In meinem Himmel
Roman zum Film
Susie ist ein normaler Teenie - bis zu dem Tag, an dem sie vergewaltigt und getötet wird. Doch ihre Existenz ist damit nicht ausgelöscht: Von "ihrem Himmel" aus beobachtet sie ihre Familie und Freunde. Und erkennt dabei, was es heißt zu leben und loszulassen.
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „In meinem Himmel “
Susie ist ein normaler Teenie - bis zu dem Tag, an dem sie vergewaltigt und getötet wird. Doch ihre Existenz ist damit nicht ausgelöscht: Von "ihrem Himmel" aus beobachtet sie ihre Familie und Freunde. Und erkennt dabei, was es heißt zu leben und loszulassen.
Klappentext zu „In meinem Himmel “
Susie Salmon führt das ganz normale Leben eines Teenagers in einer amerikanischen Kleinstadt. Bis zu jenem Tag, als sie von einem Vergewaltiger getötet wird. Aber Susies Existenz ist damit nicht ausgelöscht. Von ihrem Himmel aus beobachtet sie ihre Freunde und Familie, die nach Wegen suchen, um den Verlust zu verarbeiten. Erst wenn die fragile Balance menschlicher Existenz wiederhergestellt ist, kann auch Susie ihren Seelenfrieden finden ...
Lese-Probe zu „In meinem Himmel “
In meinem Himmel von Alice SeboldIn der Schneekugel auf dem Schreibtisch meines Vaters befand sich ein Pinguin, der einen rotweiß gestreiften Schal trug. Als ich klein war, pflegte mein Vater mich auf seinen Schoß zu ziehen und nach der Schneekugel zu greifen. Er stellte sie auf den Kopf, sodass sich der ganze Schnee oben sammelte, und drehte sie dann schnell um. Wir sahen beide zu, wie der Schnee den Pinguin sacht umrieselte. Der Pinguin war allein da drinnen, dachte ich, und ich machte mir Sorgen um ihn.
Als ich meinem Vater davon erzählte, sagte er: »Keine Angst, Susie; er hat ein schönes Leben. Er ist in einer perfekten Welt eingeschlossen.«
1
Mein Nachname war Salmon, also Lachs, wie der Fisch; Vorname Susie. Ich war vierzehn, als ich am 6. Dezember 1973 ermordet wurde. Auf Zeitungsfotos in den Siebzigern sahen die vermissten Mädchen meistens aus wie ich: hellhäutig und mit mausbraunen Haaren.
Das war, bevor Bilder von Kindern aller Hautfarben und Geschlechter nach und nach auf Milchtüten und in der Tagespost auftauchten. Damals glaubten die Leute noch, so etwas geschehe einfach nicht. Für mein Jahrbuch in der Junior High hatte ich mir ein Zitat von einem spanischen Dichter ausgesucht, auf den mich meine Schwester aufmerksam gemacht hatte, Juan Ramón Jiménez.
Es ging so: »Wenn sie dir liniertes Papier geben, dann schreib quer dazu.« Ich wählte es, weil es meine Verachtung für eine klar strukturierte Umgebung wie mein Klassenzimmer ausdrückte und ich außerdem fand, dass es mich, da es kein bescheuertes Zitat von einer Rockband war, als literarisch gebildet kennzeichnete. Ich war Mitglied des Schachclubs und der Chemie-AG und ließ alles anbrennen, was ich in Mrs. Delminicos Hauswirtschaftsunterricht zuzubereiten versuchte.
Mein Lieblingslehrer war Mr. Botte, bei dem wir Biologie hatten, und der die
... mehr
Frösche und Krebse, die wir sezieren mussten, gern zu neuem Leben erweckte, indem er sie in ihren gewachsten Tiegeln tanzen ließ.
Mr. Botte hat mich übrigens nicht getötet. Glauben Sie nicht, dass jeder Mensch, dem Sie hier begegnen, verdächtig ist. Das ist das Problem. Man kann nie wissen. Mr. Botte kam zu meiner Trauerfeier (wie, wenn ich das hinzufügen darf, fast die gesamte Junior High so beliebt war ich noch nie) und weinte ziemlich heftig. Er hatte ein krankes Kind. Das wussten wir alle, und obwohl wir uns manchmal dazu zwingen mussten, lachten wir deshalb mit, nur, um ihn glücklich zu machen, wenn er über seine eigenen Witze lachte, die schon einen Bart hatten, ehe er mein Lehrer wurde.
Seine Tochter starb anderthalb Jahre nach mir. Sie hatte Leukämie, aber in meinem Himmel habe ich sie nie gesehen. Mein Mörder war ein Mann aus unserer Nachbarschaft. Meiner Mutter gefielen seine Blumenrabatten, und mein Vater unterhielt sich mal mit ihm über Düngemittel.
Mein Mörder glaubte an altmodische Zutaten wie Eierschalen und Kaffeesatz, die, wie er sagte, seine eigene Mutter schon benutzt hatte. Mein Vater kam lächelnd nach Hause und riss Witze darüber, dass der Garten des Mannes zwar wunderschön sein mochte, aber zum Himmel stinken würde, sobald eine Hitzewelle zuschlüge. Am 6. Dezember 1973 allerdings schneite es, und ich nahm auf dem Heimweg von der Schule eine Abkürzung durch das Maisfeld. Es war bereits dunkel, da die Tage im Winter kürzer sind, und ich erinnere mich, wie die abgebrochenen Maisstängel mir das Gehen erschwerten. Der Schnee fiel sacht, wie ein Schauer aus kleinen Händen, und ich atmete durch die Nase, bis sie so sehr lief, dass ich den Mund aufmachen musste.
Zwei Meter von Mr. Harvey entfernt streckte ich die Zunge heraus, um eine Schneeflocke zu kosten. »Krieg keinen Schreck«, sagte Mr. Harvey. Natürlich erschrak ich in einem Maisfeld im Dunkeln.
Nachdem ich tot war, fiel mir ein, dass ein leichter Duft von Kölnischwasser in der Luft gelegen hatte, ich jedoch nicht darauf geachtet oder geglaubt hatte, er käme von einem der Häuser vor mir.
»Mr. Harvey«, sagte ich.
»Du bist das ältere Salmon-Mädchen, stimmt's?«
»Ja.«
»Wie geht's zu Hause?« Obgleich Älteste von drei Geschwistern und oft die Beste in einer Klassenarbeit in Naturkunde, fühlte ich mich in Gegenwart von Erwachsenen nie ganz wohl.
