Letzter Applaus / Gasperlmaier Bd.5
Im fünften Band der erfolgreichen Krimi-Serie ist in Bad Aussee die Hölle los und Kommissar Gasperlmaier weiß gar nicht mehr, wo ihm der Kopf steht: Die Eröffnung der...
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Im fünften Band der erfolgreichen Krimi-Serie ist in Bad Aussee die Hölle los und Kommissar Gasperlmaier weiß gar nicht mehr, wo ihm der Kopf steht: Die Eröffnung der Filiale einer Billigtrachten-Kette in Altaussee hat den Zorn der einheimischen Bevölkerung geweckt und diese geht nun vehement dagegen vor. Und das gerade vor dem alljährlichen Narzissenfest, wo sowieso unablässig die Post abgeht. Als auch noch die Leiche der eben gekürten Narzissenkönigin entdeckt wird, ist das Chaos perfekt.
Aber besteht vielleicht sogar einen Verbindung zwischen ihrem Tod und der Eröffnung des ungewollten Trachtengeschäfts?
Und als wäre das nicht alles schon schlimm genug, mischt sich der grantige Chefinspektor Resch auch noch in die Ermittlungen ein und zu Gasperlmaier's großem Kummer wird seine Tochter Katharina zur neuen Narzissenkönigin gewählt. Glücklicherweise hilft auch diesmal wieder die gute Frau Dr. Kohlross, die sich gerade im Karenzurlaub befindet.
1
Auf diesen Einsatz hätte Gasperlmaier gern verzichtet. Zum einen, weil der ganze Wirbel ausgerechnet am Tag vor dem Beginn des Narzissenfestes stattfinden musste. Und zum anderen, weil er völlig gegen seine eigene Überzeugung handeln musste.
Es war wegen dem Trachtenparadies. Nicht, dass er an und für sich etwas gegen Trachten gehabt hätte, ganz im Gegenteil. Er trug seine Lederhose seit Jahrzehnten mit Stolz und Selbstverständlichkeit, wie auch seine Frau ihrer Arbeit als frisch gebackene Direktorin der Altausseer Volksschule gewöhnlich im Dirndl nachging. Und jedes zweite Geschäft in Bad Aussee war ohnehin ein Trachtengeschäft, eine Lederhosenmacherei oder eine Stoffdruckerei. Daran lag es also nicht. Es lag nur an dem besonderen Trachtengeschäft, das heute eröffnet werden sollte. Das Trachtenparadies war nämlich kein alteingesessenes Geschäft, sondern eine Filiale einer Textilkette, die sich bereits über fast ganz Österreich und Bayern verbreitet hatte und Billigtrachten völlig unklarer Herkunft verkaufte. Gemunkelt wurde sogar, dass die angebotene Ware in Indien und Bangladesch gefertigt wurde. Aus billigem Ziegenleder sollten die Lederhosen sein, hörte man. Gasperlmaier hatte nichts, rein gar nichts, gegen die Inder an sich, und gegen die Ziegen schon gar nicht, aber dass im Ausseerland Lederhosen und Dirndl verkauft würden, die irgendeine bitterarme Näherin in einer Bruchbude am Brahmaputra zusammengestichelt hatte, das ließ ihn erschauern.
Und so hatte es natürlich, nachdem ruchbar geworden war, dass das Trachtenparadies eine Filiale in Bad Aussee eröffnen wollte, wütende Proteste aller Art gegeben. Ein Boykottaufruf in der Alpenpost war noch das Harmloseste gewesen. Etwas deutlicher war der Stammtisch geworden, sogar sein ehemaliger Postenkommandant, der Kahlß
Warum er denn plötzlich so radikal sei, hatte Gasperlmaier gefragt. Er habe doch sonst nichts anderes im Sinn gehabt als seine Ruhe. „Eben!“, hatte der Friedrich gerufen und mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. „Verstehst du denn nicht, dass es mit der Ruhe dann vorbei ist, wenn sich sogar hier die Großkonzerne mit ihrem Plastikgewand einnisten? Dann ist nämlich Feuer am Dach, wenn unsere Trachtenschneider in den Konkurs müssen!“ So weit hatte Gasperlmaier selbst noch gar nicht gedacht. „Und wenn alles zugrunde geht, sperren auch noch die letzten Wirtshäuser zu!“, hatte der Friedrich gewettert. Damit hatte er Gasperlmaier völlig auf seine Seite gezogen. Er nickte ergeben.
