Kröhn, J: Meisterin der Runen
Historischer Roman
Normandie, 962: Als die junge Dänin Gunnora mit ihrer Familie zum ersten Mal normannischen Boden betritt, glaubt sie fest daran, ein schönes, neues Leben beginnen und ihrer Mutter in der Kunst der Runenmagie nacheifern zu können. Aber aus dem...
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Produktinformationen zu „Kröhn, J: Meisterin der Runen “
Normandie, 962: Als die junge Dänin Gunnora mit ihrer Familie zum ersten Mal normannischen Boden betritt, glaubt sie fest daran, ein schönes, neues Leben beginnen und ihrer Mutter in der Kunst der Runenmagie nacheifern zu können. Aber aus dem Traum wird bald ein Kampf ums Überleben. Ihre Eltern sterben, und Gunnora muss, alleine auf sich gestellt, für ihre Schwestern sorgen. Ihr Leben verändert sich jedoch jäh, als sie Richard, dem Herzog der Normandie, begegnet ...
Klappentext zu „Kröhn, J: Meisterin der Runen “
Normandie, 962: Als die junge Dänin Gunnora mit ihrer Familie zum ersten Mal normannischen Boden betritt, glaubt sie fest daran, ein schönes, neues Leben beginnen und ihrer Mutter in der Kunst der Runenmagie nacheifern zu können. Aber aus dem Traum wird bald ein Kampf ums Überleben. Ihre Eltern sterben, und Gunnora muss, alleine auf sich gestellt, für ihre Schwestern sorgen. Ihr Leben verändert sich jedoch jäh, als sie Richard, dem Herzog der Normandie, begegnet ...
Lese-Probe zu „Kröhn, J: Meisterin der Runen “
Meisterin der Runen von Julia KröhnF´ecamp 996
Agnes fand es langweilig, auf den Tod zu warten. Sie hatte ihn sich anders vorgestellt, unheimlicher und bedrohlicher, hatte Schauder erwartet, die ihr über den Rücken rannen, weil mit dem Tod doch die Dämonen kamen, um nach der unsterblichen Seele zu gieren und mit Gottes Engeln eine Schlacht auszufechten. Doch da waren keine dunklen Schatten, kein geheimnisvolles Wispern unsichtbarer Gestalten, kein Flügelschlagen überirdischer Wesen, nein, da war nichts, was von der jenseitigen Welt kündete, nur jede Menge Rauch, der in der Kehle kitzelte. Und da waren ausdruckslose Gesichter.
Der ganze Hofstaat hatte sich am Totenbett des Grafen der Normandie versammelt: seine Getreuen, die Großen des Landes, der Klerus und natürlich seine Familie - seine Gattin und die zahlreichen Kinder und Kindeskinder.
Sie alle wirkten ernst. Ob sie auch gelangweilt waren wie sie und enttäuscht vom Tod, konnte Agnes nicht sagen, aber sie war überzeugt, dass alle hofften, dieses quälend lange Ringen möge nicht mehr allzu lange dauern. Ob nun allerdings der Tod zu schwach war oder der Graf zu stark -es ging einfach nicht zu Ende.
Eine Woche zuvor war der Graf während eines Aufenthalts in Bayeux zusammengebrochen. Er hatte sich dort vom Fortschritt der Bauarbeiten - seit einigen Jahren werkte man daran, aus den Ruinen der römischen Zitadelle einen fürstlichen Palast erstehen zu lassen - überzeugen wollen. Doch ehe er die neuen Wände bestaunen und sich ein künftiges Leben darin ausmalen konnte, war er, so der Bericht seines Halbbruders Raoul von Ivry, von einer Ohnmacht überwältigt worden. Er erwachte daraus bald wieder, wurde seitdem aber von grässlichen Schmerzen geplagt, im Kopf ebenso wie in den Gliedern.
... mehr
Sein Zustand verschlechterte sich, sodass man ihn, der doch zeit seines Lebens gern geritten war, im Wagen nach F´ecamp bringen musste. Bei seiner Ankunft fühlte er sich zu elend, deswegen Scham zu bekunden. Schlimm genug, dass er gleich danach sterben sollte, stand es dennoch nicht um ihn. In aller Ruhe hatte er von den Seinen Abschied genommen, mit rasselnder Stimme erklärt, dass sein ältester Sohn der Erbe der Normandie sei, und ins Gebet der Mönche eingestimmt. Mittlerweile war er verstummt, atmete jedoch immer noch.
Agnes unterdrückte ein Seufzen. Sie verstand nun, warum die heidnischen Nordmänner, die einst dieses Reich gegründet hatten, mittlerweile aber allesamt getauft worden waren, das langsame Sterben im Bett als Fluch ansahen: Wer auf dem Schlachtfeld fiel, starb einen ruhmreichen und vor allem schnellen Tod.
Ob sich auch der Graf langweilte? Und ob er womöglich mit einem Gähnen, nicht mit einem Lächeln bei Petrus an der Pforte klopfen würde?
Sein Gesichtsausdruck war jedenfalls so leer wie der der anderen - oder nein . . . nicht aller.
Agnes war plötzlich hellwach. Bei zweien der Mönche nahm sie eine große Anspannung wahr, die nicht allein das langsame Sterben des Grafen bedingen konnte. Der eine hieß Bruder Ouen und war für seine außergewöhnliche Leibesfülle ebenso bekannt wie für seine schöne Schrift, weswegen er seit Jahren dafür Verantwortung trug, bei Hofe Urkunden anzufertigen. Der andere war Bruder Remi. Obwohl er erst wenige Tage zuvor angereist war, kannte dennoch der ganze Hof in F´ecamp seinen Namen: Er war ein Mönch vom Mont-Saint-Michel und darauf so stolz, dass er einem jeden diese Tatsache unter die Nase rieb, ob der es nun wissen wollte oder nicht.
Die beiden Mönche schienen sich zu kennen, denn eben nickten sie sich zu, woraufhin sich Bruder Ouen schwerfällig vom Bett des Sterbenden entfernte und nach draußen trat. Bruder Remi folgte ihm rasch, nachdem er sich noch einmal misstrauisch umgesehen hatte.
Agnes' Herz pochte schneller, als auch sie sich unauffällig erhob und den Gang betrat. Den übrigen Versammelten mochte entgangen sein, was die beiden trieben, und hätten sie es bemerkt, hätten sie ihr Verschwinden nicht weiter infrage gestellt, doch in ihr erwachte die Neugier, was die beiden wohl bewogen hatte, sich aus dem Sterbezimmer zu schleichen.
Vielleicht gab es einen harmlosen Grund, und sie suchten lediglich die Latrinen auf oder wollten sich den Magen vollschlagen. Zumindest Bruder Ouen war nicht grundlos so dick, sondern dafür bekannt, dass er der Versuchung der Völlerei viel öfter erlag als widerstand. Vielleicht hatten die beiden aber auch Wichtiges zu bereden, und herauszufinden, ob das stimmte, war in jedem Fall abwechslungsreicher, als den siechen Grafen zu betrachten.
Agnes folgte den beiden Geistlichen mit raschem, lautlosem Schritt. Sie waren am Ende des Gangs stehen geblieben, hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten aufgeregt miteinander. Agnes nahm nur ein Zischen der Stimmen wahr, doch als sie näher schlich, glaubte sie, einzelne Wörter zu verstehen.
»Was nun tun . . . lang gehütetes Geheimnis . . . einer meiner Mitbrüder . . . kurz vor seinem Tod anvertraut . . . unabsehbare Folgen . . .«
Agnes stand im Schatten einer Säule verborgen und atmete tief durch. Die lähmende Müdigkeit fiel jäh von ihr ab, und ihr Körper spannte sich nicht minder an als der der beiden Mönche.
»Ich lebe seit Jahren hier bei Hofe«, erklärte der dicke Bruder Ouen eben, und sein Doppelkinn erbebte, »aber in all dieser Zeit habe ich noch nie etwas von diesen Schriften gehört.«
»Natürlich nicht!« Bruder Remi wirkte ungeduldig. Sein Kinn war anders als das von Bruder Ouen spitz und seine Nase nicht minder, was Agnes unwillkürlich an einen Raubvogel denken ließ. »Wenn alle Welt davon wüsste, dann wären es ja keine geheimen Schriften. Aber ich bin mir sicher, dass die Gräfin sie irgendwo aufbewahrt!«
Bruder Ouen schüttelte den Kopf, und wieder bebte das schlaffe Kinn. »Es wäre närrisch von ihr gewesen, das zu tun, vorausgesetzt, diese Schriften sind tatsächlich so gefährlich, wie du behauptest.«
»Mhm«, machte Bruder Remi. »Sie mag ja eine kluge Frau sein, aber dennoch bleibt sie ein Weib, und den Weibern hat, wie wir alle wissen, Gott mehr Gefühl als Verstand gegeben. Was bedeutet, dass sie den Hof kundig zu führen weiß und kostbare Kleidung samt Schmuck mit Würde zu tragen, nicht unbedingt jedoch, dass sie in weiser Voraussicht künftiger Politik zu handeln versteht.« Verachtung schwang in seiner Stimme mit.
