Kinder des Feuers
Historischer Roman. Originalausgabe
Als das Kloster Saint-Ambrose überfallen wird, gibt es nur zwei Überlebende: Matilda, die einst als Waisenkind im Kloster eine Heimat fand, und den jungen Arvid, der als Verwundeter dort gepflegt wurde. Doch um ihrer beider Herkunft gibt es ein...
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Produktinformationen zu „Kinder des Feuers “
Als das Kloster Saint-Ambrose überfallen wird, gibt es nur zwei Überlebende: Matilda, die einst als Waisenkind im Kloster eine Heimat fand, und den jungen Arvid, der als Verwundeter dort gepflegt wurde. Doch um ihrer beider Herkunft gibt es ein Geheimnis – und ihre Angreifer sind ihnen auf den Fersen.
Klappentext zu „Kinder des Feuers “
Normandie, im Jahr 936: Als das Kloster Saint-Ambrose überfallen wird, finden alle Ordensfrauen den Tod. Einzig Mathilda, die vor vielen Jahren als Waisenkind im Kloster eine Heimat fand, und dem jungen Arvid, der dort ob seiner Verwundung gepflegt wurde, gelingt die Flucht. Doch die Angreifer verfolgen sie. Denn um ihrer beider Herkunft gibt es ein großes Geheimnis ...Julia Kröhn schreibt mit außergewöhnlicher Erzählstimme: dicht und atmosphärisch.
Lese-Probe zu „Kinder des Feuers “
Kinder des Feuers von Julia Kröhn Vorbemerkung
Seit dem neunten Jahrhundert suchen Wikinger aus Dänemark und Norwegen den Norden des Westfrankenreichs heim. Um der steten Bedrohung Herr zu werden, wird im Jahr 911 dem Wikingerführer Rollo ein Stück Land abgetreten: die spätere Normandie. Dafür schwört Rollo dem fränkischen König den Lehnseid und lässt sich taufen.
In der benachbarten Bretagne fallen immer wieder Wikinger ein, doch anders als Rollos Gefolge setzen sie nicht auf Anpassung an die christlich-fränkische Kultur, sondern bleiben heidnisch.
Im Jahr 936 ist die Normandie ein eigenes Herrschaftsgebiet und wird mittlerweile von Rollos Sohn Graf Wilhelm regiert, der von den fränkischen Nachbarn als ebenbürtig anerkannt ist.
In der Bretagne ist es Alanus Schiefbart, einem Nachfahren der christlichen Könige der Bretagne, gelungen, das Gebiet größtenteils von den Wikingern zurückzuerobern.
Wird die Normandie auch künftig ein »Nordmännerland« bleiben? Und kann Alanus Schiefbart dauerhaft verhindern, dass auch die Bretagne zu einem solchen wird?
An der bretonischen Küste im Jahr 936
Ihre Welt war arm an Farben: Da war das milchige Blau des Himmels, das dunstige Grau des Meeres, das rötliche Braun der Felsen, das schmutzige Weiß der Gischt. Der kreisrunde Wall aus über die Jahre verwittertem Holz, der inmitten dieser Einöde aufragte, bot kaum Schutz, und wenige Stöße hätten gereicht, den Wehrgang zum Einsturz zu bringen, doch immerhin kündete er vom Wirken menschlicher Hände.
... mehr
Die Krieger erweiterten ihn gerade. Sie hatten ihre Waffen beiseitegelegt und schleppten Holz und Steine, einmal mehr bekundend, dass sich bei den Nordmännern niemand zu schade war, sich die Hände schmutzig zu machen. Sie arbeiteten entschlossen und trotzten dem Wissen, dass, was immer man hier errichtete, bald erneut von Wind und Meer zerfressen sein würde.
Hawisa sah den Männern gern beim Arbeiten zu. Jede Tat zupackender Hände, war sie auch noch so sinnlos, bestätigte, dass auf der Welt nur bestand, wer um Veränderung rang, anstatt sich aufs Abwarten zu verlegen.
Die zwei Männer, die eben zu ihr traten, arbeiteten nicht - das taten sie nie. Sie machten nur mit Worten Mut, die Heimtücken des Lebens zu ertragen und unbeirrt an ihrem Vorhaben festzuhalten - heute jedoch nicht einmal das. Stattdessen berichteten sie, dass Hasculf mit seiner Truppe zurückgekehrt war und Nachrichten brachte und dass diese Nachrichten keine guten waren.
Hawisa spannte sich kaum merklich an.
»Schon wieder sind zwei Städte gefallen«, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. »Allerorts unterwerfen sich die Menschen Alanus Schiefbart und begrüßen ihn mit lautem Jubel.«
»Das sind keine Menschen«, knurrte Hawisa, »das sind nur blökende Schafe.«
»So oder so sind wir hier nicht länger in Sicherheit.«
Der Mann, der zu ihr sprach, war blind. In der Sprache des Nordens hätte man ihn eigentlich Blindur nennen müssen, den Blinden, aber er bestand darauf, dass man ihn Dökkur rief, den Dunklen. Der Name passte zu ihm - nicht nur, weil seine Welt in Dunkelheit versunken war, sondern weil seine furchteinflößende Erscheinung vermittelte, er könnte kraft seines Willens sogar die Sonne dazu bringen, sich zu verstecken. Er war sehr groß und dürr, hatte schwarzes Haar, das verfilzt über seinen Rücken hing, und einen langen, ebenso ungepflegten Bart. Seine Nase war spitz, die Lippen schmal. Dökkur war nicht blind geboren worden, nach einer verlorenen Schlacht einige Jahre zuvor hatte man ihm die Augen ausgestochen. Mal trug er eine Binde über den Narben, die dunklen Löchern glichen, mal zeigte er sie jedem, um daran zu mahnen, wie schnell sich das Schicksal wenden konnte: Eben noch ein tapferer Krieger, hochgeboren und willens, das Erbe seines Bruder anzutreten, war er nun nicht länger fähig, zu kämpfen und zu führen.
Hawisa graute es vor seinem Anblick, doch während er andere verängstigte, erweckte er in ihr vor allem Trotz. So tief wie er wollte sie nie fallen.
»Ich fühle mich sicher hier«, erklärte sie.
»Trotzdem - wir sollten fliehen.«
»Ich werde nicht gehen. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«
Sie verbarg das Zittern in ihrer Stimme. Tagsüber gab sie sich gefasst, nur nachts hielt die Angst sie wach. Nicht die Angst vor dem Tod, sondern die davor, dass sie vor diesem Tod ihre Ziele nicht mehr erreichte, dass sie ihrem Leben keinen Sinn mehr geben konnte und ihr Name der einer Frau blieb, die gescheitert war, anstatt ein Reich zu erobern, zu einen und zu stärken. Seit einem Jahr begleitete sie diese Angst. Seit einem Jahr herrschte Krieg in der Bretagne.
»Hoffnung, du sprichst von Hoffnung?« Dökkur sprach das Wort verächtlich aus. Seine Kiefer knirschten, als wollte er es zermalmen.
Das ist aus uns geworden, dachte sie. Verspreche ich ihnen, morgen im eigenen Blut zu ersaufen, sie würden ihr Schicksal schultern wie die Männer am Wall die Baumstämme - fleißig, ohne zu murren, geübt zu ertragen. Verspreche ich ihnen hingegen Hoffnung, wirft man mir vor, sie zu verhöhnen.
»Ich weiß . . . ich weiß . . . die Bretagne bricht immer mehr auseinander.«
»Und jetzt ist auch noch Nantes an Alanus gefallen.«
Hawisa schloss die Augen. Nantes. Das sollte ihre Hauptstadt sein, nicht die des Widersachers.
Nun schaltete sich der Mann ein, der mit Dökkur zu ihr getreten war. Bis jetzt hatte er mit verschlagenem Gesicht gelauscht. Er war ein ehemaliger Mönch und seit Jahren ihr Sklave, doch er verhielt sich nicht unterwürfig wie ein solcher, sondern stets spöttisch. Meine Freiheit könnt ihr mir nehmen, schien er mit jedem Wort, mit jeder Geste zu sagen, aber meine Klugheit nicht.
