Kleine Zeiten
Die Geschichte meiner Großmutter
Unspektakulär und doch spannend schildert ORF-Chefredakteur Dr. Fritz Dittlbacher das Leben seiner Oma: von der Jugend als unerwünschtes Kind über Bürgerkrieg und Hitlerei bis zum Wiederaufbau. Ein fesselnder historischer Roman ohne...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Kleine Zeiten “
Unspektakulär und doch spannend schildert ORF-Chefredakteur Dr. Fritz Dittlbacher das Leben seiner Oma: von der Jugend als unerwünschtes Kind über Bürgerkrieg und Hitlerei bis zum Wiederaufbau. Ein fesselnder historischer Roman ohne große Helden dafür mit viel Menschlichkeit!
Klappentext zu „Kleine Zeiten “
Das Ende war so, wie ein Ende sein sollte: Der Bürgermeister hielt eine Rede, die Obfrau vom Pensionistenverband auch, der Zug von der Kirche zum Friedhof war lang. 200 Trauergäste waren es sicher. Wenn ein Begräbnis überhaupt schön sein konnte, dann dieses. Grete hätte es gemocht - wenn es nicht ihr eigenes gewesen wäre.Der Anfang zu diesem Ende lag mehr als 90 Jahre davor. Es begann als ungewünschtes Kind einer zerbrochenen Ehe, ging durch Bürgerkrieg und Weltkrieg, Niederlage und Wiederaufbau. "Kleine Zeiten - die Geschichte meiner Großmutter" erzählt von Grete und ihrem Leben. Der Autor, ihr Enkel, hat aus ihrer Geschichte, ihren Geschichten einen Roman gemacht. Er erzählt vom kleinen Mädchen, dessen Mutter plötzlich verschwindet. Das beim Vater aufwächst, um dann, mit zwölf, von dieser Mutter wieder zurückgefordert zu werden. Es sind Geschichten vom harten Leben auf dem Land, vom Nicht-Dazugehören. Vom Zauber der Hitlerei, vom Jubel des Einmarsches - und vom Schrecken des KZ, in das die Mutter dann eingeliefert wird. Von den Mühen des Neubeginns, als alles in Trümmern liegt. Vom bescheidenen Wohlstand, vom kleinen Glück. Es sind auch Erzählungen von Liebe und Verrat, vom Hinfallen und Wieder-Aufstehen, vom Heiraten, vom Kinderkriegen, vom Tod. Gewöhnliche Geschichten über gewöhnliche Leute. Keine Helden weit und breit. Dafür aber Menschen, die man zwar nicht kennt, aber die man kennen könnte, weil sie genau das Leben gelebt haben, das auch die eigenen Eltern oder eigenen Großeltern gelebt haben. Es ist eine Geschichte Österreichs, ein Bilderbogen des 20. Jahrhunderts, ein historischer Roman ohne historische Persönlichkeiten. Es ist eine Beschreibung der kleinen Zeiten in all diesen "Großen Zeiten", die Geschichte eines Mädchens, einer Frau, einer Mutter, einer Großmutter.
Lese-Probe zu „Kleine Zeiten “
Kleine Zeiten von Fritz DittlbacherKapitel III Beim Vater
Graz, Sommer 1927
Das Wundertier steht im Salon, in jenem riesigen Zimmer, von dessen Fenster und Balkonen man auf die Elisabethstraße sehen kann. Das Wundertier hat drei Beine, und noch ein viertes, vorn beim Maul, aber das zählt nicht wirklich. Es ist glänzend schwarz, und die Zähne im Maul sind ganz weiß, bis auf jene, die dazwischen liegen und schwarz sind. »Das ist ein Wundertier«, hat der Vater gesagt, »es hat einen Flügel, aber es kann nicht fliegen.« Und dann hat er gelacht, als er Grete das erste Mal die Wohnung gezeigt hat, ihr neues Heim, dieses Zauberreich voller Überraschungen und Wunder und Sensationen. Und voller Verbote.
