Karneval der Toten / Inspektor Jury Bd.19
Inspector Jury ist fassungslos: Ein fünfjähriges Mädchen wurde hinterrücks erschossen. Die Spuren führen ihn auf ein Landgut.
Leider schon ausverkauft
Buch (Kartoniert)
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Karneval der Toten / Inspektor Jury Bd.19 “
Inspector Jury ist fassungslos: Ein fünfjähriges Mädchen wurde hinterrücks erschossen. Die Spuren führen ihn auf ein Landgut.
Klappentext zu „Karneval der Toten / Inspektor Jury Bd.19 “
Als Inspektor Jury an einem kühlen Märztag an den Ort eines Verbrechens in London gerufen wird, ist er fassungslos. Denn das Opfer, das durch einen heimtückischen Schuss in den Rücken getötet wurde, trägt ein geblümtes Kleidchen - und ist fünf Jahre alt. Eine erste Spur führt Jury nach Cornwall auf den stattlichen Landsitz Angel's Gate. Dort hatte sich kurz darauf in dem weitläufigen Park ein weiterer Mord ereignet. Ist die unbekannte Tote der Schlüssel zu der Ermordung des kleinen Mädchens?
Lese-Probe zu „Karneval der Toten / Inspektor Jury Bd.19 “
DIE VERLORENEN GÄRTEN Die Blutflecken auf dem Kleid des kleinen Mädchens verschwammen mit dem Glockenblumenmuster. Als hätte ihr jemand eine Hand voll Blütenblätter auf den Rücken gestreut.
Richard Jury kniete im Rinnstein am unteren Ende der Hester Street, einer schäbigen Nordlondoner Straße, und starrte auf die mit dem Gesicht zur Seite liegende Leiche. Er konnte das Ganze nicht recht fassen. Eingehend betrachtete er das Mädchen - das helle Haar, die Augen, die seine Hand geschlossen hatte, das Blut, das aus dem rechten Mundwinkel auf den kleinen weißen Kragen des Kleidchens mit dem Glockenblumenmuster gelaufen war. Im Schein seiner Taschenlampe hatte er die Farbe der Blumen erkennen können. Selbst das Blut hatte im spärlichen Licht der Nacht blau ausgesehen. Wieder kam ihm der Gedanke in den Sinn - die Blutflecken hätten auch Blütenblätter sein können.
Alles schien ihm auf Miniaturformat geschrumpft zu sein - das Kleid, die Leiche, das Blut -, als wäre es Teil einer Zaubergeschichte, wie bei Alice im Wunderland. Das kleine Mädchen könnte jeden Moment wieder aufwachen, die Blutspur würde verschwinden, sich wie ein Kondensstreifen am Himmel einfach auflösen, und die dunklen Flecken auf dem Kleid würden zerlaufen und nur die Blumen zurücklassen.
Kein Mantel. Es war der erste März, und sie trug keinen Mantel.
"Eine Ausreißerin vielleicht?", mutmaßte Phyllis Nancy, die Gerichtspathologin, die neben ihm kniete.
Jury war klar, dass sie diese Frage auch selbst hätte beantworten können. "Nein, das glaube ich nicht. Das Kleid sieht wie neu aus, sauber gewaschen und gebügelt." Was er da sagte, klang ziemlich lächerlich, denn wen scherte es schon, ob das Kleid gebügelt war oder nicht. Doch irgendwie ging es ihm wie Phyllis. Er hatte das Bedürfnis, etwas zu sagen, egal was. Er musste etwas sagen, um das, was mit dem armen Kind geschehen war, auf Abstand zu halten.
"Ja, da haben Sie Recht." Der Saum ihres eigenen Kleids lag in einer Pfütze aus Regenwasser
... mehr
und allem, was der Regen mitgeschwemmt hatte. Vor einer Stunde hatte es noch wie aus Kübeln geschüttet.
Jury hob den Saum an. Es war ein langes Abendkleid aus grünem Samt. Als Phyllis aus ihrem Auto gestiegen war, hatte sie in diesem Kleid richtig königlich ausgesehen. Smaragdohrringe, grüner Samt - man hatte sie in der Royal Albert Hall ausgerufen, und sie war sofort herbeigeeilt.
Sie hatte sich auf beiden Knien neben ihm niedergelassen - ohne eine Unterlage, direkt auf dem harten Straßenpflaster. Ihre kniende Haltung hatte fast etwas Flehendes. "Ich drehe sie jetzt herum. Würden Sie mir helfen?"
Er nickte. "Klar." Sie brauchte keine Hilfe. Jury hatte sie mit Leichen hantieren sehen, die größer waren als er, hatte gesehen, wie sie sie hin und her drehte, als wären sie federleicht. Phyllis mochte wohl die zerfetzte Ausgangswunde nicht sehen, das Blut, in dem das kleine Mädchen lag. Gemeinsam drehten sie es mühelos um. Das Einschussloch war winzig klein, so als hätte sich sogar die Kugel kleiner gemacht, um zu der Geschichte zu passen.
Jury meinte: "Wahrscheinlich eine 22er, in jedem Fall eine Kleinkaliberwaffe."
Phyllis Nancy sagte: "Richard, sie ist nicht älter als fünf oder sechs Jahre. Wer würde denn einem Kind in den Rücken schießen?"
Jury gab keine Antwort.
Um sie herum standen die anderen: die Polizisten, die diesen Straßenabschnitt mit gelbem Tatortband abgesperrt hatten, der Polizeifotograf, die Kollegen von der Spurensicherung und Kripobeamte vom Morddezernat. Auch das Paar war noch da, das die Leiche entdeckt hatte, als es gerade ins Auto steigen wollte (sie weinte, er hatte den Arm um sie gelegt). Der Leichenwagen. Und über allem blinkte Blaulicht. Die Polizei war ausgeschwärmt, um an sämtlichen Haustüren in der Hester Street anzuklopfen und nach Zeugen zu suchen. Trotz des geschäftigen Treibens herrschte jedoch eine merkwürdige Stille, als ob alle sich auf Zehenspitzen bewegten oder nur im Flüsterton sprachen. Es war die Art von Stille, die am frühen Morgen herrscht, bevor die schlafende Welt sich in die wache verwandelt. Alle bewegten sich ganz vorsichtig, als wollten sie die Kleine weiterschlafen lassen.
Jury wandte sich erneut an Dr. Nancy. "Können Sie ungefähr sagen, wann es passiert ist, Phyllis?" Lange konnte es bestimmt noch nicht her sein. Das Mädchen lag zwar halb im Rinnstein, doch wäre die Leiche bestimmt aufgefallen. In dieser Gegend waren auch nachts noch Leute unterwegs, so wie das Paar, das sein Auto dort geparkt hatte.
"Ein paar Stunden, länger nicht", sagte Phyllis.
"Vermutlich weniger, würde ich denken. Man hätte sie doch bemerkt."
"Ich weiß. Stimmt, hätte sie länger als eine Viertelstunde unbemerkt hier liegen können? In dem weißen Kleidchen?"
Weiß, mit Glockenblumen, dachte Jury, und blutgetränkt.
Er würde das kleine Mädchen nie wiedersehen müssen, wenn er nicht wollte, wenn er es nicht für nötig erachtete. Doch Phyllis Nancy hatte keine Wahl. Sie würde die Autopsie durchführen müssen, sie würde das Kind aufschlitzen müssen. Wie hieß gleich die Stelle bei Emily Dickinson: Spalte den Singvogel und finde die Töne?