»Alanus ruft alle Bretonen zu den Waffen, um ihn bei seinem Kampf zu unterstützen - die Grafen, Vizegrafen und die Machtierns, die Gemeindevorsteher. Es heißt, dass er an dem Tag, da er Nantes endgültig zurückerobert hat, eigenhändig den Weg zur Kathedrale mit Schwerthieben freigeschlagen hat. Im Turm hat er sich sein Quartier errichtet.«
Bruder Daniel sprach mit näselnder Stimme, gleich so, als hocke etwas Zähes in seiner Kehle, das ihn schwer atmen und nie laut werden ließ. Er stand stets mit geducktem Kopf da, wirkte aber nicht schwach und ängstlich, sondern bösartig.
Hawisa wandte sich ab, blickte auf das Meer und die hohen Felsen. Hier über die Klippen zu fallen hieß zu sterben. Der Stein war so glatt, als wäre er von Menschenhand gehauen. Möwen hatten die Klippen kreischend in Besitz genommen und trotzten dem Wind.
So ist die Natur, dachte Hawisa. Sie baut in unwegsamer Gegend unverwüstliche Burgen aus Stein, die noch in Hunderten von Jahren bestehen werden, während unser Wall schon morgen niedergerissen und abgebrannt werden könnte.
»Wie sollen wir ob all dieser Nachrichten noch Hoffnung haben?«, fragte Dökkur.
Hawisa antwortete nicht, sondern blickte Hasculf entgegen, jenem Krieger, der zuvor die Nachrichten überbracht hatte und jetzt auf sie zukam. Sein Gesicht war nicht finster wie das von Dökkur und bösartig wie das von Bruder Daniel, sondern vollkommen ausdruckslos.
»Ich bringe nicht nur Neuigkeiten von Alanus Schiefbart«, erklärte Hasculf, »sondern auch Neuigkeiten von . . . ihr.« Er hielt einen Moment feierlich inne. »Wir haben Mathilda gefunden. «
Wie immer zeigte sich Hawisa beherrscht. Sie zuckte nicht freudig zusammen, triumphierte nicht und brach auch nicht in Tränen aus, die von jahrzehntelangem Leid kündeten. Lediglich ein stilles Lächeln erschien auf ihren Lippen, als Hasculf nun von dem Kloster erzählte, in dem Mathilda lebte.
»Es ist dem heiligen Ambrosius geweiht«, schloss er, »und es liegt einsam inmitten von Wäldern.«
»Seht ihr!« Hawisa konnte ihre Begeisterung nicht länger zurückhalten. Sie wandte sich an Dökkur und Bruder Daniel. Der eine hatte sein Augenlicht verloren, der andere seine Freiheit, aber sie, sie würde nicht verlieren. »Es wird sich alles zum Guten wenden, jetzt, da wir Mathilda gefunden haben. Ihre ruhigen Tage im Kloster sind gezählt.«
I. Kloster Saint-Ambrose
Mathilda sog tief den salzigen Geruch des rauschenden Meeres und zugleich den durchdringend süßen der bunten Blumen in sich ein. Wie ist es möglich, dachte sie, dass diese an einem Ort wachsen, an dem der Boden sandig und felsig ist und stets ein rauer Wind weht? Kann es tatsächlich einen Ort geben, der salzig und süß zugleich ist, schroff und zart, karg und farbenprächtig?
Das Glitzern des Meeres blendete sie, sodass sie die Augen schließen musste, als sie über die Blumenwiese direkt dem blonden Mann mit der gegerbten Haut entgegenlief, der dort groß und stolz am Ende der Klippe stand. Er wartete auf sie, bereit, sie aufzufangen, in die Luft zu werfen und dann, wenn sie vor Lachen kreischte, an seinen gestählten Körper zu pressen. Seine Hände würden über ihr Gesicht streicheln, Hände, die grob sein konnten, aber auch zärtlich und liebevoll.
Doch ehe Mathilda den Mann erreichte, spürte sie plötzlich eine Veränderung. Sie konnte den Geruch des Meeres und den der Blumen nicht mehr wahrnehmen. Erschrocken schlug sie die Augen auf, und das Lächeln schwand von ihren Lippen. Ein heiserer Schrei entfuhr ihrem Mund, denn sie erblickte anstelle des blonden Mannes das Gesicht einer Fremden. Sie schrie erneut auf, als Hände nach ihr fassten, ihre Schultern umklammerten, sie rüttelten.
»Mathilda! Was ist mit dir? Hast du schlecht geträumt?«
Nein, dachte sie, ich habe nicht schlecht geträumt, nur zu kurz. Im entscheidenden Augenblick wurde ich geweckt . . . ich konnte mich nicht mehr in die Arme des blonden Mannes retten ...
Dann ging ihr auf, dass das Gesicht, in das sie starrte, nicht das einer Fremden war, sondern das von Schwester Maura, einer Nonne, wie sie eine war. Sie schlief im Dormitorium auf dem Strohsack neben ihr und verbrachte viele Stunden des Tages an ihrer Seite. Maura war eine Vertraute, deren Namen sie kannte. Den des blonden Mannes, gleichwohl auch er im Traum so vertraut gewirkt hatte, kannte sie nicht, desgleichen konnte sie den Namen des Ortes nicht benennen, an dem Blumen inmitten der Klippen am Meer wuchsen. Und warum trieb ihr die Sehnsucht Tränen in die Augen?
Das Licht, das durch die Luken ins Innere sickerte, war noch matt. Mathilda fühlte Mauras nachdenklichen Blick auf sich ruhen und wandte sich rasch ab. Durch die dicken Mauern des Dormitoriums hörte sie die Glocke läuten. Die Glocke läutete oft, sieben Mal am Tag.
»Du hast verschlafen«, murmelte Maura.
Mathilda fühlte keine Sehnsucht mehr nach dem Ort, der ihr immer fremder wurde, je mehr Leben in ihre steifen Glieder zurückkehrte. Scham stieg in ihr auf, denn sie erlaubte sich nur ungern eine Schwäche.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Ich wecke dich doch jetzt!«
»Zu spät, wie's scheint!«
Maura zuckte die Schultern. Sie nahm es mit den Klosterregeln nicht ganz so genau, schon oft hatte sie verschlafen und hinterher nie jene Reue gezeigt, die Mathilda jetzt überkam.
»Sei nur ganz ruhig«, tröstete sie. »Nach der Aufregung der letzten Tage meinte die Äbtissin, du solltest dich ausruhen. Sie selbst hat mich davon abgehalten, dich zu wecken.«
Mathilda seufzte. In der Tat - in den letzten Tagen war mehr geschehen als in ihrem ganzen sechzehn Jahre währenden Leben zuvor. Einem Leben, das sie fast ausschließlich im Kloster zugebracht und Gott geweiht hatte. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, als sie hergebracht wurde, von wem und warum, war immer bedeutungslos gewesen - zumindest, ehe sie begonnen hatte, von der Blumenwiese und von dem blonden Mann zu träumen und sich zu fragen, ob dies Ausgeburten ihrer Fantasie waren. Oder vielleicht Erinnerungen?
»Endlich ist wieder Frieden eingekehrt«, sagte Mathilda.
Sie erhob sich, fühlte sich aber nicht wirklich ausgeruht. Ihr Kopf schien zu schwer, und die Zunge war trocken. Als sie an Maura vorbeigehen wollte, hielt diese sie auf. »Du hast im Traum übrigens eine fremde Sprache gesprochen«, sagte sie.
Die junge Nonne war verwirrt. »Welche Sprache?«
»Hätte ich fremd gesagt, wenn ich sie verstanden hätte?«
Mathilda zuckte die Schultern und machte sich von Maura los. »Ich spreche Fränkisch und Latein«, erklärte sie entschieden, »sonst nichts. Das Sprechen habe ich doch erst hier erlernt.«
Der bittere Geschmack in ihrem Mund verging, aber die Verwirrung begleitete sie den ganzen Tag hindurch. Hier im Kloster war auf keinerlei Ablenkung zu hoffen. Für gewöhnlich war es zwar das beschauliche Gleichmaß der Tage, was sie an ihrem Leben am meisten schätzte, doch heute fand sie nicht einmal bei der Lektüre Besänftigung für ihr aufgewühltes Gemüt - weder bei der gemeinschaftlichen noch bei der persönlichen. Die übliche Neugier, welches Buch oder welchen Bibeltext man ihr zuteilen würde, auf dass sie später darüber Bericht erstattete, blieb aus.
Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, obwohl sie gern schrieb und noch lieber las. Nur selten beklagte sie sich über einen schmerzenden Rücken. Zwar hätte sie nie von sich aus das Skriptorium als jenen Ort erkoren, wo sie ihre Talente am besten leben konnte, aber als die Magistra sie dafür bestimmte, hatte sie es hingenommen. Sie war dankbar dafür, nicht stolz darauf - Stolz war schließlich eine Sünde, ihr Talent hingegen ein von Gott geschenktes, wenn auch ein seltenes. Es kam nicht oft vor, dass Gott Frauen mit der Gabe des Verstandes überreich ausstattete. Wenn es aber geschah - so schrieb es der heilige Hieronymus an seine Schülerin Laeta -, dann möge man es fördern, die Frauen nicht nur Spinnen, Weben und Schneidern zu lehren, sondern auch Lesen und Schreiben. Nicht zum Selbstzweck natürlich, sondern auf dass sie die Heiligen Schriften erlernen und verstehen würden.
Heute lernte und verstand Mathilda nichts. Die Lektürestunden vergingen, ihr Geist jedoch blieb leer. Später saß sie hinter dem Schreibpult, aber ihre Hand war wie gelähmt. Vor kurzem noch hatte sie sich über die Auszeichnung gefreut, nicht länger nur auf Wachstäfelchen schreiben zu müssen, sondern auch Pergament benutzen zu dürfen. Ehrfürchtig hatte sie darübergestrichen, sich vorgestellt, diese Seiten nicht nur mit Texten, sondern auch mit kunstvollen Zeichnungen zu versehen - so wie die Nonnen im berühmten Chelles, die im ganzen Land für ihre Bücher bekannt waren. Der Erzbischof von York hatte von ihnen gar ein Evangeliar mit goldener Farbe auf Purpurpergament schreiben lassen. Saint-Ambrose war zu arm, hier schrieben die Nonnen nicht mit Gold auf Purpur, aber Mathilda hatte sich oft gefragt, wie dergleichen wohl aussah.
Sie ließ ihren Blick durchs Skriptorium kreisen und versuchte, die Fragen zu verscheuchen, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten, aber es gelang ihr nicht.
Wer bin ich? Woher stamme ich? Wer sind meine Eltern?
Die Schwestern, die im Skriptorium ihren Dienst versahen, waren nicht nur ihres Talentes wegen dafür auserwählt worden, sondern auch wegen ihrer hohen Abstammung. Je wohlhabender die Eltern waren, desto größeren Wert legten sie darauf, dass ihre Töchter nicht zu den niederen, sondern zu den angenehmeren Diensten im Kloster beordert wurden. Sie aber, Mathilda, wusste nicht einmal, wer ihre Eltern waren. Sie mussten vornehm sein, denn alle Ordensschwestern in Saint-Ambrose entstammten dem Adel, aber wie sie hießen und woher sie kamen, hatte sie nie erfahren. Früher hatte sie manchmal danach gefragt, aber keine brauchbare Antwort erhalten, man hatte ihr lediglich erklärt, dass, wer ins Kloster gehe, die alte Welt und sämtliche Bindungen hinter sich lasse und dass sie, als sie als kleines Mädchen ins Kloster kam, kein Wort gesprochen, sondern es erst hier erlernt habe.
Vielleicht war das eine Lüge, ging es ihr jetzt durch den Kopf, vielleicht habe ich sehr wohl gesprochen - in jener fremden Sprache aus dem Traum . . .
»Mathilda, wo hast du nur deine Gedanken?«
Mit schlechtem Gewissen blickte sie hoch. Die Magistra stand vor ihr, der die Erziehung und Ausbildung der jungen Mädchen oblag. Von ihr lernten sie Psalmen zu memorieren, erhielten Sprach-und Grammatikunterricht und wurden im Lesen und Schreiben unterwiesen.
»Es tut mir leid«, sagte sie hastig, »aber nach den Ereignissen der letzten Tage . . .«
Sie schämte sich sogleich, sich hinter diesem Vorwand zu verstecken, auch wenn es seine Wirkung nicht verfehlte. Die Magistra nickte hastig, suchte ihre eigene Aufgewühltheit zu verbergen und trat weg. Es stimmte, in den letzten Tagen war im Kloster viel Schreckliches geschehen, Mathilda erschauderte immer noch, wenn sie nur daran dachte. Nur an diesem Tag waren es nicht diese Ereignisse, sondern der Traum, der sie verwirrte. Allerdings, ging es ihr plötzlich durch den Sinn - vielleicht hatten die Träume sie nur deshalb heimzusuchen begonnen, weil ihr Gemüt so erschüttert war. Sie seufzte und entschied, wie sie die letzten Tage, vor allem aber den Traum, hinter sich lassen konnte: Sie musste mit der Äbtissin sprechen.
Doch schon als Mathilda nach dem kargen Mittagessen auf sie zutrat und um ein paar Worte bat, ging ihr auf, dass es ein Fehler sein könnte. Nach allem, was passiert war, war die Äbtissin nicht mehr sie selbst. Als einige Wochen zuvor jener verletzte junge Mann aufgetaucht und im Kloster gesund gepflegt worden war, war ihr gewohnter Gleichmut erschüttert worden, und als wenig später Krieger das Kloster überfallen hatten, hatte sie endgültig die Fassung verloren, sich die Schuld an allem gegeben und ihren Rücktritt verkündet. Die Männer hatten das Kloster nicht erstürmen können, waren vielmehr selbst durch Feindeshand gestorben - oder durch göttliches Eingreifen, Mathilda wusste es nicht so genau -, und die Äbtissin hatte ihr Amt behalten. Der geheimnisvolle Mann jedoch, Arvid mit Namen, der dies alles ausgelöst hatte, war immer noch im Kloster, und die Äbtissin wirkte immer noch verwirrt.
Nur zögernd stellte Mathilda ihr die Frage, die auf ihrer Seele lastete. »Denkt Ihr«, setzte sie unwillkürlich an, »denkt Ihr, ehrwürdige Mutter, mein Wille ist fest genug?«
Die Äbtissin sah an ihr vorbei. »Was meinst du?«
»Nun, meine Profess steht bald bevor!«
Nicht jede Nonne legte ihr Gelübde, keusch und arm zu bleiben, öffentlich und die Hand auf der Benediktregel ruhend ab. Viele lebten einfach in der Gemeinschaft, fügten sich den Geboten des Klosters und trugen die schwarze Kleidung als Zeichen von Enthaltsamkeit und Demut so lange, bis alle Welt sie als Nonne betrachtete. Mathilda aber hatte sich immer eine feierliche Profess gewünscht und die letzten Monate darauf hingelebt. Sie kannte kein anderes Leben als dieses, also war es das schönste, das sie sich vorstellen konnte, und sich laut und vor der Gemeinschaft dazu zu bekennen, würde ein Fest sein.
Die Äbtissin blickte sie jetzt verständnislos an. »Deine Profess . . .«
»Es könnte doch sein«, erklärte Mathilda ihre Sorge, »dass der Teufel die verbleibende Zeit vor meiner Profess benutzt, um meiner Seele habhaft zu werden. Viele fromme Menschen haben davon berichtet, dass sie gerade vor dem Eintritt ins Kloster Anfechtungen ausgesetzt waren.«
»Du lebst schon so lange im Kloster, Mathilda«, sagte die Äbtissin noch immer ein wenig abwesend. »Auch wenn du die Profess noch nicht abgelegt hast, beweist du jeden Tag die Tugenden einer Ordensschwester. Warum sollte der Teufel ausgerechnet jetzt eine Schwäche wittern?«
»Ich weiß nicht«, stammelte Mathilda, »ich weiß nur . . .«, sie biss sich auf die Lippen, zögerte kurz, ». . . ich hatte heute in der Nacht einen merkwürdigen Traum.«
»Und wovon hast du geträumt? Häufig sind Träume Botschaften von Gott, denk an Joseph in Ägypten.«
»Aber ich habe auch gelesen, dass der Teufel Träume nutzt, um die Seele des Menschen zu verwunden. Der Schlaf schwächt den Willen, seinen Verführungen zu trotzen. Ich will das nicht!« Heftig brach es aus Mathilda hervor: »Ich will nicht wissen, ob es jene Blumenwiese am Meer gibt! Ich will nicht wissen, welche Sprache ich im Traum gesprochen habe!«
Falls ihre Worte die Äbtissin verwirrten, ließ jene es sich nicht anmerken. »Du willst, dass nach allem, was geschehen ist, das Leben wieder in gewohnten Bahnen verläuft, dass die Welt mit all ihren Schrecknissen von den Mauern ausgeschlossen wird, dass wieder Frieden einkehrt - im Kloster und in deinem Herzen, nicht wahr?«
Die Miene der Äbtissin war verständnisvoll - jedoch auch ein wenig verächtlich.
