Kunststücke
Roman
Der Clown Macolieta lebt in einer rigorosen Unordnung mit seinen Büchern, aufziehbaren Blechfiguren, Schminktöpfen, Jonglierbällen, einer Sonnenblume als einziger Pflanze und einer Spinne als Haustier.
Er war in die Clownin Sandrine verliebt, doch er...
Er war in die Clownin Sandrine verliebt, doch er...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Kunststücke “
Klappentext zu „Kunststücke “
Der Clown Macolieta lebt in einer rigorosen Unordnung mit seinen Büchern, aufziehbaren Blechfiguren, Schminktöpfen, Jonglierbällen, einer Sonnenblume als einziger Pflanze und einer Spinne als Haustier.Er war in die Clownin Sandrine verliebt, doch er traute sich nicht, ihr das zu sagen. Jetzt ist sie weg, und Macolieta sehnt sich nach ihr. Seine Kunststücke zeigt er bei Kindergeburtstagen, zu denen er mit seinen zwei Freunden Max und Claudio in einem kleinen gelben Auto fährt, in dem "Yellow Submarine" von den Beatles läuft.
Abends spielt er Schach in einer Bar, und wenn er allein ist, schreibt er in sein blaues Buch - über sein Alter Ego, den Clown Balancín. Der hat alles, was ihm fehlt: Geld, Erfolg, ein Publikum, das ihn feiert, eine Frau, die ihn liebt.
In einem phantasievollen ironischen Gedankenspiel werden die beiden Lebensläufe immer stärker ineinander verwoben, bis Balancín aus dem Buch heraus ins Dasein tritt.
Was ist die Wirklichkeit? Das, was wir uns vorstellen, oder das, was wir leben? Mit Poesie, Humor und philosophischem Witz führt uns Rolando Villazón in eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, voller Zauber und Magie. Und am Ende ist jedes Leben ein Kunststück.
Der Clown Macolieta lebt in einer rigorosen Unordnung mit seinen Büchern, aufziehbaren Blechfiguren, Schminktöpfen, Jonglierbällen, einer Sonnenblume als einziger Pflanze und einer Spinne als Haustier. Seine Kunststücke zeigt er bei Kindergeburtstagen, zu denen er mit zwei Freunden in einem kleinen gelben Auto fährt, in dem Yellow Submarine von den Beatles läuft. Er ist verliebt in die Französin Sandrine, doch er traut sich nicht, ihr das zu sagen. Abends spielt er Schach in einer Bar, und wenn er alleine ist, schreibt er in sein blaues Buch - über sein Alter Ego, den Clown Balancin. Der hat alles, was ihm fehlt: Geld, Erfolg, ein Publikum, das ihn feiert, eine Frau, die ihn liebt.
In einem phantasievollen ironischen Gedankenspiel werden die beiden Lebensläufe immer stärker ineinander verwoben, bis Balancin aus dem Buch heraus ins Dasein tritt.
Was ist die Wirklichkeit? Das, was wir uns vorstellen, oder das, was wir leben? Mit Poesie, Humor und philosophischem Witz führt uns Rolando Villazón in eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, voller Zauber und Magie. Und am Ende ist jedes Leben ein Kunststück.
In einem phantasievollen ironischen Gedankenspiel werden die beiden Lebensläufe immer stärker ineinander verwoben, bis Balancin aus dem Buch heraus ins Dasein tritt.
Was ist die Wirklichkeit? Das, was wir uns vorstellen, oder das, was wir leben? Mit Poesie, Humor und philosophischem Witz führt uns Rolando Villazón in eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, voller Zauber und Magie. Und am Ende ist jedes Leben ein Kunststück.
Lese-Probe zu „Kunststücke “
Kunststücke von Rolando VillazónProlog
«Was schreibt er da bloß alles in sein blaues
Buch?», fragt Max mit Stentorstimme.
«Sein Leben in einer Parallelwelt», antwortet
Claudio bedächtig.
... mehr
1
Etwas heult. Etwas schmerzt.
Macolieta sitzt mit dem blauen Buch auf dem Schoß in sei-
nem Bett, kann aber nicht mehr schreiben. Er seufzt, blät-
tert zur ersten Seite zurück und liest noch einmal den ersten
Absatz.
Du bist aufgewacht, ohne die Augen zu öffnen. Diesmal ist es
wahr. Diesmal bist du nicht mehr du selbst, sondern bist im
Körper und im Leben eines anderen aufgewacht. Hinter dir
lässt du den Unentschlossenen, den im Dickicht seiner endlosen
Fragen nach Antworten Suchenden. Du hast das alte Ich wie
eine nutzlose Haut abgeworfen, und wenn du jetzt die Augen
aufschlägst, wirst du feststellen, dass du in einem Flugzeug
nach Barcelona sitzt; dein Name ist Balancín, und neben dir
ist, im Schlaf deine Hand festhaltend, sie, Verlaine, deine Ant-
wort.
Etwas heult. Etwas schmerzt.
Der im Mondlicht tanzende Staub lässt die Linien der
Wände, Möbel und Türen seines Zimmers verschwimmen,
genau wie in jener Nacht vor Jahren, als er, um das einset-
zende Heulen zum Schweigen zu bringen, anfing, in dem
blauen Buch die schillernden Abenteuer des Clowns Balan-
cín und seiner geliebten Verlaine aufzuschreiben; die Ge-
schichte dieses fantastischen Lebens, das zu führen er sich
vorstellte, wenn er Sandrine gefolgt wäre. Seines Lebens in
einer Parallelwelt. Er hat Seite um Seite vollgeschrieben,
doch das Heulen hört nicht auf. Und Balancín – mit Verlaine
an seiner Seite – ist ein berühmter Künstler mit Engage-
ments in Theatern und Zirkussen auf der ganzen Welt ge-
worden, während Macolieta immer noch im selben Zimmer
hockt und sich mit Fragen quält.
Er legt das Buch neben das Bett. Bevor er das Licht löscht,
streichelt er mit dem Schatten seiner Hand den schlanken
Schatten der Sonnenblume, die in einem Topf am Fenster
steht. In der Nacht gleiten durch rissige Membranen geflüs-
terte Nachrichten aus der parallelen Welt. Macolieta ist ein-
geschlafen. Später wird sich das Heulen mit dem Flüstern
und seinen Träumen verbinden. Er weiß, woher es kommt,
will aber nicht daran denken.