Phyllis erhob sich. Er hatte Phyllis Nancy nie die Fassung verlieren sehen, in all den Jahren nicht, bei all den verstümmelten Leichen, die sie zusammen gesehen hatten. Nun, fürchtete er, stand es ihm bevor.
Er irrte sich. Als sie vorhin auf den Tatort zugegangen war, hatte sie in diesem Kleid und den Smaragden königlich ausgesehen. Jetzt, blass und dreckverspritzt, sah sie immer noch königlich aus.
Auf ihr Handzeichen hin fuhr der Leichenwagen näher an das kleine Mädchen heran.
"Spalte die Lerche - du findest die Töne." So hieß sie, die Zeile in dem Gedicht von Dickinson. Eine bizarre Vorstellung bei einer Obduktion. Jury blickte auf das unschuldige, gottverlassene Kind hinunter.
Glockenblumen und Blut.
Keine Töne.
Wiggins kochte Tee, was an sich nichts Ungewöhnliches war, außer dass er dabei ziemlich geräuschvoll vorging: Die Teebüchse klapperte auf dem Regal, der Löffel klinkte gegen die Tasse, die Halbliterflasche Milch wurde auf den Schreibtisch geknallt, eine neue Packung Kekse aufgerissen. Wiggins wirkte bekümmert. Es war, als veranstaltete er diesen leichten Aufruhr, um seinen Kummer zu überspielen oder aber ihn deutlich kundzutun.
Jury war soeben zur Tür hereingekommen und deutete den leichten Aufruhr als Warnsignal. "Was ist los, Wiggins? Sie sehen ja aus, als wären Sie einem Gespenst begegnet. Oder aber Chief Superintendent Racer."
"Ich habe eine schlimme Nachricht, Sir." Er ließ zwei Teebeutel in die braune Kanne fallen, ohne Jury dabei anzusehen.
Die schlimme Nachricht betraf ganz klar Jury. Er musste sofort an Mrs. Wasserman denken, die mittlerweile in den Achtzigern und die einzige potentielle Kandidatin für schlimme Nachrichten war. "Was?"
Wiggins antwortete nicht gleich.
"Na los, Wiggins. Ich glaube, ich kann damit fertig werden."
Wiggins schaltete den elektrischen Wasserkocher aus. "Ich fürchte ^ hmm, es geht um Ihre Cousine, Sir. Ihre Cousine - ist gestorben."
Einen kurzen, irrwitzigen Augenblick lang wusste Jury nicht, wovon Wiggins überhaupt redete. Er stand noch an der Tür, als setzte ihn die Todesnachricht außerstande, sich zu bewegen, bis ihm plötzlich die Cousine einfiel und die Welt sich erneut zu drehen begann. Seine Cousine oben im Norden, in Newcastle-upon- Tyne.
"Mein Beileid, Sir. Ich mache Ihnen hier gerade eine schöne Tasse Tee."
Als ob Wiggins das nicht sowieso täte, Todesfall hin oder her. Jury musste fast schmunzeln über diese Wiggins'sche Antwort auf alle Eventualitäten des Lebens. Noch im Mantel setzte er sich hin, machte den Mund auf, sagte jedoch nichts.
"Ihr Mann hat angerufen, wie heißt er -"
"Brendan."
Wiggins goss Milch in die großen Henkeltassen. "Genau. Am Samstag sei die Beerdigung, sagte er." Um sich eine nützliche Aufgabe zu verschaffen, überprüfte er seinen Schreibtischkalender. "Das wäre der sechste März." Er reichte Jury seinen Tee.
"Danke."
Vermutlich um eine Einschätzung des Ausmaßes von Jurys Trauer bemüht, erkundigte sich Wiggins: "Sie hatten nicht viel Kontakt, oder? Ich meine, so weit dort droben in Newcastle, das ging ja gar nicht. Ich hatte immer den Eindruck, sie war Ihnen irgendwie fremd."
Jury hatte beide Hände wärmesuchend um den Henkelbecher gelegt. "Stimmt." Er überlegte. "Ihr Vater, also mein Onkel, nahm mich damals zu sich, als meine Mutter starb. Er war ein großartiger Mensch. Sie ist seine Tochter. Sie war nie so wie er, sie konnte mich nie richtig leiden -" Aber stimmte das denn? Brendan hatte genau den gegenteiligen Eindruck gewonnen: dass sie Jury nämlich sehr mochte und stolz war, dass er bei New Scotland Yard so ein hohes Tier war. Er rieb sich die Stirn. Würde er seine Meinung von ihr womöglich revidieren müssen?
"Aus Eifersucht, würde mich nicht wundern", sagte Wiggins und blies auf seine Henkeltasse. "Weil ihr Dad Sie aufgenommen hat und das alles. Er muss Sie wirklich sehr gemocht haben."
"Stimmt." Seine Cousine aber bestimmt nicht. Ihre Gespräche mit Jury waren oft mit scharfen Bemerkungen gespickt und (so vermutete er) voller Lügen. Er sagte: "Als ich sie das letzte Mal besuchte, schauten wir uns Fotos an, alte Schnappschüsse und so, und dabei brachte sie mich völlig durcheinander. Dinge, von denen ich glaubte, sie wären passiert, hatten sich überhaupt nicht zugetragen, behauptete sie. Am Ende wusste ich überhaupt nicht mehr, woran ich bin."
"Hört sich so an, als wollte sie Sie auf die Palme bringen."
"Vielleicht. Der Gedanke kam mir auch, oder Brendan hatte etwas in der Richtung gesagt. Meine Güte, man sollte wenigstens meinen, dass auf die eigenen Erinnerungen Verlass ist." Er nahm einen großen Schluck Tee und stellte den Henkelbecher auf Wiggins' Schreibtisch ab. "Ich gehe ein bisschen nach draußen. Ich brauche frische Luft."
Er überquerte den Broadway in Richtung St. James' Park. Dort ließ er sich auf einer Bank nieder. Ihr Tod traf ihn wirklich. Hoffentlich hatte sie nicht zu sehr leiden müssen. Er hatte schon zu viele Menschen qualvoll sterben gesehen - von Schusswunden, Messerstichen verletzt. Manchmal sahen sie einen noch kurz davor mit angsterfülltem Blick an. Jury hatte gar nicht gewusst, dass sie krank gewesen war.
Er mochte sich einreden, dass er seine Cousine ohnehin selten gesehen hatte und ihr nicht sehr nahe stand und sie sich eigentlich nie so recht gemocht hatten. Das funktionierte vielleicht im Leben, im Tod funktionierte es nicht. Der änderte wahrscheinlich sowieso alles. Irgendwie schaffte es der Tod, einem die Stützen wegzustoßen, die sorgsam aufgebauten Abwehrvorrichtungen zu zerschlagen. Zu welchen einfachen Schlussfolgerungen er im Hinblick auf Sarah auch gekommen war, sie waren ihm mittlerweile ebenso suspekt wie die Ereignisse während seiner Kindheit. Denn vielleicht hatte sie ihn gar nicht angelogen. Vielleicht war er tatsächlich noch ein Baby gewesen, als seine Mutter gestorben war, und nicht der Fünfjährige, der versucht hatte, sie aus den Trümmern ihres ausgebombten Wohnhauses zu zerren.
Wie hatte er sich bloß so irren können? Was war mit den Kindern, die er in Schuluniformen hatte zur Schule trotten sehen? Damals wäre er am liebsten mit ihnen gegangen, nicht wahr? Und was war mit Elicia Deauville? Sie musste doch im Zimmer nebenan getanzt haben. Vielleicht war es ja ein anderes Zimmer, ein anderes Nachbarhaus, zu einer anderen Zeit.
