Komm, gehen wir
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»Komm, gehen wir« ist die Geschichte von drei Leben, drei Lieben, Glück und Unglück. Und so als wäre die Liebe etwas gewesen, bleibt am Ende die Sehnsucht. Vom Leser wird in diesem Buch nichts anderes erwartet, als dass er verliebt ist oder sich daran erinnern kann, wie das war. Könnte es sein, dass die Liebe das Warten auf die Liebe ist?
Komm, wir gehen von Arnold Stadler
LESEPROBE
1. Komm,gehen wir. Und sie gingen
Eigentlichwaren sie nur zum Braunwerden hierhergekommen. Deswegenwaren sie hier. Und das Meer sehen wollten sie. Und nichts tun. Und sonst garnichts.
Geradehatte Jim sie um einen Schluck Wasser gebeten und sich neben sie auf seinkleines Handtuch gesetzt. So begann ihre Geschichte. Und wie jede Liebe begannauch diese mit einem Blick.
Das wussteer aus den Liebesfilmen.
Es war einealte Sehnsucht, mit der ihn Tante Paula infiziert hatte. Sie liebte Capri, musses geliebt haben, denn anders ließ es sich nicht erklären, dass sie wie einKind sprach, wenn sie davon erzählte.
Das Schönsteauf der ganzen Welt!, sagte sie, wie Kinder sagen. Rolandsah sie noch mit diesem Satz dastehen und hörte noch das Ausrufungszeichenhinter auf der ganzen Welt.
Vielleichtwar es auch wegen der Liebe, von der Roland damals noch nicht viel wusste, dasses immer Capri sein musste. Und die Liebe einer alten Frau gab es für ein Kindvon einst ohnehin nicht - solche Sätze waren Roland in den Sinn gekommen, alsihm diese Frau in den Sinn kam. Die Erinnerung war Schnee von gestern und dasKapital von Schriftstellern und Verliebten, die ihre große Zeit hinter sichhatten.
Tante Paulahat ihnen jedes Jahr eine Karte von diesem Meer und den Felsen geschickt. Sosah er auch nebenbei zum ersten Mal das Meer. Als Kind saß er auf ihrem Schoß,wenig später hat sie seinen Händen Manieren beibringen wollen, dann die erstenWorte Französisch. Sie sah, wie er wuchs, und jedes Mal, wenn sie zu ihnen nachHause kam, das war einmal im Jahr, sah Paula, wie er Fortschritte gemacht hatteim Leben.
Später,als sie wieder in die Nähe gezogen war, an den See, in der Illusion, zu Hausestürbe es sich leichter, hat sie immer wieder nach ihm gefragt, er solle siedoch einmal besuchen. Was kaum einmal geschah. Nach ihrem Tod sagten dieFortschrittlichen unter ihren Menschen, die zurückgeblieben waren, Tante Paulasei lesbisch gewesen. Das war in einer Zeit, als Dieses Wort in den offiziellenMitteilungen noch nicht vorkam, schon gar nicht im kleinen Nachruf des Südkurier. Für Roland war diese Tante jedoch das ersteBeispiel einer Liebe, die nicht so war wie die anderen.
TantePaula, viersprachig alt geworden, das Fräulein Hahn, war vor Jahrenviersprachig hier herumgegangen, jedes Jahr, früher mit Irmchen,später, nach Irmchens Tod, immer allein, auf diesenWegen, denselben Wegen, á la recherche du temps perdu (wie eine Witwe oder ein Schriftsteller, dersich erinnern muss), auf denen gerade Roland und Rosemarie unterwegs gewesen waren,eine Woche lang, und immer wieder hatte Roland an seine Tante gedacht und ansein bisheriges Leben und wusste auch nicht, warum gerade jetzt, und er hatRosemarie von seinem Leben und seiner Tante erzählt, vom Schnee von gestern,der zur Erinnerung verschmolzen war. Er hätte ihr gerne eine Karte geschrieben,aber Paula war tot, und ihre erste Adresse, Himmelreich, hätte ohnehin schon längstnicht mehr gestimmt. Sie kam nämlich, wie Roland auch, von einem Ort, derHimmelreich hieß. Das dazugehörende Land hieß Schwäbisch Mesopotamien, denn eslag da, wo die Donau und der zum Bodensee ausufernde Rhein, zwei Flüsse, schonoftmals besungen, am engsten zusammenkamen. Andere sagten auch: Das GoldeneDreieck, denn den Neckar, auf den Hölderlin lan- ge genug hinuntersah (wenn er aber eine Hymne schrieb auf ihn,war es hinauf), muss man sich auch noch dazudenken. Sowar Capri von Anfang an ein wenig dies alles: Kindheit, Liebe, Nähe und Ferne,Vergangenheit und Zukunft, und ein wenig (von dieser Zukunft) auch schon derTod. Aber so weit wie Paula waren sie noch lange nicht, die damals aufdenselben Wegen herumging mit schönen Gedanken und Erinnerungen in ihrem Kopf.Und darüber trug sie im Sommer immer einen leichten Sommerhut.Und eine ihrer schönen Perlenketten.
