Jeder Tag hat viele Leben
Die Philosophie der kleinen Schritte
Es braucht nicht viel, um dem eigenen Leben eine völlig neue Richtung zu geben. Oft sind es nur die kleinen, unauffälligen Kurskorrekturen, die weitreichende Auswirkungen haben. So wie ein Kiesel, den man ins Wasser wirft, weite Kreise zieht und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Jeder Tag hat viele Leben “
Es braucht nicht viel, um dem eigenen Leben eine völlig neue Richtung zu geben. Oft sind es nur die kleinen, unauffälligen Kurskorrekturen, die weitreichende Auswirkungen haben. So wie ein Kiesel, den man ins Wasser wirft, weite Kreise zieht und ein fallender Dominostein zehntausende weitere Steine mit sich reißt. Was passiert, wenn man beim Kuchenbacken eine Zutat verändert? Und wohin fährt ein Schiff, wenn der Kapitän den Kurs um lediglich fünf Grad ändern würde? Der renommierte Philosophieprofessor Clemens Sedmak begleitet sieben Menschen dabei, wie sie durch eine minimale Änderung jeden Tag ihres Lebens besser machen – mithilfe der Philosophie der kleinen Schritte. Einfach nur, um am Abend sagen zu können: Ja, es war ein guter Tag!
Klappentext zu „Jeder Tag hat viele Leben “
Es braucht nicht viel, um dem eigenen Leben eine völlig neue Richtung, einen ganz neuen Geschmack zu geben - sind es doch die kleinen, unauffälligen Kurskorrekturen, die weitreichende Auswirkungen haben. So wie ein Kiesel, den man ins Wasser wirft, weite Kreise zieht und ein fallender Dominostein Zehntausende weitere Steine mit sich reißt. Was passiert, wenn man beim Kuchenbacken eine Zutat verändert? Und wohin fährt ein Schiff, wenn der Kapitän den Kurs um lediglich fünf Grad ändern würde? Der renommierte Philosophieprofessor Clemens Sedmak begleitet zwölf Menschen dabei, wie sie durch eine minimale Änderung jeden Tag ihres Lebens besser machen - mithilfe der Philosophie der kleinen Schritte. Nicht, um jemandem etwas zu beweisen. Sondern um am Abend sagen zu können: Ja, das war ein guter Tag!
Lese-Probe zu „Jeder Tag hat viele Leben “
Jeder Tag hat viele Leben von Clemens Sedmak... mehr
Ausgangspunkt und Kernanliegen dieses Buches ist die
Frage nach einer Lebensveränderung, also die Frage
nach Wachstum. Gewohnheiten wurden als Schlüssel
zu persönlicher Entwicklung und Lebensgestaltung
dargestellt. Ein gutes Leben ist ein solches, in dem man
gute Gewohnheiten etabliert hat oder auch: Gewohnheiten
auf eine gute Weise verankert hat. Ähnlich wie
man von Basisgütern eines guten Lebens spricht, könnte
man von „Basisgewohnheiten“ sprechen, wie etwa
das erwähnte frühe Aufstehen. Basisgewohnheiten
sollen persönliches Wachstum ermöglichen, verstanden
als Weg zur Reife im Sinne eines wohlgeformten
Charakters – mit den Elementen: gefestigte, einzigartige,
integre Persönlichkeit. Die Einzigartigkeit ergibt
sich aus der Realisierung der je einzigartigen Gaben;
die Gefestigtheit hat mit stabilen Gewohnheiten zu tun;
Integrität bedeutet: Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit, Respekt
– die ernsthafte und aufrichtige Anstrengung, mit
respektvollem Blick auf andere aus dem eigenen Leben
etwas zu machen.144 Eine gefestigte Persönlichkeit ist in
gewissen Gewohnheiten gegründet – sie sind der Ansatzpunkt
für Wachstum oder Charakterverformung.