Was da heult, was da schmerzt, ist das Fehlen von San-
drine.
2
Macolieta
Er wachte auf, ohne die Augen zu öffnen. Ein kalter, ste-
chender Schmerz im Magen hinderte ihn, die Lider zu be-
wegen. Diesmal war es tatsächlich so weit; diesmal war Ma-
colieta nicht mehr er selbst und erwachte im Körper und
im Leben eines anderen. Er hatte dieses beklemmende Ge-
fühl schon öfter gehabt, doch es war eher wie ein leichtes Ju-
cken gewesen, ein vorübergehender unbehaglicher Kitzel,
von dem am Ende nur das erlösende Gelächter blieb, das die
dunkle Vorahnung zerschlug.
Jetzt erkennt er, dass diese flüchtigen morgendlichen
Körperreaktionen nur die Vorboten waren, Begleiterschei-
nungen der diesmal wirklich stattfindenden Metamorphose.
Er ist sich sicher, nicht in seiner eigenen Haut zu stecken,
fremde Träume geträumt zu haben, und in einem Zimmer
aufzuwachen, das die Erinnerungen eines anderen birgt, in
dem die Minuten eines Lebens dahinkriechen, das nicht
das seine ist.
Er hat Angst wie jemand, der mitten in der Nacht auf-
wacht, weil ihm der Arm eingeschlafen ist, der einen dump-
fen Schmerz in der Brust verspürt, still liegen bleibt und kalt
schwitzend auf den todbringenden letzten Schlag des Her-
zens wartet, während eine Lawine von Erinnerungen sein
Inneres in Aufruhr versetzt. Denn wenn er die Augen auf-
schlägt, wird er das Letzte verlieren, das er noch besitzt von
dem, was ihn bis gestern ausgemacht hat: das Bewusstsein
seiner selbst. Wenn das Licht dieses Schicksalstages auf
seine Netzhaut trifft, wird ihm sein Ich langsam, aber unaus-
weichlich, entgleiten, so wie sich die Erinnerung an einen
Traum auflöst, den wir nicht vergessen wollen, der aber
unbarmherzig aufgesogen wird vom letzten Nebelschweif,
der unter den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages ver-
dampft. Und in diesen kurzen Albtraumminuten, auf diesem
letzten Stück des abschüssigen Tunnels, dessen Wassermas-
sen ihn unerbittlich fortreißen werden von dem, der er war,
und hinspülen zu dem, der er sein wird, in diesen kurzen Mi-
nuten wird Macolieta Zeit haben, den ganzen Schrecken
eines Mannes zu empfinden, der weiß, dass er ertrinken
wird, und dessen wild rudernde Arme schon nicht mehr der
eigenen Rettung dienen, sondern eher ein Abschiedsgruß
an das Leben sind.
Er wird den blauen Vorhang mit dem quadratischen Fli-
cken nicht mehr sehen, der das von einer Zigarette ein-
gebrannte Loch verdeckt; nicht mehr seinen maulbeerfar-
benen Lesesessel, und auch nicht das Regal, in dem sich
Bücher und Zeitschriften in rigoroser Unordnung stapeln
und mit seinen gesammelten Blechspielzeugen eine Wohn-
gemeinschaft bilden. Auch seinen Schreibtisch wird er nicht
mehr sehen, dessen Arbeitsfläche in Beschlag genommen ist
von drei Schminktöpfen, einer winzigen Gitarre, vier bun-
ten Jonglierbällen, drei riesigen orangefarbenen Knöpfen,
mehreren roten Nasen, zwei gelben Taschentüchern, jeder
Menge Puder und einer Spinne. Nichts von dem wird er se-
hen, sondern all das andere: andere Möbel, andere Gerät
schaften, andere Schatten, die sich in Ecken eingenistet ha-
ben, die ihnen nicht gehören.
Verzweifelt wird er dorthin eilen, wo sich früher der
Schminkspiegel mit seiner Umrandung aus Glühbirnen be-
fand, von denen nur noch vier ihren Dienst taten, und an des-
sen Stelle ihm jetzt ein grauenhafter Art déco-Spiegel den
entsetzten Blick aus fremden Augen zeigen wird, die gro-
teske Schreckensfratze eines unbekannten Gesichts, die
schaurige Spärlichkeit neuer Augenbrauen, das unmögliche
Spiegelbild von jemandem, den er noch nie im Leben gese-
hen hat. In genau diesem Moment, wenn sein Mund sich öff-
net, um den erwarteten Entsetzensschrei auszustoßen, und
sich zu einem O rundet, bis er groß wie die Trichteröffnung
ist, durch die der letzte Bewusstseinstropfen rinnt, und aus
dem Schrei ein Gähnen wird, wenn er in seiner neuen Haut
und mit seiner gebrauchten Erinnerung zum Bad schlen-
dert, pfeifend unter die Dusche steigt und sich fragt, woher
er diese komische Melodie wohl hat, genau in diesem Mo-
ment wird die Verwandlung vollendet sein.
Verdammt!, denkt Macolieta, sagt es aber nicht, weil er
sich auch nicht zu sprechen traut. Er weiß – Ah, diese Ge-
wissheit, die wie ein Zahnschmerz ist. Woher weiß er? – ,
dass auch seine Stimme anders sein wird, schrill, misstö-
nend, unfähig, zu singen und die Stimmen von Comicfigu-
ren nachzuahmen, sein spezielles Lachen wie von hicksen-
den Ameisen im Gänsemarsch, das die Kinder so mögen.
Das alles wird es nicht mehr geben.
Das Stück Pizza von gestern Abend, das er zum Früh-
stück essen wollte?
Nicht mehr da.
Die herrliche Sonnenblume in ihrem Tontopf?
Nicht mehr da.
Die nagelneue grüne Perücke?
Nicht mehr da. Verschwunden, verschwunden.
Und das blaue Buch?