Sogar nocheinen Sommerpelz hatte sie im Gepäck für die Abende. Zweimal am Tag ging sieauf die Piazza, zum Sonnenuntergang den ebenen Weg zur Punta Tragara, und zurückin ihr schönes kleines Hotel Krupp, am Grand Hotel Quisisanavorbei, was eine Bedeutung hatte: Hier heilt man sich. Wovon? Die Via Kruppwar sie vielleicht auch hinuntergegangen und hat dann wie von einem Abenteuererzählt, als wäre sie dabei gewesen. Wie sie auch vom Lago Maggiore noch erzählenkonnte, wo sie zum ersten Mal eine Palme sah, das nun schon eine Peinlichkeitgewesen, der Lago Maggiore wie die erste Palme, peinlich genug fürTiefseetaucher vor dem Great Barrier Reef. Capri war nun ja auch schon eine Peinlichkeit. Kein Mensch,der 1978 auf sich hielt, fuhr nach Capri, außer einigen, die es sich leistenkonnten.
Und dannblieb Paula vielleicht auch an der Stelle stehen, wo es von der Via Krupp ausauf einer ganz steilen Treppe nach unten ging, bis zum Meer hin, wo Roland,Rosemarie und Jim jetzt zusammenlagen. Die Stelle warvon der Via Krupp aus nicht zu sehen, und Paula hatte sich vielleicht überlegt,auch noch den Rest zum Meer hinunterzusteigen, mitder Höhle dahinter, wo der arme Krupp angeblich Orgien gefeiert hatte und sichauf das Gerücht der Meute hin das Leben nehmen musste. Aber das war ihr zu gefährlich,die steilen Stufen hinunter, dachte die gebildete Paula.
Abervielleicht hat sie auch gar nicht gedacht, ist einfach weitergegangen und hatirgendetwas anderes gesehen, denn die neuesten Ergebnisse der Hirnforschungbesagten, dass es gar nicht Denken war, sondern eine chemische Reaktion. Und eswar ja auch nicht der freie Wille Tante Paulas, der sie nun weitertrieb,sondern eine chemische Reaktion. Denken war nur noch ein Wort. Man sagte nurnoch so, wenn man zu denken glaubte. Der Mensch dachte nur noch, dass erdachte. Das hatten die Experten herausgefunden, die sich längst so mit Gottverwechselten wie ein Dirigent mit dem Komponisten immer schon, die an jenerStelle, an der der Schöpfer am meisten gelitten hat, sich am meisten feiernließen.
Von demallen wusste Paula noch nichts. Ihr Glück kam manchmal mitten aus ihrem Bauch.
Tante Paulahatte ihr Leben viersprachig allein verbracht, meistens allein, als hätte mandafür studieren müssen, war Hauslehrerin gewesen, Direktorin eines privaten Mädchen-Instituts, hatte in ihrer Jugend auf Schlössern gelebt, eine Zeit lang, die schönsteZeit, fast dreißig Jahre mit ihrer Freundin in einem Häuschen unweit vonHumboldts Tegeler Schlösschen, alles in Hellblau und Rosa, die ganze Wäsche,Paulchen war hellblau, Tante Irmchen rosa gewesen,als hätten sie noch in der Strampelhosenzeit gelebt in von Bruno Paul undRichard Riemerschmid entworfenen Sofagarnituren und mit Teatime-Tassen von Heinrich Vogeler aus Worpswede. ()
© S.Fischer Verlag
- Autor: Arnold Stadler
- 2007, 4. Aufl., 400 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100751272
- ISBN-13: 9783100751270
- Erscheinungsdatum: 25.05.2007
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