Bruder Ouen stellte den anderen für diese schmähenden Worte nicht zur Rede. »Und jetzt?«, fragte er.
»Nun . . .«, setzte Bruder Remi gedehnt an, ». . . du weißt doch gewiss, wo sich das Gemach der Gräfin befindet. Eine bessere Gelegenheit, nach diesen Schriften zu suchen und sie an uns zu bringen, wird es nicht geben. Undenkbar, dass sie sich in den nächsten Stunden auch nur ein Jota vom Bett ihres Gatten entfernt.«
Jetzt erzitterte Bruder Ouens ganzer Körper vor Erregung, und überdies glaubte Agnes, Schadenfreude in seiner Miene zu lesen. Sie spürte Wut in sich aufsteigen.
»Die Gräfin ist ein stolzes Weib«, murmelte er. »Sie hielt sich immer über alle Welt erhaben und für unbesiegbar. Doch wenn es stimmt, was du sagst . . .«
»Es stimmt, du kannst es mir glauben!«
»Nun, wenn sie tatsächlich dieses Geheimnis hütet, wir es aber aufdecken und mit besagten Schriften den Beweis erbringen würden, dass wir nicht üble Verleumdung begehen, sondern die Wahrheit sagen, so wäre nicht nur ihr Ruf zerstört. Die Zukunft der Normandie stünde auf dem Spiel!«
Auf seine aufgeregten Worte folgte Gelächter, das wie das Meckern einer Ziege klang. Was ihn zu belustigen schien, jagte Agnes einen eisigen Schrecken über den Rücken. Seit Stunden wartete sie darauf, innerlich zu erbeben, doch nun brachte sie nicht der zu erwartende Tod des Grafen dazu, sondern die Ahnung, dass sie etwas gehört hatte, was sie niemals hätte hören dürfen.
»So ist es!«, stimmte Bruder Remi nicht minder triumphierend zu.
Gütiger Gott!, dachte Agnes bestürzt. Was bloß war das Geheimnis der Gräfin der Normandie, die im Nebenraum von ihrem geliebten Gatten Abschied nahm? Und welchen Schaden würden diese beiden Mönche bewirken, könnten sie es tatsächlich ans Licht zerren?
I.
962
Das Licht war derart trübe, dass Gunnora die einzelnen Zeichen kaum erkennen konnte, weswegen sie mit ihren Fingern ehrfürchtig darüberfuhr, um sie sich einzuprägen. Ihre Mutter Gunhild hatte sie mit einem kleinen Messer ins Holz geritzt. Nach einer Weile nahm Gunnora ihr das Werkzeug ab und ritzte nun selbst einige Runen.
»Ich beherrsche jetzt alle Zeichen«, erklärte sie stolz.
In früheren Zeiten hatte es nur sechzehn Runen gegeben, später waren acht weitere hinzugekommen. Und dann gab es noch einige Geheimrunen, die nur wenigen bekannt waren: Eine glich einem Wolf, und wenn man sie in den Grabstein eines Verstorbenen ritzte, war dieser für immer verflucht. Eine große Macht lag in den Runen, und die Mutter wurde nicht müde, sie vor dieser Macht zu warnen, so auch jetzt.
»Jede Rune steht für ein Zeichen, aber überdies hat sie einen eigenen Namen, der andeutet, worin ihre Macht besteht. Und jede Rune kann etwas Gutes bewirken, wenn man sie jedoch verkehrt herum zeichnet, etwas Schlechtes. Das darfst du nie vergessen!«
Ihre Stimme wurde immer leiser, der Griff um Gunnoras Schultern fester. Ein Knarzen ertönte, als der Schiffsbauch etwas schwankte. In den ersten Tagen ihrer Reise hatte der stete Wellengang in ihr Übelkeit ausgelöst, mittlerweile hatte Gunnora sich jedoch an die unruhige See und die vielen fremden Laute, ob vom ächzenden Holz oder der spritzenden Gischt, gewöhnt.
Sie nickte eifrig und schnitzte weiter. »Ja, ich weiß«, sagte sie, »diese Rune hier, die achte, heißt Wunjo, was Erfolg und Erkenntnis bedeutet. Sie kann hingegen auch für Sorgen, Entfremdung und Besessenheit stehen. Und das ist die zehnte Rune, Naudhiz, was Not bedeutet. Sie gibt uns Kraft, unser Schicksal anzunehmen und unseren Ängsten ins Auge zu blicken. Doch wer unter ihrem Fluch steht, muss Mühsal ertragen, Verlust und Armut.«
Gern hätte sie weitere Runen geschnitzt und mit der Mutter geredet, diese hingegen nahm ihr das Messer aus der Hand. »Es ist gut für heute«, entschied sie. »Du zeigst großen Eifer, Gunnora. Mit deinen siebzehn Jahren weißt du mehr über die Runen als manch altes Weiblein.«
Sie klang stolz, zugleich auch unerwartet kummervoll, und sie strich ihrer Tochter über den Kopf, als wollte sie sie weniger loben als viel mehr trösten.
»Aber du hast selbst gesagt, wie wichtig das ist!«, rief Gunnora. »Schließlich ist nicht gewiss, ob die Menschen in unserer neuen Heimat noch von der Macht der Runen wissen.«
Sie konnte die Verachtung in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken. Wann immer sie an das künftige Zuhause dachte, erwachten Zweifel, ob sie das Land je würde lieben können und seinen Bewohnern je vertrauen. Der Vater hatte entschieden, dass in der Normandie ihre Zukunft läge, und dem Vater widersprach man nicht, doch ihr war das Widerstreben der Mutter nicht entgangen, als sie ihren Hof in Dänemark verlassen und das Schiff bestiegen hatten.
»Das Wort Rune«, fuhr Gunnora fort, »bedeutet Geheimnis, und ich will all die Geheimnisse kennen, genau wie du. Ich will deine Macht besitzen!«
Ja, Runen bedeuteten Macht. Es gab zwar Leute, die vor allem einen praktischen Nutzen darin sahen: Händler, die Vereinbarungen über die Lieferung von Waren mit Runen festhielten, oder Reisende, die auf ihren Wegen Botschaften hinterließen, Bauern, die ihren Namen in Pflüge ritzten, auf dass jeder wusste, wem diese gehörten, oder Krieger, die ihre Schilde und Schwerter auf diese Weise als die ihren kennzeichneten. Doch erst wenn man wie Gunhild die Runenzauberei beherrschte, entfalteten die einzelnen Zeichen ihre ganze Kraft: Sie konnten das Schicksal vorhersagen, Glück oder Pech bringen, konnten das Andenken an Verstorbene wahren oder deren Namen verfluchen, sie konnten Vieh gedeihen, die Ernte reifen und Geschwüre heilen lassen - oder Unwetter, Fäulnis und Tod bringen.
Erneut strich die Mutter ihr über den Kopf. »Ich bin stolz, eine so gelehrige, wissbegierige Tochter zu haben«, murmelte sie, »aber du darfst eines nicht vergessen: Um die Macht der Runen zu nutzen, musst du einen Preisbezahlen.«
Wieder knirschte es im Gebälk.
»Welchen Preis?«, fragte Gunnora.
Gunhild zögerte einen Augenblick. Sie schien sich nicht sicher zu sein, ob sie der Tochter diese Last aufbürden sollte. Schließlich gab sie sich einen Ruck.
»Ich habe dir erzählt, welcher Gott am meisten über die Runen und ihre Magie weiß.«
»Odin.«
»Aber weißt du auch, wie er dieses Wissen erlangt hat?«
Gunnora schüttelte den Kopf.
»Odin war beharrlich auf der Suche nach Weisheit. Für einen Schluck aus Mimirs Brunnen, der seherische Kräfte verleiht, gab er sein rechtes Auge. Und er verwundete sich selbst. Neun Tage und neun Nächte hing er kopfüber im Weltenbaum Yggdrasil, ehe er Kenntnis von der Macht der Runen gewann und sich befreien konnte. Jeder kann lernen, diese Macht auszuüben - aber jeder hat dafür etwas zu geben.«
Neun Tage, dachte Gunnora, neun Tage kopfüber in einem Baum hängen . . .