Wieder dreht es ihm den Magen um. Auch das blaue
Buch wird in dieser anderen Welt geblieben sein, auf dem
Nachttisch neben dem Bett, aufgeschlagen auf der letzten
beschriebenen Seite:
... in deinem weiten Clownskostüm wirbelst du wie ein tanzen-
der Regenbogen über die Bühne, hast die letzten Seidentücher
in die Luft geworfen, und sie fallen genau dorthin, wo du
sie haben willst, nachdem du mit deinen Kunststücken unter
den Lichtern und ihren Schatten die Illusion vom Fliegen
und Träumen geschaffen hast. Das Orchester spielt die letzten
Takte der Melodie, mit deren Ersterben die stumme Grenze
zwischen zwei Nummern erreicht wird. Die Vorstellung geht
zu Ende. Du hast dein Publikum auf einen fantastischen Weg
vom Lacher zum Seufzer bis zur Verzückung geführt. Dein
Herz rast. Was empfindest du? Erleichterung? Nachlassen
von Spannung? Freude? Alles? Der Schlussakkord erklingt,
und der Applaus des begeisterten Publikums ist wie der pras-
selnde Flügelschlag eines Schwarms aufflatternder Vögel. Der
Applaus: explodierende Sonnen, die das Zirkusrund erwär-
men; ein frischer Sommerregen; ein tauender Eisberg, dessen
Schmelzwasser dich mitreißt bis an den Rand der Glückselig-
keit. Die Welt lacht dich an, Clown. Du hast Verlaine, die Ge-
fährtin deines Lebens, die deinen jugendlichen Hirngespins-
ten Flügel verliehen hat. Und du hast das Abenteuer auf den
Brettern, die die Welt bedeuten, mit ihren Kämpfen, grandio-
sen Höhepunkten, vernichtenden Stürmen, ihrem Lorbeer und
ihren Abstürzen. Du hast dieses Publikum, die unermessliche
Umarmung Tausender Herzen. Du bist dir des unaussprech-
lichen Glücks bewusst, die Höhenluft der Bühnenkunst zu at-
men und jenen erhabenen Augenblick herbeizuführen, in dem
Lachen, Magie und Träume jedes Mal neu lebendig werden.
Weißt du eigentlich, wie reich du bist, Balancín?
Und als du schon glaubtest, die Vorstellung beenden zu kön-
nen, das Orchester die letzten Takte spielte, die das finale
Schattenspiel deiner virtuosen Hände vor der weißen Wand
begleiten, da fordert das Publikum eine unerwartete Zugabe,
noch einmal die Nummer mit den Tüchern. Nicht endenwol-
lender Applaus. Und wieder tanzen die Tücher wie Kometen-
schweife. Der Schweiß rinnt dir von der Stirn und vermischt
sich mit einer verschämten Träne aus deinem Auge.
Ja, Balancín, du weißt, wie reich du bist.
Das blaue Buch?
Verdammte Metaphysik. Nicht mehr da. Auch ver-
schwunden.
Macolieta könnte heulen und in seinen Tränen ertrinken,
doch davor rettet ihn eine andere Gewissheit: Das Bild wird
noch da sein. (Woher hat er all diese schrecklichen Gewiss-
heiten heute Morgen; er, der sonst in Zweifeln versinkt?)
Nur noch das Gemälde; das einzige Bild, das dank einer
Wette die Wände seiner Wohnung ziert.
Es war in einer Tequilakneipe in der Innenstadt. Sie tran-
ken dort ein paar Gläschen, nachdem sie auf der Jagd nach
Raritäten durch die Antiquariate der Stadt gezogen waren.
Er und seine beiden unzertrennlichen Freunde: Max, ein
Koloss wie ein Nashorn ohne Horn und Clown aller Clowns;
und Claudio, langer Lulatsch, Leser, Philosophierer und
Pfeifenraucher. Er erklärte gerade die verschiedenen monis-
tischen Theorien als materialistische Alternative zum karte-
sianischen Dualismus. Geist und Körper eins, nichts da mit
Seele, mit Geist, der die Maschine steuert, jeder mentale
Vorgang auch ein körperlicher. Nachdem sie schon reichlich
Tequila intus hatten, wurden Claudios Satzgirlanden zuneh-
mend verworrener, und in Macolietas schwammigem Hirn
blieben nur noch Wortungetüme wie Anomaler Monismus,
Analytischer Behaviorismus und Materialistischer Reduk-
tionismus hängen sowie etwas über Kandinskys Farben und
das dringende Bedürfnis, jetzt pinkeln zu müssen. Um den
philosophischen Sturzbach einzudämmen, der sie mehr be-
rauschte als der Saft der Agaven, kam Max das im Fernsehen
übertragene Fußballspiel zwischen Gestreiften und Blauen
gerade recht. Er brachte Claudio zum Schweigen, indem er
Macolieta eine Wette anbot: Wenn die Blauen gewannen,
würde Max seinem Nachbarn, dem Maler, das Gemälde ab-
schwatzen, das Macolieta einmal gesehen und sofort voller
Begeisterung als Porträt seiner eigenen Seele erkannt hatte,
und es ihm schenken; verlören die Blauen, müsste Macolieta
ihm zwei seiner aufziehbaren Blechspielzeuge überlassen.
Diesem schien es das Risiko wert zu sein, zwei seiner gelieb-
ten Blechfiguren aufs Spiel zu setzen und dafür die Chance
zu bekommen, das Bild seiner Seele zu gewinnen. Er schlug
ein. Und da geschrieben stand, dass die Blauen sogar auch
das Rückspiel gewinnen würden, standen einen Monat spä-
ter Max und Claudio vor Macolietas Tür – unangemeldet,
wie immer – mit dem Bild und einer Flasche Bordeaux unter
dem Arm.
«Ich habe dein Gemälde ergattert», witzelte Max. «Ob-
wohl das MoMA alles täte, um es bei seinen van Goghs und
Pollocks hängen zu haben. Aber ich halte mein Versprechen,
und nun müssen wir uns eben damit begnügen, es nur in dei-
nen vier Wänden betrachten zu können.»
Claudio entkorkte die Flasche, sie füllten die Gläser mit
rotem Wein, leerten sie, füllten sie erneut, und nachdem sie
sie zum dritten Mal geleert hatten, wurde die Dauerausstel-
lung an der Wand gegenüber Macolietas Wohnungstür offi-
ziell eröffnet.