»Gut«, sagte ich. Ich fror, aber die natürliche Autorität seines Alters und dazu die Tatsache, dass er ein Nachbar war und sich mit meinem Vater über Düngemittel unterhalten hatte, ließen mich wie angewurzelt stehen bleiben. »Ich habe hier was gebaut«, sagte er. »Möchtest du es sehen?«
»Mir ist ein bisschen kalt, Mr. Harvey«, sagte ich, »und meine Mom hat es gern, wenn ich vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause bin.«
»Es ist schon dunkel, Susie«, sagte er. Heute wünschte ich, ich hätte gemerkt, wie unheimlich das war. Ich hatte ihm meinen Namen nie genannt. Vermutlich dachte ich, mein Vater hätte ihm eine der peinlichen Anekdoten erzählt, in denen er selbst bloß Liebesbeweise gegenüber seinen Kindern sah. Mein Vater gehörte zu den Dads, die ein Foto von ihrer nackten dreijährigen Tochter in das Bad im Erdgeschoss hängen, dasjenige, das die Gäste benutzen. Gott sei Dank hat er das mit meiner kleinen Schwester Lindsey gemacht. Diese Erniedrigung blieb mir zumindest erspart.
Doch er erzählte gern, wie ich, sobald Lindsey geboren war, so eifersüchtig auf sie wurde, dass ich eines Tages, als er im Nebenzimmer am Telefon war, auf der Couch entlangrobbte er konnte mich
von seinem Standort aus sehen und versuchte, Lindsey in ihrem tragbaren Bettchen anzupinkeln. Diese Geschichte demütigte mich jedes Mal, wenn er sie erzählte, dem Pastor unserer Kirche, unserer Nachbarin Mrs. Stead, die Therapeutin war und deren Einstellung dazu er hören wollte, und jedem, der irgendwann mal meinte: »Susie hat eine Menge Mumm!«
»Mumm!«, pflegte mein Vater dann zu sagen. »Über ihren Mumm kann ich Ihnen was erzählen«, und dann ließ er umgehend seine Wie-Susie-Lindsey-anpinkelte-Geschichte vom Stapel.
Wie sich aber erwies, hatte mein Vater uns Mr. Harvey gegenüber nicht erwähnt und ihm auch nicht die Wie-Susie-Lindsey-anpinkelte-Geschichte erzählt.
Später sollte Mr. Harvey, als er auf der Straße mit meiner Mutter zusammenstieß, diese Worte sagen: »Ich habe von der grässlichen, grässlichen Tragödie gehört. Wie hieß Ihre Tochter noch mal?« »Susie«, sagte meine Mutter, die unter der Last des Namens all ihre Kräfte zusammennehmen musste, einer Last, von der sie naiverweise hoffte, dass sie irgendwann leichter werden würde, denn sie wusste nicht, dass sie für den Rest ihres Lebens nur auf neue und mannigfaltige Weise schmerzen würde.
Mr. Harvey sagte das Übliche: »Ich hoffe, sie kriegen den Mistkerl. Es tut mir Leid, dass Sie sie verloren haben.« Ich war inzwischen in meinem Himmel, wo ich meine Gliedmaßen zusammensetzte und seine Dreistigkeit nicht fassen konnte.
»Der Mann hat kein Schamgefühl«, sagte ich zu Franny, meiner Aufnahmeberaterin.
»Genau«, sagte sie, und das war alles, was sie antwortete. In meinem Himmel gab es nicht viel Gequatsche. Mr. Harvey meinte, es würde nur einen Augenblick dauern, also folgte ich ihm ein Stückchen weiter ins Maisfeld hinein, wo weniger Stängel abgebrochen waren, weil keiner hier die Abkürzung zur Junior High nahm.
Meine Mom hatte meinem kleinen Bruder Buckley erzählt, der Mais auf dem Feld sei ungenießbar, als er fragte, warum niemand aus der Nachbarschaft ihn äße.
»Der Mais ist für Pferde, nicht für Menschen«, sagte sie.
»Auch nicht für Hunde?«, fragte Buckley.
»Nein«, erwiderte meine Mutter.
»Auch nicht für Dinosaurier?«, fragte Buckley. Und immer so weiter.
»Ich habe ein kleines Versteck gebaut«, sagte Mr. Harvey. Er blieb stehen und wandte sich zu mir um. »Ich sehe nichts«, sagte ich. Mir war bewusst, dass Mr. Harvey mich merkwürdig anschaute. Ältere Männer hatten mich schon öfter so angeguckt, seit ich meinen Babyspeck verloren hatte, aber normalerweise drehten sie meinetwegen nicht durch, wenn ich meinen königsblauen Parka und meine superweiten, gelben Schlaghosen trug.
Seine Brille war klein und rund und hatte ein goldfarbenes Gestell, und seine Augen blickten über sie hinweg auf mich. »Du solltest aufmerksamer sein, Susie«, sagte er.
Ich hatte das Gefühl, ich müsste meine Aufmerksamkeit auf den Heimweg richten, doch ich tat es nicht. Wieso nicht? Franny meinte, solche Fragen seien fruchtlos.
»Du hast es eben nicht getan, und damit hat sich's. Grüble nicht darüber nach. Das bringt nichts. Du bist tot, und das musst du akzeptieren.«
»Versuch's noch mal«, sagte Mr. Harvey, und er hockte sich hin und klopfte auf den Boden.
»Was ist das?«, fragte ich. Meine Ohren waren eiskalt. Die bunte Mütze mit der Bommel und den Glöckchen, die meine Mutter mir zu Weihnachten gemacht hatte, mochte ich nicht tragen. Ich hatte sie in meine Parkatasche gestopft.
Ich entsinne mich, dass ich hinüberging und neben ihm auf den Boden stampfte. Er fühlte sich noch härter an als gefrorene Erde, die schon ganz schön hart ist.
»Das ist Holz«, sagte Mr. Harvey. »Damit der Eingang nicht einbricht. Ansonsten besteht es nur aus Erde.«
»Was ist es?«, fragte ich. Ich fror nicht mehr und war auch nicht mehr merkwürdig berührt von dem Blick, den er mir zugeworfen hatte. Es war, als wäre ich im Naturkundeunterricht: Ich war neugierig. »Komm und guck's dir an.« Der Einstieg war unbequem, das räumte er ein, sobald wir beide in dem Loch waren. Aber ich staunte so sehr darüber, wie er einen Schornstein gebaut hatte, der den Rauch ableiten würde, falls er da unten jemals ein Feuer machte, dass ich über die Unbequemlichkeit des Ein- und Ausstiegs gar nicht nachdachte.