»Und ich?«, fragte sie heiser, »was habe ich zu geben?«
»Das weiß allein Odin.«
Das Rumoren im Schiffsbauch wurde lauter, sein Ächzen klang plötzlich so unheilvoll wie die Stimme der Mutter. Gunnora starrte sie an, und trotz des trüben Lichts erkannte sie deutlich deren Angst. Galt sie den Runen, die ebenso schaden wie nutzen konnten, den unberechenbaren Göttern, die sich manchmal einen Spaß daraus machten, die Menschen zu quälen? Oder galt sie der Zukunft in ihrer neuen Heimat, für die sie ihre vertraute Welt zurückgelassen hatten?
Gunnora zuckte angstvoll zusammen, als plötzlich ein Ruf von draußen erschallte. Aus der Miene der Mutter schwand sogleich die Sorge, und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Wie es aussieht, ist endlich Land in Sicht.«
Später fragte sich Gunnora oft, ob das Unbehagen sie schon begleitet hatte, als sie von der niedrigen Kammer ins Freie getreten war, auf das glitzernde Wasser gestarrt und am Horizont einen Streifen Land auszumachen versucht hatte, und ob dieses Unbehagen nur von der Geschichte über Odins Opfer gerührt hatte oder von einer dunklen Vorahnung. Sie war sich nicht sicher. In jedem Fall hatte es außer dem leichten Unbehagen nichts gegeben, das sie vor dem Kommenden gewarnt hatte.
Gespannt, ein wenig wehmütig und nicht ohne Zweifel sah sie nun in Richtung Küste, die immer deutlicher zu erkennen war, ein Sandstreifen zwischen Himmel und Meer, von schroffen Felsen begrenzt. Ein Zeichen, dass das Leben in der Heimat endgültig vorüber war und das in der Normandie begann.
Der Meerwind blies ihr ins Gesicht, und Gunnora schloss kurz die Augen, um den salzigen Geruch und die Ahnung von Freiheit, die er schenkte, zu genießen. Die Mutter lehrte sie die Runen nur drinnen, ob in ihrem Langhaus in Dänemark oder nun in der Kammer auf dem Schiff, und dafür war sie gern bereit, auf die Sonne zu verzichten. Doch jetzt nahm sie erfreut die Wärme in sich auf, sah darin ein hoffnungsvolles Zeichen und schüttelte die Zweifel ebenso ab wie das stete Frösteln. Viel zu oft war ihr im Leben kalt gewesen, auch in den letzten Nächten im Schiffsbauch, wo es kein Feuer gab, um sich zu wärmen, wo sie sich zitternd aneinanderpressen mussten und ihre Haare sich in der Feuchtigkeit kräuselten, die stetig durch die Ritzen kroch.
Knörr hießen Schiffe wie dieses, hatte ihr Vater erklärt, im Vergleich zu den geschmeidigen, schnellen Langschiffen ungleich behäbiger und zum Transport schwerer Waren wie Eisen und Speckstein geeignet. Ihr Nachtlager im niedrigen Frachtraum hatten sie inmitten dieser Güter aufgeschlagen, nicht frei von Furcht, im Schlaf davon erdrückt zu werden.
Das nächste Mal werde ich in der fremden, neuen Heimat einschlafen, dachte Gunnora - plötzlich nicht minder aufgeregt als ihr Vater, dem man die Ungeduld deutlich ansah.
»Wann werden wir anlegen?«, fragte er.
Der Mann, dem das Schiff gehörte, war für gewöhnlich wortkarg, desgleichen seine Besatzung: sechs Männer, die den Handel zwischen Dänemark und der Normandie belebten. Jetzt erklärte er nicht ohne Stolz, dass sein Schiff, von ihm liebevoll Elch des Meeres genannt, die Reise schneller als erwartet hinter sich gebracht habe.
»Wenn die Sonne am höchsten steht, betreten wir wieder Land«, fügte er hinzu.
Gunnoras jüngere Schwestern hatte es belustigt, dass er seinem Schiff einen Kosenamen gab. Während der Reise hatten sie es gründlich erforscht, doch heute interessierten sie sich nicht länger für die im Wind knatternden Segel oder die langen Ruder, die mit einem lauten Klatschen in die Fluten tauchten, sondern nur noch für das Land in der Ferne.
»Stimmt es . . . stimmt es, dass die Wiesen in der Normandie voller Blumen stehen und die Äcker vor Ähren überquellen? «, fragte Seinfreda, ein Jahr jünger als Gunnora und zarter als sie, mit so heller Haut, dass man die dunklen Adern durchschimmern sah. Im Gegensatz zu Gunnora, die schwarzes Haar hatte, war die Schwester blond. Ihre Füße waren so winzig, dass man meinen konnte, sie würde keinen ordentlichen Halt auf der Erde finden, sondern jederzeit vom Wind fortgeweht werden.
»Nun, auch dort gibt es Unwetter und Kälte, aber nicht so oft wie bei uns«, erwiderte ihr Vater Walram.
Wevia, die Dritte im Bunde und acht Jahre alt, interessierte sich nicht für Blumen und Ähren. »Werde ich in der Normandie eine Kette bekommen, die so schön wie die von Mutter ist?«
Sie liebte den Schmuck, den Gunhild trug, und konnte ihn stundenlang betrachten. Manchmal hatte ihr Walram einzelne Perlen geschenkt, jedoch nie eine vollständige Halskette, wie eine Schwester der Mutter sie kunstvoll herzustellen vermochte, indem sie Rohglasklumpen und Mosaiksteine in einer Schmelzpfanne erwärmte und daraus mit einem Eisenstab kleine Steine formte.
»Wenn wir erst einmal Land haben und reiche Ernte einfahren, dann wirst du auch eigenen Schmuck bekommen«, meinte der Vater lächelnd.
»Und wenn du etwas älter bist«, fügte Gunhild ein wenig strenger hinzu.
Bei Wevia regte sich Widerspruch, doch ehe er laut wurde, trat die vierjährige Duvelina dazwischen, schmiegte sich an den Vater und bat: »Erzähl mir eine Geschichte von der Normandie! «
Ob im neuen Land häufiger die Sonne schien und mehr Reichtum zu erwarten stand, war ihr gleich, umso wissbegieriger aber war sie, ob dort wie in Dänemark Drachen, Elfen und Zwerge wohnten, faszinierende Wesen allesamt, von deren Eigenheiten zu hören sie nicht genug bekommen konnte. Der Vater erzählte ihr nicht nur Geschichten darüber, sondern schnitzte ihr Figuren, so auch den hölzernen Wolf, den Duvelina eben fest umklammert hielt. Als Gunnora noch kleiner war, hatten sie jene Miniaturnachbildungen von Booten, Schwertern, Tieren und allen möglichen geheimnisvollen Gestalten aus den Märchenwelten ebenso begeistert, doch mit den Jahren zogen die Runen eher ihr Interesse auf sich.
Die Sonnenstrahlen fielen unterdessen fast senkrecht vom Himmel und krönten die Wellen mit ihrem goldenen Licht. Die Fahrt wurde langsamer, als das Segel eingeholt wurde, das an der querschiffs stehenden Rahe befestigt war. Den Mast wiederum, der die Rahe hielt, legten die Männer mithilfe von Wanten und Stagen aus Seehundsleder im Kielschwein um. Finngeirr, der Besitzer des Schiffes, erklärte voller Genugtuung, dass das nicht auf jedem Schiff möglich sei.
Duvelina war außer sich vor Begeisterung, als nun der Drachenkopf am Bug des Schiffes abgenommen wurde. Draußen auf den Meeren diente er dazu, die bösen Meergeister fernzuhalten, an Land jedoch musste man ihn verstecken, auf dass er niemanden erschreckte - weder die Menschen noch die Wesen aus der Zwischenwelt. Gunnora wusste, dass Letztere großen Schaden verursachen konnten, doch für Duvelina waren Zwerge und Elfen noch nicht unheimlich, das Leben ein großer Spaß und alles, was man brauchte, es zu bestehen, dazu da, sie zu unterhalten - auch der Sonnenstein neben der Peilscheibe, mit dem man den Standort berechnete, der nun aber nicht länger vonnöten war.
Noch war an Land nichts von den versprochenen Blumen und Ähren zu sehen, nur Sand und Stein und ein paar vereinzelte Bäume, die, verglichen mit den riesigen Eichen und Buchen der dänischen Wälder, dürr und mickrig erschienen. Gunnora sehnte sich schon jetzt nach ihrem würzigen Duft, wenngleich sie sich zu sagen versuchte, dass es gewiss auch hier Wälder gab und in Dänemark wiederum weites Ödland aus Sanddünen, Feuchtwiesen und Sümpfen, das nicht einladender war als diese Küste.
Die Mutter trat zu ihr. »Du wirst sehen, hier wird alles besser. «
Ob sie die Tochter trösten wollte oder vielmehr sich selbst?