»Ich will einfach nur eine gute Nonne sein«, murmelte Mathilda. »Und eine solche legt ihr altes Leben ab wie ein abgetragenes Kleid. Vielleicht . . . vielleicht kommt der Traum nicht wieder, wenn Ihr mich züchtigt. Ja, lasst mich bei Birnensaft fasten! Verbietet mir, im Skriptorium zu arbeiten, und lasst mich stattdessen die Latrinen reinigen! Befehlt mir, auf dem Boden der Kapelle zu knien, bis ich die Knie nicht mehr spüre und ...«
Immer eifriger ging sie daran, mögliche Strafen aufzuzählen, bis die Äbtissin energisch ihre Hand hob.
»Still nun!«, rief sie. »Du verdienst doch keine Strafe! In den letzten Tagen hast du mir so oft beigestanden. Besonders, nachdem man . . . ihn ins Kloster brachte . . .«
Sie verstummte, und Mathilda folgte ihrem Blick, der hinaus auf den Hof schweifte. Man sah dem jungen Mann, der dort auf und ab ging, nicht länger an, wie schwer verletzt er gewesen war. Mathilda hatte zu jenen gehört, die ihn gepflegt und die alsbald geahnt hatten, dass das Leben der immer vor bildlichen Äbtissin mit dem des jungen Mannes irgendwie verknüpft war. Gemessen an der Vergangenheit der Äbtissin musste ihr wirrer Traum bedeutungslos sein. Kein Wunder, dass die Äbtissin sie nicht bestrafen wollte.
»Wie lange wird er denn noch bleiben?«, fragte Mathilda.
»Noch ist er nicht stark genug, um aufzubrechen ...«, antwortete die Äbtissin.
Oder sie war nicht stark genug, ihn gehen zu lassen.
Die Äbtissin wandte sich ab.
»Bring ihm etwas zu essen!«, befahl sie knapp.
Mathilda runzelte die Stirn und wollte widersprechen. Sie war in ihrem Leben nicht vielen jungen Männern begegnet, und dieser eine hatte in den letzten Tagen ihre Welt derart durcheinandergebracht, dass sie gehofft hatte, ihn nach seiner Genesung meiden zu können. Was die Äbtissin nun verlangte, deuchte sie als Zumutung.
Doch dann schluckte sie ihre Widerworte. Vielleicht war der Befehl der Äbtissin keine Zumutung, sondern die Strafe, die sie selbst eingefordert hatte. Und was diese Strafe noch härter machte als Fasten, stundenlanges Knien oder das Reinigen von Latrinen, war, dass sie sich einen verbotenen Augenblick lang gar nicht wie eine solche anfühlte.
Mathilda ließ sich von der Schwester Cellerarin, die sich um die Vorratshaltung und die Essenszubereitung kümmerte, Brot und Käse geben, zögerte dann jedoch, den Hof zu betreten. Als sie sich endlich dazu durchrang, war Arvid nicht mehr dort. Sie hoffte schon, ihrer Pflicht entledigt zu sein, als sie ihn im Refektorium sah, jenem Raum gleich neben der Pforte, wo Gäste empfangen und bewirtet wurden. Er hockte gebückt und ließ seine Hand - so sah es zumindest aus der Ferne aus - auf merkwürdige Weise über dem Kopf kreisen. Hatte er Schmerzen? Seine Brust war doch verletzt gewesen, nicht sein Kopf.
Erst als sie den Raum betrat, erkannte Mathilda, dass der junge Mann sich eine Tonsur schor. Als er verletzt vor der Pforte zusammengebrochen war, hatte ihn diese als Mönch oder Novizen ausgewiesen. Mittlerweile war das braune dichte Haar nachgewachsen, und dass er es schor, bedeutete wohl, dass er möglichst bald in sein Kloster zurückkehren wollte.
Er blickte hoch, als sie näher kam, und sie schämte sich, dass sie errötete. Er ist ein Mann, gewiss, aber eben ein Mann Gottes, sagte sie sich. Solchen begegnete sie manchmal in Gestalt der Mönche vom Nachbarkloster, die kamen, um die Messe zu lesen, die Beichte abzunehmen und die Sterbenden zu segnen.
Mit vermeintlicher Gelassenheit hob sie ihm das Brett mit Brot und Käse entgegen. »Ich habe dir etwas zu essen gebracht.« Anstalten, es auf den Tisch zu stellen, machte sie keine.
Arvids Tonsur war schief geraten, das Lächeln, um das er sich nun bemühte, auch. Er schien sie nicht minder zu scheuen als sie ihn, doch anders als sie hatte er den Mut, das Unbehagen auszusprechen.
»Nicht mehr lange, und ihr seid von meiner Gegenwart befreit«, setzte er an, »und hier kehrt wieder Ruhe ein.«
Es war etwas anderes, dies heimlich zu hoffen, als es ihn sagen zu hören. Ihre Scheu vor ihm deutete Mathilda plötzlich als Zeichen von Schwäche. Wer fest im Glauben stand und den Anfechtungen des Fleisches widerstand, ließ sich von der Gegenwart eines Mannes nicht erschüttern.
»Wer an der Pforte klopft, dem wird aufgetan«, erklärte sie schnell, »wie lange er bleibt, liegt nicht an uns zu bestimmen.« Um ihre Worte zu bekräftigen fügte sie hinzu: »Vor zwei Jahren hat die Äbtissin eine Horde Bettler ins Kloster eingeladen, auf dass wir ihnen am Gründonnerstag die Füße waschen - so wie Jesus seinen Jüngern.«
Sie unterdrückte ein Schaudern, als sie daran dachte. Sie hatte sich vor den fremden fauligen Füßen geekelt und noch mehr vor den Gerüchen, dem Stimmengewirr, den verunstalteten Gesichtern - vernarbt bei den einen, faltig bei den anderen, in jedem Fall von einem ständigen Überlebenskampf kündend, den hier Kloster keiner zu führen hatte. Selbstverständlich hatte sie aber der Äbtissin gehorcht und den Widerwillen unterdrückt.
Käse und Brot wurden ihr mit einem Mal schwer in der Hand. Das Brett auf den Tisch zu stellen hätte aber bedeutet, dicht an Arvid vorbeizugehen. So stellte sie es auf den lehmgestampften Boden.
»Die Schwester Cellerarin meinte, dass du zum Abendessen auch einen Krug Wein haben kannst.«
Arvid senkte den Blick. »Habt alle Dank für eure Güte.«
Es gab nun keinen Grund mehr zu bleiben, aber dennoch verharrte Mathilda noch einen Augenblick. Sie dachte an die vielen Tuscheleien der letzten Tage. Fast alle Nonnen hatten Mutmaßungen über den jungen Mann angestellt - und Maura hatte gewagt, ihr vom schlimmsten und dunkelsten Gerücht zu erzählen, das die Runde machte: Demnach war Arvid niemand anderes als der Sohn der Äbtissin. Kurz nach seiner Geburt war sie ins Kloster eingetreten, um fortan ein frommes Leben zu führen, aber davor hatte sie gesündigt, wenn auch nur einmal. Nicht nur, dass Arvid der Sohn der Äbtissin war, war ein Geheimnis, sondern auch, als wessen Tochter diese geboren worden war. Nicht irgendeines Franken nämlich ...
Nein, sie wollte es nicht einmal denken. So beharrlich sie ihren Traum vergessen und der Frage entgehen wollte, wer sie war und von wem sie abstammte, sollte sie sich auch seiner Herkunft gegenüber blind stellen. Doch als Mathilda sich aufraffte zu gehen, begann der junge Mann unvermittelt zu sprechen, anstatt sich nach Käse und Brot zu bücken.