Kurzum, für den Termin der Eröffnung des neuen Geschäfts in der Ischler Straße war gleichzeitig eine Protestkundgebung ebendort anberaumt worden. Die Straße hatte wegen des Menschenauflaufs vor dem Geschäftslokal bereits gesperrt werden müssen, und Gasperlmaier begab sich, zusammen mit der Manuela Reitmair, seiner Kollegin vom Posten in Altaussee, zum Ort des Geschehens, wo sie bereits von zwei Kollegen vom Bad Ausseer Polizeiposten erwarten wurden. „Dank schön, für die Verstärkung.“ Der Grill Peter, einer der Kollegen, schüttelte ihnen die Hand. „Bis jetzt ist alles ruhig geblieben!“ Gasperlmaier sondierte die Situation. Auf der einen Seite die Auslagenscheiben des Trachtenparadieses, mit großen Plakaten, die die heutige Neueröffnung in neonfarbenen Buchstaben auf schwarzem Grund ankündigten. Prosecco sollte es geben. Und Gutscheine sollten verschenkt und großzügige Rabatte gewährt werden. Gasperlmaier seufzte.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich bereits eine beträchtliche Anzahl Einheimischer versammelt, fast alle, wie er feststellte, in der Tracht und mit finsteren Gesichtern. Aber auch ein paar auffällig dünne Mädchen in Jeans und knappen Oberteilen fielen ihm auf. Gasperlmaier erschrak. Hatte man nicht in den letzten Monaten immer wieder von jungen Mädchen gehört, die sich mit entblößten Oberkörpern und Schriftzügen auf den Brüsten wütend protestierend den Ordnungskräften entgegengestellt hatten? Das fehlte hier gerade noch, dass sie halbnackte junge Frauen bändigen mussten. Gasperlmaier wandte sich ab. Vielleicht hatte ihm doch seine Phantasie einen Streich gespielt, und die Mädchen wollten bloß ein billiges Polyesterdirndl ergattern.
„Wenig los, da drinnen!“ Die Manuela beschattete die Augen mit ihrer Hand und versuchte, durch die Auslagenscheibe zu spähen. „Da werden sie keine zweite Flasche Prosecco aufmachen müssen.“ Plötzlich öffnete sich die Ladentür, und ein junger, dunkelhaariger Mann mit kantigen Gesichtszügen trat auf den Gehsteig. Er trug, wie Gasperlmaier feststellte, selbst das billige Trachtenimitat aus seinem Geschäft. In einer echten Ledernen, so dachte Gasperlmaier bei sich, hätte er vielleicht sogar ganz schneidig ausgesehen.
„Die Leute da sind geschäftsschädigend!“ Der Mann deutete auf die Menge auf dem gegenüberliegenden Gehsteig. Ein kurzer Blick zeigte Gasperlmaier, dass sie sich noch einmal erheblich vergrößert hatte. Auch auf der Straße standen nun Menschen, sodass das Geschäft mehr oder weniger eingekesselt war, mit vier Beamten zwischen dem Eingang und der Menge. „Sorgen Sie dafür, dass die Straße frei wird und die Kunden ungehindert zu mir ins Geschäft kommen können?“ Der Mann lächelte Gasperlmaier entgegen und schien, zumindest einstweilen noch, ziemlich gelassen. „Stern!“ Er streckte Gasperlmaier die Hand hin. In einem Reflex ergriff der sie, um sie kräftig zu schütteln. Dumpfes Gemurmel und vereinzelte Buhrufe von der anderen Straßenseite waren die Folge. „Aha!“, schrie einer aus der Menge. „Die Polizei verbrüdert sich schon mit den Gaunern!“ Das Geraune in der Menge schwoll an, doch der Kollege Grill schritt den Leuten mit erhobenen Armen entgegen. „Tut’s das doch nicht überbewerten, Leute! Wir verbrüdern uns mit gar niemandem! Wir haben nur dafür zu sorgen, dass hier das Gesetz eingehalten wird! Und euch bitt ich, von jeder Gewalt Abstand zu nehmen! Wenn wer in das Geschäft will, oder wieder heraus, dann dürft ihr mir keine Schwierigkeiten machen!“ Gasperlmaier konnte nicht mehr tun, als zustimmend zu nicken. Die Buhrufe wurden weniger und verstummten schließlich. Dennoch war die Stimmung, so fand er, explosiv.
