Kornblumenblau
Ein Fall für Milena Lukin
In der Nacht vom elften auf den zwölften Juli machen zwei Gardisten der serbischen Eliteeinheit ihren Routinerundgang auf dem Militärgelände von Topçider. Am nächsten Morgen werden sie tot aufgefunden. Sie seien einem unehrenhaften Selbstmordritual zum...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Kornblumenblau “
In der Nacht vom elften auf den zwölften Juli machen zwei Gardisten der serbischen Eliteeinheit ihren Routinerundgang auf dem Militärgelände von Topçider. Am nächsten Morgen werden sie tot aufgefunden. Sie seien einem unehrenhaften Selbstmordritual zum Opfer gefallen, behauptet das Militärgericht. Und stellt die Untersuchungen ein. Im Auftrag der Eltern der jungen Männer beginnt der Anwalt Sinisa Stojkovic zu ermitteln. Er bittet seine Freundin Milena Lukin, Spezialistin für internationales Strafrecht, um Unterstützung. Ihre Nachforschungen sind gewissen Kreisen ein Dorn im Auge, Milena Lukin gerät dabei in Lebensgefahr. Und es erhärtet sich ein fürchterlicher Verdacht: Die beiden Gardisten hatten vermutlich etwas gesehen, was sie nicht sehen durften. Hatte es mit dem Jahrestag des größten Massakers der europäischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun?
Klappentext zu „Kornblumenblau “
Belgrad - Metropole an zwei traumhaften Flussufern, faszinierende Stadt im Brennpunkt europäischer Geschichte, Stadt im Wandel. Und in diesem Roman Ort eines aufsehenerregenden Verbrechens: Am Morgen des zwölften Juli werden zwei junge Nationalgardisten erschossen auf dem Belgrader Militärgelände aufgefunden, angeblich handelt es sich um Selbstmord. Milena Lukin vermutet, dass in Wirklichkeit etwas vertuscht werden soll, dass um keinen Preis an die Öffentlichkeit kommen darf.Autoren-Porträt von Christian Schünemann, Jelena Volic
Christian Schünemann, geb. 1968 in Bremen, studierte Slawistik in Berlin und Sankt Petersburg, arbeitete in Moskau und Bosnien-Herzegowina und absolvierte die Evangelische Journalistenschule in Berlin. Christian Schünemann lebt in Berlin.Jelena Volic, geboren in Belgrad, studierte Allgemeine Literaturwissenschaft, Italianistik, Slawistik und Germanistik in Belgrad, Florenz, Groningen, Münster und Berlin. Zurzeit lehrt sie Neuere deutsche Literatur und Deutsche Kulturgeschichte in Belgrad und Kragujevac. Sie lebt in Belgrad und Berlin.
Autoren-Interview mit Christian Schünemann
Kriminalistischer Balkan-Blues Premiere für ein geniales Autorenduo
Exklusiv-Interview
Serbien, ein Land, von dem wir viel zu wenig wissen. Belgrad, eine der ältesten Städte Europas und lange verkannte Schönheit an den Ufern von Donau und Save - ein Geheimtipp. Schünemann & Volic: ein perfekt eingespieltes Autorenduo, das mit serbischen und deutschen Besonderheiten sowie dem Alltag in beiden Ländern gleichermaßen vertraut ist - und das uns nun in den Bann Belgrads zieht. Hier ist Jelena Volic (JV) beheimatet und Christian Schünemann (CS, bekannt durch seine „Frisör"-Krimis) regelmäßig zu Gast. Ihr erstes Gemeinschaftswerk „Kornblumenblau" ist der großartige Auftakt einer Krimiserie und eine spannende, atmosphärische Entdeckungsreise!
Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit? Wie sind Sie zum Autorenduo geworden?
JV: Als Studentin habe ich die Romane des Autorenduos Carlo Fruttero und Franco Lucentini verschlungen: „La donna della domenica" („Die Sonntagsfrau", „Enigma in luogo di mare" („Das Geheimnis der Pineta"), auch ihre Pamphlete und Parodien „La prevalenza del cretino" („Ein Hoch auf die Dummheit"). Christan und ich haben gemeinsam Slavistik studiert, und wir wurden beide zu großen Fans von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, haben zusammen laut gelacht, wenn wir ihre „Zwölf Stühle" und „Einstöckiges Amerika" gelesen haben. Damals haben wir überlegt, wie es wäre, irgendwann einmal etwas gemeinsam zu schreiben. Aber wir dachten, das ist ein schöner, vermessener Traum.
CS: Trotzdem hat Jelena über die Jahre immer wieder von ihrer Idee, einer Ermittlerin in Belgrad, gesprochen. Und sie hat viele kleine Alltagsgeschichten vom Balkan erzählt,
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für die ich ein Elefantengedächtnis habe. Irgendwann, das muss 2009 gewesen sein, habe ich gesagt: Setz dich hin und schreib mal alles auf, was Dir zu der Hauptperson, der Ermittlerin, einfällt: Wo kommt sie her? Wie lebt sie? Was möchte sie erreichen? Das hat Jelena dann tatsächlich gemacht und ich dachte: Wow! Und so kam die Sache in Gang.
Sie beide bringen unterschiedliche Erfahrungen mit: Christian Schünemann unter anderem als Autor von Krimis, Jelena Volic als Literaturwissenschaftlerin und Kulturhistorikerin. Wie hat sich das bei Ihrem Buchprojekt ausgewirkt?