So verwundert es nicht, dass Leo der Große in einer
Weihnachtspredigt im 5. Jahrhundert darauf hinwies,
dass der Satan bei Gewohnheiten der Menschen ansetze:
„Er weiß gar wohl, wen er durch Gram verwirren,
wen er durch Freude täuschen kann; wen er durch
Furcht zu erdrücken, wenn er durch schmeichelnde
Bewunderung zu verführen vermag. Bei allen erwägt
er ihre Gewohnheiten, beschäftigt er sich mit ihren Sorgen
und erforscht er ihre Neigungen. Und gerade in der
Sache, mit der er jemand am liebsten sich beschäftigen
sieht, sucht er ihm schaden zu können.“145 Damit ist gesagt:
Die Versuchung setzt bei den Gewohnheiten an;
diese sind entscheidend für Charakterstärkung oder
Charakterschwächung. In einer anderen Predigt wird
Leo sagen, dass fromme Übungen den Zweck haben, „zur
Gewohnheit zu werden und stets ungeschwächt fort[zu]-
dauern“.146 Wer sich um Wachstum hin zu einer gefestigten
Persönlichkeit bemüht, wird bei den Gewohnheiten
ansetzen.
Diesen Grundgedanken kann man mit Einsichten
aus der frühen christlichen Literatur, die auf dem Hintergrund
reicher Erfahrung mit Wachstumsfragen entstand,
vertiefen. Bitte keine Scheu vor frommem Gedankengut
zu haben, die Einsichten haben sich auch
in säkularen Kontexten bewährt! Das geistliche, um
inneres, das heißt persönlichkeitsbezogenes Wachstum
bemühte Leben ist auf Gewohnheiten aufgebaut;
Wachstum wird in den frühchristlichen Schriften vor
allem als Abkehr von schädlichen und Aneignung von
wertvollen Gewohnheiten beschrieben. Palladius von
Helenopolis beschreibt in seinem „Leben der Väter“
(„Historia Lausiaca“) die heiligen Männer durch heilige
Gewohnheiten, vor allem durch Gewohnheiten in Bezug
auf elementare Lebensvollzüge wie Essen und Schlafen.
Er berichtet von Abbas Makarius, der die Gewohnheit
des Schlafens dadurch zu beherrschen suchte, dass er
20 Tage lang unter freiem Himmel verbrachte, „bei Tage
von Sonnenglut versengt, bei Nacht von Kälte starr“.
Dadurch sollte die Macht, die die Gewohnheit des Schlafens
über ihn hatte, geschwächt werden. Gewohnheiten
sind das Fundament einer Lebensform; deswegen unterscheiden
sich Menschen, die sich auf einem geistlichen
Weg bewegen, von Menschen, die dies nicht tun,
durch die Lebensgewohnheiten. Ein von geistlichen
Übungen geprägtes (also asketisches) Leben „zeigt
sich“; es zeigt sich gerade im Umgang mit elementaren
Aspekten wie Kleidung und Nahrung. Sehen wir uns
dazu eine Ausführung von Theodoret von Cyrus an: „In
nichts gleichen so die Lebensgewohnheiten der Weltmenschen
denen der Asketen. Verschieden ist die Gewandung.
Sie tragen Kleider, die gar rau sind und ohne
wärmenden Schutz. Auch die Kost ist nicht die gleiche.
Welch ein Unterschied! Den Hirten und den Weltleuten
überhaupt ist jede Stunde Essenszeit. Sie bestimmen
die Tischzeit nach dem Hunger. Und stellt solcher
beim Morgengrauen sich ein, sofort heißen sie Speise
bringen. Auch essen sie, was ihnen eben unterkommt.
Da gibt es keine Bestimmung über erlaubte und
unerlaubte Speisen. Was immer sie wollen, genießen
sie sonder Scheu. Hier aber sind Tage und Zeiten und
Art und Maß der Nahrung festgelegt, und Sättigung ist
ganz ausgeschlossen.“148 Lassen wir diese Gedanken
Revue passieren: Kleidung als Ausdruck von Ziemlichkeit
und als Schutz des Körpers vor Unbill der Natur
ist elementar; Essen ist ein menschlicher Grundakt; es
gibt kaum einen Bereich des Lebens, in dem es so viele
Gebote und Verbote und Regeln gibt wie in Bezug auf
Mahlzeiten und Nahrungsmittel. Das Essen stellt sozial
gesehen einen Spiegel der gesellschaftlichen Ordnung
und den Kitt des Zusammenhalts dar. Hier zeigen sich
Gewohnheiten – Ernährungsgewohnheiten (wann und
wo wird was regelmäßig gegessen), soziale Gewohnheiten
(mit wem) und auch geistliche Gewohnheiten (im
Beten vor und nach dem Essen beispielsweise). Essen
ist Teil eines jeden Tages; um das tägliche Brot wird
im Vaterunser gebeten. Eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten
tangiert viele Bereiche des Lebens.
