Lexikon des Unwissens
Viel Physik, echt Tierisches, aber auch Allzumenschliches wird in diesem Lexikon beleuchtet. Wir greifen zu den Sternen, erfahren, was es mit dem Schnurren der Katzen auf sich hat oder worüber Narkoseärzte rätseln. Unterhaltsame und anschauliche Information!
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Viel Physik, echt Tierisches, aber auch Allzumenschliches wird in diesem Lexikon beleuchtet. Wir greifen zu den Sternen, erfahren, was es mit dem Schnurren der Katzen auf sich hat oder worüber Narkoseärzte rätseln. Unterhaltsame und anschauliche Information!
Das «Lexikon des Unwissens» versammelt die erstaunlichsten Wissenslücken. Nie wurde das geballte Unwissen der Menschheit auf so engem Raum präsentiert, und nie wurde es derart intelligent und unterhaltsam dargestellt.
Lexikon des Unwissens von Kathrin Passigund Aleks Scholz
LESEPROBE
AALST (n.) One whochanges his name to be further to thefront
Douglas Adams: «TheMeaning of Liff»
Aale schaffen es seit Jahrhundertengeschickt, ihre Lebensverhältnisse vor uns geheimzuhalten.Dabei kennt sie jeder, man kann sie an vielen Orten ansehen (zumindestgeräuchert), und es gibt auch keinen Mangel an ambitionierten Aalforschern. Aristoteleszum Beispiel interessierte sich sehr für diese Fische, die zu seiner Zeit nochnicht mal als Fische galten, sondern als eine Art Würmer, die, so glaubteAristoteles, aus dem Schlamm des Flussbodens schlüpfen. Bis weit in die Neuzeithinein waren nicht wesentlich weniger absurde Theorien im Umlauf; so wurdenoch 1858 behauptet, dass sich Aale bei der Fortpflanzung spindelförmig umeinen Schilfhalm legen und sich durch dessen Schwingungen anregen lassen.Immerhin wusste man frühzeitig von der Aalwanderung: Erwachsene Aale schwimmenflussabwärts ins Meer, und junge kommen aus dem Meer nach, was den Schluss nahelegt, dass die Fortpflanzung im Meer stattfindet. Wo,wann und wie das geschieht, das sind die Fragen, die alle Aalinteressiertenseitdem beschäftigen.
Mühsam kam die Aalforschung in denletzten dreihundert Jahren voran. Im Jahr 1777 entdeckte der Italiener Carlo Mondini die Eierstöcke des Aals und wies damit nach, dassdas Aalweibchen wie jeder andere vernünftige Fisch zur Arterhaltung Eier legt.Knapp hundert Jahre dauerte es, bis die männlichen Geschlechtsorgane gefundenwurden. Der Triester Biologe Simon von Syrski spürtezwei dünne Lappenorgane auf und identifizierte sie korrekt als die Hoden desAals. Rätselhaft jedoch für die damalige Forschung: Sie enthielten keinerleiSperma. Mit den Hoden der Aale befasste sich in derselben Zeit auch Sigmund Freud,damals noch Student der Zoologie. Praktisch in Akkordarbeit zerschnitt Freudetwa 400 Aale auf der Suche nach dem männlichen Geschlechtsorgan. Mancheglauben, dass er damit seine sexuellen Probleme bewältigte: Mit der Tötung desphallusförmigen Aals kastrierte Freud symbolisch nicht nur seine Konkurrenten,sondern auch (400-mal) den eigenen Vater - der unschuldige Aal als Opfer desÖdipuskomplexes. Für die Zoologie jedoch brachte Freuds Aalmassaker keine neuenErkenntnisse.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamman einen Schritt weiter. Die Biologen Yves Delageund Giovanni Batista Grassizeigten schlüssig, dass es sich bei einem durchsichtigen, flachenMeereslebewesen namens Leptocephalus brevirostris, bis dahin als eigenständige Artgeführt, um die Larve des Flussaals handelt. Vor allem dem Dänen JohannesSchmidt ist die Aufklärung der Herkunft dieser Larven zu verdanken. In den erstendrei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unternahm er aufwendige Expeditionen,die ihn hinaus in den Atlantik führten. Schmidt verfolgte die kleinen Aalerückwärts; er fuhr immer weiter Richtung Amerika und fand immer kleinereLarven, die allerkleinsten schließlich in der Sargassosee,südlich der Bermudainseln. Diese Tiefseegegend, auch als Bermudadreieck bekanntund berüchtigt für rätselhafte Schiffsuntergänge und Flugzeugabstürze, giltseitdem als Geburtsort der Europäischen Flussaale. Seltsam genug, dass niemandje versucht hat, einen Zusammenhang zwischen Schiffsunglücken und Aalfortpflanzungherzustellen.