Nein. Sicher hatte Sarah sich das ausgedacht. War doch typisch für sie, oder -?
Er erhob sich von der Bank und ging auf dem Gehweg weiter, die Hände wie ein alter Mann auf dem Rücken verschränkt. Und so fühlte er sich auch. Seine Cousine war zwar älter gewesen als er, aber nicht um so viel älter, dass er sie hätte einer "anderen Generation" zuordnen können.
Hör auf, immer nur an dich zu denken, befahl er sich. Es gab schließlich noch Brendan und die Kinder, alle erwachsen außer dem Baby, dem Baby der Tochter, die unverheiratet bei ihren Eltern wohnte, wo Mutter sich um das Enkelkind gekümmert hatte, während ihr kokettes Töchterchen sich herumtrieb. Na, das musste sich ja jetzt wohl am Riemen reißen, was? Hätte es schon von vornherein tun sollen - O Gott, diese Krittelei! Wieso hackte er eigentlich dauernd darauf herum? Doch wohl nur, um sich abzulenken und vor der Erkenntnis zu drücken, was all das zu bedeuten hatte?
Das war es: Eine Leere hatte sich aufgetan, die er nicht hatte kommen sehen, und nun wusste er nicht, wie er sie füllen sollte. Und das alles wegen des Todes einer Cousine, die er gar nicht richtig gekannt hatte. Eine fordernde, verbitterte, verlogene Frau, die ihren Mitmenschen keine Freude war, und doch ^ Sie war das Ende, abgesehen von ihm selbst. Sie war die Letzte gewesen, die Einzige, die seine Erinnerungen geteilt hatte, die Letzte, die teilgehabt hatte an diesem Bild von seiner Kindheit. Sie war die Letzte, bei der er nachfragen konnte, und ob sie nun log (sie würde es bloß Hänselei nennen) oder nicht, war eigentlich unerheblich.
Jury blieb stehen. Seltsam. Vielleicht war es unerheblich, weil sie die Wahrheit sehr wohl kannte. Nun kannte sie außer ihm selbst keiner mehr. Irgendwie überkam ihn plötzlich das Gefühl, die Wahrheit wäre verschwunden und hätte die Vergangenheit mitgenommen.
Er war inzwischen weitergelaufen und bis Green Park gelangt, wo er sich wieder auf eine Bank setzte. Drüben am anderen Ende lag ein Teil des Daily Express. Er zog ihn herüber und warf einen Blick auf das Datum. Zweiter März. Er schob die Zeitung beiseite, die heimischen Tagesnachrichten interessierten ihn nicht, auch nicht die königliche Familie oder David Beckham und auch nicht die Jahrhundertwende.
Er sollte zurück ins Büro gehen und Brendan anrufen. Der Arme wusste bestimmt gar nicht, wo ihm der Kopf stand. Was sollte er bloß mit dem Baby machen? Urgroßeltern gab es nicht in der Familie, jedenfalls nicht auf ihrer Seite. Vielleicht auf Brendans, vielleicht droben in County Cork.
Jury war klar, dass er ihn anrufen musste. Doch er blieb sitzen, vornüber gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und brütete vor sich hin: Er dachte an seinen letzten Besuch vor drei Monaten, seinen Ärger über ihre Sticheleien und Widersprüche und ihre Schadenfreude, weil sie mehr in Erinnerung behalten hatte. Schließlich war Jury damals noch so klein gewesen (hatte sie behauptet), bestimmt könne er sich an überhaupt nichts erinnern. Im Gegensatz zu ihr.
Als er auf den Park hinausblickte, kam ihm eine Gedichtzeile in den Sinn: Ihr Grün ist eine Art von Traurigkeit. Er sah hinaus in den trüben Märztag. Plötzlich kam ihm die Idee, einen Blumenladen zu suchen und der Familie Blumen zu schicken, doch er wusste nicht, wohin er sie schicken sollte, zu welchem Bestattungsinstitut. In die Wohnung lieber nicht, Brendan war kein besonders guter Hausmann, abgesehen davon, dass er jetzt ganz andere Sorgen hatte. Die Blumen würden wohl ohne Wasser vor sich hinwelken, bis er sie wegwarf. Vielleicht würden sie ihn sogar nerven.
Trotzdem verspürte Jury das Bedürfnis, etwas zu tun. Er wollte etwas wieder gutmachen, wusste aber nicht, was. Vielleicht, dass er das Kind gewesen war, das sein Onkel hätte haben wollen, oder vielleicht, dass er Sarah in Bedrängnis gebracht hatte, als er das letzte Mal dort gewesen war, vor Weihnachten, oder vielleicht, weil er derjenige war, der noch atmete und sie nicht.
Bald wäre Frühling, obwohl der Tag noch düster und verhangen aussah. Wieder musste er an Larkins Gedicht denken; Die Bäume setzen wieder Knospen an/Wie etwas fast Gesagtes. Er mochte Gedichte, bevorzugte aber die Offenheit und Direktheit eines Larkin oder Robert Frost. Im Grunde genommen waren Gedichte jedoch nie direkt, sie kamen einem nur so vor. Wie etwas fast Gesagtes. Das hätte er nie in andere Worte kleiden können, und doch war ihm klar, dass er damit der Wahrheit so nahe kam, wie er nur irgend konnte.
Er hatte sie ja nicht einmal gemocht, sagte er sich immer wieder. Woher kam aber dann diese Enge in der Brust, dieses erstickende Gefühl (er war übrigens froh, dass Wiggins nicht da war und ihn beobachtete)?
Urplötzlich überkam ihn die Erinnerung an Jenny Kennington, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, wie sie die Treppe ihres Hauses in Littlebourne heruntergelaufen kam, eine schwerverletzte Katze auf dem Arm. Obwohl sie Jury überhaupt nicht kannte, ließ sie sich von ihm zum Tierarzt fahren. Sie redete über den Kater, der ihr gar nicht gehörte, sondern herrenlos und wahrscheinlich von einem Auto angefahren worden war. Ich kann das Vieh nicht mal leiden, hatte sie gesagt, als es schließlich sicher in den Händen des Tierarztes war. Gleich mehrmals hatte sie Jury versichert, ich kann das Vieh nicht mal leiden.
Ja, ja, dachte er. Sagst du so.
Er ging die Piccadilly hinunter und betrat Fortnum & Mason, wo immer eine anheimelnd chaotische Stimmung herrschte. Jeder (denn schließlich ging jeder zu Fortnum's!) war geradezu überwältigt von den Auslagen mit Gänseleber, Käse und Prosciutto, der so hauchdünn geschnitten war, dass man hindurchsehen konnte. Das wunderbare, schwarzbekittelte Personal, die glänzenden Früchte, die ineinander verschwimmenden Düfte von Tee und Zitrusfrüchten und Geld.
Danach zu Hatchards, in eine Buchhandlung, die nach Büchern roch - nach Leder, Wachs, dunklen Holzmöbeln und -paneelen. Eine Atmosphäre, ein sinnliches Erlebnis, an die der gigantische Waterstones ein Stück weiter nicht einmal entfernt heranreichte.
