Jedem seinen eigenen Tod
Authentizität als ethisches Ideal am Lebensende
Das Sterben wird längst nicht mehr verdrängt und verschwiegen, es gehört vielmehr zu den ausgiebig erörterten Themen unserer Zeit. Viele Debatten ranken sich um Sterbehilfe und um die Frage, was einen guten Tod ausmacht. Dabei scheinen wir uns bemerkenswert...
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Produktinformationen zu „Jedem seinen eigenen Tod “
Klappentext zu „Jedem seinen eigenen Tod “
Das Sterben wird längst nicht mehr verdrängt und verschwiegen, es gehört vielmehr zu den ausgiebig erörterten Themen unserer Zeit. Viele Debatten ranken sich um Sterbehilfe und um die Frage, was einen guten Tod ausmacht. Dabei scheinen wir uns bemerkenswert einig zu sein, dass gut stirbt, wer bis zuletzt er oder sie selbst bleibt. Wir wünschen uns, so die These dieses Buches, unseren "eigenen Tod": ein Lebensende, wie es uns entspricht, ein authentisches Sterben. Dieses Ideal leitet in unterschiedlicher Weise die Palliativversorgung und die Sterbehilfebewegung an. Doch Nina Streeck zeigt, dass sich das, was so erstrebenswert klingt, als anspruchsvoll entpuppt. Die Idee des "eigenen Todes" droht sich in ihr Gegenteil zu verkehren: in einen Zwang zum authentischen Sterben.
Großformatiges Paperback. Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Jedem seinen eigenen Tod “
EinleitungO Herr, gib jedem seinen eignen Tod.Das Sterben, das aus jenem Leben geht,darin er Liebe hatte, Sinn und Not.Rainer Maria RilkeAls Rainer Maria Rilke seine berühmten Verse über den Tod zu Papier brachte, hatte er das Sterben im Krankenhaus einer Großstadt am Anfang des 20. Jahrhunderts vor Augen: Der Mensch gerät in die Mühlen eines anonymen Medizinbetriebs, der ihn daran hindert, seinen Lebensweg auf ihm gemäße Weise zu beschließen und seinen »eignen Tod« zu sterben. Gegen ein solches Sterben, wie es in den damaligen städtischen Spitälern für gewöhnlich vorkommt, wendet sich Rilke im Buch von der Armut und vom Tode, dem die Zeilen entstammen. Den »kleinen Tod« in den Sterbebetten »ganz im Dunkel« in »verhüllten Hinterzimmern« kontrastiert er mit dem »großen Tod, den jeder in sich hat« (Rilke 1905). In ihm verbindet sich das Sterben mit der Biografie eines Menschen. Liebe, Sinn und Not, die einem Leben unvergleichliche Bedeutung verleihen, finden ihre Vollendung in einem ebenso einzigartigen Sterben, in dem sich die Geschichte des Einzelnen rundet. »Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer, dass es nicht unser Tod ist« (ebd.), schreibt Rilke. Unser Tod: Als solcher ist er die reife Frucht eines liebe- und sinnvollen, aber auch von Zeiten der Not geprägten Lebens.Rilkes vor mehr als hundert Jahren niedergeschriebene Worte sprechen bis heute viele Menschen an, wovon zahllose Zitierungen in Ratgebern zum Thema Sterben und Tod, in Fachartikeln und Beiträgen zur Debatte um Sterbehilfe oder in Todesanzeigen und auf Trauerfeiern zeugen. Offenbar hat der »eigne Tod« für viele von uns einen hohen Wert. Obwohl über diverse Fragen, die das Lebensende betreffen, heiß gestritten wird, scheint uns der Wunsch, in eigener Weise zu sterben, zu einen. Auch wo die Meinungen differieren, ob assistierter Suizid oder die Tötung auf Verlangen moralisch zulässig sind, wann der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen angebracht ist oder inwiefern die Patientenverfügung einer
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nicht mehr einwilligungsfähigen Person Berücksichtigung erfahren soll, lässt sich als gemeinsamer Nenner ausmachen, dass es wünschenswert sei, wenn jemand sterben kann, wie es ihm entspricht. Folgt man Rilke, verwirklicht sich diese Hoffnung, sofern der Tod zur Persönlichkeit und zur Lebensgeschichte eines Menschen passt. In diesem Sinne fällt die Antwort auf die alte und stets aktuelle Menschheitsfrage nach dem guten Tod einmütig aus: Gut stirbt, wer im Einklang mit sich selbst sein Leben zu einem individuell stimmigen Abschluss bringt. Was der 'eigene Tod' für den Einzelnen