Hier nun alles, was wir über denLebensweg des Aals heute zu wissen glauben: Geschlüpft in der Sargassosee, treiben und schwimmen die Larven desEuropäischen Aals an der amerikanischen Küste entlang nach Norden und biegenschließlich, dem Golfstrom folgend, Richtung Europa ab. Dabei werden sie zunächstvon den Larven des Amerikanischen Aals begleitet, die aus derselben Gegendstammen, es dann aber offenbar vorziehen, auf die anstrengendeAtlantiküberquerung zu verzichten. Warum die europäischen Larven nicht aucheinfach in Amerika bleiben, ist unbekannt, stattdessen quälen sie sich mehrereJahre lang über den Atlantik. Beim Erreichen der europäischen Küsten verwandelnsich die Larven in sogenannte Glasaale,wobei unklar ist, was genau diese Metamorphose auslöst - möglicherweise ist esdie Erleichterung, endlich einmal wieder Land zu sehen. Glasaalesind kleine, durchsichtige, wurmartige Dinger, die als Delikatesse gelten undin großen Mengen gefischt werden. Die Erfahrung, nach einer mehrjährigenAtlantiküberquerung auf dem Teller eines Spezialitätenrestaurants zu landen,darf man wohl getrost als antiklimaktisch, ja, enttäuschendbezeichnen.
Alle überlebenden Glasaale, und hier beginnt der schon lange bekannte Teildes Aallebens, entwickeln sich zu der adulten Form, Gelbaal genannt, und zwar in den Süßwasserflüssen Europas.(Dasselbe geschieht auf der anderen Seite des Atlantiks mit den kleinenamerikanischen Aalen.) An dieser Stelle kann man leicht viele Jahre Aallebenüberspringen, weil nichts Besonderes passiert. Der erwachsene Aal lebt alsFisch unter Fischen, einige werden zwischendurch geräuchert, und wer davonverschont bleibt, den ruft, im Alter von 5, 10 oder auch 20 Jahren, einemysteriöse Stimme zurück ins Meer. Auf dem Weg dorthin lässt er sich durch fastnichts aufhalten, nicht durch Dämme oder gar Land. Nur gegen die Turbinen derWasserkraftwerke, die regelmäßig Aale in Fischhäppchen verwandeln, hat er nochkein Mittel gefunden. Während der Reise zum Ozean geschieht eine interessanteUmwandlung, der Aal wird silbrig, seine Augen vergrößern sich, und, ganzentscheidend, der Verdauungstrakt verkümmert. Erreicht dieser sogenannte Silberaal das Meer,so ist sein Schicksal vorgezeichnet - er ist auf einer Selbstmordmission, derenDauer durch seine Körperfettreserven bestimmt wird.