»Ich weiß, dass über mich geredet wird. Und ich weiß auch, wie sehr euch meine Geschichte verwirren muss. Ich erfuhr ja selbst erst hier, dass . . .« Er brach ab, rang nach Worten. »Es ist schwierig«, gab er schließlich zu. »Es ist schwierig, wenn man nicht weiß, auf welcher Seite man steht ...«
Sie verharrte, von etwas gehalten, das sie nicht deuten konnte. War es Neugier - ein Laster dieses, jedoch kein sonderlich schweres? War es Unbehagen, das leichter zu ertragen sein würde, wenn sie seine Andeutungen verstehen könnte? Oder war es womöglich etwas, das schwerer wog?
»Ich weiß, dass ihr Nonnen nichts auf Geschwätz geben dürft«, murmelte er, »aber gewiss habt ihr darüber geredet. Wie ich zur Äbtissin stehe. Ob sie tatsächlich meine Mutter ist. Und ob ich tatsächlich der Sohn eines Nordmannes bin.«
Es war zu viel - für ihn, all das zu verschweigen, für sie, es zu hören.
Es geht mich nichts an!, wollte sie schreien. Stattdessen erklärte sie: »Wir sind alle Kinder Gottes. Das ist das Einzige, was zählt.«
Immer noch begann er nicht zu essen. Mathilda starrte auf das Brett mit dem Käse, und plötzlich erwachte die Gier, ihn selbst zu verschlingen - nicht weil sie hungrig war, sondern weil sie schlucken wollte, was da in ihr aufstieg, die bange Frage nämlich, ob sie genauso entsetzt wie er sein würde, wenn sie wüsste, wessen Kind sie war.
Copyright © 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
Die Krieger erweiterten ihn gerade. Sie hatten ihre Waffen beiseitegelegt und schleppten Holz und Steine, einmal mehr bekundend, dass sich bei den Nordmännern niemand zu schade war, sich die Hände schmutzig zu machen. Sie arbeiteten entschlossen und trotzten dem Wissen, dass, was immer man hier errichtete, bald erneut von Wind und Meer zerfressen sein würde.
Hawisa sah den Männern gern beim Arbeiten zu. Jede Tat zupackender Hände, war sie auch noch so sinnlos, bestätigte, dass auf der Welt nur bestand, wer um Veränderung rang, anstatt sich aufs Abwarten zu verlegen.
Die zwei Männer, die eben zu ihr traten, arbeiteten nicht - das taten sie nie. Sie machten nur mit Worten Mut, die Heimtücken des Lebens zu ertragen und unbeirrt an ihrem Vorhaben festzuhalten - heute jedoch nicht einmal das. Stattdessen berichteten sie, dass Hasculf mit seiner Truppe zurückgekehrt war und Nachrichten brachte und dass diese Nachrichten keine guten waren.
Hawisa spannte sich kaum merklich an.
»Schon wieder sind zwei Städte gefallen«, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. »Allerorts unterwerfen sich die Menschen Alanus Schiefbart und begrüßen ihn mit lautem Jubel.«
»Das sind keine Menschen«, knurrte Hawisa, »das sind nur blökende Schafe.«
»So oder so sind wir hier nicht länger in Sicherheit.«
Der Mann, der zu ihr sprach, war blind. In der Sprache des Nordens hätte man ihn eigentlich Blindur nennen müssen, den Blinden, aber er bestand darauf, dass man ihn Dökkur rief, den Dunklen. Der Name passte zu ihm - nicht nur, weil seine Welt in Dunkelheit versunken war, sondern weil seine furchteinflößende Erscheinung vermittelte, er könnte kraft seines Willens sogar die Sonne dazu bringen, sich zu verstecken. Er war sehr groß und dürr, hatte schwarzes Haar, das verfilzt über seinen Rücken hing, und einen langen, ebenso ungepflegten Bart. Seine Nase war spitz, die Lippen schmal. Dökkur war nicht blind geboren worden, nach einer verlorenen Schlacht einige Jahre zuvor hatte man ihm die Augen ausgestochen. Mal trug er eine Binde über den Narben, die dunklen Löchern glichen, mal zeigte er sie jedem, um daran zu mahnen, wie schnell sich das Schicksal wenden konnte: Eben noch ein tapferer Krieger, hochgeboren und willens, das Erbe seines Bruder anzutreten, war er nun nicht länger fähig, zu kämpfen und zu führen.
Hawisa graute es vor seinem Anblick, doch während er andere verängstigte, erweckte er in ihr vor allem Trotz. So tief wie er wollte sie nie fallen.
»Ich fühle mich sicher hier«, erklärte sie.
»Trotzdem - wir sollten fliehen.«
»Ich werde nicht gehen. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«
Sie verbarg das Zittern in ihrer Stimme. Tagsüber gab sie sich gefasst, nur nachts hielt die Angst sie wach. Nicht die Angst vor dem Tod, sondern die davor, dass sie vor diesem Tod ihre Ziele nicht mehr erreichte, dass sie ihrem Leben keinen Sinn mehr geben konnte und ihr Name der einer Frau blieb, die gescheitert war, anstatt ein Reich zu erobern, zu einen und zu stärken. Seit einem Jahr begleitete sie diese Angst. Seit einem Jahr herrschte Krieg in der Bretagne.
»Hoffnung, du sprichst von Hoffnung?« Dökkur sprach das Wort verächtlich aus. Seine Kiefer knirschten, als wollte er es zermalmen.
Das ist aus uns geworden, dachte sie. Verspreche ich ihnen, morgen im eigenen Blut zu ersaufen, sie würden ihr Schicksal schultern wie die Männer am Wall die Baumstämme - fleißig, ohne zu murren, geübt zu ertragen. Verspreche ich ihnen hingegen Hoffnung, wirft man mir vor, sie zu verhöhnen.
»Ich weiß . . . ich weiß . . . die Bretagne bricht immer mehr auseinander.«
»Und jetzt ist auch noch Nantes an Alanus gefallen.«
Hawisa schloss die Augen. Nantes. Das sollte ihre Hauptstadt sein, nicht die des Widersachers.
Nun schaltete sich der Mann ein, der mit Dökkur zu ihr getreten war. Bis jetzt hatte er mit verschlagenem Gesicht gelauscht. Er war ein ehemaliger Mönch und seit Jahren ihr Sklave, doch er verhielt sich nicht unterwürfig wie ein solcher, sondern stets spöttisch. Meine Freiheit könnt ihr mir nehmen, schien er mit jedem Wort, mit jeder Geste zu sagen, aber meine Klugheit nicht.
»Alanus ruft alle Bretonen zu den Waffen, um ihn bei seinem Kampf zu unterstützen - die Grafen, Vizegrafen und die Machtierns, die Gemeindevorsteher. Es heißt, dass er an dem Tag, da er Nantes endgültig zurückerobert hat, eigenhändig den Weg zur Kathedrale mit Schwerthieben freigeschlagen hat. Im Turm hat er sich sein Quartier errichtet.«
Bruder Daniel sprach mit näselnder Stimme, gleich so, als hocke etwas Zähes in seiner Kehle, das ihn schwer atmen und nie laut werden ließ. Er stand stets mit geducktem Kopf da, wirkte aber nicht schwach und ängstlich, sondern bösartig.
Hawisa wandte sich ab, blickte auf das Meer und die hohen Felsen. Hier über die Klippen zu fallen hieß zu sterben. Der Stein war so glatt, als wäre er von Menschenhand gehauen. Möwen hatten die Klippen kreischend in Besitz genommen und trotzten dem Wind.
So ist die Natur, dachte Hawisa. Sie baut in unwegsamer Gegend unverwüstliche Burgen aus Stein, die noch in Hunderten von Jahren bestehen werden, während unser Wall schon morgen niedergerissen und abgebrannt werden könnte.
»Wie sollen wir ob all dieser Nachrichten noch Hoffnung haben?«, fragte Dökkur.
Hawisa antwortete nicht, sondern blickte Hasculf entgegen, jenem Krieger, der zuvor die Nachrichten überbracht hatte und jetzt auf sie zukam. Sein Gesicht war nicht finster wie das von Dökkur und bösartig wie das von Bruder Daniel, sondern vollkommen ausdruckslos.
»Ich bringe nicht nur Neuigkeiten von Alanus Schiefbart«, erklärte Hasculf, »sondern auch Neuigkeiten von . . . ihr.« Er hielt einen Moment feierlich inne. »Wir haben Mathilda gefunden. «
Wie immer zeigte sich Hawisa beherrscht. Sie zuckte nicht freudig zusammen, triumphierte nicht und brach auch nicht in Tränen aus, die von jahrzehntelangem Leid kündeten. Lediglich ein stilles Lächeln erschien auf ihren Lippen, als Hasculf nun von dem Kloster erzählte, in dem Mathilda lebte.