bedeutet, gestaltet sich freilich ebenso höchstpersönlich wie die gesamte Lebensführung zuvor. Wenn Rilke ihn erbittet, benennt er lediglich ein formales Kriterium für ein gelingendes Sterben, aber bestimmt keine konkreten Merkmale wie etwa Schmerzfreiheit oder inneren Frieden.Die Frage nach dem guten Sterben dient meinen Überlegungen als Ausgangspunkt und als roter Faden; für die Suche nach einer Antwort begebe ich mich auf Rilkes Spuren. Damit ist bereits im Groben umrissen, was ich im Folgenden beabsichtige: Ich nehme eine Untersuchung des Wunsches nach dem 'eigenen Tod' vor, gehe also dem Vorschlag nach, als gut ein Sterben zu betrachten, das zu einer Person und ihrem Leben wahrhaft passt. Meine Überlegungen drehen sich darum, was es mit diesem Sterbeideal auf sich hat, vorneweg, was sich hinter der opaken Wendung vom »wahrhaften Passen« verbirgt. Sie umfassen aber auch eine Kritik dieser Vorstellung von einem guten Sterben, die schließlich in die skeptische Frage mündet, ob man die Idee des 'eigenen Todes' nicht klugerweise verabschiedete, und falls nicht, wie sie sich sinnvoll verstehen lässt. Doch zunächst gilt es, grundsätzliche Fragen zu klären: Warum überhaupt sollte man sich Gedanken machen, wie man gut stirbt? Und weshalb könnte sich lohnen, darüber nachzudenken, was es mit dem 'eigenen Tod' auf sich hat?Zur Reflexion kann zunächst verleiten, dass Menschen seit jeher be
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Inhaltsverzeichnis zu „Jedem seinen eigenen Tod “
InhaltEinleitung 11I. Gut leben und gut sterben: Das gute Sterben und seine BedingungenTod, Sterben oder Leben 27Tod und Sterben 27Sterben und Leben 31Tod des Körpers, Tod des Bewusstseins, sozialer Tod 34Sterben aus biologisch-medizinischer Sicht 35Sterben aus psychologischer Sicht 37Sterben aus soziologischer Sicht 39Fazit 43Eine Ethik des guten Sterbens 45Kann das Sterben jemals gut sein? 45Der Vorwurf des Paternalismus 49Gut leben oder moralisch handeln 54Glück versus Moral 54Die Geschichte der Frage nach dem guten Leben 56Die Renaissance der Frage nach dem guten Leben 58Das gute Leben in der Medizinethik 60Exkurs: Glück und Moral 61Lustgefühle, erfüllte Wünsche und Güterlisten 64Die Ganzheit des Lebens 64Wer entscheidet, was gut ist? 65Lustgefühle machen glücklich oder: Hedonistische Theorien 67Glück dank erfüllter Wünsche oder: Wunschtheorien 68Viele Güter für ein gutes Leben oder: Objektive Theorien 69Fazit 71Wessen es für ein gutes Leben bedarf: Sozialphilosophie 72Pathologien des Sozialen 72Das Problem der Geltung 74Anerkennung als Voraussetzung für ein gutes Leben 76Noch einmal: Das Problem der Geltung 78Selbstverwirklichung als Authentizität 80Authentisch sein und gut leben 83Die Versöhnung von Subjektivismus und Objektivismus 83Das Problem der Geltung zum Dritten 86Authentizität als Diagnosebegriff 87Die Versöhnung von Ethik und Moral 89Authentizität versus Autonomie 90Moralische und personale Autonomie 91Personale Autonomie und Authentizität 92Fazit 93II. Im Einklang mit sich leben: Zur Rekonstruktion des AuthentizitätsidealsEinführung 96Authentizität von Sokrates bis Taylor 104Erste Station: Antike - nach innen und oben 104Zweite Station: Romantik - nonkonformistisch sein 106Dritte Station: Nietzsche - schöpferische Selbsterschaffung 108Vierte Station: Authentisch sein als Popkultur 110Werde, der du bist - erschaffe dich selbst 113Selbstfindung oder: Werde, der du bist 114Kein wahres Selbst: Kritik an der Selbstfindung 119Selbererschaffung oder:
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Erfinde dich selbst 121Kein Kunstwerk: Kritik an der Selbsterfindung 127Fazit 131Transformation, Tätigsein und Bejahung 133Antwort geben: Die Suche nach der eigenen Stimme 133Die Transformation von Selbst und Welt 137Authentifizierendes Tätigsein 143Beherztes Bejahen 148Widerstand und Neubeschreibung: Foucault und Rorty 158Zwischen Widerstand und Ergebung: Foucault 160Zwischen Aneignung und Neubeschreibung: Rorty 169Orientierung ohne wahres Selbst: Narrative Kohärenz 180Sich verstehen in gemeinsamen Horizonten 181Sich verstehen durch Artikulation 186Sich verändern und sich fortentwickeln 189Seine Antworten kohärent auswählen 193Fazit 200Misslingende Authentiztitätsvollzüge 204Kohärenz 205Gleichgültigkeit, Ohnmacht und Rollenspiel 209Paradoxale Verkehrung 212Ausblick 217III. Verkehrte Authentizität: Sterben mit Palliative Care und SterbehilfeEinführung 221Die Geschichte der Palliative Care 225Der tabuisierte Tod 225Die Entstehung der modernen Hospizbewegung 228Vom Hospiz zur Palliative Care 230Interviews mit Sterbenden: Elisabeth Kübler-Ross 232Die Geschichte der Sterbehilfebewegung 236Die Vorläufer der modernen Sterbehilfebewegung 236Die Entstehung der modernen Sterbehilfebewegung 239Sterben heute: Eine Vielfalt von Erzählungen 243Sterben, wie man gelebt hat: Palliative Care 250Leben statt sterben: Die Verbesserung der Lebensqualität 250Authentizität im Sterben 252Das Sterben selbst gestalten 255Die Unterstützung der Palliative Care 256Das Bewusstsein des nahenden Todes 258Heroisches Sterben in der Palliative Care 260Macher bleiben: Sterbehilfe 263Selbstbestimmung und Würde 263Authentizität und Sterbehilfe 266Die Planung des eigenen Ablebens 268Heroischer Suizid 269Das Authentizitätsversprechen 273Sterben als Projekt 273Sterben und die Lebensgeschichte 276Eine Heldenerzählung der Palliative Care 277Heldenhafte Selbstbehauptung 279Populäre Sterbeideale 281Verkehrte Authentizität 283Noch einmal: Das Phänomen der Verkehrung 283Zwang zur Sterbegestaltung 285Sinn für die Weiterlebenden 287Der uneigene Tod 290Im Würgegriff des wahren Selbst oder: Zu starke Kohärenz 292Alles gleichgültig oder: Keine Transformation 297Das Gefühl von Ohnmacht oder: Kein Tätigsein 300Der Sterbende als Rollenspieler oder: Keine eigene Stimme 304Fazit 309SchlussDer 'eigene' Tod als guter Tod 313Anmerkungen 317Literatur 333Danksagung 357
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Autoren-Porträt von Nina Streeck
Nina Streeck ist Fachverantwortliche »Ethik und Lebensfragen« am Institut Neumünster, Zollikerberg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nina Streeck
- 2020, 340 Seiten, Maße: 14,1 x 21,4 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: CAMPUS VERLAG
- ISBN-10: 3593512351
- ISBN-13: 9783593512358
- Erscheinungsdatum: 12.03.2020
Pressezitat
»Wer dem Ideal vom guten Lebensende nicht genügt oder genügen möchte, muss mit dem Vorwurf leben (und sterben), hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben zu sein. Unter anderem aufgrund dieser dialektischen Verkehrung vom Ideal in Erwartung respektive Zwang hofft man auf Turbulenzen in der Debatte um den 'eigenen' Tod. Nina Streeck hat hierfür ein überaus wichtiges Buch verfasst, das [...] möglichst viele Leser*innen finden möge.« Jean-Pierre Wils, Soziopolis, 14.07.2020»Die Arbeit Nina Streecks erfreut sich vielfältiger und dennoch tiefgreifender Fundierungen in unterschiedlichen Disziplinen und Theorien. Mit ihrer begrifflichen Präzision und sprachlichen Gewandtheit gelingen ihr sowohl eine überzeugende Konzeption eines differenzierten Authentizitätsideals - mitsamt expliziter Benennung ihrer Grenzen - als auch eine ausgesprochen ausgewogene und distanzierte Darstellung der Palliative-Care- und Sterbehilfebewegung.« Florian Funer, Zeitschrift für medizinische Ethik, 67 / 2021»Nina Streeck hält mit ihrem Buch 'Jedem seinen eigenen Tod' Palliative-Care-Fachpersonen den Spiegel vor. Sie sollen Patientinnen und Patienten die eigene Vorstellung eines guten Todes nicht aufdrängen.« palliative zh+sh, 04.09.2020»Das gut lesbare Buch sei deshalb allen empfohlen, die sich kritisch mit dem anspruchsvollen und zum Teil überfordernden Ideal des selbstbestimmten, authentischen, durchgeplanten Lebens und Sterbens auseinandersetzen wollen, aber auch jenen, die sich unabhängig von der Frage nach dem guten Sterben mit dem Authentizitätsbegriff beschäftigen möchten.« Martina Schmidhuber, Ethik Med (32), 425-426, 28.09.2020
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