Das kleine Kästchen mit den Einlegearbeiten auf der Kommode etwa ist so ein Wunder: Es spielt ein Lied, sobald man es öffnet. Und man darf es daher nur öffnen, wenn dies ein Erwachsener ausdrücklich erlaubt. Oder noch so ein Wunder: Die Uhr mit den unentwegt sich bewegenden Augen, die früher in einem richtigen Schloss gehangen ist. Einem Schloss, das schon lange nicht mehr steht. Ein Mann ist aufs Ziffernblatt gemalt, seine Augen gehen mit dem Schlag des Pendels hin und her, hin und her, hin und her. Die schweren Messinggewichte glänzen wie Gold. Und man darf sie auf keinen Fall anfassen, sonst wird alles kaputt.
Auch das Wundertier ist ein solches Verbot. Grete darf es nur ansehen, aber nicht damit spielen, da ist sie noch zu klein. Der Kurti auch. Klar, der Kurti ist ja noch kleiner als sie. Wenn sie beide größer sind, dann dürfen aber auch sie am Wundertier spielen, so wie es die Tante Ida fast jeden Abend tut. Und der Vater, viel seltener und viel weniger gut als die Tante Ida.
»Die Tante Ida ist das Beste, was dir passieren konnte.« Das sagt der Vater oft. »Und mir auch.« Tante Ida ist Vaters
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Schwester, und sie ist Gretes geheimes Vorbild.
Tante Ida kann wunderschön malen. Sie kann singen wie eine große Sängerin, am Abend spielt sie Lieder aus Operetten auf dem 43 Flügel im Salon. So heißt das Wundertier in der Erwachsenensprache, Grete weiß das natürlich schon, sie ist ja seit kurzem ein Schulmädchen. Aber sie findet, Wundertier passt besser.
Tante Ida singt auch dazu. Und das klingt dann viel schöner als auf Großvaters Grammophon, das findet sogar der Großvater. Wenn Tante Ida singt, dann ist auch er froh und freundlich. Und das ist er sonst sehr selten.
Der Großvater ist die wichtigste Person in der Wohnung, das hat Grete gleich gemerkt, als sie vor einem halben Jahr hierher gekommen ist. Dann folgt die Großmutter.
Am wenigsten Bedeutung hat Onkel Roman, der Vater von Kurti. Zumindest schimpft der Großvater oft mit ihm. Der Onkel Roman ist ein wahnsinnig gescheiter Mann, sagt die Tante Ida, der an einem unglaublich klugen Buch schreibt. Aber von dem kann er leider nicht leben, und seine Frau, die Tante Mirl, und der Kurti
schon gar nicht, und Arbeit findet er keine, und daher leben alle vom und beim Großvater. Die Tante Ida natürlich auch, aber das ist was anderes, denn die Tante Ida ist Kindergärtnerin und nicht verheiratet. Und daher ist es klar, dass sie bei den Großeltern wohnt.
Der Vater und sie wohnen auch da, immer am Wochenende. Auch der Vater streitet manchmal mit dem Großvater. Aber nicht so oft wie der Onkel Roman. Wenn sie mit dem Vater am Wochenende in Graz ist, dann schläft Grete mit ihm in seinem Zimmer. Dann ist sie glücklich.
Otto hatte Grete im Herbst 1926 zuerst nach Feldbach und dann nach Graz geholt. Da war Maria schon mehr als vier Jahre spurlos verschwunden. Plötzlich war sie weg gewesen, im Spätwinter 1922, von einem Tag auf den anderen nicht mehr aufgetaucht. Grete war damals noch ein Wickelkind, das nicht einmal gehen konnte. Großmutter Zachhuber hatte sich des Kindes angenommen.
Und auch heute weiß keiner, wohin Maria gegangen ist, ihre Familie in Oberösterreich nicht und ihr Immer-noch-Ehemann in Graz schon gar nicht. Nach Linz? Nach Wien? Oder nach Deutschland? Seinetwegen konnte sie auch nach Amerika ausgewandert sein, denkt sich Otto, wenn es nicht immer noch das Problem der 44 aufrechten Ehe geben würde: Auf dem Papier sind sie schließlich nach wie vor Mann und Frau. Sogar in ihrer Abwesenheit bindet und quält sie ihn.