Der Herr Stern stand immer noch neben ihm und schien die Aufregung ohne jede Gefühlsregung hinzunehmen. „Das ist am Anfang oft einmal so“, sagte er. „Die Leute gewöhnen sich schon daran. Und den Touristen ist es eh wurscht, wo sie ihre Trachten kaufen.“ Gasperlmaier schnaubte, hielt aber den Mund. Dafür ertönte ein Ruf aus der Menge: „Das ist doch keine Tracht, was ihr da verkauft, das sind doch bestenfalls Faschingskostüme! Eine Schande ist das!“ Bravo-Rufe und Applaus unterstützten den jungen Mann mit Hut und Gamsbart, der kämpferisch die Faust hochreckte. Genau das hätte auch Gasperlmaier gesagt – wenn es ihm denn eingefallen wäre. Gerade in Stresssituationen fehlten ihm oft die richtigen Worte.
„Bravo! Zeigen wir’s denen!“ Gasperlmaier fuhr herum. Die Stimme kam ihm bekannt vor. In der zweiten Reihe hinter den dünnen Jeans-Mädchen stand seine Tochter Katharina, die Faust emporgereckt. Ihn traf fast der Schlag. Was, wenn sich die Katharina hier vor den Leuten entblößen würde? Womöglich von einem Pressefotografen mit einem schwarzen Slogan auf der Brust abgelichtet werden würde? Auf der Titelseite der Schillingzeitung? Gasperlmaiers Magen zog sich zusammen, gleichzeitig befahl er sich, nicht hysterisch zu werden. Schließlich war die Katharina morgen im Finale bei der Wahl der Narzissenkönigin, und warum hätte sie die ganze Auswahlprozedur auf sich nehmen sollen, wenn sie hier heute alles aufs Spiel setzen wollte? Dennoch, sie hatte in letzter Zeit einen aus seiner Sicht etwas überzogenen Gerechtigkeitssinn entwickelt. Ständig wurde zu Hause über Tierrechte, über den übermäßigen Fleischkonsum ihrer Familie, und nicht zuletzt über den fairen Handel mit Textilien diskutiert. Gasperlmaier hätte es lieber gesehen, wenn sie für ihre bevorstehende Matura gelernt hätte. Er hatte schon eine regelrechte Aversion gegen die Wörter „Bio“ und „Fair Trade“ entwickelt. Jeder zweite Satz der Katharina fing, selbstverständlich in möglichst vorwurfsvollem Ton, damit an. So, als ob er persönlich hauptverantwortlich wäre für die Ausbeutung der Dritten Welt und die Schandtaten der Nahrungsmittelindustrie.