Er ging weiter, blieb bisweilen stehen, an einem Kiosk erstand er einen Telegraph, den er später ungelesen in einen Mülleimer warf. Wie war er eigentlich bis zur Oxford Street gelangt? Bei Selfridges warf er einen Blick ins Fenster. Die gesichtslosen Schaufensterpuppen schienen zu wissen, dass es im Fenster nicht viel zu gucken gab, kein Vergleich mit Fortnum's. In ihren Sommerfähnchen der kommenden Saison, die so dünn waren, dass ein Windstoß sie wegwehen könnte, hielten sie die Köpfe geneigt oder leicht vorgereckt, als suchten sie nach einem Ausgang. Auf dem Bürgersteig verkaufte ein Jamaikaner seine illegale Ware, ein gewitzter Kerl, aber nicht so gewitzt, dass er Jurys Polizistenaura bemerkt hätte: Räucherstäbchen, winzige Fläschchen mit Parfüm, das so berauschend war, dass man davon in der Wüste aus den Latschen gekippt wäre.
"Wird gefallen Ihre Frau, Mann, Ihre Freundin-Dame. Frauen mögen diese Zeug."
Jury erstand ein paar Räucherstäbchen und einen passenden kleinen Halter aus Stein.
Jedes Mal - bei der Zeitung, den Schaufensterpuppen, dem Straßenhändler - konnte er für ein paar Augenblicke vergessen, dass sie tot war. Doch dann war es sofort wieder da.
In den vergangenen Stunden hatte er mehr an seine Cousine Sarah gedacht als in den letzten zwanzig Jahren. Das war es, das Vermächtnis des Todes - jetzt war reichlich Zeit, über die vergeudete Zeit nachzudenken, die ungesagten Worte, die nicht miteinander geteilte Geschichte, bis es zu spät war. Es ist immer zu spät, hatte einmal jemand gesagt. Man kann nie genug getan haben, genug gesagt haben. Es war wie bei dem Bier, das immer viel zu schnell ausgetrunken war: die Witze über das hohle Holzbein, das Bierglas, das ein Loch haben musste. Der unstillbare Alkoholdurst. Für die Toten kann man nie genug tun. Man sucht Trost, aber es gibt keinen, hat es nie gegeben und wird es nie geben. Es gibt nur das allmähliche Abschleifen scharfer Kanten, damit man sich nicht bei jeder Bewegung hinterrücks überfallen fühlt, als sähe man die Toten plötzlich unverhofft um die Ecke biegen.
Eine Weile fuhr er auf der Piccadilly Line und stieg dann in King's Cross in die Northern Line um. Nur in der U-Bahn, dachte er, bekam man solche Gesichter zu sehen. Keines von denen sah glücklich aus, außer bei den Halbwüchsigen, die sich lärmend zusammengerottet hatten, doch selbst die wirkten in einem unbeobachteten Augenblick ziemlich jämmerlich.
Während die uralte Northern Line bei den Fahrgästen die Zähne klappern ließ, musterte er das Mädchen, das ihm gegenüber auf der anderen Seite des Durchgangs saß. Sie war schön, schien sich daraus aber nichts zu machen. Sie saß ordentlich da, die Hände auf den zusammengepressten Knien hielten eine kleine Tasche fest. Ihr langes, glänzendes Haar sah aus wie in einer Shampooreklame. In der Reihe von Werbeplakaten über ihrem Kopf warb eines für ein Erkältungsmittel, dort war ein Skifahrer abgebildet, der sich glückselig in einen Schneehaufen stürzte. Während der Zug dahinratterte, sah Jury einem alten Schokoriegelpapierchen zu, das sich auf dem Fußboden zwischen hohen Absätzen und abgestoßenen Stiefeln hin und her bewegte. Er sah es dahinschweben und musste dabei an sich und Sarah denken, wie sie als Kinder froh und einträchtig in einen Süßwarenladen gegangen waren. Aber dieses Bild hatte er sich selbst zusammengereimt - er bezweifelte, dass sie oft zusammen irgendwohin gegangen waren.
Ich kann das Katzenvieh nicht mal leiden.
Sagst du so.
Er stand auf und stieg an seiner Haltestelle - Angel - aus.
Die Dunkelheit hatte er registriert, während er die Regent Street entlanggegangen war, nicht aber die Uhrzeit. Es war beinahe zehn Uhr. Wo um alles in der Welt hatte er sich die ganze Zeit bloß herumgetrieben?
In Mrs. Wassermans Gartenwohnung brannte Licht, und gleich kam sie in ihrem alten Bademantel auch die Treppe herauf.
"Mr. Jury, jemand hat versucht, Sie zu erreichen. Carol-Anne sagte, ich solle Ihnen sagen, auf Ihrem Anrufbeantworter seien zwei Nachrichten. Von einem gewissen Bernard."
"Brendan?"
"Sie sagte Bernard."
Jury lächelte. "Carol-Anne hat manchmal Schwierigkeiten, meine Nachrichten richtig zu verstehen." Na, das konnte man wohl sagen. Besonders Nachrichten von weiblichen Personen.
Carol-Anne war schon immer der Ansicht gewesen, das einzige Leben, das Jury getrennt von ihr verbringen würde, war das im Jenseits. "Danke, Mrs. Wasserman." Er wandte sich in Richtung Treppe.
"Ist alles in Ordnung, Mr. Jury? Sie sehen blass aus."
Wie konnte sie das im Stockfinstern bemerken? Vielleicht hörte er sich einfach blass an. "Ja ^ Nein. Ich habe tatsächlich eine schlechte Nachricht bekommen. Meine Cousine ist gestorben. Brendan ist ihr Mann. Deshalb versucht er wohl, mich zu erreichen. Um es mir zu sagen."
"Das tut mir ja wirklich Leid. Jemanden aus der Familie zu verlieren, das ist das Schlimmste."
Es war, als wären alle Familienmitglieder für sie in jedem Einzelnen vereint. Und eines zu verlieren, bedeutete, alle zu verlieren. "Sie war die letzte Angehörige, die ich hatte. Jetzt gibt es nur noch mich."
"Ach je. Ach je." Sie raffte den Bademantel fester um den Hals zusammen. "Das ist furchtbar. Man kommt sich so abgeschnitten vor. Ich weiß, mir ging es genauso. Wie ein Luftballon habe ich mich gefühlt. Höher und höher ist er nach oben geschwebt. Und Schwermut hielt mich fest wie eine Gefangene."
Jury war überrascht. Mrs.Wasserman sprach nicht oft in Metaphern. "Das haben Sie aber gut ausgedrückt, Mrs. Wasserman. So ungefähr komme ich mir vor."
"Könnte ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee machen?"
"Das ist nett von Ihnen, aber ich glaube, ich bin zu müde. Ich bin heute viel gelaufen."
Sie schloss die Augen und nickte, offensichtlich war ihr die lindernde Wirkung von Fußmärschen vertraut.
"Also, dann sage ich Gute Nacht. Und danke für die Nachricht."
Sie trennten sich, und jeder ging in seine Wohnung.
Als er die Tür zu seiner Wohnung im ersten Stock aufschloss, vernahm er ein kurzes Bellen, eher ein leises Knurren. Es war Stone, Carol-Anne war demnach ausgegangen. Wenn sie zu Hause war, kümmerte sie sich immer um ihn. Das taten sie alle, wenn sie konnten. Manchmal nahm Stan den Hund mit, aber nicht, wenn er viel unterwegs sein musste.
Jury nahm Stans Schlüssel vom Haken, ging in den zweiten Stock hinauf und schloss auf. Stone kam nicht wie die meisten Hunde gleich herausgeschossen, denn Stone war genauso cool wie Stan. Das Höchste, was er zur Schau stellte, wenn er aufgeregt war, war leichtes Schwanzwedeln. Er folgte Jury die Treppe hinunter, blieb dann aber in dessen Wohnung stehen, bis ihm bedeutet wurde, was er tun sollte. Er besaß die Geduld und Selbstbeherrschung dieser Gestalten in weißen Clownskostümen mit weiß bemalten Gesichtern, die bemerkenswert still standen, reglos wie Standbilder, für die sie von den Vorübergehenden ja auch gehalten wurden.