Dies hat, wie wir gesehen haben, auch Leo Hickman bei
seinem Experiment erleben müssen.
Der Weg zur Heiligkeit führt über die Beherrschung
von Gewohnheiten; wertvolle Gewohnheiten wie das regelmäßige
Gebet und die regelmäßige Lektüre der Heiligen
Schrift formen den Menschen. Ein Kloster ist eine
Werkstatt zum Aufbau guter gemeinschaftlicher wie
guter individueller Gewohnheiten. Die klösterliche „Regula“
ist eine Lebensform, die zwar ausdrückliche Regeln
enthält, diese sollen aber so sehr zu eigen gemacht
werden, dass sie durch Wiederholung in Fleisch und
Blut übergehen. Regel und Leben sollen verschmelzen.
Die Mönche bilden gemeinsam eine von Gewohnheiten
getragene Lebensform: „Zusammenwohnen bedeutet
für die Mönche … nicht nur, Ort und Kleid zu teilen, sondern
vor allem einen habitus; insofern ist der Mönch ein
Mensch, der im Modus des ‚Wohnens‘ lebt, das heißt,
einer Regel und einer Lebensform folgt.“149 Gewohnheiten
üben Macht aus; sie entwickeln lebensformbestimmende
Kraft. Wenn neue Mönche in ein Kloster
aufgenommen werden sollten, galt es in erster Linie,
die Kraft früherer Gewohnheiten zu schwächen, denn
„die frühere Gewohnheit zwingt zum Schlechten“.150 Der
Entschluss, ein neues Leben zu beginnen, reicht nicht
aus; die aus dem früheren Lebensstil angehäuften Hypotheken
müssen abgebaut werden. Hier findet sich
die Einsicht in die Kraft von Gewohnheiten wieder, alte
Gewohnheiten sind mächtig, halten den Menschen, der
sich auf den Weg zum geistlichen Wachstum gemacht
hat, zurück. Mehr noch: In frühchristlichen Schriften
findet man wiederholt den Hinweis auf ein vielleicht
überraschendes geistliches Gesetz, das sich in der Erfahrung
gezeigt hat: Wenn ein Mensch den Entschluss
fasst, sein Leben zu ändern, und versucht, mit alten Gewohnheiten
zu brechen und neue einzuüben, kann er
nach einem Rückfall in alte Gewohnheiten noch tiefer
sinken als vor der Entscheidung zur Lebensveränderung.
Johannes Cassian legte Anfang des 6. Jahrhunderts
nahe, dass Wachstum vor allem auch mit der Kontrolle
der Denkgewohnheiten zu tun hat.152 Gedanken
sind Ausdrucksformen des Innern und drücken sich
in das Innere ein. Sie hinterlassen prägende Spuren;
deswegen ist es von entscheidender Bedeutung für
das Wachstum, welchen Gedanken gewohnheitsmäßig
Raum gegeben wird. Die Bedeutung der Gewohnheiten
zeigt sich auch in der Prägung des Gedächtnisses – die
Gewohnheit befestigt Bilder im Gedächtnis, in dem diese
Bilder entsprechende Wirkung entfalten.153 Hier sehen
wir den Zusammenhang von Denkgewohnheiten
und Fragen des Wachstums.