Neben der Katharina stand eine dunkelhaarige, hagere Frau, die Gasperlmaier nicht kannte. Wegen ihrer Größe fiel sie ihm auf, sie überragte die Katharina um fast eine ganze Kopfeslänge. Ihre dunklen Augen schienen ihn zu fixieren, und um ihren Mund machte sich ein etwas hämischer Zug breit. Er wandte sich ab, stellte fest, dass er zu schwitzen begann, und nahm seine Dienstmütze ab. Der Kreis der Demonstranten um das Geschäftsportal schien enger zu werden. Plötzlich stürzten die dünnen Mädchen, die Gasperlmaier ohnehin schon die längste Zeit verdächtig vorgekommen waren, schreiend aus der Menge hervor, zogen Spraydosen aus ihren Handtaschen und versuchten, zwischen ihnen hindurch zu den Auslagenscheiben zu gelangen. Gasperlmaier erwischte eine von ihnen und fasste sie um die Mitte. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass die Manuela eine andere mit beiden Händen am Arm zurückhielt und der Grill Peter hinter ihm im Gerangel mit einem der Mädchen stöhnte. Das Mädchen, das er selbst festhielt, wand sich wie ein Aal. „Polizeibrutalität!“, schrie sie. „Das ist ein sexueller Übergriff!“ Gasperlmaier bekam eine Spraydose gegen die Wange. Sie schepperte zu Boden, und Gasperlmaier ließ das Mädchen los, hauptsächlich, um ihren Fingernägeln zu entgehen, aber auch, um die Spraydose an sich zu bringen. Gegen den Widerstand des Mädchens, das sich nun an ihm festkrallte, konnte er sich die Dose schnappen. Triumphierend streckte er sie in die Höhe. Ihre Besitzerin stand ihm nun etwas ratlos, mit zerzausten Haaren und schwer atmend, gegenüber.
Gasperlmaier sah zur Auslagenscheibe und traute seinen Augen nicht. Der Kahlß Friedrich hatte sich im Schutz des Gerangels zwischen den Mädchen und der Polizei herangeschlichen und war gerade dabei, seiner Katharina eine Spraydose zu entwinden. „Mach dich nicht unglücklich, Mäderl!“, ächzte er. „Du willst schließlich Narzissenkönigin werden!“ Endlich hatte er die Dose in der Hand, seinen Pranken war die Katharina nicht gewachsen. „So!“, sagte er, „und jetzt sagst mir, was ich hinsprühen soll!“ Gasperlmaier dachte, er hätte sich verhört. Nur um seine Ruhe zu verteidigen, griff der Friedrich plötzlich zur Gewalt? Die Katharina beugte sich zum Friedrich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin zückte der die Dose und begann zu sprühen.
Gasperlmaier sah ihm mit offenem Mund zu. Er konnte doch nicht seinen ehemaligen Postenkommandanten festnehmen, um ihn daran zu hindern, eine Auslagenscheibe zu besprühen! Von hinten nahte der Herr Stern, dessen Billigtracht, wie Gasperlmaier nicht ohne Genugtuung feststellte, bereits in Fetzen hing. Sie hatte dem Angriff der Mädchen offenbar nicht standhalten können. Wenn man bedachte, wie viele Raufereien eine ordentliche Ausseer Lederhose praktisch unversehrt überstand – dafür gab es zahllose Beispiele –, war die Überlegenheit traditioneller Handarbeit bereits erwiesen. Der Herr Stern versuchte den Friedrich von der Auslagenscheibe wegzuzerren, doch der schubste den Stern nur mit der freien Linken beiseite wie eine lästige Fliege.
Die Menge hatte inzwischen begonnen, den Friedrich mit Sprechchören anzufeuern. Auch ein Transparent war aufgetaucht. „Fairer Handel mit fairer Tracht!“, stand darauf, und die dunkelhaarige Frau, die Gasperlmaier vorhin schon aufgefallen war, hielt ein Plakat in die Höhe, auf dem in schwarzer Schrift stand „Weg mit den Bluttextilien!“ Sie hatte den Karton auch noch üppig mit roten Blutstropfen garniert. Mit emporgereckter Faust feuerte sie die Sprechchöre noch zusätzlich an. Gleichzeitig schien sie zu lächeln und suchte Blickkontakt zu ihm. Lachte sie ihn etwa aus?