Auseinander gegangen waren sie im Kriegszustand. Wie einen jemand bloß so zur Weißglut treiben konnte, für den man eigentlich nichts mehr empfand. Jedenfalls keine Liebe mehr, sondern nur noch Verletzung. Und Wut.
Otto weiß bis heute nicht, wie eine Ehe, die so voll tiefer Gefühle begonnen hatte, so unglaublich kalt hatte werden können. Er hatte doch alles gegeben, seine Stellung, seine Familie, seine Zukunftsaussichten. Doch bei jedem Schritt, den er auf Maria zugetan hatte, war sie zwei Schritte weggerückt. Stimmt schon, schlussendlich war er gegangen. Und das sogar, als Maria noch einmal schwanger gewesen war. Aber es war notwendiger Selbstschutz gewesen, zumindest
sah er das so. Ihre Aggression hatte ihn in die Flucht geschlagen.
Oder nein, das stimmte eigentlich nur zum kleineren Teil. Viel mehr noch als die Aggression war es das Gefühl der Geringschätzung gewesen, dieser schleichende Prozess des Bedeutungsverlustes für den anderen. War er anfangs ein Held gewesen, ein stolzer Offizier mit überlegenem Wissen und einer gesellschaftlichen Reputation, war er am Ende bloß noch der, der es nicht geschafft hatte in den Umbruchsjahren. Der von der Bäckerei des Schwagers durchgefüttert werden musste, weil das eigene Geschäft kaum etwas abwarf, wie sehr er sich auch ins Zeug legte. Er war sich von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat kleiner vorgekommen. Und sie hatte den Respekt vor ihm verloren. Das war es.
Und damit hatte er nicht mehr leben können. Grob waren sie zueinander gewesen, zuletzt. Er hatte manchmal den Eindruck gehabt, sie forderte ihn zu Handgreiflichkeiten geradezu heraus, damit sie etwas gegen ihn in der Hand hatte, eine Verletzung als Beweis seiner Unwürdigkeit, seines Verlustes jeder Grenze, jeder Kontrolle. Er schlug dann mit der Faust gegen die Wand, trat gegen den Türstock: »Du treibst mich nicht zum Letzten!«, gerade noch, gerade
noch. Und so war er schließlich gegangen. In Notwehr, sozusagen, als letzte Ausflucht.
Der Weg zurück nach Graz, war ihm nicht leicht gefallen. Mit fast dreißig Jahren betteln kommen zum Vater. Bitter.
»Soso. Der Herr Handelskaufmann beehrt uns. Und er reist offenbar mit großem Gepäck. Steigt er gar nicht im Grandhotel Weitzer ab?« Der Vater empfängt ihn im Salon. Und obwohl er vorher Ida alles geschrieben und sie um diplomatische Vermittlung gebeten hatte, stellt sich der Vater jetzt bewusst dumm. »Na, Otto, ich bin ja schon gespannt auf die Erfolge, die du vorzuweisen hast, wenn du dich jetzt nach mehr als drei Jahren einmal anschauen lässt.«
»Es gibt keine Erfolge, Vater.« Otto hat sich während der Fahrt hierher dazu entschlossen, gleich alle Karten auf den Tisch zu legen. »Ich hab ein Geschäft heruntergewirtschaftet. Ich hab, wenn du so willst, zwei Kriege verloren, einen Weltkrieg und einen privaten. Ich bin mit einer Ehe gescheitert. Ich hab zwei meiner Kinder sterben sehen. Wenn du etwas Positives hören willst, bleibt eigentlich nur das übrig: Ich habe alles überlebt. Irgendwie.« Und er weiß eigentlich nicht, ob das wirklich eine gute Nachricht ist.