JV: Ich war schon immer eine leidenschaftliche Krimi-Leserin und habe theoretische Arbeiten über den Kriminalroman verfasst. Ich mag Leonardo Sciascia sehr, und Simenon. Und ich bin ein großer Fan vom italienischen Giallo. Es ist einfach, über eine Trivialform zu sprechen, sie zu kritisieren oder theoretisch zu urteilen. Es ist aber verdammt schwierig, sie zu schreiben. Trivialformen haben einen bestimmten Rahmen, den man, wie in der guten Literatur, nicht durchbrechen kann. Christian hat ein besonderes, sehr subtiles und unaufdringliches Gespür für die Gesetze eines Trivialgenres.
CS: Naja. Durch die Kriminalromane um den Frisör Tomas Prinz und die Fernsehserien, für die ich schreibe, bin ich wahrscheinlich geübt darin, Geschichten in eine Dramaturgie und Reihenfolge zu bringen. Was nicht heißt, dass wir das in der Zusammenarbeit dann nicht auch ständig wieder über den Haufen schmeißen.
Wie gestaltete sich Ihr Gemeinschaftsprojekt denn praktisch?
CS: Nachdem wir eine klare Vorstellung von der Hauptfigur hatten, der wir den Namen Milena Lukin gaben, haben wir uns zusammengesetzt, die Kriminalgeschichte entwickelt und die Reihenfolge der Szenen festgelegt. Wir haben die Erzählperspektiven bestimmt und für die Übersichtlichkeit eine Tabelle erstellt. Und dann sind wir ins Detail gegangen, Kapitel für Kapitel. Jeder von uns hatte seine Phasen, wo er intensiv und allein am Text arbeitet, und das ist, glaube ich, sehr wichtig. Und wir haben dasselbe Grundverständnis für die Figuren, den Plot und wie es sich hinterher liest. Um es auf einen sehr einfachen Nenner zu bringen: Ich habe die Frage, Jelena hat die Antwort. Manches lässt sich sogar per SMS klären, das ist die schnelle Variante. Manches braucht mehr Zeit.
JV: Und vergiss nicht: Wir erzählen uns ständig, was wir gesehen und erlebt haben. Wenn man durch die Stadt geht und, zum Beispiel, eine Frau im Café sitzen sieht - da ist schon eine ganze Geschichte: Man kann sich fragen, woher die Frau kommt, weswegen sie alleine da sitzt, was ihr heute passiert ist ... Wenn ich Christian weitschweifig etwas erzähle, dann sagt er: „Komm, hau es in die Tasten!" Mittlerweile gehe ich durch die Welt und habe Christians Brille auf: Alles was mich bewegt, versuche ich durch seine norddeutsche, unpathetische, ironische und liebenswürdige Art zu sehen. Nichtsdestotrotz bleibt viel Dramatik und Pathos in dem, was ich sehe. Das wiederum befruchtet Christians Blick.
CS: Manchmal bleiben wir stecken, manchmal verlässt uns die Muse - aber das passiert zum Glück nie bei uns beiden gleichzeitig. Es gibt immer einen Funken, der überspringt - und es geht weiter.
JV: Aber die Form hat Christian immer im Blick. Wenn ich zu sehr ausweiche und mich in den Digressionen verliere, dann gibt es manchmal einen „Klaps" aus Berlin: „Du, jetzt brauchen wir eine Verfolgungsjagd", oder: „Wo ist die Leiche?"
Welche Idee war der Ausgangspunkt von „Kornblumenblau"?
CS: Das ist eine wahre Geschichte: Im Jahr 2004 kamen in einer Belgrader Kaserne zwei Soldaten unter mysteriösen Umständen ums Leben. Diese Todesfälle kommen auch im Prozess gegen General Mladic in Den Haag zur Sprache.
JV: Der Krieg ist beendet, die politischen Folgen werden jetzt administrativ behandelt. Die hohe Politik hat die Grenzverschiebungen auf dem Balkan unter Kontrolle, aber wie das alltägliche Leben dort aussieht, ist kaum bekannt. Dabei fliegt man von Berlin nach Belgrad nur neunzig Minuten, genauso lange wie nach Wien. Aber im Empfinden liegt Belgrad für die Deutschen so weit weg wie Asien. Für Milena Lukin ist der Balkan ihr Geburtsort, und dorthin kehrt sie zurück, nachdem sie Jahrzehnte lang in Berlin gelebt, gearbeitet und geliebt hat. Sie muss sich Belgrad wieder erobern, alles ist ihr so bekannt, aber vieles auch fremd. Das war für mich die Hauptinspiration für „Kornblumenblau".
„Kornblumenblau" ist nicht einfach ein Kriminalfall, sondern - ähnlich wie die Kriminalromane Ihres Diogenes-Autorenkollegen Petros Markaris - ein Stadtporträt. Was fasziniert Sie persönlich an der serbischen Hauptstadt? Und was macht Belgrad als Schauplatz reizvoll?
CS: Für mich gibt es zwei Belgrads: das Belgrad, in dem die Nationalisten gegen die Verhaftung von Mladic demonstrieren, wo die Demonstration von Schwulen und Lesben durch die Polizei geschützt werden muss. Das ist das finstere, unsympathische Belgrad. Dann gibt es das Belgrad der Freunde und der Familie, mit aufgeschlossenen, freundlichen und coolen Menschen, die in einer bunten und lebenswerten Stadt wohnen und arbeiten. Diese beiden Bilder von Belgrad zusammenzubringen, das ist für mich das Reizvolle.