Kein Zweifel: Gewohnheiten sind der Schlüssel zum
Wachstum – gemäß dem Grundsatz: Schau auf die Gewohnheiten
eines Menschen, und du wirst seine geistliche
Reife erkennen. Dies wird in Athanasius’ einflussreicher
Beschreibung des Lebens des heiligen Antonius
aus dem 4. Jahrhundert deutlich: Die Heiligkeit des Antonius,
dessen Lebensmodell viele Generationen in ihrer
Lebensausrichtung prägte, beruht wesentlich auf seinen
Gewohnheiten, etwa auf der, sich zurückzuziehen. Die
Etablierung guter Gewohnheiten erfolgt nicht durch
Argumente oder die rechte Lektüre, sondern vor allem
durch die Begegnung mit heiligen Menschen und deren
Vorbildwirkung. Theodoret von Cyrus beschreibt den
heiligmäßigen Publius, der neben dem Kloster eine Kirche
errichtete, „worin diese und jene sich versammeln
sollten am Anfange und am Ende des Tages, um Morgenund
Abendgesang gemeinschaftlich Gott darzubringen,
in zwei Chöre geteilt, ein jeder in seiner Sprache
abwechselnd zu Gott Lieder emporsendend. Und diese
Gewohnheit hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten,
und weder die Zeit, die dieses und Ähnliches gerne ändert,
noch die Nachfolger im Amte haben es über sich
gebracht, die Bestimmungen, die jener erlassen, umzustoßen.“
154 So wurde durch einen heiligmäßigen Mann
eine gemeinschaftliche Gewohnheit etabliert; die Autorität
des geistlichen Vorbildes brachte die Gemeinschaft
dazu, sich die Gewohnheit zu eigen zu machen, und verhinderte,
dass nachfolgende Generationen leichtfertig
mit dieser Gewohnheit brechen würden.
Einsichten in die Bedeutung von Gewohnheiten für
den geistlichen Weg finden wir auch bei Augustinus,
der sich Ende des 4. Jahrhunderts in seinen „Bekenntnissen“
mit dem Schlüssel zum inneren Wachstum auseinandersetzte.
Umkehr sei das Lösen von destruktiven
Gewohnheiten.155 Diese destruktiven, das geistliche
Zentrum des Menschen zerstörenden Gewohnheiten
wirkten wie Ketten. Augustinus schildert seinen diesbezüglichen
Seelenzustand sehr anschaulich: „Ich war
geschlagen, nicht in fremde Eisenbande, sondern in
die Bande meines eisernen Herzens. Mein Wollen hielt
der Feind in seinen Händen, daraus hatte er eine Kette
geschmiedet, durch die er mich gebunden hatte.“
Augustinus beschreibt die Herausbildung falscher Gewohnheiten
folgendermaßen: Erstens – der Wille richtet
sich auf das Falsche; zweitens – aus dem fehlgerichteten
Willen entsteht ein Streben nach dem Falschen,
eine Begierlichkeit; drittens – dieses Streben wie die Begierlichkeit
werden zur Gewohnheit; viertens – die Gewohnheit
wird, wenn sie nicht auf Widerstand trifft, zur
Notwendigkeit, die dem Menschen die Freiheit nimmt.
Wenn ein Mensch auf seinem Weg umkehrt, kämpfen
alte und neue Gewohnheiten miteinander, versuchen
die alten Gewohnheiten den Menschen in das alte Leben
zurückzuziehen.157 Denn Gewohnheiten „lasten
schwer“ auf uns, drohen uns „zu verschlingen“. Mit
anderen Worten hat das eine oder andere 30-Tage-Experiment
ebendiese Dynamik illustriert.
Eine Schlüsselstelle für Augustinus’ tiefes Verständnis
von Gewohnheiten ist jene Passage, in der er die
Gouvernante seiner Mutter rühmt, weil sie die Erziehung
zu Gewohnheiten sehr ernst nahm: „Bei ihrer Zurechtweisung
wusste sie, wenn es nottat, heilige Strenge
und Ernst, bei ihrer Unterweisung weise Besonnenheit
anzuwenden. Denn außerhalb der Stunden, wo sie am
Tische der Eltern ein mäßiges Mahl einnahmen, ließ sie
sie, auch wenn sie heftigen Durst empfanden, nicht einmal
Wasser trinken, um übler Gewohnheit vorzubeugen;
dann fügte sie gewöhnlich das wahre Wort hinzu:
‚Jetzt trinket ihr Wasser, weil euch Wein nicht zur Verfügung
steht; seid ihr erst einmal verheiratet und Herrinnen
über Küche und Keller, werdet ihr das Wasser
verachten, aber die Gewohnheit zu trinken wird fortdauern.‘
Durch solche Art der Belehrung und die Entschiedenheit
ihres Befehls zügelte sie die Gier des zar-
ten Alters und gewöhnte die Mädchen, auch im Durste
bescheiden Maß zu halten, dass sie kein Verlangen nach
dem empfanden, was sich nicht ziemte.“159 Die strenge
Erziehung war auf die Berücksichtigung von Gewohnheiten
aufgebaut. Um der Wahrheit die Ehre zu geben,
muss allerdings hinzugefügt werden, dass Augustinus
vom Scheitern dieser Pädagogik berichtete, weil seine
Mutter aus jugendlichem Trotz zu trinken begann,
um dann nahezu gewohnheitsmäßig Wein zu konsumieren
… So verwundert es nicht, dass Augustinus am
Anfang einer Tradition stand, die davon ausging, dass
Wachstum, Gewohnheiten und Gnade nicht voneinander
getrennt werden können.