Nach diesem Offenbarungseid kann der Vater nicht viel sagen. »Setz dich.« Bisher ist Otto gestanden, wie ein Schulbub vor dem Lehrer, wie ein Angeklagter, der Vater thront wie ein Richter im großen Armstuhl am Kopfende des Esstisches. Jetzt zeigt er auf den Stuhl neben sich. »Und was willst du jetzt tun?«
»Arbeiten. Als Lehrer. Und ich hab mir gedacht, ob du mir vielleicht dabei behilflich sein kannst. Oder einer deiner Freunde.« »Und was ist mit dem Geschäftemachen? Bist du geheilt? Oder liegt es nur an der Frau - und das nächste Weib macht einen Wirten aus dir? Oder einen Bauern?«
Sein Vater ist nicht gewillt, es ihm zu leicht zu machen. Er würde, biblisch gesprochen, nicht das beste Stück in seiner Herde schlachten, nur um den verlorenen Sohn zu feiern. Er würde ihn jetzt ein wenig knien lassen vor ihm.
»Nein, kein Wirt und auch kein Landwirt. Und auch keine neue Frau, Vater. Außerdem bin ich ja immer noch verheiratet, zumindest auf dem Papier.« Otto schaut auf die alte Pendeluhr. Der Landsknecht am Zifferblatt schaut ihn an, schaut weg, schaut ihn an, schaut weg. »Ich weiß schon selbst, was für einen Blödsinn ich
gemacht hab.« Wer mit dem Hut in der Hand kommt, der muss seinen Stolz hinunterschlucken können.
»Das heißt, wir haben die Frau Gemahlin auch zu erwarten bei uns?«
»Das kann ich ausschließen, Vater.«
»Aber sie bekommt doch noch ein Kind von dir.« Jetzt zeigt sich, dass er ohnehin über alles Bescheid weiß, von Ida bis ins Detail informiert.
»Trotzdem. Da geht nichts mehr zusammen.«
Sie würden einander umbringen, wenn sie noch einmal zusammenleben müssten, da ist Otto sich sicher, so wie die Situation in den letzten Wochen und Monaten eskaliert war. Am Tag vor seiner Abreise, vor seiner Flucht, war Maria mit dem großen Küchenmesser auf ihn losgegangen. Er hatte gerade noch die Tür zur Stube zudrücken können, sie hatte draußen am Gang geschrien, er im Zimmer, ein Narrenhaus. Den Anlass hatte er schon vergessen, es war wohl irgendeine Nichtigkeit gewesen, wie meist. Und er war sich jetzt im Nachhinein nicht einmal sicher, ob sie ihn mit dem Messer verletzen hatte wollen, oder ob es ihr nicht genauso recht gewesen wäre, selbst verletzt zu werden. Hauptsache, irgendetwas geschah, war entschieden, war endlich vorbei.
Am nächsten Morgen war er weg, vom Schwager und der Schwägerin hatte er sich verabschiedet, die seit kurzem verwitwete Schwiegermutter hatte er umarmt. Dass der alte Zachhuber nicht mehr lebte, hatte ihm den Abschied auch leichter gemacht, den hatte er wirklich gemocht, bis zuletzt.
Maria war weg gewesen, wie schon öfter in den Wochen davor, nach dem Streit verschwunden und nicht mehr heimgekommen, jedenfalls nicht in dieser Nacht. Auch nicht am nächsten Morgen. Was für ein katastrophales Ende.
Das geht ihm jetzt durch den Kopf, und das muss sich auch in seiner Miene zeigen. Denn plötzlich greift der Vater nach ihm, legt ihm die Hand auf den Unterarm und sagt: »Ach, Otto!«
Er zuckt zusammen, berührt hat ihn der Vater noch nie, man berührt sich nicht in der Familie Wernitznigg.
Der Vater zieht den Arm sofort wieder zurück, dieser Anflug von Liebe ist ihnen nun beiden peinlich. Der Vater räuspert sich. »Naja. Ich werde einmal schauen.«
Tante Ida kann wunderschön malen. Sie kann singen wie eine große Sängerin, am Abend spielt sie Lieder aus Operetten auf dem 43 Flügel im Salon. So heißt das Wundertier in der Erwachsenensprache, Grete weiß das natürlich schon, sie ist ja seit kurzem ein Schulmädchen. Aber sie findet, Wundertier passt besser.