Außerdem muss ich hinzufügen, dass Flucht kein Konzept war, mit dem ich wirklich Erfahrung hatte. Das Schlimmste, dem ich bisher hatte entfliehen müssen, war Artie gewesen, ein seltsam aussehender Junge in der Schule, dessen Vater Leichenbestatter war. Er tat gern so, als hätte er eine Spritze mit Einbalsamierungsflüssigkeit bei sich. Auf seine Hefte zeichnete er Spritzen, aus denen dunkle Kleckse tropften.
»Das ist klasse!«, sagte ich zu Mr. Harvey. Er hätte der Glöckner von Notre Dame sein können, über den wir im Französischunterricht etwas gelesen hatten. Mir war es egal. Ich machte eine totale Kehrtwende. Ich war mein Bruder Buckley bei unserem Tagesausflug ins Naturkundemuseum in New York, wo er sich in die dort ausgestellten riesigen Skelette verliebt hatte. Das Wort Klasse hatte ich seit der Grundschule nicht mehr in der Öffentlichkeit benutzt.
»Als ob man einem Baby seinen Lutscher wegnimmt«, sagte Franny.
Ich sehe das Erdloch vor mir, als wäre es gestern gewesen, und das ist es auch. Für uns ist das Leben ein ständiges Gestern. Das Loch war so groß wie ein kleines Zimmer, die Abstellkammer in unserem Haus zum Beispiel, wo wir unsere Stiefel und Regenmäntel aufbewahrten und Mom noch eine Waschmaschine mit Trockner hineingequetscht hatte, übereinander.
Ich konnte fast aufrecht darin stehen, Mr. Harvey dagegen musste sich bücken. Durch die Art und Weise, wie er gegraben hatte, war an den Längsseiten eine Bank entstanden. Er setzte sich unverzüglich hin.
»Sieh dich um«, sagte er. Ich starrte es voller Erstaunen an, das Bord über ihm, wo er Streichhölzer, eine Reihe Batterien und eine batteriegetriebene Leuchtstofflampe deponiert hatte, die das einzige Licht im Raum ausstrahlte ein unheimliches Licht, das seine Gesichtszüge verschwimmen ließ, als er auf mir war. Auf dem Bord lagen auch ein Spiegel und ein Rasierer und Rasierkrem. Das fand ich komisch. Erledigte er das nicht zu Hause? Aber ich nahm wohl an, dass ein Mann, der ein vollkommen intaktes Einfamilienhaus hat und dann nur eine halbe Meile entfernt davon einen unterirdischen Raum baut, ein bisschen verrückt sein muss. Mein Vater hatte eine nette Art, Menschen wie ihn zu beschreiben: »Der Mann ist ein Original, weiter nichts.«
Also dachte ich wohl, Mr. Harvey sei ein Original, und der Raum gefiel mir, und er war warm, und ich wollte wissen, wie er ihn gebaut hatte, wie das Ganze funktionierte, und wo er all das gelernt hatte. Aber bis der Hund der Gilberts drei Tage später meinen Ellbogen fand und mit einer verräterischen Maishülse daran nach Hause brachte, hatte Mr. Harvey das Loch verschlossen. Ich war währenddessen im Transit. Deshalb kriegte ich nicht mit, wie er sich abschuftete, die hölzerne
Verstärkung entfernte, sämtliche Beweisstücke zusammen mit meinen Körperteilen einsackte, bis auf jenen Ellbogen. Als ich dann endlich das Nötigste bereithatte, um wieder aufzutauchen und mir das Treiben auf der Erde anzuschauen, war ich mehr an meiner Familie als an irgendetwas anderem interessiert. Meine Mutter saß mit offenem Mund auf einem Stuhl an der Haustür.
Ihr blasses Gesicht blasser, als ich es je gesehen hatte. Ihre blauen Augen starr. Meinen Vater drängte es zur Betriebsamkeit. Er wollte Einzelheiten in Erfahrung bringen und gemeinsam mit den Polizisten das Maisfeld durchkämmen. Ich danke Gott heute noch für einen kleinen Kriminalbeamten namens Len Fenerman. Er wies zwei Uniformierte an, meinen Dad in die Stadt zu begleiten und ihn alle Örtlichkeiten aufzeigen zu lassen, wo ich mich mit meinen Freundinnen rumgetrieben hatte. Die Beamten hielten meinen Dad den ganzen ersten Tag lang in einem einzigen Einkaufszentrum auf Trab. Niemand hatte Lindsey etwas erzählt, die dreizehn war und alt genug gewesen wäre, oder Buckley, der vier war und, um ehrlich zu sein, nie vollständig durchblicken würde.
Mr. Harvey fragte mich, ob ich eine kleine Erfrischung wolle. So formulierte er es. Ich sagte, ich müsse nach Hause. »Sei höflich und nimm eine Cola«, sagte er. »Die anderen Kinder würden bestimmt eine trinken.«
»Welche anderen Kinder?«
»Ich habe das hier für die Kinder aus der Nachbarschaft gebaut. Ich dachte, es könnte vielleicht so eine Art Clubhaus sein.« Ich glaube nicht, dass ich ihm das abnahm, auch damals nicht. Ich war der Meinung, dass er log, doch ich fand, es war eine jämmerliche Lüge. Ich dachte mir, er sei wohl einsam. Wir hatten in Sexualkunde über Männer wie ihn gelesen. Männer, die nie heirateten und jeden Abend Tiefkühlgerichte aßen und solche Angst vor Ablehnung hatten, dass sie nicht einmal Haustiere besaßen. Er tat mir Leid.
»Okay«, willigte ich ein. »Ich nehme eine Cola.«
Nach einer Weile fragte er: »Ist dir nicht warm, Susie? Warum ziehst du nicht deinen Parka aus?«
Ich tat es. Dann sagte er: »Du bist sehr hübsch, Susie.«
»Danke«, erwiderte ich, obwohl er mich so anguckte, dass mir, wie meine Freundin Clarissa und ich es nannten, ganz blümerant zu Mute wurde. »Hast du einen Freund?«
»Nein, Mr. Harvey«, sagte ich. Ich schluckte den Rest meiner Cola herunter, eine ganze Menge, und sagte: »Ich muss gehen, Mr. Harvey. Es ist toll hier, aber ich muss gehen.«
Er stand auf und zog vor den sechs ausgegrabenen Stufen, die in die Welt führten, seine Glöckner-von-NotreDame-Nummer ab. »Ich weiß nicht, warum du glaubst, dass du gehen könntest.«
Ich redete, damit ich mir nicht klarmachen musste, dass Mr. Harvey kein Original war. Jetzt, da er den Eingang versperrte, war er mir unheimlich und ekelte mich an.