© Ecowin
Ausgangspunkt und Kernanliegen dieses Buches ist die
Frage nach einer Lebensveränderung, also die Frage
nach Wachstum. Gewohnheiten wurden als Schlüssel
zu persönlicher Entwicklung und Lebensgestaltung
dargestellt. Ein gutes Leben ist ein solches, in dem man
gute Gewohnheiten etabliert hat oder auch: Gewohnheiten
auf eine gute Weise verankert hat. Ähnlich wie
man von Basisgütern eines guten Lebens spricht, könnte
man von „Basisgewohnheiten“ sprechen, wie etwa
das erwähnte frühe Aufstehen. Basisgewohnheiten
sollen persönliches Wachstum ermöglichen, verstanden
als Weg zur Reife im Sinne eines wohlgeformten
Charakters – mit den Elementen: gefestigte, einzigartige,
integre Persönlichkeit. Die Einzigartigkeit ergibt
sich aus der Realisierung der je einzigartigen Gaben;
die Gefestigtheit hat mit stabilen Gewohnheiten zu tun;
Integrität bedeutet: Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit, Respekt
– die ernsthafte und aufrichtige Anstrengung, mit
respektvollem Blick auf andere aus dem eigenen Leben
etwas zu machen.144 Eine gefestigte Persönlichkeit ist in
gewissen Gewohnheiten gegründet – sie sind der Ansatzpunkt
für Wachstum oder Charakterverformung.
So verwundert es nicht, dass Leo der Große in einer
Weihnachtspredigt im 5. Jahrhundert darauf hinwies,
dass der Satan bei Gewohnheiten der Menschen ansetze:
„Er weiß gar wohl, wen er durch Gram verwirren,
wen er durch Freude täuschen kann; wen er durch
Furcht zu erdrücken, wenn er durch schmeichelnde
Bewunderung zu verführen vermag. Bei allen erwägt
er ihre Gewohnheiten, beschäftigt er sich mit ihren Sorgen
und erforscht er ihre Neigungen. Und gerade in der
Sache, mit der er jemand am liebsten sich beschäftigen
sieht, sucht er ihm schaden zu können.“145 Damit ist gesagt:
Die Versuchung setzt bei den Gewohnheiten an;
diese sind entscheidend für Charakterstärkung oder
Charakterschwächung. In einer anderen Predigt wird
Leo sagen, dass fromme Übungen den Zweck haben, „zur
Gewohnheit zu werden und stets ungeschwächt fort[zu]-
dauern“.146 Wer sich um Wachstum hin zu einer gefestigten
Persönlichkeit bemüht, wird bei den Gewohnheiten
ansetzen.
Diesen Grundgedanken kann man mit Einsichten
aus der frühen christlichen Literatur, die auf dem Hintergrund
reicher Erfahrung mit Wachstumsfragen entstand,
vertiefen. Bitte keine Scheu vor frommem Gedankengut
zu haben, die Einsichten haben sich auch
in säkularen Kontexten bewährt! Das geistliche, um
inneres, das heißt persönlichkeitsbezogenes Wachstum
bemühte Leben ist auf Gewohnheiten aufgebaut;
Wachstum wird in den frühchristlichen Schriften vor
allem als Abkehr von schädlichen und Aneignung von
wertvollen Gewohnheiten beschrieben. Palladius von
Helenopolis beschreibt in seinem „Leben der Väter“
(„Historia Lausiaca“) die heiligen Männer durch heilige
Gewohnheiten, vor allem durch Gewohnheiten in Bezug
auf elementare Lebensvollzüge wie Essen und Schlafen.