Und jetzt, wenn er die Augen aufschlägt, wird alles an-
ders sein; alles, außer diesem Gemälde, Überbleibsel aus
einer unwiederbringlich verlorenen Welt oder Verbindungs-
glied zwischen zwei parallelen Universen.
Das Bild ohne Rahmen (vielleicht aber hat es jetzt einen),
auf dem zwei eigenartige Gestalten sich bei den letzten Zü-
gen einer Schachpartie gegenübersitzen. Links auf einer un-
behauenen Holzbank ein Satyr vor den weißen Figuren. Aus
dem wirren Gestrüpp seiner schwarzen Mähne ragen zwei
stumpfe Hörner und die spitzen Ohren. Sein Grinsen, als
Vorspiel unflätigen Gelächters – wie ein Wolkenbruch über
einer Prozession – , wird betont von eines Spitzbarts fahlem
Haar. Auf dem nackten Oberkörper ist ein geflügeltes Herz
tätowiert, und zwischen seinen Bocksbeinen spottet eine
maßlose Erektion jeder Scham. Die rechte Hand umfasst in
der Mitte einen Stock, dessen oberes Ende ein Harlekinkopf
mit einer Schellenkappe ziert. Die Linke schwebt vor oder
nach einem Zug nah über dem Schachbrett. Sein trunkener,
spöttischer Blick ist auf das hagere Antlitz des Gegners ge-
richtet.
Ein fahrender Ritter spielt die schwarzen Figuren; er
ist eine Art gen Himmel lodernde Flamme, wie ein Heiliger
von El Greco. Die tiefliegenden wässrigen Augen sind kon-
zentriert auf seine letzten Bauern, den Springer und den
Turm gerichtet, die sich noch für das Leben des dunklen
Königs in die zweifarbig quadrierte Schlacht werfen. Im
Schwung seiner Lippen liegt eine rätselhafte Ruhe, doch die
aufstrebenden Linien des Körpers sind Ausdruck einer be-
herrschten Spannung. Vom Zeigefinger und vom Daumen
seiner auf dem Tisch ruhenden Rechten rinnen dünne rote
Fäden, die zu zwei Blutstropfen werden. Die schwarzen Fi-
guren sind mit spitzen Stacheln bedeckt. Schwert und Schild
lehnen am herrschaftlichen Stuhl. In der Mitte des Wappen-
schilds erhebt sich ein erhabener Pegasus mit ausgebreiteten
Schwingen und wieherndem Maul auf die Hinterbeine. Sie
sitzen mitten in einer großen Stadt, und was wie eine lästige
Wolke von Insekten aussieht, die beide Spieler umschwir-
ren, ist in Wirklichkeit eine Schlacht. Winzige, mit Schwer-
tern, Dreizacks, Lanzen, Pfeilen und Bogen bewaffnete
Engel und Dämonen führen einen unerbittlichen Krieg.
Überall sieht man von Pfeilen durchbohrte, blutüberströmte
Teufel, enthauptete Engel, feuerspeiende, blonde Locken
versengende Drachen, tödliche Umarmungen, verzweifelte
Flucht, aufgespießte Erzengel und lauernde Dämonen. Un-
ter dem Schachtisch hockt ein Gnom, der das Schlachtenge-
tümmel ringsum ebenso ignoriert wie die beiden Spieler. Er
hat ein längliches Werkzeug in der Hand, mit dem er die
Mundöffnung einer Maske zu runden scheint, die er mit de
anderen Hand festhält. Zwischen seinen gekreuzten Beinen
hat sich ein graues Tier zusammengerollt, eine Katze viel-
leicht, die das Gesicht abwendet und dem Betrachter des Bil-
des den Rücken zukehrt. Und auf dem Boden, verstreut zwi-
schen den Leichen des biblischen Gewürms, liegen weitere,
schon fertige Masken. Macolieta ist wie verzaubert von die-
sem Bild. Sein Porträt. Der einzige Schmuck, der die Wände
seiner Wohnung ziert.
Eines Nachmittags – Macolieta hatte sich ein Bier geholt
und betrachtete versonnen das Gemälde – kam ihm der Ge-
danke, die Schachpartie zu Ende zu spielen, um herauszu-
finden, wer sie gewinnen würde, der Satyr oder der Ritter.
Er holte das quadrierte Wachstuch, mit dem er vier Mal die
Woche ins Café an der Ecke ging, um dort mit Don Eusebio
Schach zu spielen, und stellte die Figuren so auf wie auf dem
Bild. Er spielte und erzielte ein Remis. Er spielte noch ein-
mal, wieder ein Remis. Längst hat er die Übersicht über all
die Partien verloren, die er seit jenem Nachmittag gespielt
hat. Die Stunden, die er damit verbracht hat, einen überra-
schenden Zug zu entdecken, eine Variante, ein unerwarte-
tes Opfer oder einen Schlüssel, der den einen oder anderen
Spieler zum Sieg führt. Alles vergebens.
Remis. Jedes Mal Remis.
«Hast du gewusst, dass die Spiele auf dem Bild immer mit
Remis enden?», fragte Macolieta Max eines Tages, während
er versuchte, mit einem Korken und mehreren Stecknadeln
ein Gefängnis für die Schreibtischspinne zu bauen, die ihn
in der Nacht fies gebissen hatte.
«Platon zufolge ist das Denken ein Dialog der Seele mit
sich selbst. Also Remis», entgegnete Claudio anstelle von
Max, der damit beschäftigt war, den Affen mit den Becken
und die Ente auf dem Dreirad für das Wettrennen gegen den
Anspitzroboter und das Klapperkrokodil aufzustellen, die
Claudio bereits aufgezogen hatte.
«Ja, aber mich interessiert, ob der Maler es so geplant hat
oder ob das reiner Zufall ist.»
Statt einer Antwort setzte der mechanische Radau ein,
mit dem die Blechfiguren ihrem Ziel entgegeneilten, hörte
man die Anfeuerungsrufe von Max und Claudio, dann das
begeisterte Klatschen des einen und das Gejammere des
anderen, und nach einem Moment der Stille den gellenden
Schmerzensschrei Macolietas, dem eine Stecknadel in die
Handfläche gedrungen war und der das missglückte Kork-
gefängnis jetzt wütend in den Papierkorb warf.