Gunnora nickte, lächelte aber nicht. Ein Leben ohne Kälte. Ein Leben ohne Hunger. Ein Leben ohne . . . Heimat.
Walram schnalzte mit der Zunge. »Hat unsere Älteste etwa schon wieder Heimweh?« Und als Gunnora keine Antwort gab, sagte er: »Manchmal braucht man Mut zu bleiben, manchmal braucht man Mut zu gehen. Unser Volk hatte stets beides. «
»Das weiß ich doch«, erwiderte Gunnora schnell.
Neben Geschichten über Zwerge und Elfen hatte ihr Vater immer gern von den Jüten erzählt, die einst auf Booten nach England fuhren, viel kleiner und wackliger diese als ihr breites Frachtschiff. Etliche waren ertrunken - was andere nicht davon abgehalten hatte, es auch zu versuchen.
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich freue mich doch darauf, in der Normandie zu leben.«
»Ich freue mich, wenn wir genug zu essen haben«, sagte die zarte Seinfreda.
»Und ich freue mich auf meine erste Kette!«, rief Wevia.
»Und schnitzt du mir ein Pferd?«, quäkte Duvelina.
Gunhild sagte oft, dass ihre Töchter so verschieden wie die vier Himmelsrichtungen seien. Ihre Züge glichen sich, die Farbe ihrer Haare nicht - die von Seinfreda waren blond, die von Gunnora schwarz, Duvelina wuchsen rote Locken, Wevia weiche kastanienbraune.
Ich bin der Norden, dachte Gunnora, dunkel wie die Wälder und das Meer, weil viel zu selten die Sonne darauf fällt wie jetzt. Und weil aus dem Norden das Wissen über die Runen stammt, das ich hier bewahren werde.
»Aber natürlich schnitze ich dir ein Pferd!«, rief Walram.
Er klang so begeistert, dass Gunnora sich von ihrer Wehmut nicht bezwingen ließ. Da war kein Unbehagen mehr, keine düstere Vorahnung. Nichts hatte sie gewarnt.
Nichts darauf vorbereitet, was geschehen würde.
Es dauerte nicht mehr lange, bis sie das Land erreichten, doch ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, ehe sie nach vielen Tagen auf hoher See tatsächlich wieder festen Boden betreten konnten. Vor dem Anlegen galt es, mit einer Leine die Wassertiefe auszuloten und danach das Schiff behutsam an den Portus heranzuführen, einen Steg aus Reisigbündeln und Flechtwerk, den man mit Steinen und Holzstämmen beschwert hatte. Pflöcke standen davon ab, die man in eine dafür vorgesehene Vorrichtung des Schiffes steckte, sodass es alsbald fest mit dem Steg verbunden war. Nun galt es noch abzuwarten, bis die Männer das Schiff entladen hatten.
Gunnora kletterte auf den Steg und ging, Wevia an der Hand, ein paar wacklige Schritte. Obwohl das Holz kaum knarrte, vermeinte Gunnora noch den Rhythmus der Wellen in den Knochen zu spüren. Bei jedem Schritt schien der Boden zu beben. Der salzige Geruch des Meeres, der von Weite, Freiheit und Sonne kündete, wich einem fauligen von brackigem Wasser, und die Fluten waren nicht länger schaumgekrönt. Die Oberfläche spiegelte ihr Gesicht nicht. Das Wasser stand so ruhig wie das eines Tümpels.
Seinfreda streckte ihre Hand nach der ältesten Schwester aus. »Ist das nicht aufregend?«, fragte sie.
Gunnora nickte. Sie schritt entschlossen weiter und konnte doch die Angst nicht abschütteln, auf diesem schmalen Steg zu stolpern und ins Wasser zu fallen. Sein tiefes Grün wirkte so beängstigend: Unmöglich würde sie sich an der Oberfläche halten können, sie müsste untergehen und ertrinken! Doch sie stolperte nicht, erreichte einige Schritte später den sandigen Boden der Normandie und hatte dort keine Angst mehr vor dem Wasser, sondern vor dem Stimmengewirr, das sie empfing.
Ihr Schiff war nicht das einzige, das eben angekommen war, und Gunnoras Familie nicht die einzige, die sich hier ansiedeln wollte. Ein zweites wurde gerade entladen. Unter den Menschen, die es verließen, befanden sich nicht nur Dänen, sondern auch Schweden. Einst waren sie nach Jütland gekommen, weil sie sich dort fruchtbareres Land erhofft hatten, nun, da diese Hoffnung unerfüllt geblieben war, kamen sie in die Normandie. Neugierig sahen sie sich um, Gunnora folgte ihrem Blick. Weiterhin waren nur Steine, Sand und gelblich schimmerndes Gras zu sehen. Die Schweden tuschelten dennoch aufgeregt, und auch Walrams Familie störte sich nicht daran, zumal es galt, ihren kostbarsten Besitz auszuladen - ihre beiden Pferde.
Wie ein Großteil der Schweden war auch Walram Pferdezüchter. Keine zäheren Tiere gebe es, so hieß es, als die aus Dänemark - ob die, die im Kampf Krieger trugen, oder solche, die in Friedenszeiten Wagen zogen. Jetzt jedoch wirkten die beiden Tiere nicht zäh, sondern ängstlich. Als sie in Aggersborg das Schiff bestiegen hatten, hatte Walram sie auf die Seite gelegt und vertäut, seitdem waren sie nicht bewegt worden. Sie fühlten sich jetzt gewiss noch wackliger auf den Beinen als Gunnora. Die Tiere stürmten nahezu über den Steg, und Gunhild hob Duvelina rasch hoch, damit sie nicht unter ihre Hufe geriet. Die Pferde wieherten, und Walram lachte erleichtert.
Es war das letzte Mal, dass Gunnora ihren Vater lachen hörte, das letzte Mal, dass die schwedischen Siedler ihnen etwas in ihrer Sprache zuriefen, das letzte Mal, dass Gunnora Pferde sah, ohne an Blut zu denken.
Kaum hatten sie den sandigen Boden erreicht, hielten die Tiere plötzlich inne. Sie schnaubten, stiegen in die Luft und schüttelten ihre Mähne. Jetzt sah Gunnora, was sie so beunruhigte. Aus der Ferne näherten sich Artgenossen. Reiter saßen auf ihnen, die Reiter trugen Waffen, und sie ritten auf den Strand zu.
»Wer ist das?«, fragte sie.
Sie versuchte mehr zu erkennen, aber das Sonnenlicht, das sie eben noch wohlig gewärmt hatte, blendete sie.
»Ich weiß es nicht . . .«
Täuschte sie sich, oder zitterte die Stimme der Mutter? In jedem Fall vertraute ihr Gunhild hastig die jüngste Schwester an.
»Wartet hier!«, befahl sie.
Walram versuchte, die beiden Pferde zu beschwichtigen, und wenn er ihr angstvolles Wiehern auch nicht zum Verstummen brachte, führte er sie doch alsbald wieder sicher am Halfter.
»Ist das deine Familie?«, rief Gunnora ihm zu.
Einige seiner Verwandten lebten seit geraumer Zeit in der Normandie. Bei ihnen, so hatte Walram gehofft, würden sie fürs Erste ein Zuhause finden. Doch sie wussten nichts von ihrer Ankunft, und sie waren nicht reich genug, um so viele Pferde zu haben . . . und Waffen.
Walram folgte seiner Frau. »Lass mich fragen!«
Seine Töchter ließ er zurück - die Pferde nicht. Er hielt sie rechts und links, als er auf die Reiter zutrat, die eben stehen geblieben waren. Die Tiere schnaubten, verdrehten die rotgeäderten Augen. Fürchteten sie die Artgenossen? Die Reiter, die sich nicht rührten? Den süßlichen Geruch?
Ja, plötzlich roch es nicht mehr nach brackigem Wasser, sondern . . . süßlich.
In der Aufregung hatte Gunnora diesen Geruch nicht bemerkt - auch nicht, dass ihnen niemand entgegengekommen war, um ihnen beim Ausladen zu helfen, obwohl doch in der Nähe des Stegs ein kleines Dorf lag. Sie war damit beschäftigt gewesen, heil an Land zu kommen und dieses Land zu mustern, hatte nach Äckern und Blumen Ausschau gehalten, nicht nach den wenigen Hütten. Jetzt betrachtete sie die Hütten, jetzt sah sie, dass hinter einer der Hütten ein Mensch lag . . . nicht schlafend, sondern . . . verwesend.
Ehe sie auch nur den Mund öffnen konnte, hörte sie die Mutter schreien. »Lauft! Lauft fort!«
Gunhild begann zu laufen - jedoch nicht von der Gefahr fort, sondern an die Seite des Vaters. Inmitten der beiden Pferde wirkte er so klein. Die Reiter hingegen, die ihre Waffen zogen, schienen geradezu riesig.
