatte ich mich nicht öfters bei meiner kleinen
Schwester gemeldet, hatte sie gefragt, wie es ihr ging oder
sie zu mir nach Wien eingeladen? Hatte es ausschließlich
an mir gelegen, dass unsere Beziehung so oberflächlich
geworden war? Gott, ich würde es nicht ertragen können,
wenn ihr etwas zugestoßen war.
Ich wischte mir die Augen trocken und stellte das
Foto zurück auf die Kommode. Rückte es sorgfältig
zurecht, strich noch einmal darüber und betete, dass es
Maria gut ging.
4
Später lag ich im schmalen Bett meines alten Zimmers,
das seit meinem Auszug unverändert geblieben war,
und starrte an die spärlich von meiner Nachttischlampe
erhellte und mit Spinnweben übersäte Decke. Die Wände
waren kahl und weiß gestrichen, alle Bilder hatte ich
beim Auszug mitgenommen. Keine Pflanzen, keine Farben.
Der Raum strahlte das aus, was er war - leblos und
verlassen. Das Fenster war etwas undicht, die Spinnweben
und die Vorhänge in ständiger Bewegung.
Es gelang mir nicht, meine Sorgen auszublenden und
einzuschlafen. Pausenlos dachte ich an meine Schwester
und versuchte mich zu erinnern, wann ich sie zum letzten
Mal gesehen oder mit ihr telefoniert und worüber
wir gesprochen hatten. War es an Weihnachten gewesen?
Doch sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich
nicht erinnern. Rastlos wälzte ich mich von einer Seite
zur anderen, immer und immer wieder. Der Holzrahmen
knarrte, die Federn der alten, durchgelegenen Matratze
quietschten und bohrten sich in meinen Rücken. Das
Bettzeug roch muffig, obwohl ich es zuvor erst frisch
überzogen hatte.
Ich tastete nach meinem Handy, das auf dem Nachtkästchen
lag. Es zeigte 2.23 Uhr. Außerdem drei verpasste
Anrufe und fünf SMS. Leider alle von Tom. Ich
zwang mich dazu, sie zu ignorieren, wählte zum gefühlten
100. Mal in den letzten Stunden Marias Nummer
und konnte die Anspannung kaum ertragen. Aber wieder
erklang sofort die Standardansage ihrer Mobilbox:
»Sie befinden sich in der Mobilbox der Nummer ...« Ich
wollte etwas sagen, fand aber meine Stimme nicht und
legte noch vor dem Piepton auf. Dann schrieb ich ihr
eine SMS: »Bitte melde dich bei mir oder Papa!!! Wir
machen uns Sorgen!!! Lisa«
Ich legte das Telefon zurück auf das Nachtkästchen
und wandte ihm den Rücken zu. Tu's nicht!, befahl ich
mir immer wieder. Tu's nicht! Eine Minute später wurde
ich doch schwach und las Toms SMS:
19:51: Es tut mir leid. Bitte ruf mich an, wenn du angekommen
bist. Kuss Tom
20:21: Lisa, es tut mir wirklich leid. Ich weiß auch
nicht, was in mich gefahren ist. Kuss Tom
22:38: Warum rufst du nicht zurück? Tom
23:17: Hoffe, du bist stolz auf dich. Glaubst du etwa,
das beeindruckt mich, wenn du mich ignorierst?
23:45: Es tut mir leid. Kuss
Ich seufzte. Griff nach meinem Magen und unterdrückte
die Tränen.
Mit zittrigen Fingern tippte ich zur Antwort: »Mir
tut es auch leid.« Ich grübelte, löschte den Text, schrieb:
»Ich rufe dich morgen früh an.« Ich starrte auf die Zeilen,
löschte auch diesen Text und schrieb: ›Bin gut angekommen.‹
Dann drückte ich auf Senden. Keine Minute später
war mein schlechtes Gewissen so groß, dass ich Tom
noch eine weitere SMS schickte: »Mir tut es auch leid.«
© Gmeiner-Verlag GmbH
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Autoren-Porträt von Roman Klementovic
Roman Klementovic lebt in Wien und arbeitete lange im Marketing, bevor er seine Liebe zum Schreiben entdeckte. Bisher im Gmeiner-Verlag erschienen: »Immerschuld« (2017) & »Verspielt« (2015). Nähere Infos auf www.romanklementovic.at
Bibliographische Angaben
- Autor: Roman Klementovic
- Altersempfehlung: Ab 18 Jahre
- 2017, 6. Aufl., 309 Seiten, Maße: 11,8 x 19,8 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Gmeiner-Verlag
- ISBN-10: 3839218888
- ISBN-13: 9783839218884
- Erscheinungsdatum: 29.01.2016
Rezension zu „Immerstill “
Mitarbeitertipp von Jutta Hirtl, Weltbildfiliale EKZ Traisenpark, St. Pölten:Ein neuer Stern ist am österreichischen Krimisektor aufgegangen: Roman Klementovic mit seinem Buch: Immerstill. Unscheinbares Cover, dezenter Titel - wäre dieses Buch nicht auf einem Weltbildplakat beworben worden, wäre es mir nicht so einfach aufgefallen. Roman Klementovic weiß, wie man Spannung aufbaut und bis zum Ende durchhält: man kann das Buch nicht aus der Hand legen, sobald man zu lesen begonnen hat. Das Ende des Buches ist verblüffend, was das Buch so schön abrundet. Dieses Buch empfehle ich jedem Krimiliebhaber, der gediegene Krimikost liebt und ich hoffe von Herzen, dass dieses Buch, das den Stoff dazu hergibt, auch verfilmt wird.
Kommentare zu "Immerstill"
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