Später, als sie sich verabschiedeten, fasste ihn Claudio an
den Schultern und fragte ihn in ernstem Ton:
«Glaubst du, dass Eschers unmögliche Treppen reiner
Zufall sind? Glaubst du, dass der Wechsel vom Zirkus zur
Irrenanstalt in Cortázars
Rayuela
reiner Zufall ist? Dass das
D-Moll, das Mozart für Don Juans Höllenfahrt wählte, Zu-
fall ist?»
«Glaubst du, dass die Freiheit der Spinne reiner Zufall
ist?», gab Max feixend zurück.
Dann verschwanden die beiden ohne weitere Worte.
Für immer, denn seine unzertrennlichen Freunde Clau-
dio und Max würde es in dem neuen Leben auch nicht mehr
geben. Bloß noch das Gemälde mit dem respektlosen Satyr,
dem würdevollen, melancholischen Ritter, dem rätselhaften
Gnom und seinen Masken, mit dem Schrecken der miniatür-
lichen Schlacht und dem Schachspiel ohne Sieg.
© Rowohlt
1
Etwas heult. Etwas schmerzt.
Macolieta sitzt mit dem blauen Buch auf dem Schoß in sei-
nem Bett, kann aber nicht mehr schreiben. Er seufzt, blät-
tert zur ersten Seite zurück und liest noch einmal den ersten
Absatz.
Du bist aufgewacht, ohne die Augen zu öffnen. Diesmal ist es
wahr. Diesmal bist du nicht mehr du selbst, sondern bist im
Körper und im Leben eines anderen aufgewacht. Hinter dir
lässt du den Unentschlossenen, den im Dickicht seiner endlosen
Fragen nach Antworten Suchenden. Du hast das alte Ich wie
eine nutzlose Haut abgeworfen, und wenn du jetzt die Augen
aufschlägst, wirst du feststellen, dass du in einem Flugzeug
nach Barcelona sitzt; dein Name ist Balancín, und neben dir
ist, im Schlaf deine Hand festhaltend, sie, Verlaine, deine Ant-
wort.
Etwas heult. Etwas schmerzt.
Der im Mondlicht tanzende Staub lässt die Linien der
Wände, Möbel und Türen seines Zimmers verschwimmen,
genau wie in jener Nacht vor Jahren, als er, um das einset-
zende Heulen zum Schweigen zu bringen, anfing, in dem
blauen Buch die schillernden Abenteuer des Clowns Balan-
cín und seiner geliebten Verlaine aufzuschreiben; die Ge-
schichte dieses fantastischen Lebens, das zu führen er sich
vorstellte, wenn er Sandrine gefolgt wäre. Seines Lebens in
einer Parallelwelt. Er hat Seite um Seite vollgeschrieben,
doch das Heulen hört nicht auf. Und Balancín – mit Verlaine
an seiner Seite – ist ein berühmter Künstler mit Engage-
ments in Theatern und Zirkussen auf der ganzen Welt ge-
worden, während Macolieta immer noch im selben Zimmer
hockt und sich mit Fragen quält.
Er legt das Buch neben das Bett. Bevor er das Licht löscht,
streichelt er mit dem Schatten seiner Hand den schlanken
Schatten der Sonnenblume, die in einem Topf am Fenster
steht. In der Nacht gleiten durch rissige Membranen geflüs-
terte Nachrichten aus der parallelen Welt. Macolieta ist ein-
geschlafen. Später wird sich das Heulen mit dem Flüstern
und seinen Träumen verbinden. Er weiß, woher es kommt,
will aber nicht daran denken.
Was da heult, was da schmerzt, ist das Fehlen von San-
drine.
2
Macolieta
Er wachte auf, ohne die Augen zu öffnen. Ein kalter, ste-
chender Schmerz im Magen hinderte ihn, die Lider zu be-
wegen. Diesmal war es tatsächlich so weit; diesmal war Ma-
colieta nicht mehr er selbst und erwachte im Körper und
im Leben eines anderen. Er hatte dieses beklemmende Ge-
fühl schon öfter gehabt, doch es war eher wie ein leichtes Ju-
cken gewesen, ein vorübergehender unbehaglicher Kitzel,
von dem am Ende nur das erlösende Gelächter blieb, das die
dunkle Vorahnung zerschlug.
Jetzt erkennt er, dass diese flüchtigen morgendlichen
Körperreaktionen nur die Vorboten waren, Begleiterschei-
nungen der diesmal wirklich stattfindenden Metamorphose.
Er ist sich sicher, nicht in seiner eigenen Haut zu stecken,
fremde Träume geträumt zu haben, und in einem Zimmer
aufzuwachen, das die Erinnerungen eines anderen birgt, in
dem die Minuten eines Lebens dahinkriechen, das nicht
das seine ist.
Er hat Angst wie jemand, der mitten in der Nacht auf-
wacht, weil ihm der Arm eingeschlafen ist, der einen dump-
fen Schmerz in der Brust verspürt, still liegen bleibt und kalt
schwitzend auf den todbringenden letzten Schlag des Her-
zens wartet, während eine Lawine von Erinnerungen sein
Inneres in Aufruhr versetzt. Denn wenn er die Augen auf-
schlägt, wird er das Letzte verlieren, das er noch besitzt von
dem, was ihn bis gestern ausgemacht hat: das Bewusstsein
seiner selbst. Wenn das Licht dieses Schicksalstages auf
seine Netzhaut trifft, wird ihm sein Ich langsam, aber unaus-
weichlich, entgleiten, so wie sich die Erinnerung an einen
Traum auflöst, den wir nicht vergessen wollen, der aber
unbarmherzig aufgesogen wird vom letzten Nebelschweif,
der unter den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages ver-
dampft. Und in diesen kurzen Albtraumminuten, auf diesem
letzten Stück des abschüssigen Tunnels, dessen Wassermas-
sen ihn unerbittlich fortreißen werden von dem, der er war,
und hinspülen zu dem, der er sein wird, in diesen kurzen Mi-
nuten wird Macolieta Zeit haben, den ganzen Schrecken
eines Mannes zu empfinden, der weiß, dass er ertrinken
wird, und dessen wild rudernde Arme schon nicht mehr der
eigenen Rettung dienen, sondern eher ein Abschiedsgruß
an das Leben sind.