Tante Ida singt auch dazu. Und das klingt dann viel schöner als auf Großvaters Grammophon, das findet sogar der Großvater. Wenn Tante Ida singt, dann ist auch er froh und freundlich. Und das ist er sonst sehr selten.
Der Großvater ist die wichtigste Person in der Wohnung, das hat Grete gleich gemerkt, als sie vor einem halben Jahr hierher gekommen ist. Dann folgt die Großmutter.
Am wenigsten Bedeutung hat Onkel Roman, der Vater von Kurti. Zumindest schimpft der Großvater oft mit ihm. Der Onkel Roman ist ein wahnsinnig gescheiter Mann, sagt die Tante Ida, der an einem unglaublich klugen Buch schreibt. Aber von dem kann er leider nicht leben, und seine Frau, die Tante Mirl, und der Kurti
schon gar nicht, und Arbeit findet er keine, und daher leben alle vom und beim Großvater. Die Tante Ida natürlich auch, aber das ist was anderes, denn die Tante Ida ist Kindergärtnerin und nicht verheiratet. Und daher ist es klar, dass sie bei den Großeltern wohnt.
Der Vater und sie wohnen auch da, immer am Wochenende. Auch der Vater streitet manchmal mit dem Großvater. Aber nicht so oft wie der Onkel Roman. Wenn sie mit dem Vater am Wochenende in Graz ist, dann schläft Grete mit ihm in seinem Zimmer. Dann ist sie glücklich.
Otto hatte Grete im Herbst 1926 zuerst nach Feldbach und dann nach Graz geholt. Da war Maria schon mehr als vier Jahre spurlos verschwunden. Plötzlich war sie weg gewesen, im Spätwinter 1922, von einem Tag auf den anderen nicht mehr aufgetaucht. Grete war damals noch ein Wickelkind, das nicht einmal gehen konnte. Großmutter Zachhuber hatte sich des Kindes angenommen.
Und auch heute weiß keiner, wohin Maria gegangen ist, ihre Familie in Oberösterreich nicht und ihr Immer-noch-Ehemann in Graz schon gar nicht. Nach Linz? Nach Wien? Oder nach Deutschland? Seinetwegen konnte sie auch nach Amerika ausgewandert sein, denkt sich Otto, wenn es nicht immer noch das Problem der 44 aufrechten Ehe geben würde: Auf dem Papier sind sie schließlich nach wie vor Mann und Frau. Sogar in ihrer Abwesenheit bindet und quält sie ihn.
Auseinander gegangen waren sie im Kriegszustand. Wie einen jemand bloß so zur Weißglut treiben konnte, für den man eigentlich nichts mehr empfand. Jedenfalls keine Liebe mehr, sondern nur noch Verletzung. Und Wut.
Otto weiß bis heute nicht, wie eine Ehe, die so voll tiefer Gefühle begonnen hatte, so unglaublich kalt hatte werden können. Er hatte doch alles gegeben, seine Stellung, seine Familie, seine Zukunftsaussichten. Doch bei jedem Schritt, den er auf Maria zugetan hatte, war sie zwei Schritte weggerückt. Stimmt schon, schlussendlich war er gegangen. Und das sogar, als Maria noch einmal schwanger gewesen war. Aber es war notwendiger Selbstschutz gewesen, zumindest
sah er das so. Ihre Aggression hatte ihn in die Flucht geschlagen.