Als sich Gasperlmaier wieder der Auslagenscheibe zuwandte, hatten zwei weitere herbeigeeilte Polizisten den Friedrich an beiden Armen gepackt und weggezerrt. Gasperlmaier kannte die beiden nicht, sie waren wohl von den Ausseern zur Verstärkung herbeigeholt worden. Auf der Scheibe stand nun „Weg mit den Bluttex“, denn der Friedrich hatte das Wort nicht mehr fertig schreiben können. „Das Trachtenparadies ist eine Hölle!“, skandierten nun die Demonstranten, und der Friedrich und die Katharina schrien mit. Dazu reckte seine Tochter im Rhythmus die Faust in die Höhe. Wieder hatte sie sich neben die dunkle Frau gestellt. Langsam wurde Gasperlmaier alles ein wenig zu viel. Der Friedrich grinste und rief zu ihm herüber: „Na, wie hab ich das gemacht, Gasperlmaier? Ich als Pensionist kann mir das erlauben, ich brauch nichts mehr vom Staat. Und die Pension werden’s mir wegen ein paar Farbklecksern schon nicht wegnehmen.“ Gasperlmaier seufzte. Natürlich war es ihm recht, dass anstelle der Katharina der Friedrich die Scheibe besprüht hatte, aber mit seiner Tochter würde trotzdem ein ernstes Wörtchen zu reden sein, heute Abend, zu Hause.
„Das funktioniert so nicht! Immer nur kuschen und den Mund halten!“ Kaum hatten der Christoph und die Christine die Teller weggeräumt, hatte die Katharina den Waffenstillstand gebrochen, der während des Essens verordnet worden war. Gasperlmaier rang nach Worten. „Das sagt ja auch niemand! Aber man muss doch nicht gleich, man sollte doch zuerst …“ Der Christoph sprang ihm bei. „Man muss doch nicht gleich kriminell werden!“ Gasperlmaier nickte. Die Christine setze sich wieder zu ihnen. „Im Prinzip ist es aber etwas Richtiges und Wichtiges, wofür sich die Katharina einsetzt“, gab sie zu bedenken. Die nickte so eifrig, dass die Haare flogen. „Die Näherinnen in Kambodscha oder in Bangladesch, die verdienen ein paar Euro am Tag, und dafür arbeiten sie vierzehn Stunden, sechs Tage in der Woche!“, ereiferte sie sich. „Und dann kommt da so ein Pseudo-Trachtenverein und will uns das Zeug, das in Asien aus billigsten Materialien zusammengenäht worden ist, als Tracht verkaufen! Was glaubst du denn, warum ich mich als Narzissenkönigin beworben habe?“ Gasperlmaier verstand nicht recht. „Was hat denn das Trachtenparadies mit dem Narzissenfest zu tun?“ Jetzt mischte sich auch die Christine ein. „Wenn wir die Tradition und das Narzissenfest ernst nehmen, dann müssen wir auch zu authentischer Tracht stehen – zu Stoffen, die in unserer Heimat entstanden sind, aus Produkten, die bei uns wachsen, und zu Gewand, das bei uns genäht worden ist.“ Der Christoph grinste. „Da dürftet ihr aber auch keine Baumwolle hernehmen!“ Die Katharina beugte sich vor und fuhr ihm über den Mund. „Es gibt auch zertifizierte Bio-Baumwolle aus Fair-Trade-Anbau! Was glaubst du, wozu wir eine Projektarbeit über die Vermarktung nachhaltiger Produkte im Tourismus gemacht haben!“ Anscheinend, so schien es Gasperlmaier, waren an dieser Diskussion, außer ihm, ausschließlich Expertinnen und Experten aus der Textilbranche beteiligt. Wieder flogen ihm die Begriffe „Bio“ und „Fair Trade“ nur so um die Ohren. Zwar schwieg er, denn es redeten ohnehin schon mindestens zwei Familienmitglieder durcheinander. Aber ob das Trachtenparadies wirklich so schlimm war, daran zweifelte er. Womit würden die armen Näherinnen denn ihr Geld verdienen, wenn ihnen auch noch diese Arbeit abhandenkam, weil die Europäer gar so sehr dagegen protestierten?