»Lauft!«, schrie die Mutter wieder.
Gunnora lief nicht, sie stand ganz starr. Wevia, an Seinfredas Hand, begann jetzt zu weinen, und Duvelina krallte sich an ihr fest. Ich bin die Älteste, ich muss sie in Sicherheit bringen, fuhr es ihr durch den Kopf.
Denken konnte sie noch, sich rühren nicht. Wie gelähmt sah sie zu, wie einer der Reiter auf den Vater zugaloppierte. Der ließ die Pferde los und hob die Hand, um den Angreifer dazu zu bewegen, anzuhalten, doch dieser ritt weiter und schwang sein Schwert. Kurz blitzte die Klinge in der Sonne, dann hatte er es schon wieder gesenkt. Es war so schnell gegangen, dass Gunnora nicht gesehen hatte, wie er den Schlag ausführte. Sie sah nur, wie ihr Vater auf die Knie sank, sah einen Wimpern- schlag später seinen Kopf, der, vom Rumpf getrennt, auf den Boden fiel.
Der Sand färbte sich rot.
Weiterhin konnte sie denken, jedoch nichts fühlen und sich nicht bewegen, selbst dann nicht, als hinter ihr ein Tumult losbrach. Die Siedlerfamilien schrien, drängten sich erst aneinander und flohen dann in sämtliche Richtungen. Der Weg wurde ihnen abgeschnitten, von überall schienen nun Reiter zu kommen, enthaupteten Menschen mit ihren Schwertern, schlugen sie entzwei, durchbohrten ihre Brust mit Lanzen.
Der Sand wurde immer röter, ein ganzes Meer von Blut.
Copyright . 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln
Sein Zustand verschlechterte sich, sodass man ihn, der doch zeit seines Lebens gern geritten war, im Wagen nach F´ecamp bringen musste. Bei seiner Ankunft fühlte er sich zu elend, deswegen Scham zu bekunden. Schlimm genug, dass er gleich danach sterben sollte, stand es dennoch nicht um ihn. In aller Ruhe hatte er von den Seinen Abschied genommen, mit rasselnder Stimme erklärt, dass sein ältester Sohn der Erbe der Normandie sei, und ins Gebet der Mönche eingestimmt. Mittlerweile war er verstummt, atmete jedoch immer noch.
Agnes unterdrückte ein Seufzen. Sie verstand nun, warum die heidnischen Nordmänner, die einst dieses Reich gegründet hatten, mittlerweile aber allesamt getauft worden waren, das langsame Sterben im Bett als Fluch ansahen: Wer auf dem Schlachtfeld fiel, starb einen ruhmreichen und vor allem schnellen Tod.
Ob sich auch der Graf langweilte? Und ob er womöglich mit einem Gähnen, nicht mit einem Lächeln bei Petrus an der Pforte klopfen würde?
Sein Gesichtsausdruck war jedenfalls so leer wie der der anderen - oder nein . . . nicht aller.
Agnes war plötzlich hellwach. Bei zweien der Mönche nahm sie eine große Anspannung wahr, die nicht allein das langsame Sterben des Grafen bedingen konnte. Der eine hieß Bruder Ouen und war für seine außergewöhnliche Leibesfülle ebenso bekannt wie für seine schöne Schrift, weswegen er seit Jahren dafür Verantwortung trug, bei Hofe Urkunden anzufertigen. Der andere war Bruder Remi. Obwohl er erst wenige Tage zuvor angereist war, kannte dennoch der ganze Hof in F´ecamp seinen Namen: Er war ein Mönch vom Mont-Saint-Michel und darauf so stolz, dass er einem jeden diese Tatsache unter die Nase rieb, ob der es nun wissen wollte oder nicht.
Die beiden Mönche schienen sich zu kennen, denn eben nickten sie sich zu, woraufhin sich Bruder Ouen schwerfällig vom Bett des Sterbenden entfernte und nach draußen trat. Bruder Remi folgte ihm rasch, nachdem er sich noch einmal misstrauisch umgesehen hatte.
Agnes' Herz pochte schneller, als auch sie sich unauffällig erhob und den Gang betrat. Den übrigen Versammelten mochte entgangen sein, was die beiden trieben, und hätten sie es bemerkt, hätten sie ihr Verschwinden nicht weiter infrage gestellt, doch in ihr erwachte die Neugier, was die beiden wohl bewogen hatte, sich aus dem Sterbezimmer zu schleichen.
Vielleicht gab es einen harmlosen Grund, und sie suchten lediglich die Latrinen auf oder wollten sich den Magen vollschlagen. Zumindest Bruder Ouen war nicht grundlos so dick, sondern dafür bekannt, dass er der Versuchung der Völlerei viel öfter erlag als widerstand. Vielleicht hatten die beiden aber auch Wichtiges zu bereden, und herauszufinden, ob das stimmte, war in jedem Fall abwechslungsreicher, als den siechen Grafen zu betrachten.
Agnes folgte den beiden Geistlichen mit raschem, lautlosem Schritt. Sie waren am Ende des Gangs stehen geblieben, hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten aufgeregt miteinander. Agnes nahm nur ein Zischen der Stimmen wahr, doch als sie näher schlich, glaubte sie, einzelne Wörter zu verstehen.
»Was nun tun . . . lang gehütetes Geheimnis . . . einer meiner Mitbrüder . . . kurz vor seinem Tod anvertraut . . . unabsehbare Folgen . . .«
Agnes stand im Schatten einer Säule verborgen und atmete tief durch. Die lähmende Müdigkeit fiel jäh von ihr ab, und ihr Körper spannte sich nicht minder an als der der beiden Mönche.
»Ich lebe seit Jahren hier bei Hofe«, erklärte der dicke Bruder Ouen eben, und sein Doppelkinn erbebte, »aber in all dieser Zeit habe ich noch nie etwas von diesen Schriften gehört.«
»Natürlich nicht!« Bruder Remi wirkte ungeduldig. Sein Kinn war anders als das von Bruder Ouen spitz und seine Nase nicht minder, was Agnes unwillkürlich an einen Raubvogel denken ließ. »Wenn alle Welt davon wüsste, dann wären es ja keine geheimen Schriften. Aber ich bin mir sicher, dass die Gräfin sie irgendwo aufbewahrt!«
Bruder Ouen schüttelte den Kopf, und wieder bebte das schlaffe Kinn. »Es wäre närrisch von ihr gewesen, das zu tun, vorausgesetzt, diese Schriften sind tatsächlich so gefährlich, wie du behauptest.«
»Mhm«, machte Bruder Remi. »Sie mag ja eine kluge Frau sein, aber dennoch bleibt sie ein Weib, und den Weibern hat, wie wir alle wissen, Gott mehr Gefühl als Verstand gegeben. Was bedeutet, dass sie den Hof kundig zu führen weiß und kostbare Kleidung samt Schmuck mit Würde zu tragen, nicht unbedingt jedoch, dass sie in weiser Voraussicht künftiger Politik zu handeln versteht.« Verachtung schwang in seiner Stimme mit.
Bruder Ouen stellte den anderen für diese schmähenden Worte nicht zur Rede. »Und jetzt?«, fragte er.
»Nun . . .«, setzte Bruder Remi gedehnt an, ». . . du weißt doch gewiss, wo sich das Gemach der Gräfin befindet. Eine bessere Gelegenheit, nach diesen Schriften zu suchen und sie an uns zu bringen, wird es nicht geben. Undenkbar, dass sie sich in den nächsten Stunden auch nur ein Jota vom Bett ihres Gatten entfernt.«
Jetzt erzitterte Bruder Ouens ganzer Körper vor Erregung, und überdies glaubte Agnes, Schadenfreude in seiner Miene zu lesen. Sie spürte Wut in sich aufsteigen.
»Die Gräfin ist ein stolzes Weib«, murmelte er. »Sie hielt sich immer über alle Welt erhaben und für unbesiegbar. Doch wenn es stimmt, was du sagst . . .«
»Es stimmt, du kannst es mir glauben!«
»Nun, wenn sie tatsächlich dieses Geheimnis hütet, wir es aber aufdecken und mit besagten Schriften den Beweis erbringen würden, dass wir nicht üble Verleumdung begehen, sondern die Wahrheit sagen, so wäre nicht nur ihr Ruf zerstört. Die Zukunft der Normandie stünde auf dem Spiel!«
Auf seine aufgeregten Worte folgte Gelächter, das wie das Meckern einer Ziege klang. Was ihn zu belustigen schien, jagte Agnes einen eisigen Schrecken über den Rücken. Seit Stunden wartete sie darauf, innerlich zu erbeben, doch nun brachte sie nicht der zu erwartende Tod des Grafen dazu, sondern die Ahnung, dass sie etwas gehört hatte, was sie niemals hätte hören dürfen.