Oder nein, das stimmte eigentlich nur zum kleineren Teil. Viel mehr noch als die Aggression war es das Gefühl der Geringschätzung gewesen, dieser schleichende Prozess des Bedeutungsverlustes für den anderen. War er anfangs ein Held gewesen, ein stolzer Offizier mit überlegenem Wissen und einer gesellschaftlichen Reputation, war er am Ende bloß noch der, der es nicht geschafft hatte in den Umbruchsjahren. Der von der Bäckerei des Schwagers durchgefüttert werden musste, weil das eigene Geschäft kaum etwas abwarf, wie sehr er sich auch ins Zeug legte. Er war sich von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat kleiner vorgekommen. Und sie hatte den Respekt vor ihm verloren. Das war es.
Und damit hatte er nicht mehr leben können. Grob waren sie zueinander gewesen, zuletzt. Er hatte manchmal den Eindruck gehabt, sie forderte ihn zu Handgreiflichkeiten geradezu heraus, damit sie etwas gegen ihn in der Hand hatte, eine Verletzung als Beweis seiner Unwürdigkeit, seines Verlustes jeder Grenze, jeder Kontrolle. Er schlug dann mit der Faust gegen die Wand, trat gegen den Türstock: »Du treibst mich nicht zum Letzten!«, gerade noch, gerade
noch. Und so war er schließlich gegangen. In Notwehr, sozusagen, als letzte Ausflucht.
Der Weg zurück nach Graz, war ihm nicht leicht gefallen. Mit fast dreißig Jahren betteln kommen zum Vater. Bitter.
»Soso. Der Herr Handelskaufmann beehrt uns. Und er reist offenbar mit großem Gepäck. Steigt er gar nicht im Grandhotel Weitzer ab?« Der Vater empfängt ihn im Salon. Und obwohl er vorher Ida alles geschrieben und sie um diplomatische Vermittlung gebeten hatte, stellt sich der Vater jetzt bewusst dumm. »Na, Otto, ich bin ja schon gespannt auf die Erfolge, die du vorzuweisen hast, wenn du dich jetzt nach mehr als drei Jahren einmal anschauen lässt.«
»Es gibt keine Erfolge, Vater.« Otto hat sich während der Fahrt hierher dazu entschlossen, gleich alle Karten auf den Tisch zu legen. »Ich hab ein Geschäft heruntergewirtschaftet. Ich hab, wenn du so willst, zwei Kriege verloren, einen Weltkrieg und einen privaten. Ich bin mit einer Ehe gescheitert. Ich hab zwei meiner Kinder sterben sehen. Wenn du etwas Positives hören willst, bleibt eigentlich nur das übrig: Ich habe alles überlebt. Irgendwie.« Und er weiß eigentlich nicht, ob das wirklich eine gute Nachricht ist.
Nach diesem Offenbarungseid kann der Vater nicht viel sagen. »Setz dich.« Bisher ist Otto gestanden, wie ein Schulbub vor dem Lehrer, wie ein Angeklagter, der Vater thront wie ein Richter im großen Armstuhl am Kopfende des Esstisches. Jetzt zeigt er auf den Stuhl neben sich. »Und was willst du jetzt tun?«
»Arbeiten. Als Lehrer. Und ich hab mir gedacht, ob du mir vielleicht dabei behilflich sein kannst. Oder einer deiner Freunde.« »Und was ist mit dem Geschäftemachen? Bist du geheilt? Oder liegt es nur an der Frau - und das nächste Weib macht einen Wirten aus dir? Oder einen Bauern?«
Sein Vater ist nicht gewillt, es ihm zu leicht zu machen. Er würde, biblisch gesprochen, nicht das beste Stück in seiner Herde schlachten, nur um den verlorenen Sohn zu feiern. Er würde ihn jetzt ein wenig knien lassen vor ihm.
»Nein, kein Wirt und auch kein Landwirt. Und auch keine neue Frau, Vater. Außerdem bin ich ja immer noch verheiratet, zumindest auf dem Papier.« Otto schaut auf die alte Pendeluhr. Der Landsknecht am Zifferblatt schaut ihn an, schaut weg, schaut ihn an, schaut weg. »Ich weiß schon selbst, was für einen Blödsinn ich
gemacht hab.« Wer mit dem Hut in der Hand kommt, der muss seinen Stolz hinunterschlucken können.