„Und wenn die Gemeinde nichts tut, und wenn der Hausbesitzer sich für gar nichts interessiert als die Miete für das Geschäftslokal, dann muss man halt zu drastischeren Mitteln greifen, damit die Leute kapieren, dass eine Ziegenlederhose aus Pakistan oder ein Dirndl aus Malaysia keine Tracht sind.“ Die Katharina schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihr eine beruhigende Geste seitens ihrer Mutter eintrug. „Wenn das alles stimmt, was ihr in eurer Projektarbeit geschrieben habt, dann muss ich dir eigentlich recht geben“, sagte sie. „Aber hysterisch braucht sie deswegen nicht gleich werden. So haben sie wenigstens Arbeit, da unten!“, meinte der Christoph. „Das ist ein unglaublich ethnozentristisches Argument!“, schimpfte die Katharina, und Gasperlmaier beschloss, angesichts unverständlicher Fremdwörter ab jetzt höchstens noch besänftigend, nicht aber fachlich, in die Debatte einzugreifen. Hätte er seine Bedenken eingebracht, wäre er jetzt selbst zur Zielscheibe der Wut seiner Tochter geworden. Er trank sein Bier aus.
Dann fiel ihm aber doch noch eine Einzelheit ein, die für ihn noch nicht ganz geklärt war. „Warum, eigentlich, bewirbst du dich jetzt als Narzissenkönigin?“ „Na, weil ich da die Chance bekomme, meine Botschaft hinauszutragen: Tracht ist nur dann etwas wert, wenn auch das dahinter stehende Handwerk wertgeschätzt wird. Wenn lokal gekauft und gearbeitet wird, wenn die Wertschöpfung hier stattfindet. Was das Trachtenparadies verkauft, das hat genau so viel Wert wie eine Badehose mit Lederhosenaufdruck: Keinen!“
Die Christine seufzte. „Kind, du hast ja in fast allem Recht. Aber ob der Tourismusverband mit deiner Einstellung viel Freude haben wird, das wage ich zu bezweifeln.“ Die Katharina tat den Einwand mit einer lässigen Handbewegung und einem Pfauchen ab. „Die sollen froh sein, wenn es jemanden gibt, der wirklich was vom Tourismus versteht!“ Die Katharina war nämlich gerade dabei, die Tourismusschule abzuschließen. Die schriftliche Matura hatte sie schon gemacht, und das noch dazu mit lauter guten Noten. Gasperlmaier hatte sich zwar gesorgt, dass das ganze Theater mit dem Narzissenfest dazu führen würde, dass sie sich keine Zeit mehr für die Schule nahm, aber da konnte er eigentlich gar nichts sagen: Die Noten passten. Und sie wollte jetzt auch Tourismusmanagement studieren. Und redete schon davon, dass sie weiß Gott wo, in Sri Lanka oder Singapur, in einem Hotel arbeiten wollte. Sogar einen Chinesisch-Kurs hatte sie deswegen belegt. Immer mehr Touristen kämen aus China, meinte sie. Gasperlmaier hätte es lieber gesehen, wenn sie nach der Schule in einem Hotel in der Umgebung gearbeitet hätte. Jetzt, wo der Christoph schon die meiste Zeit in Wien war, wollte er nicht auch noch die Katharina so weit weg wissen. Aber, was sollte man machen?
„Wer war denn eigentlich die Frau, die da neben dir gestanden ist“, wollte er nun doch noch wissen, „die große, dunkelhaarige?“ „Wen meinst du?“, fragte die Katharina etwas irritiert zurück. „Na, die mit den dunklen Augen! Die uns immer so angestarrt hat! Und ein Transparent hat sie auch gehabt!“ Die Katharina sah auf ihren Teller. „Ich weiß gar nicht, von wem du redest“, nuschelte sie mit halbvollem Mund. Das entsprach wohl nicht ganz der Wahrheit, doch Gasperlmaier wollte nun lieber seine Ruhe haben und die Debatte beendet wissen.