Er berichtet von Abbas Makarius, der die Gewohnheit
des Schlafens dadurch zu beherrschen suchte, dass er
20 Tage lang unter freiem Himmel verbrachte, „bei Tage
von Sonnenglut versengt, bei Nacht von Kälte starr“.
Dadurch sollte die Macht, die die Gewohnheit des Schlafens
über ihn hatte, geschwächt werden. Gewohnheiten
sind das Fundament einer Lebensform; deswegen unterscheiden
sich Menschen, die sich auf einem geistlichen
Weg bewegen, von Menschen, die dies nicht tun,
durch die Lebensgewohnheiten. Ein von geistlichen
Übungen geprägtes (also asketisches) Leben „zeigt
sich“; es zeigt sich gerade im Umgang mit elementaren
Aspekten wie Kleidung und Nahrung. Sehen wir uns
dazu eine Ausführung von Theodoret von Cyrus an: „In
nichts gleichen so die Lebensgewohnheiten der Weltmenschen
denen der Asketen. Verschieden ist die Gewandung.
Sie tragen Kleider, die gar rau sind und ohne
wärmenden Schutz. Auch die Kost ist nicht die gleiche.
Welch ein Unterschied! Den Hirten und den Weltleuten
überhaupt ist jede Stunde Essenszeit. Sie bestimmen
die Tischzeit nach dem Hunger. Und stellt solcher
beim Morgengrauen sich ein, sofort heißen sie Speise
bringen. Auch essen sie, was ihnen eben unterkommt.
Da gibt es keine Bestimmung über erlaubte und
unerlaubte Speisen. Was immer sie wollen, genießen
sie sonder Scheu. Hier aber sind Tage und Zeiten und
Art und Maß der Nahrung festgelegt, und Sättigung ist
ganz ausgeschlossen.“148 Lassen wir diese Gedanken
Revue passieren: Kleidung als Ausdruck von Ziemlichkeit
und als Schutz des Körpers vor Unbill der Natur
ist elementar; Essen ist ein menschlicher Grundakt; es
gibt kaum einen Bereich des Lebens, in dem es so viele
Gebote und Verbote und Regeln gibt wie in Bezug auf
Mahlzeiten und Nahrungsmittel. Das Essen stellt sozial
gesehen einen Spiegel der gesellschaftlichen Ordnung
und den Kitt des Zusammenhalts dar. Hier zeigen sich
Gewohnheiten – Ernährungsgewohnheiten (wann und
wo wird was regelmäßig gegessen), soziale Gewohnheiten
(mit wem) und auch geistliche Gewohnheiten (im
Beten vor und nach dem Essen beispielsweise). Essen
ist Teil eines jeden Tages; um das tägliche Brot wird
im Vaterunser gebeten. Eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten
tangiert viele Bereiche des Lebens.
Dies hat, wie wir gesehen haben, auch Leo Hickman bei
seinem Experiment erleben müssen.
Der Weg zur Heiligkeit führt über die Beherrschung
von Gewohnheiten; wertvolle Gewohnheiten wie das regelmäßige
Gebet und die regelmäßige Lektüre der Heiligen
Schrift formen den Menschen. Ein Kloster ist eine
Werkstatt zum Aufbau guter gemeinschaftlicher wie
guter individueller Gewohnheiten. Die klösterliche „Regula“
ist eine Lebensform, die zwar ausdrückliche Regeln
enthält, diese sollen aber so sehr zu eigen gemacht
werden, dass sie durch Wiederholung in Fleisch und
Blut übergehen. Regel und Leben sollen verschmelzen.