»Das heißt, wir haben die Frau Gemahlin auch zu erwarten bei uns?«
»Das kann ich ausschließen, Vater.«
»Aber sie bekommt doch noch ein Kind von dir.« Jetzt zeigt sich, dass er ohnehin über alles Bescheid weiß, von Ida bis ins Detail informiert.
»Trotzdem. Da geht nichts mehr zusammen.«
Sie würden einander umbringen, wenn sie noch einmal zusammenleben müssten, da ist Otto sich sicher, so wie die Situation in den letzten Wochen und Monaten eskaliert war. Am Tag vor seiner Abreise, vor seiner Flucht, war Maria mit dem großen Küchenmesser auf ihn losgegangen. Er hatte gerade noch die Tür zur Stube zudrücken können, sie hatte draußen am Gang geschrien, er im Zimmer, ein Narrenhaus. Den Anlass hatte er schon vergessen, es war wohl irgendeine Nichtigkeit gewesen, wie meist. Und er war sich jetzt im Nachhinein nicht einmal sicher, ob sie ihn mit dem Messer verletzen hatte wollen, oder ob es ihr nicht genauso recht gewesen wäre, selbst verletzt zu werden. Hauptsache, irgendetwas geschah, war entschieden, war endlich vorbei.
Am nächsten Morgen war er weg, vom Schwager und der Schwägerin hatte er sich verabschiedet, die seit kurzem verwitwete Schwiegermutter hatte er umarmt. Dass der alte Zachhuber nicht mehr lebte, hatte ihm den Abschied auch leichter gemacht, den hatte er wirklich gemocht, bis zuletzt.
Maria war weg gewesen, wie schon öfter in den Wochen davor, nach dem Streit verschwunden und nicht mehr heimgekommen, jedenfalls nicht in dieser Nacht. Auch nicht am nächsten Morgen. Was für ein katastrophales Ende.
Das geht ihm jetzt durch den Kopf, und das muss sich auch in seiner Miene zeigen. Denn plötzlich greift der Vater nach ihm, legt ihm die Hand auf den Unterarm und sagt: »Ach, Otto!«
Er zuckt zusammen, berührt hat ihn der Vater noch nie, man berührt sich nicht in der Familie Wernitznigg.
Der Vater zieht den Arm sofort wieder zurück, dieser Anflug von Liebe ist ihnen nun beiden peinlich. Der Vater räuspert sich. »Naja. Ich werde einmal schauen.«
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Inhaltsverzeichnis zu „Kleine Zeiten “
Prolog: Die Neue Heimat1. Kapitel: Die Verwundung
2. Kapitel: Zwei Leben 18
3. Kapitel: Beim Vater
Auf dem Dachboden
4. Kapitel: Bei der Mutter
5. Kapitel: In die Welt hinein
6. Kapitel: Die Große Zeit
7. Kapitel: Hubert
8. Kapitel: Draußen
9. Kapitel: Trennungen
10. Kapitel: Am Abgrund
Im Keller
11. Kapitel: Walter
12. Kapitel: Es geht aufwärts
13. Kapitel: Im Sekretariat
14. Kapitel: Die guten Jahre
15. Kapitel: Zeiten des Abschieds
Autoren-Porträt von Fritz Dittlbacher
Dr. Fritz Dittlbacher, geboren 1963 in Kirchdorf an der Krems, Oberösterreich. Aufgewachsen erst bei seinen Großeltern in Kirchdorf, später bei seiner Mutter in Wels. Ausbildung zum Chemieingenieur, dann Studium der Geschichte in Wien. Journalist, zunächst bei Tageszeitungen, später beim Radio, seit fünfzehn Jahren beim Fernsehen. Seit 2010 ist er Chefredakteur der ORF-TV-Information. "Kleine Zeiten" ist sein erster Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Fritz Dittlbacher
- 2012, 1. Aufl., 256 Seiten, 7 Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Seifert
- ISBN-10: 3902406933
- ISBN-13: 9783902406934
Kommentar zu "Kleine Zeiten"
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