»Es ist dem heiligen Ambrosius geweiht«, schloss er, »und es liegt einsam inmitten von Wäldern.«
»Seht ihr!« Hawisa konnte ihre Begeisterung nicht länger zurückhalten. Sie wandte sich an Dökkur und Bruder Daniel. Der eine hatte sein Augenlicht verloren, der andere seine Freiheit, aber sie, sie würde nicht verlieren. »Es wird sich alles zum Guten wenden, jetzt, da wir Mathilda gefunden haben. Ihre ruhigen Tage im Kloster sind gezählt.«
I. Kloster Saint-Ambrose
Mathilda sog tief den salzigen Geruch des rauschenden Meeres und zugleich den durchdringend süßen der bunten Blumen in sich ein. Wie ist es möglich, dachte sie, dass diese an einem Ort wachsen, an dem der Boden sandig und felsig ist und stets ein rauer Wind weht? Kann es tatsächlich einen Ort geben, der salzig und süß zugleich ist, schroff und zart, karg und farbenprächtig?
Das Glitzern des Meeres blendete sie, sodass sie die Augen schließen musste, als sie über die Blumenwiese direkt dem blonden Mann mit der gegerbten Haut entgegenlief, der dort groß und stolz am Ende der Klippe stand. Er wartete auf sie, bereit, sie aufzufangen, in die Luft zu werfen und dann, wenn sie vor Lachen kreischte, an seinen gestählten Körper zu pressen. Seine Hände würden über ihr Gesicht streicheln, Hände, die grob sein konnten, aber auch zärtlich und liebevoll.
Doch ehe Mathilda den Mann erreichte, spürte sie plötzlich eine Veränderung. Sie konnte den Geruch des Meeres und den der Blumen nicht mehr wahrnehmen. Erschrocken schlug sie die Augen auf, und das Lächeln schwand von ihren Lippen. Ein heiserer Schrei entfuhr ihrem Mund, denn sie erblickte anstelle des blonden Mannes das Gesicht einer Fremden. Sie schrie erneut auf, als Hände nach ihr fassten, ihre Schultern umklammerten, sie rüttelten.
»Mathilda! Was ist mit dir? Hast du schlecht geträumt?«
Nein, dachte sie, ich habe nicht schlecht geträumt, nur zu kurz. Im entscheidenden Augenblick wurde ich geweckt . . . ich konnte mich nicht mehr in die Arme des blonden Mannes retten ...
Dann ging ihr auf, dass das Gesicht, in das sie starrte, nicht das einer Fremden war, sondern das von Schwester Maura, einer Nonne, wie sie eine war. Sie schlief im Dormitorium auf dem Strohsack neben ihr und verbrachte viele Stunden des Tages an ihrer Seite. Maura war eine Vertraute, deren Namen sie kannte. Den des blonden Mannes, gleichwohl auch er im Traum so vertraut gewirkt hatte, kannte sie nicht, desgleichen konnte sie den Namen des Ortes nicht benennen, an dem Blumen inmitten der Klippen am Meer wuchsen. Und warum trieb ihr die Sehnsucht Tränen in die Augen?
Das Licht, das durch die Luken ins Innere sickerte, war noch matt. Mathilda fühlte Mauras nachdenklichen Blick auf sich ruhen und wandte sich rasch ab. Durch die dicken Mauern des Dormitoriums hörte sie die Glocke läuten. Die Glocke läutete oft, sieben Mal am Tag.
»Du hast verschlafen«, murmelte Maura.
Mathilda fühlte keine Sehnsucht mehr nach dem Ort, der ihr immer fremder wurde, je mehr Leben in ihre steifen Glieder zurückkehrte. Scham stieg in ihr auf, denn sie erlaubte sich nur ungern eine Schwäche.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Ich wecke dich doch jetzt!«
»Zu spät, wie's scheint!«
Maura zuckte die Schultern. Sie nahm es mit den Klosterregeln nicht ganz so genau, schon oft hatte sie verschlafen und hinterher nie jene Reue gezeigt, die Mathilda jetzt überkam.
»Sei nur ganz ruhig«, tröstete sie. »Nach der Aufregung der letzten Tage meinte die Äbtissin, du solltest dich ausruhen. Sie selbst hat mich davon abgehalten, dich zu wecken.«
Mathilda seufzte. In der Tat - in den letzten Tagen war mehr geschehen als in ihrem ganzen sechzehn Jahre währenden Leben zuvor. Einem Leben, das sie fast ausschließlich im Kloster zugebracht und Gott geweiht hatte. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, als sie hergebracht wurde, von wem und warum, war immer bedeutungslos gewesen - zumindest, ehe sie begonnen hatte, von der Blumenwiese und von dem blonden Mann zu träumen und sich zu fragen, ob dies Ausgeburten ihrer Fantasie waren. Oder vielleicht Erinnerungen?
»Endlich ist wieder Frieden eingekehrt«, sagte Mathilda.
Sie erhob sich, fühlte sich aber nicht wirklich ausgeruht. Ihr Kopf schien zu schwer, und die Zunge war trocken. Als sie an Maura vorbeigehen wollte, hielt diese sie auf. »Du hast im Traum übrigens eine fremde Sprache gesprochen«, sagte sie.
Die junge Nonne war verwirrt. »Welche Sprache?«
»Hätte ich fremd gesagt, wenn ich sie verstanden hätte?«
Mathilda zuckte die Schultern und machte sich von Maura los. »Ich spreche Fränkisch und Latein«, erklärte sie entschieden, »sonst nichts. Das Sprechen habe ich doch erst hier erlernt.«
Der bittere Geschmack in ihrem Mund verging, aber die Verwirrung begleitete sie den ganzen Tag hindurch. Hier im Kloster war auf keinerlei Ablenkung zu hoffen. Für gewöhnlich war es zwar das beschauliche Gleichmaß der Tage, was sie an ihrem Leben am meisten schätzte, doch heute fand sie nicht einmal bei der Lektüre Besänftigung für ihr aufgewühltes Gemüt - weder bei der gemeinschaftlichen noch bei der persönlichen. Die übliche Neugier, welches Buch oder welchen Bibeltext man ihr zuteilen würde, auf dass sie später darüber Bericht erstattete, blieb aus.
Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, obwohl sie gern schrieb und noch lieber las. Nur selten beklagte sie sich über einen schmerzenden Rücken. Zwar hätte sie nie von sich aus das Skriptorium als jenen Ort erkoren, wo sie ihre Talente am besten leben konnte, aber als die Magistra sie dafür bestimmte, hatte sie es hingenommen. Sie war dankbar dafür, nicht stolz darauf - Stolz war schließlich eine Sünde, ihr Talent hingegen ein von Gott geschenktes, wenn auch ein seltenes. Es kam nicht oft vor, dass Gott Frauen mit der Gabe des Verstandes überreich ausstattete. Wenn es aber geschah - so schrieb es der heilige Hieronymus an seine Schülerin Laeta -, dann möge man es fördern, die Frauen nicht nur Spinnen, Weben und Schneidern zu lehren, sondern auch Lesen und Schreiben. Nicht zum Selbstzweck natürlich, sondern auf dass sie die Heiligen Schriften erlernen und verstehen würden.
Heute lernte und verstand Mathilda nichts. Die Lektürestunden vergingen, ihr Geist jedoch blieb leer. Später saß sie hinter dem Schreibpult, aber ihre Hand war wie gelähmt. Vor kurzem noch hatte sie sich über die Auszeichnung gefreut, nicht länger nur auf Wachstäfelchen schreiben zu müssen, sondern auch Pergament benutzen zu dürfen. Ehrfürchtig hatte sie darübergestrichen, sich vorgestellt, diese Seiten nicht nur mit Texten, sondern auch mit kunstvollen Zeichnungen zu versehen - so wie die Nonnen im berühmten Chelles, die im ganzen Land für ihre Bücher bekannt waren. Der Erzbischof von York hatte von ihnen gar ein Evangeliar mit goldener Farbe auf Purpurpergament schreiben lassen. Saint-Ambrose war zu arm, hier schrieben die Nonnen nicht mit Gold auf Purpur, aber Mathilda hatte sich oft gefragt, wie dergleichen wohl aussah.