Die Mönche bilden gemeinsam eine von Gewohnheiten
getragene Lebensform: „Zusammenwohnen bedeutet
für die Mönche … nicht nur, Ort und Kleid zu teilen, sondern
vor allem einen habitus; insofern ist der Mönch ein
Mensch, der im Modus des ‚Wohnens‘ lebt, das heißt,
einer Regel und einer Lebensform folgt.“149 Gewohnheiten
üben Macht aus; sie entwickeln lebensformbestimmende
Kraft. Wenn neue Mönche in ein Kloster
aufgenommen werden sollten, galt es in erster Linie,
die Kraft früherer Gewohnheiten zu schwächen, denn
„die frühere Gewohnheit zwingt zum Schlechten“.150 Der
Entschluss, ein neues Leben zu beginnen, reicht nicht
aus; die aus dem früheren Lebensstil angehäuften Hypotheken
müssen abgebaut werden. Hier findet sich
die Einsicht in die Kraft von Gewohnheiten wieder, alte
Gewohnheiten sind mächtig, halten den Menschen, der
sich auf den Weg zum geistlichen Wachstum gemacht
hat, zurück. Mehr noch: In frühchristlichen Schriften
findet man wiederholt den Hinweis auf ein vielleicht
überraschendes geistliches Gesetz, das sich in der Erfahrung
gezeigt hat: Wenn ein Mensch den Entschluss
fasst, sein Leben zu ändern, und versucht, mit alten Gewohnheiten
zu brechen und neue einzuüben, kann er
nach einem Rückfall in alte Gewohnheiten noch tiefer
sinken als vor der Entscheidung zur Lebensveränderung.
Johannes Cassian legte Anfang des 6. Jahrhunderts
nahe, dass Wachstum vor allem auch mit der Kontrolle
der Denkgewohnheiten zu tun hat.152 Gedanken
sind Ausdrucksformen des Innern und drücken sich
in das Innere ein. Sie hinterlassen prägende Spuren;
deswegen ist es von entscheidender Bedeutung für
das Wachstum, welchen Gedanken gewohnheitsmäßig
Raum gegeben wird. Die Bedeutung der Gewohnheiten
zeigt sich auch in der Prägung des Gedächtnisses – die
Gewohnheit befestigt Bilder im Gedächtnis, in dem diese
Bilder entsprechende Wirkung entfalten.153 Hier sehen
wir den Zusammenhang von Denkgewohnheiten
und Fragen des Wachstums.
Kein Zweifel: Gewohnheiten sind der Schlüssel zum
Wachstum – gemäß dem Grundsatz: Schau auf die Gewohnheiten
eines Menschen, und du wirst seine geistliche
Reife erkennen. Dies wird in Athanasius’ einflussreicher
Beschreibung des Lebens des heiligen Antonius
aus dem 4. Jahrhundert deutlich: Die Heiligkeit des Antonius,
dessen Lebensmodell viele Generationen in ihrer
Lebensausrichtung prägte, beruht wesentlich auf seinen
Gewohnheiten, etwa auf der, sich zurückzuziehen. Die
Etablierung guter Gewohnheiten erfolgt nicht durch
Argumente oder die rechte Lektüre, sondern vor allem
durch die Begegnung mit heiligen Menschen und deren
Vorbildwirkung. Theodoret von Cyrus beschreibt den
heiligmäßigen Publius, der neben dem Kloster eine Kirche
errichtete, „worin diese und jene sich versammeln
sollten am Anfange und am Ende des Tages, um Morgenund
Abendgesang gemeinschaftlich Gott darzubringen,
in zwei Chöre geteilt, ein jeder in seiner Sprache
abwechselnd zu Gott Lieder emporsendend. Und diese
Gewohnheit hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten,
und weder die Zeit, die dieses und Ähnliches gerne ändert,
noch die Nachfolger im Amte haben es über sich
gebracht, die Bestimmungen, die jener erlassen, umzustoßen.“
154 So wurde durch einen heiligmäßigen Mann
eine gemeinschaftliche Gewohnheit etabliert; die Autorität
des geistlichen Vorbildes brachte die Gemeinschaft
dazu, sich die Gewohnheit zu eigen zu machen, und verhinderte,
dass nachfolgende Generationen leichtfertig
mit dieser Gewohnheit brechen würden.
Einsichten in die Bedeutung von Gewohnheiten für
den geistlichen Weg finden wir auch bei Augustinus,
der sich Ende des 4. Jahrhunderts in seinen „Bekenntnissen“
mit dem Schlüssel zum inneren Wachstum auseinandersetzte.