JV: Belgrad ist eine sehr alte Stadt mit einer wechselvollen Geschichte. Es gab kaum Jahrzehnte ohne Krieg, für die gewöhnlichen Menschen war die Freiheit nie selbstverständlich. Belgrad liegt oberhalb zweier mächtiger Flüsse - die Save und die Donau, die hier zusammenfließen. Ein Ufer gehört historisch und kulturell zum Okzident, das andere zum Orient. Das Leben in dieser Stadt ist anstrengend, weil man in jedem Augenblick erfährt, dass Europa nicht nur in Athen zu Hause ist, sondern auch in Konstantinopel. In Belgrad werden alle politischen Optionen noch immer gleichzeitig diskutiert: Monarchie, Sozialismus und westliche Demokratie. Alles ist erlaubt, politische Korrektheit ist immer noch vor allem eine Sache der intellektuellen Eliten. In Belgrad vergisst man keine Minute wie wertvoll und fragil die Freiheit und der Frieden sind. Und man glaubt immer noch, dass es Ideale gibt, für die man nichts weniger als sein Leben aufs Spiel setzen muss und will.
Wie und wo haben Sie recherchiert? Was waren für Sie die interessantesten Erfahrungen und Entdeckungen? Was hat Sie am meisten erstaunt, schockiert und positiv überrascht?
CS: Ich bin über Tage und Wochen immer wieder in Belgrad und lasse mich am liebsten treiben, halte die Augen und Ohren offen, fotografiere und notiere. Schockieren tut mich nichts, aber was mich am meisten erstaunt und überrascht, ist, wie freundlich die verschiedenen Generationen miteinander umgehen, wie die Leute, wildfremde Menschen, miteinander auf der Straße ständig im Gespräch sind. Da sitzt eine alte Frau auf der Bank, irgendein Typ mit kurzgeschorenen Haaren schlendert vorbei, beide haben Zeit und kommen miteinander ins Gespräch.
JV: Für mich ist Belgrad nicht nur eine Stadt, sondern ein lebendiges Wesen, ein Familienmitglied. Das ist eine ganz besondere und intime Bindung. Ebenso subjektiv bin ich, wenn Berlin zur Sprache kommt. Für mich war es daher wichtig, dass ich einen Filter zwischen mich und meine Subjektivität setzen kann. Christian sorgt für den Filter. Er ist anders subjektiv. Das gilt auch für die politischen Phänomene. Wo ich als Insider milder und emotional berichten würde, kam Christian mit seiner scharfen, manchmal auch durch Vorurteile bedingten Kritik. Das war nicht immer einfach.
Im Mittelpunkt steht Milena Lukin. Wie würden Sie Ihre Hauptfigur beschreiben?
JV: Milena Lukin ist eine Frau, die es in der Realität kaum mehr gibt. Sie ist eigentlich ein Relikt aus dem 20. Jahrhundert. Sie ist eine Kämpferin, eine Frau und ein Weib, emanzipiert und zugleich selten konservativ. Sie ist intelligent und gebildet, aber gleichzeitig impulsiv, überempfindlich und irrational. Sie liebt und ist fähig zu hassen. Milena ist politisch inkorrekt, aber immer auf der Seite der Unterdrückten. Milena ist eine Träumerin, eine Frau, die alleine durch das Leben geht, mit offenen Augen, und sich wünscht, es ein wenig leichter im Leben zu haben. Mag sein, dass sie von Glanz und Glamour träumt, aber wenn sie auf Ungerechtigkeiten trifft, ist sie sofort dabei, gegen das Böse aufzurüsten, oder, Christian?
CS: Milena Lukin hat eine tiefe Liebe für die Menschen, aber sie ist oft wütend darüber, wie sie sich verhalten. Gleichzeitig kann sie sie verstehen - die Menschen aus dem Westen genauso wie die Menschen aus dem Osten, weil sie in beiden Welten gelebt hat und aus beiden Welten das Gute und das Schlechte kennt. Aber sie ist meilenweit davon entfernt, anderen zu sagen, was richtig und was falsch ist. Sie handelt selbst oft inkonsequent und entscheidet immer mit dem Bauch. Sie ist eine tolle Person. Ich liebe Milena Lukin.
Milena ist Expertin für Strafrecht und Mitarbeiterin am Belgrader Institut für Kriminalistik und Kriminologie. Was ist das Besondere an ihrer Mission?
JV: Milena hasst den Krieg und sie fürchtet ihn. Sie hat eine behütete Kindheit gehabt und hat nie geglaubt, den Krieg selbst zu erleben. Doch so ist es gekommen. Sie hat einen Sohn, und sie will für ihren Sohn eine sichere und friedliche Zukunft. Milena sieht ein, dass man vor den dunklen Zeiten in der Geschichte nicht flüchten kann. Man muss Widerstand leisten.
Auf Widerstand stößt Milena schon bei Ihrem Chef, dem Institutsleiter Boris Grubac. Was sind seine Motive? Halten Sie ihn für einen Einzelfall?
CS: Der Mann ist ein Überbleibsel aus dem alten System, der sich im neuen aber ganz gut eingerichtet hat. Obwohl er Milena das Leben manchmal schwer macht, ist er, glaube ich, harmlos. Ich finde ihn auf eine bestimmte Weise sogar nett.
JV: Boris Grubac ist eigentlich eine gogolsche Figur. Er ist Sublimat aller regimetreuen Menschen, ein hinterhältiger Hypokrit, den es auf der Welt zu allen Zeiten und überall gibt. Er passt sich an und ist politisch für alle Systeme brauchbar. Nun, er hat auch seine eigene Geschichte, hat eine Last zu tragen. Wir haben versucht, den negativen Charakter zu motivieren. Ich glaube nicht, dass wir politisch korrekt handeln - wir haben versucht, es menschlich zu sehen.