Jury holte den Knochen aus Rohhaut und legte ihn unten an sein Stuhlbein hin. Stone ließ sich nieder und begann zu kauen. "Ich setze dann Teewasser auf."
Stone hörte auf zu kauen und sah zu Jury hoch.
"Willst du auch eine Tasse? Nein? Okay. Willst du was zu fressen?" Stone machte leise wuff. "Das heißt bestimmt ja. Okay."
Er ließ Stone ruhig weiterkauen, steckte den Wassersieder ein, schwenkte eine Henkeltasse aus und warf einen Teebeutel hinein. Das Teewasser kochte, kaum dass er für Stone eine Dose Hundefutter in den Fressnapf gegeben hatte. Er rief den Hund, goss dann Wasser über den Teebeutel und ließ ihn ziehen, während er Stone beim Fressen zusah. Als das langweilig wurde, warf er den Teebeutel ins Spülbecken und ging zu seinem Sessel im Wohnzimmer. Er starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Gleich darauf stand er wieder auf und wühlte in seiner Manteltasche nach den Räucherstäbchen.
Jury hob den Saum an. Es war ein langes Abendkleid aus grünem Samt. Als Phyllis aus ihrem Auto gestiegen war, hatte sie in diesem Kleid richtig königlich ausgesehen. Smaragdohrringe, grüner Samt - man hatte sie in der Royal Albert Hall ausgerufen, und sie war sofort herbeigeeilt.
Sie hatte sich auf beiden Knien neben ihm niedergelassen - ohne eine Unterlage, direkt auf dem harten Straßenpflaster. Ihre kniende Haltung hatte fast etwas Flehendes. "Ich drehe sie jetzt herum. Würden Sie mir helfen?"
Er nickte. "Klar." Sie brauchte keine Hilfe. Jury hatte sie mit Leichen hantieren sehen, die größer waren als er, hatte gesehen, wie sie sie hin und her drehte, als wären sie federleicht. Phyllis mochte wohl die zerfetzte Ausgangswunde nicht sehen, das Blut, in dem das kleine Mädchen lag. Gemeinsam drehten sie es mühelos um. Das Einschussloch war winzig klein, so als hätte sich sogar die Kugel kleiner gemacht, um zu der Geschichte zu passen.
Jury meinte: "Wahrscheinlich eine 22er, in jedem Fall eine Kleinkaliberwaffe."
Phyllis Nancy sagte: "Richard, sie ist nicht älter als fünf oder sechs Jahre. Wer würde denn einem Kind in den Rücken schießen?"
Jury gab keine Antwort.
Um sie herum standen die anderen: die Polizisten, die diesen Straßenabschnitt mit gelbem Tatortband abgesperrt hatten, der Polizeifotograf, die Kollegen von der Spurensicherung und Kripobeamte vom Morddezernat. Auch das Paar war noch da, das die Leiche entdeckt hatte, als es gerade ins Auto steigen wollte (sie weinte, er hatte den Arm um sie gelegt). Der Leichenwagen. Und über allem blinkte Blaulicht. Die Polizei war ausgeschwärmt, um an sämtlichen Haustüren in der Hester Street anzuklopfen und nach Zeugen zu suchen. Trotz des geschäftigen Treibens herrschte jedoch eine merkwürdige Stille, als ob alle sich auf Zehenspitzen bewegten oder nur im Flüsterton sprachen. Es war die Art von Stille, die am frühen Morgen herrscht, bevor die schlafende Welt sich in die wache verwandelt. Alle bewegten sich ganz vorsichtig, als wollten sie die Kleine weiterschlafen lassen.
Jury wandte sich erneut an Dr. Nancy. "Können Sie ungefähr sagen, wann es passiert ist, Phyllis?" Lange konnte es bestimmt noch nicht her sein. Das Mädchen lag zwar halb im Rinnstein, doch wäre die Leiche bestimmt aufgefallen. In dieser Gegend waren auch nachts noch Leute unterwegs, so wie das Paar, das sein Auto dort geparkt hatte.
"Ein paar Stunden, länger nicht", sagte Phyllis.
"Vermutlich weniger, würde ich denken. Man hätte sie doch bemerkt."
"Ich weiß. Stimmt, hätte sie länger als eine Viertelstunde unbemerkt hier liegen können? In dem weißen Kleidchen?"
Weiß, mit Glockenblumen, dachte Jury, und blutgetränkt.
Er würde das kleine Mädchen nie wiedersehen müssen, wenn er nicht wollte, wenn er es nicht für nötig erachtete. Doch Phyllis Nancy hatte keine Wahl. Sie würde die Autopsie durchführen müssen, sie würde das Kind aufschlitzen müssen. Wie hieß gleich die Stelle bei Emily Dickinson: Spalte den Singvogel und finde die Töne?
Phyllis erhob sich. Er hatte Phyllis Nancy nie die Fassung verlieren sehen, in all den Jahren nicht, bei all den verstümmelten Leichen, die sie zusammen gesehen hatten. Nun, fürchtete er, stand es ihm bevor.
Er irrte sich. Als sie vorhin auf den Tatort zugegangen war, hatte sie in diesem Kleid und den Smaragden königlich ausgesehen. Jetzt, blass und dreckverspritzt, sah sie immer noch königlich aus.
Auf ihr Handzeichen hin fuhr der Leichenwagen näher an das kleine Mädchen heran.
"Spalte die Lerche - du findest die Töne." So hieß sie, die Zeile in dem Gedicht von Dickinson. Eine bizarre Vorstellung bei einer Obduktion. Jury blickte auf das unschuldige, gottverlassene Kind hinunter.
Glockenblumen und Blut.
Keine Töne.
Wiggins kochte Tee, was an sich nichts Ungewöhnliches war, außer dass er dabei ziemlich geräuschvoll vorging: Die Teebüchse klapperte auf dem Regal, der Löffel klinkte gegen die Tasse, die Halbliterflasche Milch wurde auf den Schreibtisch geknallt, eine neue Packung Kekse aufgerissen. Wiggins wirkte bekümmert. Es war, als veranstaltete er diesen leichten Aufruhr, um seinen Kummer zu überspielen oder aber ihn deutlich kundzutun.
Jury war soeben zur Tür hereingekommen und deutete den leichten Aufruhr als Warnsignal. "Was ist los, Wiggins? Sie sehen ja aus, als wären Sie einem Gespenst begegnet. Oder aber Chief Superintendent Racer."
"Ich habe eine schlimme Nachricht, Sir." Er ließ zwei Teebeutel in die braune Kanne fallen, ohne Jury dabei anzusehen.
Die schlimme Nachricht betraf ganz klar Jury. Er musste sofort an Mrs. Wasserman denken, die mittlerweile in den Achtzigern und die einzige potentielle Kandidatin für schlimme Nachrichten war. "Was?"
Wiggins antwortete nicht gleich.
"Na los, Wiggins. Ich glaube, ich kann damit fertig werden."
Wiggins schaltete den elektrischen Wasserkocher aus. "Ich fürchte ^ hmm, es geht um Ihre Cousine, Sir. Ihre Cousine - ist gestorben."