»So ist es!«, stimmte Bruder Remi nicht minder triumphierend zu.
Gütiger Gott!, dachte Agnes bestürzt. Was bloß war das Geheimnis der Gräfin der Normandie, die im Nebenraum von ihrem geliebten Gatten Abschied nahm? Und welchen Schaden würden diese beiden Mönche bewirken, könnten sie es tatsächlich ans Licht zerren?
I.
962
Das Licht war derart trübe, dass Gunnora die einzelnen Zeichen kaum erkennen konnte, weswegen sie mit ihren Fingern ehrfürchtig darüberfuhr, um sie sich einzuprägen. Ihre Mutter Gunhild hatte sie mit einem kleinen Messer ins Holz geritzt. Nach einer Weile nahm Gunnora ihr das Werkzeug ab und ritzte nun selbst einige Runen.
»Ich beherrsche jetzt alle Zeichen«, erklärte sie stolz.
In früheren Zeiten hatte es nur sechzehn Runen gegeben, später waren acht weitere hinzugekommen. Und dann gab es noch einige Geheimrunen, die nur wenigen bekannt waren: Eine glich einem Wolf, und wenn man sie in den Grabstein eines Verstorbenen ritzte, war dieser für immer verflucht. Eine große Macht lag in den Runen, und die Mutter wurde nicht müde, sie vor dieser Macht zu warnen, so auch jetzt.
»Jede Rune steht für ein Zeichen, aber überdies hat sie einen eigenen Namen, der andeutet, worin ihre Macht besteht. Und jede Rune kann etwas Gutes bewirken, wenn man sie jedoch verkehrt herum zeichnet, etwas Schlechtes. Das darfst du nie vergessen!«
Ihre Stimme wurde immer leiser, der Griff um Gunnoras Schultern fester. Ein Knarzen ertönte, als der Schiffsbauch etwas schwankte. In den ersten Tagen ihrer Reise hatte der stete Wellengang in ihr Übelkeit ausgelöst, mittlerweile hatte Gunnora sich jedoch an die unruhige See und die vielen fremden Laute, ob vom ächzenden Holz oder der spritzenden Gischt, gewöhnt.
Sie nickte eifrig und schnitzte weiter. »Ja, ich weiß«, sagte sie, »diese Rune hier, die achte, heißt Wunjo, was Erfolg und Erkenntnis bedeutet. Sie kann hingegen auch für Sorgen, Entfremdung und Besessenheit stehen. Und das ist die zehnte Rune, Naudhiz, was Not bedeutet. Sie gibt uns Kraft, unser Schicksal anzunehmen und unseren Ängsten ins Auge zu blicken. Doch wer unter ihrem Fluch steht, muss Mühsal ertragen, Verlust und Armut.«
Gern hätte sie weitere Runen geschnitzt und mit der Mutter geredet, diese hingegen nahm ihr das Messer aus der Hand. »Es ist gut für heute«, entschied sie. »Du zeigst großen Eifer, Gunnora. Mit deinen siebzehn Jahren weißt du mehr über die Runen als manch altes Weiblein.«
Sie klang stolz, zugleich auch unerwartet kummervoll, und sie strich ihrer Tochter über den Kopf, als wollte sie sie weniger loben als viel mehr trösten.
»Aber du hast selbst gesagt, wie wichtig das ist!«, rief Gunnora. »Schließlich ist nicht gewiss, ob die Menschen in unserer neuen Heimat noch von der Macht der Runen wissen.«
Sie konnte die Verachtung in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken. Wann immer sie an das künftige Zuhause dachte, erwachten Zweifel, ob sie das Land je würde lieben können und seinen Bewohnern je vertrauen. Der Vater hatte entschieden, dass in der Normandie ihre Zukunft läge, und dem Vater widersprach man nicht, doch ihr war das Widerstreben der Mutter nicht entgangen, als sie ihren Hof in Dänemark verlassen und das Schiff bestiegen hatten.
»Das Wort Rune«, fuhr Gunnora fort, »bedeutet Geheimnis, und ich will all die Geheimnisse kennen, genau wie du. Ich will deine Macht besitzen!«
Ja, Runen bedeuteten Macht. Es gab zwar Leute, die vor allem einen praktischen Nutzen darin sahen: Händler, die Vereinbarungen über die Lieferung von Waren mit Runen festhielten, oder Reisende, die auf ihren Wegen Botschaften hinterließen, Bauern, die ihren Namen in Pflüge ritzten, auf dass jeder wusste, wem diese gehörten, oder Krieger, die ihre Schilde und Schwerter auf diese Weise als die ihren kennzeichneten. Doch erst wenn man wie Gunhild die Runenzauberei beherrschte, entfalteten die einzelnen Zeichen ihre ganze Kraft: Sie konnten das Schicksal vorhersagen, Glück oder Pech bringen, konnten das Andenken an Verstorbene wahren oder deren Namen verfluchen, sie konnten Vieh gedeihen, die Ernte reifen und Geschwüre heilen lassen - oder Unwetter, Fäulnis und Tod bringen.
Erneut strich die Mutter ihr über den Kopf. »Ich bin stolz, eine so gelehrige, wissbegierige Tochter zu haben«, murmelte sie, »aber du darfst eines nicht vergessen: Um die Macht der Runen zu nutzen, musst du einen Preisbezahlen.«
Wieder knirschte es im Gebälk.
»Welchen Preis?«, fragte Gunnora.
Gunhild zögerte einen Augenblick. Sie schien sich nicht sicher zu sein, ob sie der Tochter diese Last aufbürden sollte. Schließlich gab sie sich einen Ruck.
»Ich habe dir erzählt, welcher Gott am meisten über die Runen und ihre Magie weiß.«
»Odin.«
»Aber weißt du auch, wie er dieses Wissen erlangt hat?«
Gunnora schüttelte den Kopf.
»Odin war beharrlich auf der Suche nach Weisheit. Für einen Schluck aus Mimirs Brunnen, der seherische Kräfte verleiht, gab er sein rechtes Auge. Und er verwundete sich selbst. Neun Tage und neun Nächte hing er kopfüber im Weltenbaum Yggdrasil, ehe er Kenntnis von der Macht der Runen gewann und sich befreien konnte. Jeder kann lernen, diese Macht auszuüben - aber jeder hat dafür etwas zu geben.«
Neun Tage, dachte Gunnora, neun Tage kopfüber in einem Baum hängen . . .
»Und ich?«, fragte sie heiser, »was habe ich zu geben?«
»Das weiß allein Odin.«
Das Rumoren im Schiffsbauch wurde lauter, sein Ächzen klang plötzlich so unheilvoll wie die Stimme der Mutter. Gunnora starrte sie an, und trotz des trüben Lichts erkannte sie deutlich deren Angst. Galt sie den Runen, die ebenso schaden wie nutzen konnten, den unberechenbaren Göttern, die sich manchmal einen Spaß daraus machten, die Menschen zu quälen? Oder galt sie der Zukunft in ihrer neuen Heimat, für die sie ihre vertraute Welt zurückgelassen hatten?
Gunnora zuckte angstvoll zusammen, als plötzlich ein Ruf von draußen erschallte. Aus der Miene der Mutter schwand sogleich die Sorge, und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Wie es aussieht, ist endlich Land in Sicht.«
Später fragte sich Gunnora oft, ob das Unbehagen sie schon begleitet hatte, als sie von der niedrigen Kammer ins Freie getreten war, auf das glitzernde Wasser gestarrt und am Horizont einen Streifen Land auszumachen versucht hatte, und ob dieses Unbehagen nur von der Geschichte über Odins Opfer gerührt hatte oder von einer dunklen Vorahnung. Sie war sich nicht sicher. In jedem Fall hatte es außer dem leichten Unbehagen nichts gegeben, das sie vor dem Kommenden gewarnt hatte.
Gespannt, ein wenig wehmütig und nicht ohne Zweifel sah sie nun in Richtung Küste, die immer deutlicher zu erkennen war, ein Sandstreifen zwischen Himmel und Meer, von schroffen Felsen begrenzt. Ein Zeichen, dass das Leben in der Heimat endgültig vorüber war und das in der Normandie begann.
Der Meerwind blies ihr ins Gesicht, und Gunnora schloss kurz die Augen, um den salzigen Geruch und die Ahnung von Freiheit, die er schenkte, zu genießen. Die Mutter lehrte sie die Runen nur drinnen, ob in ihrem Langhaus in Dänemark oder nun in der Kammer auf dem Schiff, und dafür war sie gern bereit, auf die Sonne zu verzichten. Doch jetzt nahm sie erfreut die Wärme in sich auf, sah darin ein hoffnungsvolles Zeichen und schüttelte die Zweifel ebenso ab wie das stete Frösteln. Viel zu oft war ihr im Leben kalt gewesen, auch in den letzten Nächten im Schiffsbauch, wo es kein Feuer gab, um sich zu wärmen, wo sie sich zitternd aneinanderpressen mussten und ihre Haare sich in der Feuchtigkeit kräuselten, die stetig durch die Ritzen kroch.