Milena versucht wirklich alles, um aus ihrer Familiensituation - sie lebt zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Mutter, drei Generationen in einer kleinen Wohnung - das Beste zu machen. Dennoch wird sie nie das Gefühl los, ausgerechnet bei denjenigen Menschen etwas zu versäumen, die ihr am meisten bedeuten.
CS: Milena will eine gute Tochter und gleichzeitig eine noch bessere Mutter sein. Das fällt ihr schwer. Sie handelt aus ihrer Familiengeschichte heraus, die Geschichte einer serbischen Familie.
JV: Gleichzeitig ist sie aber eine Frau, die in jungen Jahren nach Deutschland gezogen ist und dort zwanzig Jahre lang gelebt hat: Sie hat auf Deutsch studiert, Freundschaften gelebt, geliebt. Sie hat auf Deutsch geforscht und gedacht, ihr intellektuelles Leben spielt sich auf Deutsch ab. Sie ist also eine europäische Intellektuelle mit den intimen Balkan-Erinnerungen und Ressentiments, eine echte Grenzgängerin. Sie versucht beiden Teilen ihres Selbst gerecht zu werden, und das droht sie zu zerreissen.
Ehe sie sich versieht, ist Milena in einen ziemlich heiklen Fall verwickelt. Wie kamen Sie auf diese rätselhafte Geschichte?
JV: Mich hat an der wahren Ausgangsgeschichte, dem Doppelmord an den beiden jungen Soldaten, interessiert, dass diese Geschichte symbolisch für das steht, was im ehemaligen Jugoslawien im Krieg passiert ist. Wo die Söhne vor ihren Vätern sterben, da gibt es kein Vaterland mehr. Diese Geschichte ist eine universale Geschichte, sogar die antiken Tragödien basieren auf dieser kosmischen Ungerechtigkeit. Mich beschäftigt die Frage, warum das in unserer Welt immer und immer wieder geschieht.
Während Milena und Siniša auf viele Ungereimtheiten stoßen, werden die Ermittlungen zu den Todesfällen von offizieller Seite sehr schnell abgeschlossen. Wie typisch ist diese Haltung?
JV: Sehr typisch. Übrigens nicht nur für Serbien und den Balkan. Jedes System versucht seine dunklen Kapitel unter den Teppich zu kehren. Der Staat wird immer als wichtiger erachtet als die Schicksale Einzelner, aber auch wichtiger als Prinzipien und ethische Imperative. Was Serbien angeht: Ich glaube, dass die politischen Morde, zum Beispiel der Mord an Zoran Djindjic, nie aufgeklärt werden. Wo der Staat seine Finger im Spiel hat, bleiben die Fakten unentdeckt - genauso wie die wahren Täter.
Obwohl Milena bald zu spüren bekommt, dass sie es mit Leuten zu tun hat, die viel Macht und wenig Skrupel haben, ermittelt sie weiter. Was treibt sie an? Warum kann sie gar nicht anders?
JV: Milena weiß, dass Freiheit nur dann gelebt wird, wenn für sie gekämpft wird. Milena reagiert wie eine Mutter und wie eine Tochter. Dieser Fall entfesselt all ihre Gefühle. Niederlage ist für Milena kein akzeptables Ende. Sie muss immer das letzte Wort haben. Nur wenn sie ihrer Mutter Vera gegenüber steht - dann und nur dann steht Milenas Wort an zweiter Stelle.
Auf der Flucht vor einem Verfolger landet Milena mit ziemlich ramponierter Optik in einem Restaurant am Tisch des deutschen Botschafters. Was ist davon zu halten, wie die exklusive Tafelrunde auf sie reagiert?
CS: Ich glaube, das ist typisch für die „Internationalen", die sich in einem fremden, ihrer Ansicht nach unterentwickelten Land befinden: Sie betrachten Milena, die Einheimische, die echte Belgraderin mit einer Mischung aus ehrlichem Interesse, großer Verwunderung und gleichzeitig einem tiefen Unverständnis für ihre Situation. Dahinter steckt eine Arroganz, die den meisten vielleicht gar nicht bewusst ist.
JV: Milena ist Tochter einer Partisanenfamilie, ihr Onkel hat im Zweiten Weltkrieg im KZ gelitten. Für Milena sind die Jahre, die sie in Deutschland verbracht hat, ihre deutsche Ausbildung und alles, was sie auf Deutsch erreicht hat, ein Zeichen für die Aussöhnung, und sie ist darauf sehr stolz. Was in der angesprochenen Szene passiert, ist, dass sie ausgerechnet von der deutschen Runde als Mitglied eines Tätervolkes behandelt wird. Das macht sie wütend.
An welchen Romanstellen kommen Milenas Charakter, ihre Weltsicht und Werte am deutlichsten zum Ausdruck?
JV: Ich glaube, am deutlichsten kommt Milenas Charakter bei ihrem Besuch in der Kaserne zum Ausdruck, wo sie gegen alle Regeln und Befehle verstößt, weil sie entschlossen ist, die ungerechte Sache nicht tatenlos zu akzeptieren. Sie bringt sich in Gefahr, weil sie impulsiv reagiert. Ihre Zunge und ihr Herz gehen vor ihrem Verstand. Typisch weiblich, nicht wahr? Gott sei Dank, dass es Frauen auf der Welt gibt!