„Ich leg mich dann einmal aufs Sofa!“ Er stemmte sich hoch und suchte nach der Fernbedienung des Fernsehers. Nach der erregten Debatte hatte er Lust auf ein bisschen Fernsehen, das ihm in der Regel lediglich dazu diente, völlig untätig auf dem Sofa zu liegen, gelegentlich in der Zeitung zu blättern und ansonsten wenig vom Programm mitzubekommen, bevor er einschlief. Das bevorstehende Wochenende würde ohnehin hart werden: Beim Narzissenfest wurde immer Dienst bis zum Umfallen geschoben, und er brachte dabei so viele Überstunden zusammen, dass er sich meist am Anfang der Schulferien eine Woche hatte freinehmen können. Schulferien, so erinnerte er sich, hatten seine Kinder keine mehr, damit war es vorbei. Aber die Christine, die hatte welche. Obwohl sie, was die erste Ferienwoche betraf, schon abgewinkt hatte: Jetzt, als Direktorin, könne sie nicht so einfach nach dem Ende des Unterrichts in die Ferien verschwinden wie früher. Gasperlmaier fragte sich, wozu das Ganze dann gut sein sollte. Wegen der 300 Euro, die sie jetzt im Monat mehr verdiente, wäre das sicher nicht notwendig gewesen.
Morgen Abend aber hatte er sich frei genommen: Denn da würde die große Wahl zur Narzissenkönigin im Kurhaussaal in Bad Aussee stattfinden. Und sogar die Frau Doktor Kohlross würde dabei sein. Sie war bei Ermittlungen im Ausseerland in der Regel die zuständige Chefinspektorin, und zwischen ihr und Gasperlmaier hatte sich mittlerweile so etwas wie Freundschaft entwickelt. Obwohl er sich ihr immer ein wenig unterlegen fühlte und sie insgeheim verehrte. Und zwar völlig ohne jeden Beigeschmack der Begehrlichkeit, versicherte er sich zumindest selbst. Die Frau Doktor war allerdings derzeit in Karenz, ihre kleine Sophie Franziska war gerade einmal drei Monate alt. Deshalb hoffte Gasperlmaier, dass kein Gewaltverbrechen passieren möge, bis sie wieder im Dienst war.
Vor ein paar Wochen hatte die Frau Doktor angekündigt, an diesem Wochenende einmal nach Aussee kommen zu wollen, denn ihre Mutter habe Zeit zum Babysitten. Mit knapper Not hatte man bei der Karin, der Cousine der Christine, noch ein Zimmer auftreiben können – denn das Ausseerland war während des Narzissenfestes restlos ausgebucht. Auf den Ortswappen war sie zwar nirgends zu sehen, doch war die Narzisse die geheime Wappenblume des Ausseerlandes. Gegen Ende Mai bedeckten Millionen der weißen Sterne die Wiesen, und schon seit Jahrzehnten feierte man das Narzissenfest mit Blumenkorsos, bei denen teils gigantische Figuren aus Narzissenblüten gesteckt wurden. Insgeheim fragte sich Gasperlmaier allerdings manchmal schon, warum man um ein paar Blumenfiguren ein solches Aufsehen machte. Aber den Ausseern konnte es nur recht sein: Das Narzissenfest spülte viel Geld in die Kassen des regionalen Tourismus. Nur, dass man an diesem Wochenende manchmal beim Schneiderwirt nicht einmal am Stammtisch einen Platz bekam, das ärgerte ihn schon ein wenig.
Gasperlmaier spürte ein etwas unangenehmes Gefühl im Magen, wenn er an die morgige Wahl dachte. Ob es die Katharina wegstecken würde, wenn man sie nicht wählte? Oder, anders gedacht, ob sie den ganzen Rummel verkraften würde, wenn man sie wählte? Ihm war jedenfalls bei der ganzen Angelegenheit ein wenig unwohl.