»Mr. Harvey, ich muss wirklich nach Hause.«
»Zieh deine Sachen aus.«
»Was?«
»Zieh deine Sachen aus«, sagte Mr. Harvey. »Ich will überprüfen, ob du noch Jungfrau bist.«
»Das bin ich, Mr. Harvey.«
»Ich will sichergehen. Deine Eltern werden mir dankbar sein.«
»Meine Eltern?«
»Sie wollen nur brave Mädchen«, sagte er.
»Mr. Harvey«, sagte ich, »bitte lassen Sie mich gehen.«
»Du gehst nicht, Susie. Du gehörst jetzt mir.«
Fitness war damals keine große Sache, Aerobic den wenigsten ein Begriff. Mädchen sollten weich und sanft sein, und nur die Mädchen, die wir im Verdacht hatten, lesbisch zu sein, konnten in der Schule die Seile hochklettern.
Ich wehrte mich heftig. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, dagegen, dass Mr. Harvey mir wehtat, doch mein So-gut-ich-konnte war nicht gut genug, nicht annähernd, und so lag ich bald auf dem Boden, im Boden, und er auf mir, keuchend und schwitzend, nachdem er bei dem Gerangel seine Brille verloren hatte. Ich war so lebendig damals. Ich dachte, es sei das Schlimmste auf der Welt, mit einem Mann auf mir flach auf dem Rücken zu liegen. In der Erde gefangen zu sein, ohne dass jemand wusste, wo ich war. Ich dachte an meine Mutter. Meine Mutter sah bestimmt auf das Zifferblatt der Uhr an ihrem Backofen. Es war ein neuer Herd, und es gefiel ihr zu gut, dass er eine Uhr hatte.
»Ich kann alles auf die Minute genau zubereiten«, sagte sie zu ihrer eigenen Mutter, einer Mutter, der Backöfen vollkommen schnuppe waren. Sie würde über meine Verspätung besorgt sein, allerdings eher ärgerlich als besorgt. Während mein Vater in die Garage fuhr, würde sie herumfuhrwerken, ihm einen Drink eingießen, einen trockenen Sherry, und eine wütende Miene aufsetzen.
»Du kennst doch die Junior High«, würde sie sagen. »Womöglich ist Frühlingsfest.«
»Abigail«, würde mein Vater erwidern, »wie kann Frühlingsfest sein, wenn es schneit?« Nachdem sie damit gescheitert war, scheuchte meine Mutter vielleicht Buckley ins Zimmer und sagte: »Spiel mit deinem Vater«, während sie in die Küche abtauchte und sich selbst einen Schluck Sherry genehmigte. Mr. Harvey fing an, seine Lippen auf meine zu pressen.
Sie waren schwabbelig und nass, und ich wollte schreien, aber ich war zu verängstigt und zu erschöpft von dem Kampf. Ich war schon mal von jemandem geküsst worden, den ich mochte.
Er hieß Ray und war Inder. Er hatte einen Akzent und dunkle Haut. Eigentlich durfte ich ihn nicht mögen. Clarissa nannte seine großen Augen mit den halb geschlossenen Lidern »freakmäßig«, aber er war nett und intelligent und ließ mich bei der Algebra-Prüfung abschreiben, wobei er so tat, als wäre nichts.
Er küsste mich an dem Tag, bevor wir unsere Fotos für das Jahrbuch abgaben, an meinem Spind. Als das Jahrbuch Ende des Sommers herauskam, sah ich, dass er das standardisierte »Mein Herz gehört« unter seinem Bild mit »Susie Salmon« ergänzt hatte. Ich nehme an, er hatte Pläne gehabt. Ich erinnere mich, dass seine Lippen aufgesprungen gewesen waren.
»Nicht, Mr. Harvey«, stieß ich hervor, und das eine Wort sagte ich immer wieder. Nicht. Und außerdem sagte ich oft bitte. Franny hat mir erzählt, dass fast jeder »bitte« fleht, ehe er stirbt.
»Ich will dich, Susie«, sagte er.
»Bitte«, sagte ich. »Nicht.« Manchmal kombinierte ich die zwei Wörter zu »Bitte nicht« oder »Nicht, bitte.« Es war, als bestünde man darauf, dass ein Schlüssel funktioniert, obwohl er es nicht tut, oder »Ich hab ihn, ich hab ihn, ich hab ihn« schreit, während der Ball über einen hinweg in die Zuschauertribüne segelt.
»Bitte nicht.« Doch er bekam es satt, mich betteln zu hören. Er langte in die Tasche meines Parkas und knüllte die Mütze zusammen, die meine Mutter mir gemacht hatte, und stieß sie mir in den Mund. Der einzige Laut, den ich danach noch von mir gab, war das schwache Klingeln von Glöckchen. Als er mich mit nassen Lippen auf Gesicht und Hals küsste und begann, seine Hände unter mein Hemd zu
schieben, weinte ich. Ich fing an, meinen Körper zu verlassen; ich fing an, die Luft und die Stille zu bewohnen. Ich weinte und kämpfte, damit ich nichts spürte.
Er riss meine Hose auf, da er den unsichtbaren Reißverschluss nicht fand, den meine Mutter kunstvoll seitlich eingenäht hatte.
»Große weiße Höschen«, sagte er. Ich fühlte mich riesig und aufgebläht. Ich fühlte mich wie ein Meer, in dem er stand und pisste und schiss. Ich fühlte, wie die Winkel meines Körpers sich nach innen und nach außen bogen, wie beim Fadenspiel, das ich mit Lindsey spielte, nur um sie glücklich zu machen. Er begann, sich über mir zu erregen.
»Susie! Susie!«, hörte ich meine Mutter rufen. »Das Abendessen ist fertig.«
Er war in mir. Er grunzte.
»Es gibt grüne Bohnen und Lamm.« Ich war der Mörser, er war der Stößel.