Er wird den blauen Vorhang mit dem quadratischen Fli-
cken nicht mehr sehen, der das von einer Zigarette ein-
gebrannte Loch verdeckt; nicht mehr seinen maulbeerfar-
benen Lesesessel, und auch nicht das Regal, in dem sich
Bücher und Zeitschriften in rigoroser Unordnung stapeln
und mit seinen gesammelten Blechspielzeugen eine Wohn-
gemeinschaft bilden. Auch seinen Schreibtisch wird er nicht
mehr sehen, dessen Arbeitsfläche in Beschlag genommen ist
von drei Schminktöpfen, einer winzigen Gitarre, vier bun-
ten Jonglierbällen, drei riesigen orangefarbenen Knöpfen,
mehreren roten Nasen, zwei gelben Taschentüchern, jeder
Menge Puder und einer Spinne. Nichts von dem wird er se-
hen, sondern all das andere: andere Möbel, andere Gerät
schaften, andere Schatten, die sich in Ecken eingenistet ha-
ben, die ihnen nicht gehören.
Verzweifelt wird er dorthin eilen, wo sich früher der
Schminkspiegel mit seiner Umrandung aus Glühbirnen be-
fand, von denen nur noch vier ihren Dienst taten, und an des-
sen Stelle ihm jetzt ein grauenhafter Art déco-Spiegel den
entsetzten Blick aus fremden Augen zeigen wird, die gro-
teske Schreckensfratze eines unbekannten Gesichts, die
schaurige Spärlichkeit neuer Augenbrauen, das unmögliche
Spiegelbild von jemandem, den er noch nie im Leben gese-
hen hat. In genau diesem Moment, wenn sein Mund sich öff-
net, um den erwarteten Entsetzensschrei auszustoßen, und
sich zu einem O rundet, bis er groß wie die Trichteröffnung
ist, durch die der letzte Bewusstseinstropfen rinnt, und aus
dem Schrei ein Gähnen wird, wenn er in seiner neuen Haut
und mit seiner gebrauchten Erinnerung zum Bad schlen-
dert, pfeifend unter die Dusche steigt und sich fragt, woher
er diese komische Melodie wohl hat, genau in diesem Mo-
ment wird die Verwandlung vollendet sein.
Verdammt!, denkt Macolieta, sagt es aber nicht, weil er
sich auch nicht zu sprechen traut. Er weiß – Ah, diese Ge-
wissheit, die wie ein Zahnschmerz ist. Woher weiß er? – ,
dass auch seine Stimme anders sein wird, schrill, misstö-
nend, unfähig, zu singen und die Stimmen von Comicfigu-
ren nachzuahmen, sein spezielles Lachen wie von hicksen-
den Ameisen im Gänsemarsch, das die Kinder so mögen.
Das alles wird es nicht mehr geben.
Das Stück Pizza von gestern Abend, das er zum Früh-
stück essen wollte?
Nicht mehr da.
Die herrliche Sonnenblume in ihrem Tontopf?
Nicht mehr da.
Die nagelneue grüne Perücke?
Nicht mehr da. Verschwunden, verschwunden.
Und das blaue Buch?
Wieder dreht es ihm den Magen um. Auch das blaue
Buch wird in dieser anderen Welt geblieben sein, auf dem
Nachttisch neben dem Bett, aufgeschlagen auf der letzten
beschriebenen Seite:
... in deinem weiten Clownskostüm wirbelst du wie ein tanzen-
der Regenbogen über die Bühne, hast die letzten Seidentücher
in die Luft geworfen, und sie fallen genau dorthin, wo du
sie haben willst, nachdem du mit deinen Kunststücken unter
den Lichtern und ihren Schatten die Illusion vom Fliegen
und Träumen geschaffen hast. Das Orchester spielt die letzten
Takte der Melodie, mit deren Ersterben die stumme Grenze
zwischen zwei Nummern erreicht wird. Die Vorstellung geht
zu Ende. Du hast dein Publikum auf einen fantastischen Weg
vom Lacher zum Seufzer bis zur Verzückung geführt. Dein
Herz rast. Was empfindest du? Erleichterung? Nachlassen
von Spannung? Freude? Alles? Der Schlussakkord erklingt,
und der Applaus des begeisterten Publikums ist wie der pras-
selnde Flügelschlag eines Schwarms aufflatternder Vögel. Der
Applaus: explodierende Sonnen, die das Zirkusrund erwär-
men; ein frischer Sommerregen; ein tauender Eisberg, dessen
Schmelzwasser dich mitreißt bis an den Rand der Glückselig-
keit. Die Welt lacht dich an, Clown. Du hast Verlaine, die Ge-
fährtin deines Lebens, die deinen jugendlichen Hirngespins-
ten Flügel verliehen hat. Und du hast das Abenteuer auf den
Brettern, die die Welt bedeuten, mit ihren Kämpfen, grandio-
sen Höhepunkten, vernichtenden Stürmen, ihrem Lorbeer und
ihren Abstürzen. Du hast dieses Publikum, die unermessliche
Umarmung Tausender Herzen. Du bist dir des unaussprech-
lichen Glücks bewusst, die Höhenluft der Bühnenkunst zu at-
men und jenen erhabenen Augenblick herbeizuführen, in dem
Lachen, Magie und Träume jedes Mal neu lebendig werden.
Weißt du eigentlich, wie reich du bist, Balancín?
Und als du schon glaubtest, die Vorstellung beenden zu kön-
nen, das Orchester die letzten Takte spielte, die das finale
Schattenspiel deiner virtuosen Hände vor der weißen Wand
begleiten, da fordert das Publikum eine unerwartete Zugabe,
noch einmal die Nummer mit den Tüchern. Nicht endenwol-
lender Applaus. Und wieder tanzen die Tücher wie Kometen-
schweife. Der Schweiß rinnt dir von der Stirn und vermischt
sich mit einer verschämten Träne aus deinem Auge.
Ja, Balancín, du weißt, wie reich du bist.
Das blaue Buch?