CS: Ihr Charakter kommt überall zum Ausdruck: Auch, wenn sie wieder einmal machtlos und ausgeliefert in der Telefon-Warteschleife hängt, um von einem Verwaltungsangestellten zu erfahren, ob ihre Stelle verlängert wird. Wenn sie neidisch die zierlichen neuen Schuhe ihrer besten Freundin bewundert und weiß, dass sie niemals in solche Schühchen hineinpassen wird. Und wenn sie keine Worte hat, um die Familien zu trösten, deren Söhne brutal ermordet wurden.
„Kornblumenblau" ist der Auftakt einer Reihe, die mit „Mohnrot" und „Lilienweiß" fortgesetzt wird. Was ging Ihnen bei den Buchtiteln durch den Kopf? Wie sind die Buchtitel zu erklären?
JV: Wichtig war der krasse und eindringliche Unterschied zwischen dem Titel und dem Thema des Buches. „Kornblumenblau" ist so ein weiches, durchsichtiges, wunderschönes Wort. So zärtlich und lichterfüllt. Und dieser unglaubliche Mord ist so dunkel und schwer und tragisch. Und die Dunkelheit wird in der Kombination mit dem Blau der zierlichen, unschuldigen Blume, die in einem Kornfeld im Sommer blüht, noch unerträglicher.
CS: Das Spiel mit den Farben und den Blumen wollen wir fortsetzen, aber da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen und auch noch nicht das letzte Wort geschrieben. Wir befinden uns beim zweiten Buch noch mitten in den Ermittlungen!
Buchempfehlung:
Belgrad: Auf einem Routinerundgang kommen zwei Soldaten der serbischen Eliteeinheit ums Leben. Ein Selbstmordritual, hinter dem eine Sekte steckt, erklärt das Militärgericht und stellt seine Untersuchungen ein. Mord wegen geheimer Machenschaften auf dem Militärgelände, vermutet die Kriminologin Milena Lukin und nimmt auf eigene Faust Ermittlungen auf. Je mehr sie herausbringt, desto klarer wird ihr, dass der Fall mit dem größten Massaker im Balkankrieg zu tun haben muss. Und dass sie selbst immer mehr in Gefahr gerät, je näher sie der schrecklichen Wahrheit kommt. Ein Krimi-Ereignis der Extraklasse!
Christian Schünemann & Jelena Volic: „Kornblumenblau. Ein Fall für Milena Lukin" Diogenes, 19,90 €
Sie beide bringen unterschiedliche Erfahrungen mit: Christian Schünemann unter anderem als Autor von Krimis, Jelena Volic als Literaturwissenschaftlerin und Kulturhistorikerin. Wie hat sich das bei Ihrem Buchprojekt ausgewirkt?
JV: Ich war schon immer eine leidenschaftliche Krimi-Leserin und habe theoretische Arbeiten über den Kriminalroman verfasst. Ich mag Leonardo Sciascia sehr, und Simenon. Und ich bin ein großer Fan vom italienischen Giallo. Es ist einfach, über eine Trivialform zu sprechen, sie zu kritisieren oder theoretisch zu urteilen. Es ist aber verdammt schwierig, sie zu schreiben. Trivialformen haben einen bestimmten Rahmen, den man, wie in der guten Literatur, nicht durchbrechen kann. Christian hat ein besonderes, sehr subtiles und unaufdringliches Gespür für die Gesetze eines Trivialgenres.
CS: Naja. Durch die Kriminalromane um den Frisör Tomas Prinz und die Fernsehserien, für die ich schreibe, bin ich wahrscheinlich geübt darin, Geschichten in eine Dramaturgie und Reihenfolge zu bringen. Was nicht heißt, dass wir das in der Zusammenarbeit dann nicht auch ständig wieder über den Haufen schmeißen.
Wie gestaltete sich Ihr Gemeinschaftsprojekt denn praktisch?
CS: Nachdem wir eine klare Vorstellung von der Hauptfigur hatten, der wir den Namen Milena Lukin gaben, haben wir uns zusammengesetzt, die Kriminalgeschichte entwickelt und die Reihenfolge der Szenen festgelegt. Wir haben die Erzählperspektiven bestimmt und für die Übersichtlichkeit eine Tabelle erstellt. Und dann sind wir ins Detail gegangen, Kapitel für Kapitel. Jeder von uns hatte seine Phasen, wo er intensiv und allein am Text arbeitet, und das ist, glaube ich, sehr wichtig. Und wir haben dasselbe Grundverständnis für die Figuren, den Plot und wie es sich hinterher liest. Um es auf einen sehr einfachen Nenner zu bringen: Ich habe die Frage, Jelena hat die Antwort. Manches lässt sich sogar per SMS klären, das ist die schnelle Variante. Manches braucht mehr Zeit.
JV: Und vergiss nicht: Wir erzählen uns ständig, was wir gesehen und erlebt haben. Wenn man durch die Stadt geht und, zum Beispiel, eine Frau im Café sitzen sieht - da ist schon eine ganze Geschichte: Man kann sich fragen, woher die Frau kommt, weswegen sie alleine da sitzt, was ihr heute passiert ist ... Wenn ich Christian weitschweifig etwas erzähle, dann sagt er: „Komm, hau es in die Tasten!" Mittlerweile gehe ich durch die Welt und habe Christians Brille auf: Alles was mich bewegt, versuche ich durch seine norddeutsche, unpathetische, ironische und liebenswürdige Art zu sehen. Nichtsdestotrotz bleibt viel Dramatik und Pathos in dem, was ich sehe. Das wiederum befruchtet Christians Blick.