»Dein Bruder hat ein neues Bild gemalt, und ich habe Apfelstreuselkuchen gebacken.«
Mr. Harvey ließ mich still unter sich liegen und dem Klopfen seines und meines Herzens lauschen: Wie meins hüpfte wie ein Kaninchen, und wie seins schlug, ein Hammer auf Tuch. Wir lagen da, und unsere Körper berührten sich, und während ich zitterte, überwältigte mich ein mächtiges Wissen. Er hatte mir diese Sache angetan, und ich hatte überlebt. Das war alles. Ich atmete noch. Ich hörte sein Herz. Ich roch seinen Atem. Die dunkle Erde, die uns umgab, roch wie das, was sie war, feuchter Schmutz, wo Würmer und Tiere tagtäglich lebten. Ich hätte stundenlang schreien können. Ich wusste, dass er mich töten würde. Mir war in dem Moment nicht klar, dass ich ein Tier war, das bereits starb.
»Warum stehst du nicht auf?«, fragte Mr. Harvey, während er sich auf die Seite wälzte und sich dann über mich kauerte.
Seine Stimme war sanft, ermutigend, die Stimme eines Liebenden an einem späten Morgen. Ein Vorschlag, kein Befehl. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nicht aufstehen. Als ich es nicht tat lag es nur daran, nur daran, dass ich seinen Vorschlag nicht befolgte? , drehte er sich zur Seite und tastete über seinem Kopf den Vorsprung ab, wo sein Rasierzeug lag.
Er holte ein Messer hervor. Nackt lächelte es mich an, zu einem Grinsen gekrümmt. Er nahm mir die Mütze aus dem Mund. »Sag mir, dass du mich liebst«, sagte er. Leise tat ich es. Das Ende kam trotzdem.
Übersetzung: Almuth Carstens
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Mr. Botte hat mich übrigens nicht getötet. Glauben Sie nicht, dass jeder Mensch, dem Sie hier begegnen, verdächtig ist. Das ist das Problem. Man kann nie wissen. Mr. Botte kam zu meiner Trauerfeier (wie, wenn ich das hinzufügen darf, fast die gesamte Junior High so beliebt war ich noch nie) und weinte ziemlich heftig. Er hatte ein krankes Kind. Das wussten wir alle, und obwohl wir uns manchmal dazu zwingen mussten, lachten wir deshalb mit, nur, um ihn glücklich zu machen, wenn er über seine eigenen Witze lachte, die schon einen Bart hatten, ehe er mein Lehrer wurde.
Seine Tochter starb anderthalb Jahre nach mir. Sie hatte Leukämie, aber in meinem Himmel habe ich sie nie gesehen. Mein Mörder war ein Mann aus unserer Nachbarschaft. Meiner Mutter gefielen seine Blumenrabatten, und mein Vater unterhielt sich mal mit ihm über Düngemittel.
Mein Mörder glaubte an altmodische Zutaten wie Eierschalen und Kaffeesatz, die, wie er sagte, seine eigene Mutter schon benutzt hatte. Mein Vater kam lächelnd nach Hause und riss Witze darüber, dass der Garten des Mannes zwar wunderschön sein mochte, aber zum Himmel stinken würde, sobald eine Hitzewelle zuschlüge. Am 6. Dezember 1973 allerdings schneite es, und ich nahm auf dem Heimweg von der Schule eine Abkürzung durch das Maisfeld. Es war bereits dunkel, da die Tage im Winter kürzer sind, und ich erinnere mich, wie die abgebrochenen Maisstängel mir das Gehen erschwerten. Der Schnee fiel sacht, wie ein Schauer aus kleinen Händen, und ich atmete durch die Nase, bis sie so sehr lief, dass ich den Mund aufmachen musste.
Zwei Meter von Mr. Harvey entfernt streckte ich die Zunge heraus, um eine Schneeflocke zu kosten. »Krieg keinen Schreck«, sagte Mr. Harvey. Natürlich erschrak ich in einem Maisfeld im Dunkeln.
Nachdem ich tot war, fiel mir ein, dass ein leichter Duft von Kölnischwasser in der Luft gelegen hatte, ich jedoch nicht darauf geachtet oder geglaubt hatte, er käme von einem der Häuser vor mir.
»Mr. Harvey«, sagte ich.
»Du bist das ältere Salmon-Mädchen, stimmt's?«
»Ja.«
»Wie geht's zu Hause?« Obgleich Älteste von drei Geschwistern und oft die Beste in einer Klassenarbeit in Naturkunde, fühlte ich mich in Gegenwart von Erwachsenen nie ganz wohl.
»Gut«, sagte ich. Ich fror, aber die natürliche Autorität seines Alters und dazu die Tatsache, dass er ein Nachbar war und sich mit meinem Vater über Düngemittel unterhalten hatte, ließen mich wie angewurzelt stehen bleiben. »Ich habe hier was gebaut«, sagte er. »Möchtest du es sehen?«
»Mir ist ein bisschen kalt, Mr. Harvey«, sagte ich, »und meine Mom hat es gern, wenn ich vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause bin.«
»Es ist schon dunkel, Susie«, sagte er. Heute wünschte ich, ich hätte gemerkt, wie unheimlich das war. Ich hatte ihm meinen Namen nie genannt. Vermutlich dachte ich, mein Vater hätte ihm eine der peinlichen Anekdoten erzählt, in denen er selbst bloß Liebesbeweise gegenüber seinen Kindern sah. Mein Vater gehörte zu den Dads, die ein Foto von ihrer nackten dreijährigen Tochter in das Bad im Erdgeschoss hängen, dasjenige, das die Gäste benutzen. Gott sei Dank hat er das mit meiner kleinen Schwester Lindsey gemacht. Diese Erniedrigung blieb mir zumindest erspart.
Doch er erzählte gern, wie ich, sobald Lindsey geboren war, so eifersüchtig auf sie wurde, dass ich eines Tages, als er im Nebenzimmer am Telefon war, auf der Couch entlangrobbte er konnte mich
von seinem Standort aus sehen und versuchte, Lindsey in ihrem tragbaren Bettchen anzupinkeln. Diese Geschichte demütigte mich jedes Mal, wenn er sie erzählte, dem Pastor unserer Kirche, unserer Nachbarin Mrs. Stead, die Therapeutin war und deren Einstellung dazu er hören wollte, und jedem, der irgendwann mal meinte: »Susie hat eine Menge Mumm!«
»Mumm!«, pflegte mein Vater dann zu sagen. »Über ihren Mumm kann ich Ihnen was erzählen«, und dann ließ er umgehend seine Wie-Susie-Lindsey-anpinkelte-Geschichte vom Stapel.
Wie sich aber erwies, hatte mein Vater uns Mr. Harvey gegenüber nicht erwähnt und ihm auch nicht die Wie-Susie-Lindsey-anpinkelte-Geschichte erzählt.