Einen kurzen, irrwitzigen Augenblick lang wusste Jury nicht, wovon Wiggins überhaupt redete. Er stand noch an der Tür, als setzte ihn die Todesnachricht außerstande, sich zu bewegen, bis ihm plötzlich die Cousine einfiel und die Welt sich erneut zu drehen begann. Seine Cousine oben im Norden, in Newcastle-upon- Tyne.
"Mein Beileid, Sir. Ich mache Ihnen hier gerade eine schöne Tasse Tee."
Als ob Wiggins das nicht sowieso täte, Todesfall hin oder her. Jury musste fast schmunzeln über diese Wiggins'sche Antwort auf alle Eventualitäten des Lebens. Noch im Mantel setzte er sich hin, machte den Mund auf, sagte jedoch nichts.
"Ihr Mann hat angerufen, wie heißt er -"
"Brendan."
Wiggins goss Milch in die großen Henkeltassen. "Genau. Am Samstag sei die Beerdigung, sagte er." Um sich eine nützliche Aufgabe zu verschaffen, überprüfte er seinen Schreibtischkalender. "Das wäre der sechste März." Er reichte Jury seinen Tee.
"Danke."
Vermutlich um eine Einschätzung des Ausmaßes von Jurys Trauer bemüht, erkundigte sich Wiggins: "Sie hatten nicht viel Kontakt, oder? Ich meine, so weit dort droben in Newcastle, das ging ja gar nicht. Ich hatte immer den Eindruck, sie war Ihnen irgendwie fremd."
Jury hatte beide Hände wärmesuchend um den Henkelbecher gelegt. "Stimmt." Er überlegte. "Ihr Vater, also mein Onkel, nahm mich damals zu sich, als meine Mutter starb. Er war ein großartiger Mensch. Sie ist seine Tochter. Sie war nie so wie er, sie konnte mich nie richtig leiden -" Aber stimmte das denn? Brendan hatte genau den gegenteiligen Eindruck gewonnen: dass sie Jury nämlich sehr mochte und stolz war, dass er bei New Scotland Yard so ein hohes Tier war. Er rieb sich die Stirn. Würde er seine Meinung von ihr womöglich revidieren müssen?
"Aus Eifersucht, würde mich nicht wundern", sagte Wiggins und blies auf seine Henkeltasse. "Weil ihr Dad Sie aufgenommen hat und das alles. Er muss Sie wirklich sehr gemocht haben."
"Stimmt." Seine Cousine aber bestimmt nicht. Ihre Gespräche mit Jury waren oft mit scharfen Bemerkungen gespickt und (so vermutete er) voller Lügen. Er sagte: "Als ich sie das letzte Mal besuchte, schauten wir uns Fotos an, alte Schnappschüsse und so, und dabei brachte sie mich völlig durcheinander. Dinge, von denen ich glaubte, sie wären passiert, hatten sich überhaupt nicht zugetragen, behauptete sie. Am Ende wusste ich überhaupt nicht mehr, woran ich bin."
"Hört sich so an, als wollte sie Sie auf die Palme bringen."
"Vielleicht. Der Gedanke kam mir auch, oder Brendan hatte etwas in der Richtung gesagt. Meine Güte, man sollte wenigstens meinen, dass auf die eigenen Erinnerungen Verlass ist." Er nahm einen großen Schluck Tee und stellte den Henkelbecher auf Wiggins' Schreibtisch ab. "Ich gehe ein bisschen nach draußen. Ich brauche frische Luft."
Er überquerte den Broadway in Richtung St. James' Park. Dort ließ er sich auf einer Bank nieder. Ihr Tod traf ihn wirklich. Hoffentlich hatte sie nicht zu sehr leiden müssen. Er hatte schon zu viele Menschen qualvoll sterben gesehen - von Schusswunden, Messerstichen verletzt. Manchmal sahen sie einen noch kurz davor mit angsterfülltem Blick an. Jury hatte gar nicht gewusst, dass sie krank gewesen war.
Er mochte sich einreden, dass er seine Cousine ohnehin selten gesehen hatte und ihr nicht sehr nahe stand und sie sich eigentlich nie so recht gemocht hatten. Das funktionierte vielleicht im Leben, im Tod funktionierte es nicht. Der änderte wahrscheinlich sowieso alles. Irgendwie schaffte es der Tod, einem die Stützen wegzustoßen, die sorgsam aufgebauten Abwehrvorrichtungen zu zerschlagen. Zu welchen einfachen Schlussfolgerungen er im Hinblick auf Sarah auch gekommen war, sie waren ihm mittlerweile ebenso suspekt wie die Ereignisse während seiner Kindheit. Denn vielleicht hatte sie ihn gar nicht angelogen. Vielleicht war er tatsächlich noch ein Baby gewesen, als seine Mutter gestorben war, und nicht der Fünfjährige, der versucht hatte, sie aus den Trümmern ihres ausgebombten Wohnhauses zu zerren.
Wie hatte er sich bloß so irren können? Was war mit den Kindern, die er in Schuluniformen hatte zur Schule trotten sehen? Damals wäre er am liebsten mit ihnen gegangen, nicht wahr? Und was war mit Elicia Deauville? Sie musste doch im Zimmer nebenan getanzt haben. Vielleicht war es ja ein anderes Zimmer, ein anderes Nachbarhaus, zu einer anderen Zeit.
Nein. Sicher hatte Sarah sich das ausgedacht. War doch typisch für sie, oder -?
Er erhob sich von der Bank und ging auf dem Gehweg weiter, die Hände wie ein alter Mann auf dem Rücken verschränkt. Und so fühlte er sich auch. Seine Cousine war zwar älter gewesen als er, aber nicht um so viel älter, dass er sie hätte einer "anderen Generation" zuordnen können.
Hör auf, immer nur an dich zu denken, befahl er sich. Es gab schließlich noch Brendan und die Kinder, alle erwachsen außer dem Baby, dem Baby der Tochter, die unverheiratet bei ihren Eltern wohnte, wo Mutter sich um das Enkelkind gekümmert hatte, während ihr kokettes Töchterchen sich herumtrieb. Na, das musste sich ja jetzt wohl am Riemen reißen, was? Hätte es schon von vornherein tun sollen - O Gott, diese Krittelei! Wieso hackte er eigentlich dauernd darauf herum? Doch wohl nur, um sich abzulenken und vor der Erkenntnis zu drücken, was all das zu bedeuten hatte?
Das war es: Eine Leere hatte sich aufgetan, die er nicht hatte kommen sehen, und nun wusste er nicht, wie er sie füllen sollte. Und das alles wegen des Todes einer Cousine, die er gar nicht richtig gekannt hatte. Eine fordernde, verbitterte, verlogene Frau, die ihren Mitmenschen keine Freude war, und doch ^ Sie war das Ende, abgesehen von ihm selbst. Sie war die Letzte gewesen, die Einzige, die seine Erinnerungen geteilt hatte, die Letzte, die teilgehabt hatte an diesem Bild von seiner Kindheit. Sie war die Letzte, bei der er nachfragen konnte, und ob sie nun log (sie würde es bloß Hänselei nennen) oder nicht, war eigentlich unerheblich.
Jury blieb stehen. Seltsam. Vielleicht war es unerheblich, weil sie die Wahrheit sehr wohl kannte. Nun kannte sie außer ihm selbst keiner mehr. Irgendwie überkam ihn plötzlich das Gefühl, die Wahrheit wäre verschwunden und hätte die Vergangenheit mitgenommen.