Verdammte Metaphysik. Nicht mehr da. Auch ver-
schwunden.
Macolieta könnte heulen und in seinen Tränen ertrinken,
doch davor rettet ihn eine andere Gewissheit: Das Bild wird
noch da sein. (Woher hat er all diese schrecklichen Gewiss-
heiten heute Morgen; er, der sonst in Zweifeln versinkt?)
Nur noch das Gemälde; das einzige Bild, das dank einer
Wette die Wände seiner Wohnung ziert.
Es war in einer Tequilakneipe in der Innenstadt. Sie tran-
ken dort ein paar Gläschen, nachdem sie auf der Jagd nach
Raritäten durch die Antiquariate der Stadt gezogen waren.
Er und seine beiden unzertrennlichen Freunde: Max, ein
Koloss wie ein Nashorn ohne Horn und Clown aller Clowns;
und Claudio, langer Lulatsch, Leser, Philosophierer und
Pfeifenraucher. Er erklärte gerade die verschiedenen monis-
tischen Theorien als materialistische Alternative zum karte-
sianischen Dualismus. Geist und Körper eins, nichts da mit
Seele, mit Geist, der die Maschine steuert, jeder mentale
Vorgang auch ein körperlicher. Nachdem sie schon reichlich
Tequila intus hatten, wurden Claudios Satzgirlanden zuneh-
mend verworrener, und in Macolietas schwammigem Hirn
blieben nur noch Wortungetüme wie Anomaler Monismus,
Analytischer Behaviorismus und Materialistischer Reduk-
tionismus hängen sowie etwas über Kandinskys Farben und
das dringende Bedürfnis, jetzt pinkeln zu müssen. Um den
philosophischen Sturzbach einzudämmen, der sie mehr be-
rauschte als der Saft der Agaven, kam Max das im Fernsehen
übertragene Fußballspiel zwischen Gestreiften und Blauen
gerade recht. Er brachte Claudio zum Schweigen, indem er
Macolieta eine Wette anbot: Wenn die Blauen gewannen,
würde Max seinem Nachbarn, dem Maler, das Gemälde ab-
schwatzen, das Macolieta einmal gesehen und sofort voller
Begeisterung als Porträt seiner eigenen Seele erkannt hatte,
und es ihm schenken; verlören die Blauen, müsste Macolieta
ihm zwei seiner aufziehbaren Blechspielzeuge überlassen.
Diesem schien es das Risiko wert zu sein, zwei seiner gelieb-
ten Blechfiguren aufs Spiel zu setzen und dafür die Chance
zu bekommen, das Bild seiner Seele zu gewinnen. Er schlug
ein. Und da geschrieben stand, dass die Blauen sogar auch
das Rückspiel gewinnen würden, standen einen Monat spä-
ter Max und Claudio vor Macolietas Tür – unangemeldet,
wie immer – mit dem Bild und einer Flasche Bordeaux unter
dem Arm.
«Ich habe dein Gemälde ergattert», witzelte Max. «Ob-
wohl das MoMA alles täte, um es bei seinen van Goghs und
Pollocks hängen zu haben. Aber ich halte mein Versprechen,
und nun müssen wir uns eben damit begnügen, es nur in dei-
nen vier Wänden betrachten zu können.»
Claudio entkorkte die Flasche, sie füllten die Gläser mit
rotem Wein, leerten sie, füllten sie erneut, und nachdem sie
sie zum dritten Mal geleert hatten, wurde die Dauerausstel-
lung an der Wand gegenüber Macolietas Wohnungstür offi-
ziell eröffnet.
Und jetzt, wenn er die Augen aufschlägt, wird alles an-
ders sein; alles, außer diesem Gemälde, Überbleibsel aus
einer unwiederbringlich verlorenen Welt oder Verbindungs-
glied zwischen zwei parallelen Universen.
Das Bild ohne Rahmen (vielleicht aber hat es jetzt einen),
auf dem zwei eigenartige Gestalten sich bei den letzten Zü-
gen einer Schachpartie gegenübersitzen. Links auf einer un-
behauenen Holzbank ein Satyr vor den weißen Figuren. Aus
dem wirren Gestrüpp seiner schwarzen Mähne ragen zwei
stumpfe Hörner und die spitzen Ohren. Sein Grinsen, als
Vorspiel unflätigen Gelächters – wie ein Wolkenbruch über
einer Prozession – , wird betont von eines Spitzbarts fahlem
Haar. Auf dem nackten Oberkörper ist ein geflügeltes Herz
tätowiert, und zwischen seinen Bocksbeinen spottet eine
maßlose Erektion jeder Scham. Die rechte Hand umfasst in
der Mitte einen Stock, dessen oberes Ende ein Harlekinkopf
mit einer Schellenkappe ziert. Die Linke schwebt vor oder
nach einem Zug nah über dem Schachbrett. Sein trunkener,
spöttischer Blick ist auf das hagere Antlitz des Gegners ge-
richtet.
Ein fahrender Ritter spielt die schwarzen Figuren; er
ist eine Art gen Himmel lodernde Flamme, wie ein Heiliger
von El Greco. Die tiefliegenden wässrigen Augen sind kon-
zentriert auf seine letzten Bauern, den Springer und den
Turm gerichtet, die sich noch für das Leben des dunklen
Königs in die zweifarbig quadrierte Schlacht werfen. Im
Schwung seiner Lippen liegt eine rätselhafte Ruhe, doch die
aufstrebenden Linien des Körpers sind Ausdruck einer be-
herrschten Spannung. Vom Zeigefinger und vom Daumen
seiner auf dem Tisch ruhenden Rechten rinnen dünne rote
Fäden, die zu zwei Blutstropfen werden. Die schwarzen Fi-
guren sind mit spitzen Stacheln bedeckt. Schwert und Schild
lehnen am herrschaftlichen Stuhl. In der Mitte des Wappen-
schilds erhebt sich ein erhabener Pegasus mit ausgebreiteten
Schwingen und wieherndem Maul auf die Hinterbeine. Sie
sitzen mitten in einer großen Stadt, und was wie eine lästige
Wolke von Insekten aussieht, die beide Spieler umschwir-
ren, ist in Wirklichkeit eine Schlacht. Winzige, mit Schwer-
tern, Dreizacks, Lanzen, Pfeilen und Bogen bewaffnete
Engel und Dämonen führen einen unerbittlichen Krieg.