Später sollte Mr. Harvey, als er auf der Straße mit meiner Mutter zusammenstieß, diese Worte sagen: »Ich habe von der grässlichen, grässlichen Tragödie gehört. Wie hieß Ihre Tochter noch mal?« »Susie«, sagte meine Mutter, die unter der Last des Namens all ihre Kräfte zusammennehmen musste, einer Last, von der sie naiverweise hoffte, dass sie irgendwann leichter werden würde, denn sie wusste nicht, dass sie für den Rest ihres Lebens nur auf neue und mannigfaltige Weise schmerzen würde.
Mr. Harvey sagte das Übliche: »Ich hoffe, sie kriegen den Mistkerl. Es tut mir Leid, dass Sie sie verloren haben.« Ich war inzwischen in meinem Himmel, wo ich meine Gliedmaßen zusammensetzte und seine Dreistigkeit nicht fassen konnte.
»Der Mann hat kein Schamgefühl«, sagte ich zu Franny, meiner Aufnahmeberaterin.
»Genau«, sagte sie, und das war alles, was sie antwortete. In meinem Himmel gab es nicht viel Gequatsche. Mr. Harvey meinte, es würde nur einen Augenblick dauern, also folgte ich ihm ein Stückchen weiter ins Maisfeld hinein, wo weniger Stängel abgebrochen waren, weil keiner hier die Abkürzung zur Junior High nahm.
Meine Mom hatte meinem kleinen Bruder Buckley erzählt, der Mais auf dem Feld sei ungenießbar, als er fragte, warum niemand aus der Nachbarschaft ihn äße.
»Der Mais ist für Pferde, nicht für Menschen«, sagte sie.
»Auch nicht für Hunde?«, fragte Buckley.
»Nein«, erwiderte meine Mutter.
»Auch nicht für Dinosaurier?«, fragte Buckley. Und immer so weiter.
»Ich habe ein kleines Versteck gebaut«, sagte Mr. Harvey. Er blieb stehen und wandte sich zu mir um. »Ich sehe nichts«, sagte ich. Mir war bewusst, dass Mr. Harvey mich merkwürdig anschaute. Ältere Männer hatten mich schon öfter so angeguckt, seit ich meinen Babyspeck verloren hatte, aber normalerweise drehten sie meinetwegen nicht durch, wenn ich meinen königsblauen Parka und meine superweiten, gelben Schlaghosen trug.
Seine Brille war klein und rund und hatte ein goldfarbenes Gestell, und seine Augen blickten über sie hinweg auf mich. »Du solltest aufmerksamer sein, Susie«, sagte er.
Ich hatte das Gefühl, ich müsste meine Aufmerksamkeit auf den Heimweg richten, doch ich tat es nicht. Wieso nicht? Franny meinte, solche Fragen seien fruchtlos.
»Du hast es eben nicht getan, und damit hat sich's. Grüble nicht darüber nach. Das bringt nichts. Du bist tot, und das musst du akzeptieren.«
»Versuch's noch mal«, sagte Mr. Harvey, und er hockte sich hin und klopfte auf den Boden.
»Was ist das?«, fragte ich. Meine Ohren waren eiskalt. Die bunte Mütze mit der Bommel und den Glöckchen, die meine Mutter mir zu Weihnachten gemacht hatte, mochte ich nicht tragen. Ich hatte sie in meine Parkatasche gestopft.
Ich entsinne mich, dass ich hinüberging und neben ihm auf den Boden stampfte. Er fühlte sich noch härter an als gefrorene Erde, die schon ganz schön hart ist.
»Das ist Holz«, sagte Mr. Harvey. »Damit der Eingang nicht einbricht. Ansonsten besteht es nur aus Erde.«
»Was ist es?«, fragte ich. Ich fror nicht mehr und war auch nicht mehr merkwürdig berührt von dem Blick, den er mir zugeworfen hatte. Es war, als wäre ich im Naturkundeunterricht: Ich war neugierig. »Komm und guck's dir an.« Der Einstieg war unbequem, das räumte er ein, sobald wir beide in dem Loch waren. Aber ich staunte so sehr darüber, wie er einen Schornstein gebaut hatte, der den Rauch ableiten würde, falls er da unten jemals ein Feuer machte, dass ich über die Unbequemlichkeit des Ein- und Ausstiegs gar nicht nachdachte.
Außerdem muss ich hinzufügen, dass Flucht kein Konzept war, mit dem ich wirklich Erfahrung hatte. Das Schlimmste, dem ich bisher hatte entfliehen müssen, war Artie gewesen, ein seltsam aussehender Junge in der Schule, dessen Vater Leichenbestatter war. Er tat gern so, als hätte er eine Spritze mit Einbalsamierungsflüssigkeit bei sich. Auf seine Hefte zeichnete er Spritzen, aus denen dunkle Kleckse tropften.
»Das ist klasse!«, sagte ich zu Mr. Harvey. Er hätte der Glöckner von Notre Dame sein können, über den wir im Französischunterricht etwas gelesen hatten. Mir war es egal. Ich machte eine totale Kehrtwende. Ich war mein Bruder Buckley bei unserem Tagesausflug ins Naturkundemuseum in New York, wo er sich in die dort ausgestellten riesigen Skelette verliebt hatte. Das Wort Klasse hatte ich seit der Grundschule nicht mehr in der Öffentlichkeit benutzt.
»Als ob man einem Baby seinen Lutscher wegnimmt«, sagte Franny.
Ich sehe das Erdloch vor mir, als wäre es gestern gewesen, und das ist es auch. Für uns ist das Leben ein ständiges Gestern. Das Loch war so groß wie ein kleines Zimmer, die Abstellkammer in unserem Haus zum Beispiel, wo wir unsere Stiefel und Regenmäntel aufbewahrten und Mom noch eine Waschmaschine mit Trockner hineingequetscht hatte, übereinander.
Ich konnte fast aufrecht darin stehen, Mr. Harvey dagegen musste sich bücken. Durch die Art und Weise, wie er gegraben hatte, war an den Längsseiten eine Bank entstanden. Er setzte sich unverzüglich hin.