Er war inzwischen weitergelaufen und bis Green Park gelangt, wo er sich wieder auf eine Bank setzte. Drüben am anderen Ende lag ein Teil des Daily Express. Er zog ihn herüber und warf einen Blick auf das Datum. Zweiter März. Er schob die Zeitung beiseite, die heimischen Tagesnachrichten interessierten ihn nicht, auch nicht die königliche Familie oder David Beckham und auch nicht die Jahrhundertwende.
Er sollte zurück ins Büro gehen und Brendan anrufen. Der Arme wusste bestimmt gar nicht, wo ihm der Kopf stand. Was sollte er bloß mit dem Baby machen? Urgroßeltern gab es nicht in der Familie, jedenfalls nicht auf ihrer Seite. Vielleicht auf Brendans, vielleicht droben in County Cork.
Jury war klar, dass er ihn anrufen musste. Doch er blieb sitzen, vornüber gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und brütete vor sich hin: Er dachte an seinen letzten Besuch vor drei Monaten, seinen Ärger über ihre Sticheleien und Widersprüche und ihre Schadenfreude, weil sie mehr in Erinnerung behalten hatte. Schließlich war Jury damals noch so klein gewesen (hatte sie behauptet), bestimmt könne er sich an überhaupt nichts erinnern. Im Gegensatz zu ihr.
Als er auf den Park hinausblickte, kam ihm eine Gedichtzeile in den Sinn: Ihr Grün ist eine Art von Traurigkeit. Er sah hinaus in den trüben Märztag. Plötzlich kam ihm die Idee, einen Blumenladen zu suchen und der Familie Blumen zu schicken, doch er wusste nicht, wohin er sie schicken sollte, zu welchem Bestattungsinstitut. In die Wohnung lieber nicht, Brendan war kein besonders guter Hausmann, abgesehen davon, dass er jetzt ganz andere Sorgen hatte. Die Blumen würden wohl ohne Wasser vor sich hinwelken, bis er sie wegwarf. Vielleicht würden sie ihn sogar nerven.
Trotzdem verspürte Jury das Bedürfnis, etwas zu tun. Er wollte etwas wieder gutmachen, wusste aber nicht, was. Vielleicht, dass er das Kind gewesen war, das sein Onkel hätte haben wollen, oder vielleicht, dass er Sarah in Bedrängnis gebracht hatte, als er das letzte Mal dort gewesen war, vor Weihnachten, oder vielleicht, weil er derjenige war, der noch atmete und sie nicht.
Bald wäre Frühling, obwohl der Tag noch düster und verhangen aussah. Wieder musste er an Larkins Gedicht denken; Die Bäume setzen wieder Knospen an/Wie etwas fast Gesagtes. Er mochte Gedichte, bevorzugte aber die Offenheit und Direktheit eines Larkin oder Robert Frost. Im Grunde genommen waren Gedichte jedoch nie direkt, sie kamen einem nur so vor. Wie etwas fast Gesagtes. Das hätte er nie in andere Worte kleiden können, und doch war ihm klar, dass er damit der Wahrheit so nahe kam, wie er nur irgend konnte.
Er hatte sie ja nicht einmal gemocht, sagte er sich immer wieder. Woher kam aber dann diese Enge in der Brust, dieses erstickende Gefühl (er war übrigens froh, dass Wiggins nicht da war und ihn beobachtete)?
Urplötzlich überkam ihn die Erinnerung an Jenny Kennington, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, wie sie die Treppe ihres Hauses in Littlebourne heruntergelaufen kam, eine schwerverletzte Katze auf dem Arm. Obwohl sie Jury überhaupt nicht kannte, ließ sie sich von ihm zum Tierarzt fahren. Sie redete über den Kater, der ihr gar nicht gehörte, sondern herrenlos und wahrscheinlich von einem Auto angefahren worden war. Ich kann das Vieh nicht mal leiden, hatte sie gesagt, als es schließlich sicher in den Händen des Tierarztes war. Gleich mehrmals hatte sie Jury versichert, ich kann das Vieh nicht mal leiden.
Ja, ja, dachte er. Sagst du so.
Er ging die Piccadilly hinunter und betrat Fortnum & Mason, wo immer eine anheimelnd chaotische Stimmung herrschte. Jeder (denn schließlich ging jeder zu Fortnum's!) war geradezu überwältigt von den Auslagen mit Gänseleber, Käse und Prosciutto, der so hauchdünn geschnitten war, dass man hindurchsehen konnte. Das wunderbare, schwarzbekittelte Personal, die glänzenden Früchte, die ineinander verschwimmenden Düfte von Tee und Zitrusfrüchten und Geld.
Danach zu Hatchards, in eine Buchhandlung, die nach Büchern roch - nach Leder, Wachs, dunklen Holzmöbeln und -paneelen. Eine Atmosphäre, ein sinnliches Erlebnis, an die der gigantische Waterstones ein Stück weiter nicht einmal entfernt heranreichte.
Er ging weiter, blieb bisweilen stehen, an einem Kiosk erstand er einen Telegraph, den er später ungelesen in einen Mülleimer warf. Wie war er eigentlich bis zur Oxford Street gelangt? Bei Selfridges warf er einen Blick ins Fenster. Die gesichtslosen Schaufensterpuppen schienen zu wissen, dass es im Fenster nicht viel zu gucken gab, kein Vergleich mit Fortnum's. In ihren Sommerfähnchen der kommenden Saison, die so dünn waren, dass ein Windstoß sie wegwehen könnte, hielten sie die Köpfe geneigt oder leicht vorgereckt, als suchten sie nach einem Ausgang. Auf dem Bürgersteig verkaufte ein Jamaikaner seine illegale Ware, ein gewitzter Kerl, aber nicht so gewitzt, dass er Jurys Polizistenaura bemerkt hätte: Räucherstäbchen, winzige Fläschchen mit Parfüm, das so berauschend war, dass man davon in der Wüste aus den Latschen gekippt wäre.
"Wird gefallen Ihre Frau, Mann, Ihre Freundin-Dame. Frauen mögen diese Zeug."
Jury erstand ein paar Räucherstäbchen und einen passenden kleinen Halter aus Stein.
Jedes Mal - bei der Zeitung, den Schaufensterpuppen, dem Straßenhändler - konnte er für ein paar Augenblicke vergessen, dass sie tot war. Doch dann war es sofort wieder da.
In den vergangenen Stunden hatte er mehr an seine Cousine Sarah gedacht als in den letzten zwanzig Jahren. Das war es, das Vermächtnis des Todes - jetzt war reichlich Zeit, über die vergeudete Zeit nachzudenken, die ungesagten Worte, die nicht miteinander geteilte Geschichte, bis es zu spät war. Es ist immer zu spät, hatte einmal jemand gesagt. Man kann nie genug getan haben, genug gesagt haben. Es war wie bei dem Bier, das immer viel zu schnell ausgetrunken war: die Witze über das hohle Holzbein, das Bierglas, das ein Loch haben musste. Der unstillbare Alkoholdurst. Für die Toten kann man nie genug tun. Man sucht Trost, aber es gibt keinen, hat es nie gegeben und wird es nie geben. Es gibt nur das allmähliche Abschleifen scharfer Kanten, damit man sich nicht bei jeder Bewegung hinterrücks überfallen fühlt, als sähe man die Toten plötzlich unverhofft um die Ecke biegen.
Eine Weile fuhr er auf der Piccadilly Line und stieg dann in King's Cross in die Northern Line um. Nur in der U-Bahn, dachte er, bekam man solche Gesichter zu sehen. Keines von denen sah glücklich aus, außer bei den Halbwüchsigen, die sich lärmend zusammengerottet hatten, doch selbst die wirkten in einem unbeobachteten Augenblick ziemlich jämmerlich.