Knörr hießen Schiffe wie dieses, hatte ihr Vater erklärt, im Vergleich zu den geschmeidigen, schnellen Langschiffen ungleich behäbiger und zum Transport schwerer Waren wie Eisen und Speckstein geeignet. Ihr Nachtlager im niedrigen Frachtraum hatten sie inmitten dieser Güter aufgeschlagen, nicht frei von Furcht, im Schlaf davon erdrückt zu werden.
Das nächste Mal werde ich in der fremden, neuen Heimat einschlafen, dachte Gunnora - plötzlich nicht minder aufgeregt als ihr Vater, dem man die Ungeduld deutlich ansah.
»Wann werden wir anlegen?«, fragte er.
Der Mann, dem das Schiff gehörte, war für gewöhnlich wortkarg, desgleichen seine Besatzung: sechs Männer, die den Handel zwischen Dänemark und der Normandie belebten. Jetzt erklärte er nicht ohne Stolz, dass sein Schiff, von ihm liebevoll Elch des Meeres genannt, die Reise schneller als erwartet hinter sich gebracht habe.
»Wenn die Sonne am höchsten steht, betreten wir wieder Land«, fügte er hinzu.
Gunnoras jüngere Schwestern hatte es belustigt, dass er seinem Schiff einen Kosenamen gab. Während der Reise hatten sie es gründlich erforscht, doch heute interessierten sie sich nicht länger für die im Wind knatternden Segel oder die langen Ruder, die mit einem lauten Klatschen in die Fluten tauchten, sondern nur noch für das Land in der Ferne.
»Stimmt es . . . stimmt es, dass die Wiesen in der Normandie voller Blumen stehen und die Äcker vor Ähren überquellen? «, fragte Seinfreda, ein Jahr jünger als Gunnora und zarter als sie, mit so heller Haut, dass man die dunklen Adern durchschimmern sah. Im Gegensatz zu Gunnora, die schwarzes Haar hatte, war die Schwester blond. Ihre Füße waren so winzig, dass man meinen konnte, sie würde keinen ordentlichen Halt auf der Erde finden, sondern jederzeit vom Wind fortgeweht werden.
»Nun, auch dort gibt es Unwetter und Kälte, aber nicht so oft wie bei uns«, erwiderte ihr Vater Walram.
Wevia, die Dritte im Bunde und acht Jahre alt, interessierte sich nicht für Blumen und Ähren. »Werde ich in der Normandie eine Kette bekommen, die so schön wie die von Mutter ist?«
Sie liebte den Schmuck, den Gunhild trug, und konnte ihn stundenlang betrachten. Manchmal hatte ihr Walram einzelne Perlen geschenkt, jedoch nie eine vollständige Halskette, wie eine Schwester der Mutter sie kunstvoll herzustellen vermochte, indem sie Rohglasklumpen und Mosaiksteine in einer Schmelzpfanne erwärmte und daraus mit einem Eisenstab kleine Steine formte.
»Wenn wir erst einmal Land haben und reiche Ernte einfahren, dann wirst du auch eigenen Schmuck bekommen«, meinte der Vater lächelnd.
»Und wenn du etwas älter bist«, fügte Gunhild ein wenig strenger hinzu.
Bei Wevia regte sich Widerspruch, doch ehe er laut wurde, trat die vierjährige Duvelina dazwischen, schmiegte sich an den Vater und bat: »Erzähl mir eine Geschichte von der Normandie! «
Ob im neuen Land häufiger die Sonne schien und mehr Reichtum zu erwarten stand, war ihr gleich, umso wissbegieriger aber war sie, ob dort wie in Dänemark Drachen, Elfen und Zwerge wohnten, faszinierende Wesen allesamt, von deren Eigenheiten zu hören sie nicht genug bekommen konnte. Der Vater erzählte ihr nicht nur Geschichten darüber, sondern schnitzte ihr Figuren, so auch den hölzernen Wolf, den Duvelina eben fest umklammert hielt. Als Gunnora noch kleiner war, hatten sie jene Miniaturnachbildungen von Booten, Schwertern, Tieren und allen möglichen geheimnisvollen Gestalten aus den Märchenwelten ebenso begeistert, doch mit den Jahren zogen die Runen eher ihr Interesse auf sich.
Die Sonnenstrahlen fielen unterdessen fast senkrecht vom Himmel und krönten die Wellen mit ihrem goldenen Licht. Die Fahrt wurde langsamer, als das Segel eingeholt wurde, das an der querschiffs stehenden Rahe befestigt war. Den Mast wiederum, der die Rahe hielt, legten die Männer mithilfe von Wanten und Stagen aus Seehundsleder im Kielschwein um. Finngeirr, der Besitzer des Schiffes, erklärte voller Genugtuung, dass das nicht auf jedem Schiff möglich sei.
Duvelina war außer sich vor Begeisterung, als nun der Drachenkopf am Bug des Schiffes abgenommen wurde. Draußen auf den Meeren diente er dazu, die bösen Meergeister fernzuhalten, an Land jedoch musste man ihn verstecken, auf dass er niemanden erschreckte - weder die Menschen noch die Wesen aus der Zwischenwelt. Gunnora wusste, dass Letztere großen Schaden verursachen konnten, doch für Duvelina waren Zwerge und Elfen noch nicht unheimlich, das Leben ein großer Spaß und alles, was man brauchte, es zu bestehen, dazu da, sie zu unterhalten - auch der Sonnenstein neben der Peilscheibe, mit dem man den Standort berechnete, der nun aber nicht länger vonnöten war.
Noch war an Land nichts von den versprochenen Blumen und Ähren zu sehen, nur Sand und Stein und ein paar vereinzelte Bäume, die, verglichen mit den riesigen Eichen und Buchen der dänischen Wälder, dürr und mickrig erschienen. Gunnora sehnte sich schon jetzt nach ihrem würzigen Duft, wenngleich sie sich zu sagen versuchte, dass es gewiss auch hier Wälder gab und in Dänemark wiederum weites Ödland aus Sanddünen, Feuchtwiesen und Sümpfen, das nicht einladender war als diese Küste.
Die Mutter trat zu ihr. »Du wirst sehen, hier wird alles besser. «
Ob sie die Tochter trösten wollte oder vielmehr sich selbst?
Gunnora nickte, lächelte aber nicht. Ein Leben ohne Kälte. Ein Leben ohne Hunger. Ein Leben ohne . . . Heimat.
Walram schnalzte mit der Zunge. »Hat unsere Älteste etwa schon wieder Heimweh?« Und als Gunnora keine Antwort gab, sagte er: »Manchmal braucht man Mut zu bleiben, manchmal braucht man Mut zu gehen. Unser Volk hatte stets beides. «
»Das weiß ich doch«, erwiderte Gunnora schnell.
Neben Geschichten über Zwerge und Elfen hatte ihr Vater immer gern von den Jüten erzählt, die einst auf Booten nach England fuhren, viel kleiner und wackliger diese als ihr breites Frachtschiff. Etliche waren ertrunken - was andere nicht davon abgehalten hatte, es auch zu versuchen.
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich freue mich doch darauf, in der Normandie zu leben.«
»Ich freue mich, wenn wir genug zu essen haben«, sagte die zarte Seinfreda.
»Und ich freue mich auf meine erste Kette!«, rief Wevia.
»Und schnitzt du mir ein Pferd?«, quäkte Duvelina.
Gunhild sagte oft, dass ihre Töchter so verschieden wie die vier Himmelsrichtungen seien. Ihre Züge glichen sich, die Farbe ihrer Haare nicht - die von Seinfreda waren blond, die von Gunnora schwarz, Duvelina wuchsen rote Locken, Wevia weiche kastanienbraune.
Ich bin der Norden, dachte Gunnora, dunkel wie die Wälder und das Meer, weil viel zu selten die Sonne darauf fällt wie jetzt. Und weil aus dem Norden das Wissen über die Runen stammt, das ich hier bewahren werde.
»Aber natürlich schnitze ich dir ein Pferd!«, rief Walram.
Er klang so begeistert, dass Gunnora sich von ihrer Wehmut nicht bezwingen ließ. Da war kein Unbehagen mehr, keine düstere Vorahnung. Nichts hatte sie gewarnt.
Nichts darauf vorbereitet, was geschehen würde.