»Sieh dich um«, sagte er. Ich starrte es voller Erstaunen an, das Bord über ihm, wo er Streichhölzer, eine Reihe Batterien und eine batteriegetriebene Leuchtstofflampe deponiert hatte, die das einzige Licht im Raum ausstrahlte ein unheimliches Licht, das seine Gesichtszüge verschwimmen ließ, als er auf mir war. Auf dem Bord lagen auch ein Spiegel und ein Rasierer und Rasierkrem. Das fand ich komisch. Erledigte er das nicht zu Hause? Aber ich nahm wohl an, dass ein Mann, der ein vollkommen intaktes Einfamilienhaus hat und dann nur eine halbe Meile entfernt davon einen unterirdischen Raum baut, ein bisschen verrückt sein muss. Mein Vater hatte eine nette Art, Menschen wie ihn zu beschreiben: »Der Mann ist ein Original, weiter nichts.«
Also dachte ich wohl, Mr. Harvey sei ein Original, und der Raum gefiel mir, und er war warm, und ich wollte wissen, wie er ihn gebaut hatte, wie das Ganze funktionierte, und wo er all das gelernt hatte. Aber bis der Hund der Gilberts drei Tage später meinen Ellbogen fand und mit einer verräterischen Maishülse daran nach Hause brachte, hatte Mr. Harvey das Loch verschlossen. Ich war währenddessen im Transit. Deshalb kriegte ich nicht mit, wie er sich abschuftete, die hölzerne
Verstärkung entfernte, sämtliche Beweisstücke zusammen mit meinen Körperteilen einsackte, bis auf jenen Ellbogen. Als ich dann endlich das Nötigste bereithatte, um wieder aufzutauchen und mir das Treiben auf der Erde anzuschauen, war ich mehr an meiner Familie als an irgendetwas anderem interessiert. Meine Mutter saß mit offenem Mund auf einem Stuhl an der Haustür.
Ihr blasses Gesicht blasser, als ich es je gesehen hatte. Ihre blauen Augen starr. Meinen Vater drängte es zur Betriebsamkeit. Er wollte Einzelheiten in Erfahrung bringen und gemeinsam mit den Polizisten das Maisfeld durchkämmen. Ich danke Gott heute noch für einen kleinen Kriminalbeamten namens Len Fenerman. Er wies zwei Uniformierte an, meinen Dad in die Stadt zu begleiten und ihn alle Örtlichkeiten aufzeigen zu lassen, wo ich mich mit meinen Freundinnen rumgetrieben hatte. Die Beamten hielten meinen Dad den ganzen ersten Tag lang in einem einzigen Einkaufszentrum auf Trab. Niemand hatte Lindsey etwas erzählt, die dreizehn war und alt genug gewesen wäre, oder Buckley, der vier war und, um ehrlich zu sein, nie vollständig durchblicken würde.
Mr. Harvey fragte mich, ob ich eine kleine Erfrischung wolle. So formulierte er es. Ich sagte, ich müsse nach Hause. »Sei höflich und nimm eine Cola«, sagte er. »Die anderen Kinder würden bestimmt eine trinken.«
»Welche anderen Kinder?«
»Ich habe das hier für die Kinder aus der Nachbarschaft gebaut. Ich dachte, es könnte vielleicht so eine Art Clubhaus sein.« Ich glaube nicht, dass ich ihm das abnahm, auch damals nicht. Ich war der Meinung, dass er log, doch ich fand, es war eine jämmerliche Lüge. Ich dachte mir, er sei wohl einsam. Wir hatten in Sexualkunde über Männer wie ihn gelesen. Männer, die nie heirateten und jeden Abend Tiefkühlgerichte aßen und solche Angst vor Ablehnung hatten, dass sie nicht einmal Haustiere besaßen. Er tat mir Leid.
»Okay«, willigte ich ein. »Ich nehme eine Cola.«
Nach einer Weile fragte er: »Ist dir nicht warm, Susie? Warum ziehst du nicht deinen Parka aus?«
Ich tat es. Dann sagte er: »Du bist sehr hübsch, Susie.«
»Danke«, erwiderte ich, obwohl er mich so anguckte, dass mir, wie meine Freundin Clarissa und ich es nannten, ganz blümerant zu Mute wurde. »Hast du einen Freund?«
»Nein, Mr. Harvey«, sagte ich. Ich schluckte den Rest meiner Cola herunter, eine ganze Menge, und sagte: »Ich muss gehen, Mr. Harvey. Es ist toll hier, aber ich muss gehen.«
Er stand auf und zog vor den sechs ausgegrabenen Stufen, die in die Welt führten, seine Glöckner-von-NotreDame-Nummer ab. »Ich weiß nicht, warum du glaubst, dass du gehen könntest.«
Ich redete, damit ich mir nicht klarmachen musste, dass Mr. Harvey kein Original war. Jetzt, da er den Eingang versperrte, war er mir unheimlich und ekelte mich an.
»Mr. Harvey, ich muss wirklich nach Hause.«
»Zieh deine Sachen aus.«
»Was?«
»Zieh deine Sachen aus«, sagte Mr. Harvey. »Ich will überprüfen, ob du noch Jungfrau bist.«
»Das bin ich, Mr. Harvey.«
»Ich will sichergehen. Deine Eltern werden mir dankbar sein.«
»Meine Eltern?«
»Sie wollen nur brave Mädchen«, sagte er.
»Mr. Harvey«, sagte ich, »bitte lassen Sie mich gehen.«
»Du gehst nicht, Susie. Du gehörst jetzt mir.«
Fitness war damals keine große Sache, Aerobic den wenigsten ein Begriff. Mädchen sollten weich und sanft sein, und nur die Mädchen, die wir im Verdacht hatten, lesbisch zu sein, konnten in der Schule die Seile hochklettern.
Ich wehrte mich heftig. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, dagegen, dass Mr. Harvey mir wehtat, doch mein So-gut-ich-konnte war nicht gut genug, nicht annähernd, und so lag ich bald auf dem Boden, im Boden, und er auf mir, keuchend und schwitzend, nachdem er bei dem Gerangel seine Brille verloren hatte. Ich war so lebendig damals. Ich dachte, es sei das Schlimmste auf der Welt, mit einem Mann auf mir flach auf dem Rücken zu liegen. In der Erde gefangen zu sein, ohne dass jemand wusste, wo ich war. Ich dachte an meine Mutter. Meine Mutter sah bestimmt auf das Zifferblatt der Uhr an ihrem Backofen. Es war ein neuer Herd, und es gefiel ihr zu gut, dass er eine Uhr hatte.
»Ich kann alles auf die Minute genau zubereiten«, sagte sie zu ihrer eigenen Mutter, einer Mutter, der Backöfen vollkommen schnuppe waren. Sie würde über meine Verspätung besorgt sein, allerdings eher ärgerlich als besorgt. Während mein Vater in die Garage fuhr, würde sie herumfuhrwerken, ihm einen Drink eingießen, einen trockenen Sherry, und eine wütende Miene aufsetzen.