© Haymon Verlag
Herbert Dutzler: Einerseits ist es natürlich die Spannung, das Unerwartete, das
Überraschende, das man sich von einem guten Kriminalroman erhofft. Ich war immer schon
ein Leser, der in einem Buch versinken möchte, das ist bei Spannungsliteratur gut
möglich. Darüber hinaus geht es natürlich auch um die Auseinandersetzung mit dem Tod,
mit dem Sterben an sich. Das ist ja immer schon ein großes Thema in der Literatur
gewesen. Mich allerdings interessiert es mehr, wie die „Überlebenden“ mit einem
plötzlichen, überraschenden Tod umgehen. Und in einem guten Krimi
muss es um den Tod gehen, Handtaschenraub ist einfach zu wenig aufregend dafür.
Weltbild: Was inspiriert Sie beim Schreiben Ihrer Kriminalromane?
Herbert Dutzler: Ich gehe beim Schreiben immer von Bildern aus, die sich mir aufdrängen.
Bei „Letzte Bootsfahrt“, wo ein Mann in einer Toilette ertränkt wird, ist mir das Bild
eines auf diese Weise getöteten Menschen spontan beim Besuch des Sanitärmuseums in Gmunden
vor die Augen getreten. Dort werden Klomuscheln aus vielen Jahrhunderten und allen
Kontinenten gezeigt. Bei „Letzter Saibling“ habe ich bei einer Rast am Toplitzsee Blasen
aus dem Wasser aufsteigen sehen und mich gefragt, was dort unten wohl verrottet – das war
der Ausgangspunkt. Inspirierend ist für mich auch ein Arbeitsplatz, an dem ich ganz allein
bin und möglichst viel Grün sehe – also zum Beispiel meine Terrasse.
Weltbild: Bauen Sie wahre Begebenheiten in die Geschichten ein?
Herbert Dutzler: Eher Erfahrungen als Begebenheiten. Die Charaktere setzen sich aus vielen
im Laufe des Lebens gemachten Erfahrungen mit Menschen zusammen, und viele oft
unscheinbare Einzelheiten in den Büchern haben Wurzeln in der Wirklichkeit. So entsteht
ein Mosaik, das keine wirklich existierenden Menschen oder Sachverhalte eins zu eins
abbildet. Viele Leserinnen und Leser identifizieren sich aber oft mit einzelnen oder
vielen dieser Mosaiksteine.
Weltbild: Wären Sie selbst gerne Kriminalinspektor?
Herbert Dutzler: Ehrlich gesagt, in den letzten Jahren habe ich oft überlegt, ob es
nicht interessant gewesen wäre, für die Polizei zu arbeiten. Aber letzten Endes, glaube
ich, bin ich dafür zu feig – die Arbeit ist doch ziemlich gefährlich, oft frustrierend
und, besonders bei Verbrechen gegen Leib und Leben, sehr deprimierend. Ich denke dabei
vor allem an Kinder als Opfer von Verbrechen.
Weltbild: Wird’s einen 5. Fall für Kommissar Gasperlmaier geben?
Herbert Dutzler: Der ist bereits in Arbeit. Es darf verraten werden, dass im Zentrum des
Geschehens das alljährliche Narzissenfest stehen wird. Außerdem werden die Ausseer damit
konfrontiert, dass eine Diskonter-Trachtenkette eine Filiale eröffnet, was natürlich auf
massiven Widerstand der einheimischen Bevölkerung stößt. Man darf darüber spekulieren,
wer das Opfer eines Gewaltverbrechens werden wird.
© Studienverlag GmbH
- Autor: Herbert Dutzler
- 2023, 9. Aufl., 392 Seiten, Maße: 11,6 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3709978203
- ISBN-13: 9783709978207
- Erscheinungsdatum: 15.05.2015
4 von 5 Sternen
5 Sterne 4Schreiben Sie einen Kommentar zu "Letzter Applaus / Gasperlmaier Bd.5".
Kommentar verfassen