Umkehr sei das Lösen von destruktiven
Gewohnheiten.155 Diese destruktiven, das geistliche
Zentrum des Menschen zerstörenden Gewohnheiten
wirkten wie Ketten. Augustinus schildert seinen diesbezüglichen
Seelenzustand sehr anschaulich: „Ich war
geschlagen, nicht in fremde Eisenbande, sondern in
die Bande meines eisernen Herzens. Mein Wollen hielt
der Feind in seinen Händen, daraus hatte er eine Kette
geschmiedet, durch die er mich gebunden hatte.“
Augustinus beschreibt die Herausbildung falscher Gewohnheiten
folgendermaßen: Erstens – der Wille richtet
sich auf das Falsche; zweitens – aus dem fehlgerichteten
Willen entsteht ein Streben nach dem Falschen,
eine Begierlichkeit; drittens – dieses Streben wie die Begierlichkeit
werden zur Gewohnheit; viertens – die Gewohnheit
wird, wenn sie nicht auf Widerstand trifft, zur
Notwendigkeit, die dem Menschen die Freiheit nimmt.
Wenn ein Mensch auf seinem Weg umkehrt, kämpfen
alte und neue Gewohnheiten miteinander, versuchen
die alten Gewohnheiten den Menschen in das alte Leben
zurückzuziehen.157 Denn Gewohnheiten „lasten
schwer“ auf uns, drohen uns „zu verschlingen“. Mit
anderen Worten hat das eine oder andere 30-Tage-Experiment
ebendiese Dynamik illustriert.
Eine Schlüsselstelle für Augustinus’ tiefes Verständnis
von Gewohnheiten ist jene Passage, in der er die
Gouvernante seiner Mutter rühmt, weil sie die Erziehung
zu Gewohnheiten sehr ernst nahm: „Bei ihrer Zurechtweisung
wusste sie, wenn es nottat, heilige Strenge
und Ernst, bei ihrer Unterweisung weise Besonnenheit
anzuwenden. Denn außerhalb der Stunden, wo sie am
Tische der Eltern ein mäßiges Mahl einnahmen, ließ sie
sie, auch wenn sie heftigen Durst empfanden, nicht einmal
Wasser trinken, um übler Gewohnheit vorzubeugen;
dann fügte sie gewöhnlich das wahre Wort hinzu:
‚Jetzt trinket ihr Wasser, weil euch Wein nicht zur Verfügung
steht; seid ihr erst einmal verheiratet und Herrinnen
über Küche und Keller, werdet ihr das Wasser
verachten, aber die Gewohnheit zu trinken wird fortdauern.‘
Durch solche Art der Belehrung und die Entschiedenheit
ihres Befehls zügelte sie die Gier des zar-
ten Alters und gewöhnte die Mädchen, auch im Durste
bescheiden Maß zu halten, dass sie kein Verlangen nach
dem empfanden, was sich nicht ziemte.“159 Die strenge
Erziehung war auf die Berücksichtigung von Gewohnheiten
aufgebaut. Um der Wahrheit die Ehre zu geben,
muss allerdings hinzugefügt werden, dass Augustinus
vom Scheitern dieser Pädagogik berichtete, weil seine
Mutter aus jugendlichem Trotz zu trinken begann,
um dann nahezu gewohnheitsmäßig Wein zu konsumieren
… So verwundert es nicht, dass Augustinus am
Anfang einer Tradition stand, die davon ausging, dass
Wachstum, Gewohnheiten und Gnade nicht voneinander
getrennt werden können.
© Ecowin
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Autoren-Porträt von Clemens Sedmak
Clemens Sedmak ist dreifach promovierter Doktor - Theologe, Sozialwissenschaftler und Philosoph. Mit großer Sorgfalt und viel Humor widmet er sich den Fragestellungen unserer Zeit. Nicht philosophierend unter einem Olivenbaum, sondern unter anderem am Londoner King's College, wo er eine Professur innehat. Er leitet außerdem das Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg. Wenn daneben noch Zeit bleibt, verbringt er diese mit seiner Familie in Seekirchen am Wallersee.
Bibliographische Angaben
- Autor: Clemens Sedmak
- 2014, 256 Seiten, Maße: 12 x 20 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ecoWing
- ISBN-10: 3711000630
- ISBN-13: 9783711000637
- Erscheinungsdatum: 07.11.2014
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