»Du kennst doch die Junior High«, würde sie sagen. »Womöglich ist Frühlingsfest.«
»Abigail«, würde mein Vater erwidern, »wie kann Frühlingsfest sein, wenn es schneit?« Nachdem sie damit gescheitert war, scheuchte meine Mutter vielleicht Buckley ins Zimmer und sagte: »Spiel mit deinem Vater«, während sie in die Küche abtauchte und sich selbst einen Schluck Sherry genehmigte. Mr. Harvey fing an, seine Lippen auf meine zu pressen.
Sie waren schwabbelig und nass, und ich wollte schreien, aber ich war zu verängstigt und zu erschöpft von dem Kampf. Ich war schon mal von jemandem geküsst worden, den ich mochte.
Er hieß Ray und war Inder. Er hatte einen Akzent und dunkle Haut. Eigentlich durfte ich ihn nicht mögen. Clarissa nannte seine großen Augen mit den halb geschlossenen Lidern »freakmäßig«, aber er war nett und intelligent und ließ mich bei der Algebra-Prüfung abschreiben, wobei er so tat, als wäre nichts.
Er küsste mich an dem Tag, bevor wir unsere Fotos für das Jahrbuch abgaben, an meinem Spind. Als das Jahrbuch Ende des Sommers herauskam, sah ich, dass er das standardisierte »Mein Herz gehört« unter seinem Bild mit »Susie Salmon« ergänzt hatte. Ich nehme an, er hatte Pläne gehabt. Ich erinnere mich, dass seine Lippen aufgesprungen gewesen waren.
»Nicht, Mr. Harvey«, stieß ich hervor, und das eine Wort sagte ich immer wieder. Nicht. Und außerdem sagte ich oft bitte. Franny hat mir erzählt, dass fast jeder »bitte« fleht, ehe er stirbt.
»Ich will dich, Susie«, sagte er.
»Bitte«, sagte ich. »Nicht.« Manchmal kombinierte ich die zwei Wörter zu »Bitte nicht« oder »Nicht, bitte.« Es war, als bestünde man darauf, dass ein Schlüssel funktioniert, obwohl er es nicht tut, oder »Ich hab ihn, ich hab ihn, ich hab ihn« schreit, während der Ball über einen hinweg in die Zuschauertribüne segelt.
»Bitte nicht.« Doch er bekam es satt, mich betteln zu hören. Er langte in die Tasche meines Parkas und knüllte die Mütze zusammen, die meine Mutter mir gemacht hatte, und stieß sie mir in den Mund. Der einzige Laut, den ich danach noch von mir gab, war das schwache Klingeln von Glöckchen. Als er mich mit nassen Lippen auf Gesicht und Hals küsste und begann, seine Hände unter mein Hemd zu
schieben, weinte ich. Ich fing an, meinen Körper zu verlassen; ich fing an, die Luft und die Stille zu bewohnen. Ich weinte und kämpfte, damit ich nichts spürte.
Er riss meine Hose auf, da er den unsichtbaren Reißverschluss nicht fand, den meine Mutter kunstvoll seitlich eingenäht hatte.
»Große weiße Höschen«, sagte er. Ich fühlte mich riesig und aufgebläht. Ich fühlte mich wie ein Meer, in dem er stand und pisste und schiss. Ich fühlte, wie die Winkel meines Körpers sich nach innen und nach außen bogen, wie beim Fadenspiel, das ich mit Lindsey spielte, nur um sie glücklich zu machen. Er begann, sich über mir zu erregen.
»Susie! Susie!«, hörte ich meine Mutter rufen. »Das Abendessen ist fertig.«
Er war in mir. Er grunzte.
»Es gibt grüne Bohnen und Lamm.« Ich war der Mörser, er war der Stößel.
»Dein Bruder hat ein neues Bild gemalt, und ich habe Apfelstreuselkuchen gebacken.«
Mr. Harvey ließ mich still unter sich liegen und dem Klopfen seines und meines Herzens lauschen: Wie meins hüpfte wie ein Kaninchen, und wie seins schlug, ein Hammer auf Tuch. Wir lagen da, und unsere Körper berührten sich, und während ich zitterte, überwältigte mich ein mächtiges Wissen. Er hatte mir diese Sache angetan, und ich hatte überlebt. Das war alles. Ich atmete noch. Ich hörte sein Herz. Ich roch seinen Atem. Die dunkle Erde, die uns umgab, roch wie das, was sie war, feuchter Schmutz, wo Würmer und Tiere tagtäglich lebten. Ich hätte stundenlang schreien können. Ich wusste, dass er mich töten würde. Mir war in dem Moment nicht klar, dass ich ein Tier war, das bereits starb.
»Warum stehst du nicht auf?«, fragte Mr. Harvey, während er sich auf die Seite wälzte und sich dann über mich kauerte.
Seine Stimme war sanft, ermutigend, die Stimme eines Liebenden an einem späten Morgen. Ein Vorschlag, kein Befehl. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nicht aufstehen. Als ich es nicht tat lag es nur daran, nur daran, dass ich seinen Vorschlag nicht befolgte? , drehte er sich zur Seite und tastete über seinem Kopf den Vorsprung ab, wo sein Rasierzeug lag.
Er holte ein Messer hervor. Nackt lächelte es mich an, zu einem Grinsen gekrümmt. Er nahm mir die Mütze aus dem Mund. »Sag mir, dass du mich liebst«, sagte er. Leise tat ich es. Das Ende kam trotzdem.
Übersetzung: Almuth Carstens
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Alice Sebold
Alice Sebold hat an der Syracuse University studiert, in Manhattan und Kalifornien gelebt und für die "New York Times" sowie die "Chicago Tribune" geschrieben. Nach ihrem Romandebüt und internationalen Bestseller "In meinem Himmel" und den Erinnerungen "Glück gehabt" liegt hiermit nun ihr von zahllosen Lesern sehnsüchtig erwarteter neuer Roman vor. Alice Sebold lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Glen David Gold, in Kalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alice Sebold
- 2010, 380 Seiten, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Carstens, Almuth
- Übersetzer: Almuth Carstens
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442470056
- ISBN-13: 9783442470051
Rezension zu „In meinem Himmel “
"Ein Roman nicht über das Sterben, sondern über das Leben, das kostbar ist und einzigartig und unvergesslich."
Kommentare zu "In meinem Himmel"
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 9Schreiben Sie einen Kommentar zu "In meinem Himmel".
Kommentar verfassen