CS: Manchmal bleiben wir stecken, manchmal verlässt uns die Muse - aber das passiert zum Glück nie bei uns beiden gleichzeitig. Es gibt immer einen Funken, der überspringt - und es geht weiter.
JV: Aber die Form hat Christian immer im Blick. Wenn ich zu sehr ausweiche und mich in den Digressionen verliere, dann gibt es manchmal einen „Klaps" aus Berlin: „Du, jetzt brauchen wir eine Verfolgungsjagd", oder: „Wo ist die Leiche?"
Welche Idee war der Ausgangspunkt von „Kornblumenblau"?
CS: Das ist eine wahre Geschichte: Im Jahr 2004 kamen in einer Belgrader Kaserne zwei Soldaten unter mysteriösen Umständen ums Leben. Diese Todesfälle kommen auch im Prozess gegen General Mladic in Den Haag zur Sprache.
JV: Der Krieg ist beendet, die politischen Folgen werden jetzt administrativ behandelt. Die hohe Politik hat die Grenzverschiebungen auf dem Balkan unter Kontrolle, aber wie das alltägliche Leben dort aussieht, ist kaum bekannt. Dabei fliegt man von Berlin nach Belgrad nur neunzig Minuten, genauso lange wie nach Wien. Aber im Empfinden liegt Belgrad für die Deutschen so weit weg wie Asien. Für Milena Lukin ist der Balkan ihr Geburtsort, und dorthin kehrt sie zurück, nachdem sie Jahrzehnte lang in Berlin gelebt, gearbeitet und geliebt hat. Sie muss sich Belgrad wieder erobern, alles ist ihr so bekannt, aber vieles auch fremd. Das war für mich die Hauptinspiration für „Kornblumenblau".
„Kornblumenblau" ist nicht einfach ein Kriminalfall, sondern - ähnlich wie die Kriminalromane Ihres Diogenes-Autorenkollegen Petros Markaris - ein Stadtporträt. Was fasziniert Sie persönlich an der serbischen Hauptstadt? Und was macht Belgrad als Schauplatz reizvoll?
CS: Für mich gibt es zwei Belgrads: das Belgrad, in dem die Nationalisten gegen die Verhaftung von Mladic demonstrieren, wo die Demonstration von Schwulen und Lesben durch die Polizei geschützt werden muss. Das ist das finstere, unsympathische Belgrad. Dann gibt es das Belgrad der Freunde und der Familie, mit aufgeschlossenen, freundlichen und coolen Menschen, die in einer bunten und lebenswerten Stadt wohnen und arbeiten. Diese beiden Bilder von Belgrad zusammenzubringen, das ist für mich das Reizvolle.
JV: Belgrad ist eine sehr alte Stadt mit einer wechselvollen Geschichte. Es gab kaum Jahrzehnte ohne Krieg, für die gewöhnlichen Menschen war die Freiheit nie selbstverständlich. Belgrad liegt oberhalb zweier mächtiger Flüsse - die Save und die Donau, die hier zusammenfließen. Ein Ufer gehört historisch und kulturell zum Okzident, das andere zum Orient. Das Leben in dieser Stadt ist anstrengend, weil man in jedem Augenblick erfährt, dass Europa nicht nur in Athen zu Hause ist, sondern auch in Konstantinopel. In Belgrad werden alle politischen Optionen noch immer gleichzeitig diskutiert: Monarchie, Sozialismus und westliche Demokratie. Alles ist erlaubt, politische Korrektheit ist immer noch vor allem eine Sache der intellektuellen Eliten. In Belgrad vergisst man keine Minute wie wertvoll und fragil die Freiheit und der Frieden sind. Und man glaubt immer noch, dass es Ideale gibt, für die man nichts weniger als sein Leben aufs Spiel setzen muss und will.
Wie und wo haben Sie recherchiert? Was waren für Sie die interessantesten Erfahrungen und Entdeckungen? Was hat Sie am meisten erstaunt, schockiert und positiv überrascht?
CS: Ich bin über Tage und Wochen immer wieder in Belgrad und lasse mich am liebsten treiben, halte die Augen und Ohren offen, fotografiere und notiere. Schockieren tut mich nichts, aber was mich am meisten erstaunt und überrascht, ist, wie freundlich die verschiedenen Generationen miteinander umgehen, wie die Leute, wildfremde Menschen, miteinander auf der Straße ständig im Gespräch sind. Da sitzt eine alte Frau auf der Bank, irgendein Typ mit kurzgeschorenen Haaren schlendert vorbei, beide haben Zeit und kommen miteinander ins Gespräch.
JV: Für mich ist Belgrad nicht nur eine Stadt, sondern ein lebendiges Wesen, ein Familienmitglied. Das ist eine ganz besondere und intime Bindung. Ebenso subjektiv bin ich, wenn Berlin zur Sprache kommt. Für mich war es daher wichtig, dass ich einen Filter zwischen mich und meine Subjektivität setzen kann. Christian sorgt für den Filter. Er ist anders subjektiv. Das gilt auch für die politischen Phänomene. Wo ich als Insider milder und emotional berichten würde, kam Christian mit seiner scharfen, manchmal auch durch Vorurteile bedingten Kritik. Das war nicht immer einfach.
Im Mittelpunkt steht Milena Lukin. Wie würden Sie Ihre Hauptfigur beschreiben?