Überall sieht man von Pfeilen durchbohrte, blutüberströmte
Teufel, enthauptete Engel, feuerspeiende, blonde Locken
versengende Drachen, tödliche Umarmungen, verzweifelte
Flucht, aufgespießte Erzengel und lauernde Dämonen. Un-
ter dem Schachtisch hockt ein Gnom, der das Schlachtenge-
tümmel ringsum ebenso ignoriert wie die beiden Spieler. Er
hat ein längliches Werkzeug in der Hand, mit dem er die
Mundöffnung einer Maske zu runden scheint, die er mit de
anderen Hand festhält. Zwischen seinen gekreuzten Beinen
hat sich ein graues Tier zusammengerollt, eine Katze viel-
leicht, die das Gesicht abwendet und dem Betrachter des Bil-
des den Rücken zukehrt. Und auf dem Boden, verstreut zwi-
schen den Leichen des biblischen Gewürms, liegen weitere,
schon fertige Masken. Macolieta ist wie verzaubert von die-
sem Bild. Sein Porträt. Der einzige Schmuck, der die Wände
seiner Wohnung ziert.
Eines Nachmittags – Macolieta hatte sich ein Bier geholt
und betrachtete versonnen das Gemälde – kam ihm der Ge-
danke, die Schachpartie zu Ende zu spielen, um herauszu-
finden, wer sie gewinnen würde, der Satyr oder der Ritter.
Er holte das quadrierte Wachstuch, mit dem er vier Mal die
Woche ins Café an der Ecke ging, um dort mit Don Eusebio
Schach zu spielen, und stellte die Figuren so auf wie auf dem
Bild. Er spielte und erzielte ein Remis. Er spielte noch ein-
mal, wieder ein Remis. Längst hat er die Übersicht über all
die Partien verloren, die er seit jenem Nachmittag gespielt
hat. Die Stunden, die er damit verbracht hat, einen überra-
schenden Zug zu entdecken, eine Variante, ein unerwarte-
tes Opfer oder einen Schlüssel, der den einen oder anderen
Spieler zum Sieg führt. Alles vergebens.
Remis. Jedes Mal Remis.
«Hast du gewusst, dass die Spiele auf dem Bild immer mit
Remis enden?», fragte Macolieta Max eines Tages, während
er versuchte, mit einem Korken und mehreren Stecknadeln
ein Gefängnis für die Schreibtischspinne zu bauen, die ihn
in der Nacht fies gebissen hatte.
«Platon zufolge ist das Denken ein Dialog der Seele mit
sich selbst. Also Remis», entgegnete Claudio anstelle von
Max, der damit beschäftigt war, den Affen mit den Becken
und die Ente auf dem Dreirad für das Wettrennen gegen den
Anspitzroboter und das Klapperkrokodil aufzustellen, die
Claudio bereits aufgezogen hatte.
«Ja, aber mich interessiert, ob der Maler es so geplant hat
oder ob das reiner Zufall ist.»
Statt einer Antwort setzte der mechanische Radau ein,
mit dem die Blechfiguren ihrem Ziel entgegeneilten, hörte
man die Anfeuerungsrufe von Max und Claudio, dann das
begeisterte Klatschen des einen und das Gejammere des
anderen, und nach einem Moment der Stille den gellenden
Schmerzensschrei Macolietas, dem eine Stecknadel in die
Handfläche gedrungen war und der das missglückte Kork-
gefängnis jetzt wütend in den Papierkorb warf.
Später, als sie sich verabschiedeten, fasste ihn Claudio an
den Schultern und fragte ihn in ernstem Ton:
«Glaubst du, dass Eschers unmögliche Treppen reiner
Zufall sind? Glaubst du, dass der Wechsel vom Zirkus zur
Irrenanstalt in Cortázars
Rayuela
reiner Zufall ist? Dass das
D-Moll, das Mozart für Don Juans Höllenfahrt wählte, Zu-
fall ist?»
«Glaubst du, dass die Freiheit der Spinne reiner Zufall
ist?», gab Max feixend zurück.
Dann verschwanden die beiden ohne weitere Worte.
Für immer, denn seine unzertrennlichen Freunde Clau-
dio und Max würde es in dem neuen Leben auch nicht mehr
geben. Bloß noch das Gemälde mit dem respektlosen Satyr,
dem würdevollen, melancholischen Ritter, dem rätselhaften
Gnom und seinen Masken, mit dem Schrecken der miniatür-
lichen Schlacht und dem Schachspiel ohne Sieg.
© Rowohlt
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Autoren-Porträt von Rolando Villazón
Villazón, RolandoRolando Villazónwurde 1972 in Mexiko Stadt geboren, als Enkel des Wieners Emilio Roth. Villazón besuchte die deutsche Schule in Mexiko Stadt und begann seine künstlerische Ausbildung am dortigen Konservatorium. 1999 hatte er seinen internationalen Durchbruch und wurde zu einem der bedeutendsten und beliebtesten Sänger seiner Generation. Neben seiner Gesangskarriere arbeitet er auch als Opernregisseur und ist für sein zeichnerisches Talent bekannt.Rolando Villazón lebt in Paris und ist Mitglied des Collège de Pataphysique.
Zurbrüggen, Willi
Willi Zurbrüggen, geboren 1949 in Borghorst, Westfalen. Er übersetzte u. a. Antonio Muñoz Molina, Luis Sepúlveda und Rolando Villazón aus dem Spanischen. Ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis des spanischen Kulturministeriums und dem Jane-Scatcherd-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rolando Villazón
- 2014, 2. Aufl., 272 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Zurbrüggen, Willi
- Übersetzer: Willi Zurbrüggen
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498070657
- ISBN-13: 9783498070656
- Erscheinungsdatum: 15.08.2014
Rezension zu „Kunststücke “
"Kunststücke" hat mich bezaubert mit seiner Sprachgewalt, die an die großen lateinamerikanischen Schriftsteller wie Borges, Garçia Marquéz und Vargas Llosa erinnert. Daniel Barenboim
Kommentar zu "Kunststücke"
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