Es dauerte nicht mehr lange, bis sie das Land erreichten, doch ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, ehe sie nach vielen Tagen auf hoher See tatsächlich wieder festen Boden betreten konnten. Vor dem Anlegen galt es, mit einer Leine die Wassertiefe auszuloten und danach das Schiff behutsam an den Portus heranzuführen, einen Steg aus Reisigbündeln und Flechtwerk, den man mit Steinen und Holzstämmen beschwert hatte. Pflöcke standen davon ab, die man in eine dafür vorgesehene Vorrichtung des Schiffes steckte, sodass es alsbald fest mit dem Steg verbunden war. Nun galt es noch abzuwarten, bis die Männer das Schiff entladen hatten.
Gunnora kletterte auf den Steg und ging, Wevia an der Hand, ein paar wacklige Schritte. Obwohl das Holz kaum knarrte, vermeinte Gunnora noch den Rhythmus der Wellen in den Knochen zu spüren. Bei jedem Schritt schien der Boden zu beben. Der salzige Geruch des Meeres, der von Weite, Freiheit und Sonne kündete, wich einem fauligen von brackigem Wasser, und die Fluten waren nicht länger schaumgekrönt. Die Oberfläche spiegelte ihr Gesicht nicht. Das Wasser stand so ruhig wie das eines Tümpels.
Seinfreda streckte ihre Hand nach der ältesten Schwester aus. »Ist das nicht aufregend?«, fragte sie.
Gunnora nickte. Sie schritt entschlossen weiter und konnte doch die Angst nicht abschütteln, auf diesem schmalen Steg zu stolpern und ins Wasser zu fallen. Sein tiefes Grün wirkte so beängstigend: Unmöglich würde sie sich an der Oberfläche halten können, sie müsste untergehen und ertrinken! Doch sie stolperte nicht, erreichte einige Schritte später den sandigen Boden der Normandie und hatte dort keine Angst mehr vor dem Wasser, sondern vor dem Stimmengewirr, das sie empfing.
Ihr Schiff war nicht das einzige, das eben angekommen war, und Gunnoras Familie nicht die einzige, die sich hier ansiedeln wollte. Ein zweites wurde gerade entladen. Unter den Menschen, die es verließen, befanden sich nicht nur Dänen, sondern auch Schweden. Einst waren sie nach Jütland gekommen, weil sie sich dort fruchtbareres Land erhofft hatten, nun, da diese Hoffnung unerfüllt geblieben war, kamen sie in die Normandie. Neugierig sahen sie sich um, Gunnora folgte ihrem Blick. Weiterhin waren nur Steine, Sand und gelblich schimmerndes Gras zu sehen. Die Schweden tuschelten dennoch aufgeregt, und auch Walrams Familie störte sich nicht daran, zumal es galt, ihren kostbarsten Besitz auszuladen - ihre beiden Pferde.
Wie ein Großteil der Schweden war auch Walram Pferdezüchter. Keine zäheren Tiere gebe es, so hieß es, als die aus Dänemark - ob die, die im Kampf Krieger trugen, oder solche, die in Friedenszeiten Wagen zogen. Jetzt jedoch wirkten die beiden Tiere nicht zäh, sondern ängstlich. Als sie in Aggersborg das Schiff bestiegen hatten, hatte Walram sie auf die Seite gelegt und vertäut, seitdem waren sie nicht bewegt worden. Sie fühlten sich jetzt gewiss noch wackliger auf den Beinen als Gunnora. Die Tiere stürmten nahezu über den Steg, und Gunhild hob Duvelina rasch hoch, damit sie nicht unter ihre Hufe geriet. Die Pferde wieherten, und Walram lachte erleichtert.
Es war das letzte Mal, dass Gunnora ihren Vater lachen hörte, das letzte Mal, dass die schwedischen Siedler ihnen etwas in ihrer Sprache zuriefen, das letzte Mal, dass Gunnora Pferde sah, ohne an Blut zu denken.
Kaum hatten sie den sandigen Boden erreicht, hielten die Tiere plötzlich inne. Sie schnaubten, stiegen in die Luft und schüttelten ihre Mähne. Jetzt sah Gunnora, was sie so beunruhigte. Aus der Ferne näherten sich Artgenossen. Reiter saßen auf ihnen, die Reiter trugen Waffen, und sie ritten auf den Strand zu.
»Wer ist das?«, fragte sie.
Sie versuchte mehr zu erkennen, aber das Sonnenlicht, das sie eben noch wohlig gewärmt hatte, blendete sie.
»Ich weiß es nicht . . .«
Täuschte sie sich, oder zitterte die Stimme der Mutter? In jedem Fall vertraute ihr Gunhild hastig die jüngste Schwester an.
»Wartet hier!«, befahl sie.
Walram versuchte, die beiden Pferde zu beschwichtigen, und wenn er ihr angstvolles Wiehern auch nicht zum Verstummen brachte, führte er sie doch alsbald wieder sicher am Halfter.
»Ist das deine Familie?«, rief Gunnora ihm zu.
Einige seiner Verwandten lebten seit geraumer Zeit in der Normandie. Bei ihnen, so hatte Walram gehofft, würden sie fürs Erste ein Zuhause finden. Doch sie wussten nichts von ihrer Ankunft, und sie waren nicht reich genug, um so viele Pferde zu haben . . . und Waffen.
Walram folgte seiner Frau. »Lass mich fragen!«
Seine Töchter ließ er zurück - die Pferde nicht. Er hielt sie rechts und links, als er auf die Reiter zutrat, die eben stehen geblieben waren. Die Tiere schnaubten, verdrehten die rotgeäderten Augen. Fürchteten sie die Artgenossen? Die Reiter, die sich nicht rührten? Den süßlichen Geruch?
Ja, plötzlich roch es nicht mehr nach brackigem Wasser, sondern . . . süßlich.
In der Aufregung hatte Gunnora diesen Geruch nicht bemerkt - auch nicht, dass ihnen niemand entgegengekommen war, um ihnen beim Ausladen zu helfen, obwohl doch in der Nähe des Stegs ein kleines Dorf lag. Sie war damit beschäftigt gewesen, heil an Land zu kommen und dieses Land zu mustern, hatte nach Äckern und Blumen Ausschau gehalten, nicht nach den wenigen Hütten. Jetzt betrachtete sie die Hütten, jetzt sah sie, dass hinter einer der Hütten ein Mensch lag . . . nicht schlafend, sondern . . . verwesend.
Ehe sie auch nur den Mund öffnen konnte, hörte sie die Mutter schreien. »Lauft! Lauft fort!«
Gunhild begann zu laufen - jedoch nicht von der Gefahr fort, sondern an die Seite des Vaters. Inmitten der beiden Pferde wirkte er so klein. Die Reiter hingegen, die ihre Waffen zogen, schienen geradezu riesig.
»Lauft!«, schrie die Mutter wieder.
Gunnora lief nicht, sie stand ganz starr. Wevia, an Seinfredas Hand, begann jetzt zu weinen, und Duvelina krallte sich an ihr fest. Ich bin die Älteste, ich muss sie in Sicherheit bringen, fuhr es ihr durch den Kopf.
Denken konnte sie noch, sich rühren nicht. Wie gelähmt sah sie zu, wie einer der Reiter auf den Vater zugaloppierte. Der ließ die Pferde los und hob die Hand, um den Angreifer dazu zu bewegen, anzuhalten, doch dieser ritt weiter und schwang sein Schwert. Kurz blitzte die Klinge in der Sonne, dann hatte er es schon wieder gesenkt. Es war so schnell gegangen, dass Gunnora nicht gesehen hatte, wie er den Schlag ausführte. Sie sah nur, wie ihr Vater auf die Knie sank, sah einen Wimpern- schlag später seinen Kopf, der, vom Rumpf getrennt, auf den Boden fiel.
Der Sand färbte sich rot.
Weiterhin konnte sie denken, jedoch nichts fühlen und sich nicht bewegen, selbst dann nicht, als hinter ihr ein Tumult losbrach. Die Siedlerfamilien schrien, drängten sich erst aneinander und flohen dann in sämtliche Richtungen. Der Weg wurde ihnen abgeschnitten, von überall schienen nun Reiter zu kommen, enthaupteten Menschen mit ihren Schwertern, schlugen sie entzwei, durchbohrten ihre Brust mit Lanzen.
Der Sand wurde immer röter, ein ganzes Meer von Blut.
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Autoren-Porträt von Julia Kröhn
Julia Kröhn, geboren 1975 in Linz, hat Geschichte, Philosophie, Theologie und Religionspädagogik studiert. Zur Zeit arbeitet sie als Fernsehjournalistin in Frankfurt am Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Julia Kröhn
- 2013, 477 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404169328
- ISBN-13: 9783404169320
- Erscheinungsdatum: 20.12.2013
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