JV: Milena Lukin ist eine Frau, die es in der Realität kaum mehr gibt. Sie ist eigentlich ein Relikt aus dem 20. Jahrhundert. Sie ist eine Kämpferin, eine Frau und ein Weib, emanzipiert und zugleich selten konservativ. Sie ist intelligent und gebildet, aber gleichzeitig impulsiv, überempfindlich und irrational. Sie liebt und ist fähig zu hassen. Milena ist politisch inkorrekt, aber immer auf der Seite der Unterdrückten. Milena ist eine Träumerin, eine Frau, die alleine durch das Leben geht, mit offenen Augen, und sich wünscht, es ein wenig leichter im Leben zu haben. Mag sein, dass sie von Glanz und Glamour träumt, aber wenn sie auf Ungerechtigkeiten trifft, ist sie sofort dabei, gegen das Böse aufzurüsten, oder, Christian?
CS: Milena Lukin hat eine tiefe Liebe für die Menschen, aber sie ist oft wütend darüber, wie sie sich verhalten. Gleichzeitig kann sie sie verstehen - die Menschen aus dem Westen genauso wie die Menschen aus dem Osten, weil sie in beiden Welten gelebt hat und aus beiden Welten das Gute und das Schlechte kennt. Aber sie ist meilenweit davon entfernt, anderen zu sagen, was richtig und was falsch ist. Sie handelt selbst oft inkonsequent und entscheidet immer mit dem Bauch. Sie ist eine tolle Person. Ich liebe Milena Lukin.
Milena ist Expertin für Strafrecht und Mitarbeiterin am Belgrader Institut für Kriminalistik und Kriminologie. Was ist das Besondere an ihrer Mission?
JV: Milena hasst den Krieg und sie fürchtet ihn. Sie hat eine behütete Kindheit gehabt und hat nie geglaubt, den Krieg selbst zu erleben. Doch so ist es gekommen. Sie hat einen Sohn, und sie will für ihren Sohn eine sichere und friedliche Zukunft. Milena sieht ein, dass man vor den dunklen Zeiten in der Geschichte nicht flüchten kann. Man muss Widerstand leisten.
Auf Widerstand stößt Milena schon bei Ihrem Chef, dem Institutsleiter Boris Grubac. Was sind seine Motive? Halten Sie ihn für einen Einzelfall?
CS: Der Mann ist ein Überbleibsel aus dem alten System, der sich im neuen aber ganz gut eingerichtet hat. Obwohl er Milena das Leben manchmal schwer macht, ist er, glaube ich, harmlos. Ich finde ihn auf eine bestimmte Weise sogar nett.
JV: Boris Grubac ist eigentlich eine gogolsche Figur. Er ist Sublimat aller regimetreuen Menschen, ein hinterhältiger Hypokrit, den es auf der Welt zu allen Zeiten und überall gibt. Er passt sich an und ist politisch für alle Systeme brauchbar. Nun, er hat auch seine eigene Geschichte, hat eine Last zu tragen. Wir haben versucht, den negativen Charakter zu motivieren. Ich glaube nicht, dass wir politisch korrekt handeln - wir haben versucht, es menschlich zu sehen.
Milena versucht wirklich alles, um aus ihrer Familiensituation - sie lebt zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Mutter, drei Generationen in einer kleinen Wohnung - das Beste zu machen. Dennoch wird sie nie das Gefühl los, ausgerechnet bei denjenigen Menschen etwas zu versäumen, die ihr am meisten bedeuten.
CS: Milena will eine gute Tochter und gleichzeitig eine noch bessere Mutter sein. Das fällt ihr schwer. Sie handelt aus ihrer Familiengeschichte heraus, die Geschichte einer serbischen Familie.
JV: Gleichzeitig ist sie aber eine Frau, die in jungen Jahren nach Deutschland gezogen ist und dort zwanzig Jahre lang gelebt hat: Sie hat auf Deutsch studiert, Freundschaften gelebt, geliebt. Sie hat auf Deutsch geforscht und gedacht, ihr intellektuelles Leben spielt sich auf Deutsch ab. Sie ist also eine europäische Intellektuelle mit den intimen Balkan-Erinnerungen und Ressentiments, eine echte Grenzgängerin. Sie versucht beiden Teilen ihres Selbst gerecht zu werden, und das droht sie zu zerreissen.
Ehe sie sich versieht, ist Milena in einen ziemlich heiklen Fall verwickelt. Wie kamen Sie auf diese rätselhafte Geschichte?
JV: Mich hat an der wahren Ausgangsgeschichte, dem Doppelmord an den beiden jungen Soldaten, interessiert, dass diese Geschichte symbolisch für das steht, was im ehemaligen Jugoslawien im Krieg passiert ist. Wo die Söhne vor ihren Vätern sterben, da gibt es kein Vaterland mehr. Diese Geschichte ist eine universale Geschichte, sogar die antiken Tragödien basieren auf dieser kosmischen Ungerechtigkeit. Mich beschäftigt die Frage, warum das in unserer Welt immer und immer wieder geschieht.
Während Milena und Siniša auf viele Ungereimtheiten stoßen, werden die Ermittlungen zu den Todesfällen von offizieller Seite sehr schnell abgeschlossen. Wie typisch ist diese Haltung?