Während die uralte Northern Line bei den Fahrgästen die Zähne klappern ließ, musterte er das Mädchen, das ihm gegenüber auf der anderen Seite des Durchgangs saß. Sie war schön, schien sich daraus aber nichts zu machen. Sie saß ordentlich da, die Hände auf den zusammengepressten Knien hielten eine kleine Tasche fest. Ihr langes, glänzendes Haar sah aus wie in einer Shampooreklame. In der Reihe von Werbeplakaten über ihrem Kopf warb eines für ein Erkältungsmittel, dort war ein Skifahrer abgebildet, der sich glückselig in einen Schneehaufen stürzte. Während der Zug dahinratterte, sah Jury einem alten Schokoriegelpapierchen zu, das sich auf dem Fußboden zwischen hohen Absätzen und abgestoßenen Stiefeln hin und her bewegte. Er sah es dahinschweben und musste dabei an sich und Sarah denken, wie sie als Kinder froh und einträchtig in einen Süßwarenladen gegangen waren. Aber dieses Bild hatte er sich selbst zusammengereimt - er bezweifelte, dass sie oft zusammen irgendwohin gegangen waren.
Ich kann das Katzenvieh nicht mal leiden.
Sagst du so.
Er stand auf und stieg an seiner Haltestelle - Angel - aus.
Die Dunkelheit hatte er registriert, während er die Regent Street entlanggegangen war, nicht aber die Uhrzeit. Es war beinahe zehn Uhr. Wo um alles in der Welt hatte er sich die ganze Zeit bloß herumgetrieben?
In Mrs. Wassermans Gartenwohnung brannte Licht, und gleich kam sie in ihrem alten Bademantel auch die Treppe herauf.
"Mr. Jury, jemand hat versucht, Sie zu erreichen. Carol-Anne sagte, ich solle Ihnen sagen, auf Ihrem Anrufbeantworter seien zwei Nachrichten. Von einem gewissen Bernard."
"Brendan?"
"Sie sagte Bernard."
Jury lächelte. "Carol-Anne hat manchmal Schwierigkeiten, meine Nachrichten richtig zu verstehen." Na, das konnte man wohl sagen. Besonders Nachrichten von weiblichen Personen.
Carol-Anne war schon immer der Ansicht gewesen, das einzige Leben, das Jury getrennt von ihr verbringen würde, war das im Jenseits. "Danke, Mrs. Wasserman." Er wandte sich in Richtung Treppe.
"Ist alles in Ordnung, Mr. Jury? Sie sehen blass aus."
Wie konnte sie das im Stockfinstern bemerken? Vielleicht hörte er sich einfach blass an. "Ja ^ Nein. Ich habe tatsächlich eine schlechte Nachricht bekommen. Meine Cousine ist gestorben. Brendan ist ihr Mann. Deshalb versucht er wohl, mich zu erreichen. Um es mir zu sagen."
"Das tut mir ja wirklich Leid. Jemanden aus der Familie zu verlieren, das ist das Schlimmste."
Es war, als wären alle Familienmitglieder für sie in jedem Einzelnen vereint. Und eines zu verlieren, bedeutete, alle zu verlieren. "Sie war die letzte Angehörige, die ich hatte. Jetzt gibt es nur noch mich."
"Ach je. Ach je." Sie raffte den Bademantel fester um den Hals zusammen. "Das ist furchtbar. Man kommt sich so abgeschnitten vor. Ich weiß, mir ging es genauso. Wie ein Luftballon habe ich mich gefühlt. Höher und höher ist er nach oben geschwebt. Und Schwermut hielt mich fest wie eine Gefangene."
Jury war überrascht. Mrs.Wasserman sprach nicht oft in Metaphern. "Das haben Sie aber gut ausgedrückt, Mrs. Wasserman. So ungefähr komme ich mir vor."
"Könnte ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee machen?"
"Das ist nett von Ihnen, aber ich glaube, ich bin zu müde. Ich bin heute viel gelaufen."
Sie schloss die Augen und nickte, offensichtlich war ihr die lindernde Wirkung von Fußmärschen vertraut.
"Also, dann sage ich Gute Nacht. Und danke für die Nachricht."
Sie trennten sich, und jeder ging in seine Wohnung.
Als er die Tür zu seiner Wohnung im ersten Stock aufschloss, vernahm er ein kurzes Bellen, eher ein leises Knurren. Es war Stone, Carol-Anne war demnach ausgegangen. Wenn sie zu Hause war, kümmerte sie sich immer um ihn. Das taten sie alle, wenn sie konnten. Manchmal nahm Stan den Hund mit, aber nicht, wenn er viel unterwegs sein musste.
Jury nahm Stans Schlüssel vom Haken, ging in den zweiten Stock hinauf und schloss auf. Stone kam nicht wie die meisten Hunde gleich herausgeschossen, denn Stone war genauso cool wie Stan. Das Höchste, was er zur Schau stellte, wenn er aufgeregt war, war leichtes Schwanzwedeln. Er folgte Jury die Treppe hinunter, blieb dann aber in dessen Wohnung stehen, bis ihm bedeutet wurde, was er tun sollte. Er besaß die Geduld und Selbstbeherrschung dieser Gestalten in weißen Clownskostümen mit weiß bemalten Gesichtern, die bemerkenswert still standen, reglos wie Standbilder, für die sie von den Vorübergehenden ja auch gehalten wurden.
Jury holte den Knochen aus Rohhaut und legte ihn unten an sein Stuhlbein hin. Stone ließ sich nieder und begann zu kauen. "Ich setze dann Teewasser auf."
Stone hörte auf zu kauen und sah zu Jury hoch.
"Willst du auch eine Tasse? Nein? Okay. Willst du was zu fressen?" Stone machte leise wuff. "Das heißt bestimmt ja. Okay."
Er ließ Stone ruhig weiterkauen, steckte den Wassersieder ein, schwenkte eine Henkeltasse aus und warf einen Teebeutel hinein. Das Teewasser kochte, kaum dass er für Stone eine Dose Hundefutter in den Fressnapf gegeben hatte. Er rief den Hund, goss dann Wasser über den Teebeutel und ließ ihn ziehen, während er Stone beim Fressen zusah. Als das langweilig wurde, warf er den Teebeutel ins Spülbecken und ging zu seinem Sessel im Wohnzimmer. Er starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Gleich darauf stand er wieder auf und wühlte in seiner Manteltasche nach den Räucherstäbchen.
... weniger
Autoren-Porträt von Martha Grimes
Martha Grimes, geb. in Pittsburgh, USA, studierte Englisch an der University of Maryland. 2012 wurde Grimes von den 'Mystery Writers of America' als 'Grand Master' ausgezeichnet. Sie lebt in Washington und in Santa Fe. Martha Grimes gilt vielen als 'der unumstrittene Star des Kriminalromans' (Newsweek). Im Jahr 2012 wurde sie mit dem Edgar Award ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martha Grimes
- 2008, 444 Seiten, Maße: 11,6 x 18,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Walter, Cornelia C.
- Übersetzer: Cornelia C. Walter
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442465729
- ISBN-13: 9783442465729
Rezension zu „Karneval der Toten / Inspektor Jury Bd.19 “
"Martha Grimes ist einfach eine großartige Schriftstellerin!" New York Times Book Review
Kommentare zu "Karneval der Toten / Inspektor Jury Bd.19"
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Karneval der Toten / Inspektor Jury Bd.19".
Kommentar verfassen