Sie ließ ihren Blick durchs Skriptorium kreisen und versuchte, die Fragen zu verscheuchen, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten, aber es gelang ihr nicht.
Wer bin ich? Woher stamme ich? Wer sind meine Eltern?
Die Schwestern, die im Skriptorium ihren Dienst versahen, waren nicht nur ihres Talentes wegen dafür auserwählt worden, sondern auch wegen ihrer hohen Abstammung. Je wohlhabender die Eltern waren, desto größeren Wert legten sie darauf, dass ihre Töchter nicht zu den niederen, sondern zu den angenehmeren Diensten im Kloster beordert wurden. Sie aber, Mathilda, wusste nicht einmal, wer ihre Eltern waren. Sie mussten vornehm sein, denn alle Ordensschwestern in Saint-Ambrose entstammten dem Adel, aber wie sie hießen und woher sie kamen, hatte sie nie erfahren. Früher hatte sie manchmal danach gefragt, aber keine brauchbare Antwort erhalten, man hatte ihr lediglich erklärt, dass, wer ins Kloster gehe, die alte Welt und sämtliche Bindungen hinter sich lasse und dass sie, als sie als kleines Mädchen ins Kloster kam, kein Wort gesprochen, sondern es erst hier erlernt habe.
Vielleicht war das eine Lüge, ging es ihr jetzt durch den Kopf, vielleicht habe ich sehr wohl gesprochen - in jener fremden Sprache aus dem Traum . . .
»Mathilda, wo hast du nur deine Gedanken?«
Mit schlechtem Gewissen blickte sie hoch. Die Magistra stand vor ihr, der die Erziehung und Ausbildung der jungen Mädchen oblag. Von ihr lernten sie Psalmen zu memorieren, erhielten Sprach-und Grammatikunterricht und wurden im Lesen und Schreiben unterwiesen.
»Es tut mir leid«, sagte sie hastig, »aber nach den Ereignissen der letzten Tage . . .«
Sie schämte sich sogleich, sich hinter diesem Vorwand zu verstecken, auch wenn es seine Wirkung nicht verfehlte. Die Magistra nickte hastig, suchte ihre eigene Aufgewühltheit zu verbergen und trat weg. Es stimmte, in den letzten Tagen war im Kloster viel Schreckliches geschehen, Mathilda erschauderte immer noch, wenn sie nur daran dachte. Nur an diesem Tag waren es nicht diese Ereignisse, sondern der Traum, der sie verwirrte. Allerdings, ging es ihr plötzlich durch den Sinn - vielleicht hatten die Träume sie nur deshalb heimzusuchen begonnen, weil ihr Gemüt so erschüttert war. Sie seufzte und entschied, wie sie die letzten Tage, vor allem aber den Traum, hinter sich lassen konnte: Sie musste mit der Äbtissin sprechen.
Doch schon als Mathilda nach dem kargen Mittagessen auf sie zutrat und um ein paar Worte bat, ging ihr auf, dass es ein Fehler sein könnte. Nach allem, was passiert war, war die Äbtissin nicht mehr sie selbst. Als einige Wochen zuvor jener verletzte junge Mann aufgetaucht und im Kloster gesund gepflegt worden war, war ihr gewohnter Gleichmut erschüttert worden, und als wenig später Krieger das Kloster überfallen hatten, hatte sie endgültig die Fassung verloren, sich die Schuld an allem gegeben und ihren Rücktritt verkündet. Die Männer hatten das Kloster nicht erstürmen können, waren vielmehr selbst durch Feindeshand gestorben - oder durch göttliches Eingreifen, Mathilda wusste es nicht so genau -, und die Äbtissin hatte ihr Amt behalten. Der geheimnisvolle Mann jedoch, Arvid mit Namen, der dies alles ausgelöst hatte, war immer noch im Kloster, und die Äbtissin wirkte immer noch verwirrt.
Nur zögernd stellte Mathilda ihr die Frage, die auf ihrer Seele lastete. »Denkt Ihr«, setzte sie unwillkürlich an, »denkt Ihr, ehrwürdige Mutter, mein Wille ist fest genug?«
Die Äbtissin sah an ihr vorbei. »Was meinst du?«
»Nun, meine Profess steht bald bevor!«
Nicht jede Nonne legte ihr Gelübde, keusch und arm zu bleiben, öffentlich und die Hand auf der Benediktregel ruhend ab. Viele lebten einfach in der Gemeinschaft, fügten sich den Geboten des Klosters und trugen die schwarze Kleidung als Zeichen von Enthaltsamkeit und Demut so lange, bis alle Welt sie als Nonne betrachtete. Mathilda aber hatte sich immer eine feierliche Profess gewünscht und die letzten Monate darauf hingelebt. Sie kannte kein anderes Leben als dieses, also war es das schönste, das sie sich vorstellen konnte, und sich laut und vor der Gemeinschaft dazu zu bekennen, würde ein Fest sein.
Die Äbtissin blickte sie jetzt verständnislos an. »Deine Profess . . .«
»Es könnte doch sein«, erklärte Mathilda ihre Sorge, »dass der Teufel die verbleibende Zeit vor meiner Profess benutzt, um meiner Seele habhaft zu werden. Viele fromme Menschen haben davon berichtet, dass sie gerade vor dem Eintritt ins Kloster Anfechtungen ausgesetzt waren.«
»Du lebst schon so lange im Kloster, Mathilda«, sagte die Äbtissin noch immer ein wenig abwesend. »Auch wenn du die Profess noch nicht abgelegt hast, beweist du jeden Tag die Tugenden einer Ordensschwester. Warum sollte der Teufel ausgerechnet jetzt eine Schwäche wittern?«
»Ich weiß nicht«, stammelte Mathilda, »ich weiß nur . . .«, sie biss sich auf die Lippen, zögerte kurz, ». . . ich hatte heute in der Nacht einen merkwürdigen Traum.«
»Und wovon hast du geträumt? Häufig sind Träume Botschaften von Gott, denk an Joseph in Ägypten.«
»Aber ich habe auch gelesen, dass der Teufel Träume nutzt, um die Seele des Menschen zu verwunden. Der Schlaf schwächt den Willen, seinen Verführungen zu trotzen. Ich will das nicht!« Heftig brach es aus Mathilda hervor: »Ich will nicht wissen, ob es jene Blumenwiese am Meer gibt! Ich will nicht wissen, welche Sprache ich im Traum gesprochen habe!«
Falls ihre Worte die Äbtissin verwirrten, ließ jene es sich nicht anmerken. »Du willst, dass nach allem, was geschehen ist, das Leben wieder in gewohnten Bahnen verläuft, dass die Welt mit all ihren Schrecknissen von den Mauern ausgeschlossen wird, dass wieder Frieden einkehrt - im Kloster und in deinem Herzen, nicht wahr?«
Die Miene der Äbtissin war verständnisvoll - jedoch auch ein wenig verächtlich.
»Ich will einfach nur eine gute Nonne sein«, murmelte Mathilda. »Und eine solche legt ihr altes Leben ab wie ein abgetragenes Kleid. Vielleicht . . . vielleicht kommt der Traum nicht wieder, wenn Ihr mich züchtigt. Ja, lasst mich bei Birnensaft fasten! Verbietet mir, im Skriptorium zu arbeiten, und lasst mich stattdessen die Latrinen reinigen! Befehlt mir, auf dem Boden der Kapelle zu knien, bis ich die Knie nicht mehr spüre und ...«
Immer eifriger ging sie daran, mögliche Strafen aufzuzählen, bis die Äbtissin energisch ihre Hand hob.
»Still nun!«, rief sie. »Du verdienst doch keine Strafe! In den letzten Tagen hast du mir so oft beigestanden. Besonders, nachdem man . . . ihn ins Kloster brachte . . .«
Sie verstummte, und Mathilda folgte ihrem Blick, der hinaus auf den Hof schweifte. Man sah dem jungen Mann, der dort auf und ab ging, nicht länger an, wie schwer verletzt er gewesen war. Mathilda hatte zu jenen gehört, die ihn gepflegt und die alsbald geahnt hatten, dass das Leben der immer vor bildlichen Äbtissin mit dem des jungen Mannes irgendwie verknüpft war. Gemessen an der Vergangenheit der Äbtissin musste ihr wirrer Traum bedeutungslos sein. Kein Wunder, dass die Äbtissin sie nicht bestrafen wollte.