JV: Sehr typisch. Übrigens nicht nur für Serbien und den Balkan. Jedes System versucht seine dunklen Kapitel unter den Teppich zu kehren. Der Staat wird immer als wichtiger erachtet als die Schicksale Einzelner, aber auch wichtiger als Prinzipien und ethische Imperative. Was Serbien angeht: Ich glaube, dass die politischen Morde, zum Beispiel der Mord an Zoran Djindjic, nie aufgeklärt werden. Wo der Staat seine Finger im Spiel hat, bleiben die Fakten unentdeckt - genauso wie die wahren Täter.
Obwohl Milena bald zu spüren bekommt, dass sie es mit Leuten zu tun hat, die viel Macht und wenig Skrupel haben, ermittelt sie weiter. Was treibt sie an? Warum kann sie gar nicht anders?
JV: Milena weiß, dass Freiheit nur dann gelebt wird, wenn für sie gekämpft wird. Milena reagiert wie eine Mutter und wie eine Tochter. Dieser Fall entfesselt all ihre Gefühle. Niederlage ist für Milena kein akzeptables Ende. Sie muss immer das letzte Wort haben. Nur wenn sie ihrer Mutter Vera gegenüber steht - dann und nur dann steht Milenas Wort an zweiter Stelle.
Auf der Flucht vor einem Verfolger landet Milena mit ziemlich ramponierter Optik in einem Restaurant am Tisch des deutschen Botschafters. Was ist davon zu halten, wie die exklusive Tafelrunde auf sie reagiert?
CS: Ich glaube, das ist typisch für die „Internationalen", die sich in einem fremden, ihrer Ansicht nach unterentwickelten Land befinden: Sie betrachten Milena, die Einheimische, die echte Belgraderin mit einer Mischung aus ehrlichem Interesse, großer Verwunderung und gleichzeitig einem tiefen Unverständnis für ihre Situation. Dahinter steckt eine Arroganz, die den meisten vielleicht gar nicht bewusst ist.
JV: Milena ist Tochter einer Partisanenfamilie, ihr Onkel hat im Zweiten Weltkrieg im KZ gelitten. Für Milena sind die Jahre, die sie in Deutschland verbracht hat, ihre deutsche Ausbildung und alles, was sie auf Deutsch erreicht hat, ein Zeichen für die Aussöhnung, und sie ist darauf sehr stolz. Was in der angesprochenen Szene passiert, ist, dass sie ausgerechnet von der deutschen Runde als Mitglied eines Tätervolkes behandelt wird. Das macht sie wütend.
An welchen Romanstellen kommen Milenas Charakter, ihre Weltsicht und Werte am deutlichsten zum Ausdruck?
JV: Ich glaube, am deutlichsten kommt Milenas Charakter bei ihrem Besuch in der Kaserne zum Ausdruck, wo sie gegen alle Regeln und Befehle verstößt, weil sie entschlossen ist, die ungerechte Sache nicht tatenlos zu akzeptieren. Sie bringt sich in Gefahr, weil sie impulsiv reagiert. Ihre Zunge und ihr Herz gehen vor ihrem Verstand. Typisch weiblich, nicht wahr? Gott sei Dank, dass es Frauen auf der Welt gibt!
CS: Ihr Charakter kommt überall zum Ausdruck: Auch, wenn sie wieder einmal machtlos und ausgeliefert in der Telefon-Warteschleife hängt, um von einem Verwaltungsangestellten zu erfahren, ob ihre Stelle verlängert wird. Wenn sie neidisch die zierlichen neuen Schuhe ihrer besten Freundin bewundert und weiß, dass sie niemals in solche Schühchen hineinpassen wird. Und wenn sie keine Worte hat, um die Familien zu trösten, deren Söhne brutal ermordet wurden.
„Kornblumenblau" ist der Auftakt einer Reihe, die mit „Mohnrot" und „Lilienweiß" fortgesetzt wird. Was ging Ihnen bei den Buchtiteln durch den Kopf? Wie sind die Buchtitel zu erklären?
JV: Wichtig war der krasse und eindringliche Unterschied zwischen dem Titel und dem Thema des Buches. „Kornblumenblau" ist so ein weiches, durchsichtiges, wunderschönes Wort. So zärtlich und lichterfüllt. Und dieser unglaubliche Mord ist so dunkel und schwer und tragisch. Und die Dunkelheit wird in der Kombination mit dem Blau der zierlichen, unschuldigen Blume, die in einem Kornfeld im Sommer blüht, noch unerträglicher.
CS: Das Spiel mit den Farben und den Blumen wollen wir fortsetzen, aber da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen und auch noch nicht das letzte Wort geschrieben. Wir befinden uns beim zweiten Buch noch mitten in den Ermittlungen!
Buchempfehlung:
Belgrad: Auf einem Routinerundgang kommen zwei Soldaten der serbischen Eliteeinheit ums Leben. Ein Selbstmordritual, hinter dem eine Sekte steckt, erklärt das Militärgericht und stellt seine Untersuchungen ein. Mord wegen geheimer Machenschaften auf dem Militärgelände, vermutet die Kriminologin Milena Lukin und nimmt auf eigene Faust Ermittlungen auf. Je mehr sie herausbringt, desto klarer wird ihr, dass der Fall mit dem größten Massaker im Balkankrieg zu tun haben muss. Und dass sie selbst immer mehr in Gefahr gerät, je näher sie der schrecklichen Wahrheit kommt. Ein Krimi-Ereignis der Extraklasse!
Christian Schünemann & Jelena Volic: „Kornblumenblau. Ein Fall für Milena Lukin" Diogenes, 19,90 €
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Christian Schünemann , Jelena Volic
- 2013, 361 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Lein. mit Su., Deutsch
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257068336
- ISBN-13: 9783257068337
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