»Wie lange wird er denn noch bleiben?«, fragte Mathilda.
»Noch ist er nicht stark genug, um aufzubrechen ...«, antwortete die Äbtissin.
Oder sie war nicht stark genug, ihn gehen zu lassen.
Die Äbtissin wandte sich ab.
»Bring ihm etwas zu essen!«, befahl sie knapp.
Mathilda runzelte die Stirn und wollte widersprechen. Sie war in ihrem Leben nicht vielen jungen Männern begegnet, und dieser eine hatte in den letzten Tagen ihre Welt derart durcheinandergebracht, dass sie gehofft hatte, ihn nach seiner Genesung meiden zu können. Was die Äbtissin nun verlangte, deuchte sie als Zumutung.
Doch dann schluckte sie ihre Widerworte. Vielleicht war der Befehl der Äbtissin keine Zumutung, sondern die Strafe, die sie selbst eingefordert hatte. Und was diese Strafe noch härter machte als Fasten, stundenlanges Knien oder das Reinigen von Latrinen, war, dass sie sich einen verbotenen Augenblick lang gar nicht wie eine solche anfühlte.
Mathilda ließ sich von der Schwester Cellerarin, die sich um die Vorratshaltung und die Essenszubereitung kümmerte, Brot und Käse geben, zögerte dann jedoch, den Hof zu betreten. Als sie sich endlich dazu durchrang, war Arvid nicht mehr dort. Sie hoffte schon, ihrer Pflicht entledigt zu sein, als sie ihn im Refektorium sah, jenem Raum gleich neben der Pforte, wo Gäste empfangen und bewirtet wurden. Er hockte gebückt und ließ seine Hand - so sah es zumindest aus der Ferne aus - auf merkwürdige Weise über dem Kopf kreisen. Hatte er Schmerzen? Seine Brust war doch verletzt gewesen, nicht sein Kopf.
Erst als sie den Raum betrat, erkannte Mathilda, dass der junge Mann sich eine Tonsur schor. Als er verletzt vor der Pforte zusammengebrochen war, hatte ihn diese als Mönch oder Novizen ausgewiesen. Mittlerweile war das braune dichte Haar nachgewachsen, und dass er es schor, bedeutete wohl, dass er möglichst bald in sein Kloster zurückkehren wollte.
Er blickte hoch, als sie näher kam, und sie schämte sich, dass sie errötete. Er ist ein Mann, gewiss, aber eben ein Mann Gottes, sagte sie sich. Solchen begegnete sie manchmal in Gestalt der Mönche vom Nachbarkloster, die kamen, um die Messe zu lesen, die Beichte abzunehmen und die Sterbenden zu segnen.
Mit vermeintlicher Gelassenheit hob sie ihm das Brett mit Brot und Käse entgegen. »Ich habe dir etwas zu essen gebracht.« Anstalten, es auf den Tisch zu stellen, machte sie keine.
Arvids Tonsur war schief geraten, das Lächeln, um das er sich nun bemühte, auch. Er schien sie nicht minder zu scheuen als sie ihn, doch anders als sie hatte er den Mut, das Unbehagen auszusprechen.
»Nicht mehr lange, und ihr seid von meiner Gegenwart befreit«, setzte er an, »und hier kehrt wieder Ruhe ein.«
Es war etwas anderes, dies heimlich zu hoffen, als es ihn sagen zu hören. Ihre Scheu vor ihm deutete Mathilda plötzlich als Zeichen von Schwäche. Wer fest im Glauben stand und den Anfechtungen des Fleisches widerstand, ließ sich von der Gegenwart eines Mannes nicht erschüttern.
»Wer an der Pforte klopft, dem wird aufgetan«, erklärte sie schnell, »wie lange er bleibt, liegt nicht an uns zu bestimmen.« Um ihre Worte zu bekräftigen fügte sie hinzu: »Vor zwei Jahren hat die Äbtissin eine Horde Bettler ins Kloster eingeladen, auf dass wir ihnen am Gründonnerstag die Füße waschen - so wie Jesus seinen Jüngern.«
Sie unterdrückte ein Schaudern, als sie daran dachte. Sie hatte sich vor den fremden fauligen Füßen geekelt und noch mehr vor den Gerüchen, dem Stimmengewirr, den verunstalteten Gesichtern - vernarbt bei den einen, faltig bei den anderen, in jedem Fall von einem ständigen Überlebenskampf kündend, den hier Kloster keiner zu führen hatte. Selbstverständlich hatte sie aber der Äbtissin gehorcht und den Widerwillen unterdrückt.
Käse und Brot wurden ihr mit einem Mal schwer in der Hand. Das Brett auf den Tisch zu stellen hätte aber bedeutet, dicht an Arvid vorbeizugehen. So stellte sie es auf den lehmgestampften Boden.
»Die Schwester Cellerarin meinte, dass du zum Abendessen auch einen Krug Wein haben kannst.«
Arvid senkte den Blick. »Habt alle Dank für eure Güte.«
Es gab nun keinen Grund mehr zu bleiben, aber dennoch verharrte Mathilda noch einen Augenblick. Sie dachte an die vielen Tuscheleien der letzten Tage. Fast alle Nonnen hatten Mutmaßungen über den jungen Mann angestellt - und Maura hatte gewagt, ihr vom schlimmsten und dunkelsten Gerücht zu erzählen, das die Runde machte: Demnach war Arvid niemand anderes als der Sohn der Äbtissin. Kurz nach seiner Geburt war sie ins Kloster eingetreten, um fortan ein frommes Leben zu führen, aber davor hatte sie gesündigt, wenn auch nur einmal. Nicht nur, dass Arvid der Sohn der Äbtissin war, war ein Geheimnis, sondern auch, als wessen Tochter diese geboren worden war. Nicht irgendeines Franken nämlich ...
Nein, sie wollte es nicht einmal denken. So beharrlich sie ihren Traum vergessen und der Frage entgehen wollte, wer sie war und von wem sie abstammte, sollte sie sich auch seiner Herkunft gegenüber blind stellen. Doch als Mathilda sich aufraffte zu gehen, begann der junge Mann unvermittelt zu sprechen, anstatt sich nach Käse und Brot zu bücken.
»Ich weiß, dass über mich geredet wird. Und ich weiß auch, wie sehr euch meine Geschichte verwirren muss. Ich erfuhr ja selbst erst hier, dass . . .« Er brach ab, rang nach Worten. »Es ist schwierig«, gab er schließlich zu. »Es ist schwierig, wenn man nicht weiß, auf welcher Seite man steht ...«
Sie verharrte, von etwas gehalten, das sie nicht deuten konnte. War es Neugier - ein Laster dieses, jedoch kein sonderlich schweres? War es Unbehagen, das leichter zu ertragen sein würde, wenn sie seine Andeutungen verstehen könnte? Oder war es womöglich etwas, das schwerer wog?
»Ich weiß, dass ihr Nonnen nichts auf Geschwätz geben dürft«, murmelte er, »aber gewiss habt ihr darüber geredet. Wie ich zur Äbtissin stehe. Ob sie tatsächlich meine Mutter ist. Und ob ich tatsächlich der Sohn eines Nordmannes bin.«
Es war zu viel - für ihn, all das zu verschweigen, für sie, es zu hören.
Es geht mich nichts an!, wollte sie schreien. Stattdessen erklärte sie: »Wir sind alle Kinder Gottes. Das ist das Einzige, was zählt.«
Immer noch begann er nicht zu essen. Mathilda starrte auf das Brett mit dem Käse, und plötzlich erwachte die Gier, ihn selbst zu verschlingen - nicht weil sie hungrig war, sondern weil sie schlucken wollte, was da in ihr aufstieg, die bange Frage nämlich, ob sie genauso entsetzt wie er sein würde, wenn sie wüsste, wessen Kind sie war.
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Autoren-Porträt von Julia Kröhn
Julia Kröhn, geboren 1975 in Linz, hat Geschichte, Philosophie, Theologie und Religionspädagogik studiert. Zur Zeit arbeitet sie als Fernsehjournalistin in Frankfurt am Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Julia Kröhn
- 2013, 496 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404167384
- ISBN-13: 9783404167388
- Erscheinungsdatum: 11.01.2013
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