Es folgt der bis heute rätselhafteTeil des Aallebens. Aalexperte Friedrich-Wilhelm Teschverfolgte die Aale in den Siebzigern immerhin bis zum Atlantischen Rücken, dannwaren die Batterien der Sender leer, mit denen er sie ausgerüstet hatte.Andere Expeditionen entdeckten Silberaale in der Sargassosee, verloren sie jedoch schnell wieder aus denAugen. Irgendwie schaffen die Aale es anscheinend zurück zu ihrem Ursprungsort. Auf dem Weg dorthin produzieren die Männchenunter ihnen auch endlich das Sperma, das Sigmund Freud und andere soangestrengt suchten. Am Ziel angekommen, müssten die weiblichen Aale dann Laichablegen, den die männlichen Aale befruchten, wodurch schließlich dieFortpflanzung zustande kommt. So jedenfalls die Theorie, denn trotzumfangreicher Anstrengungen hat diesen wichtigen Vorgang noch nie jemand in derNatur beobachtet. Außerdem ist unklar, was aus den Eltern wird, die eigentlichnicht anders können, als kurz nach der Atlantiküberquerung zu verhungern. IhreSkelette allerdings wurden bislang nicht gefunden, und von Aalfriedhöfen istnichts bekannt.
Niemand glaubt heute mehr, dass Aaleeinfach so aus dem Schlamm kriechen. Alle Forschungen zur Fortpflanzung von Tierenergeben, dass eine gewisse räumliche Nähe zwischen Eltern und Kindern vorhandensein muss, jedenfalls ganz am Anfang. Trotzdem fehlt bei Aalen jeder Nachweiseiner Verbindung zwischen den Generationen. Die kleinen Aallarven entstehenscheinbar aus dem Nichts. Gleichzeitig verschwinden die erwachsenen Aalespurlos in der Sargassosee. Verwandeln sich dieEltern einfach wieder zurück in Larven? Ist der Aal somit unsterblich? Es istein großes Rätsel. Genau dasselbe Problem stellt sich übrigens bei denasiatischen Aalen. Man kennt oft die Herkunft der Aale, man kannnachvollziehen, wie die Larven ins Süßwasser kommen, man weiß, dass dieErwachsenen ins Meer und zu den Laichplätzen zurückkehren, aber der letzte Schritt,die eigentliche Fortpflanzung, die Verbindung zwischen Mutter, Vater undLarven, fehlt. Aalforscher müssen sich so ähnlich fühlen wie kleine Kinder,die zwar wissen, dass die Klapperstorchhypothese falsch ist, aber trotzdemkeine Ahnung haben, wo die Babys herkommen.
Eine lange populäre Lösung desProblems bestreitet schlicht die Existenz europäischer Aale. Der britischeZoologe Denys W. Tucker spekulierte 1959, dass derWeg zurück in die Sargassosee viel zu weit sei undes daher keiner der in Europa lebenden Aale zurück zu den Laichgründenschaffen könnte. Stattdessen würden die Aale Europas von amerikanischenKollegen abstammen, die sich ebenfalls in der Sargassoseefortpflanzen. Auch wenn diese Hypothese nach langen Diskussionen untergegangenist - europäische und amerikanische Aale zeigen klare genetische Unterschiedeund müssen daher als zwei verschiedene Arten betrachtet werden -, zog sie dochinteressante Folgen nach sich: Eine Gruppe von «Ariosophen»,Anhänger der These, dass die Arier von Atlantis abstammen, leitete aus der Tucker-Theorieden Schluss ab, dass Aale vormals in Atlantis an Land gingen und nicht inEuropa. Erst nach dem Untergang von Atlantis landeten die Larven in Europa,konnten sich aber nie an den jetzt doppelt so weiten Rückweg gewöhnen. Dassagten jedenfalls die Ariosophen, die mit Hilfe derAale ihre Heimat Atlantis wiederfinden wollten, einUnterfangen, das noch aussichtsloser erscheint als die Suche nach sichfortpflanzenden Aalen.
Um herauszufinden, ob Aale in derLage sind, den Atlantik zu überqueren, veranstaltete eine niederländische Forschergruppevor kurzem ein Testschwimmen: Sie ließen eine Gruppe Aale ein halbes Jahr langin einem Wassertank Kreise ziehen, ohne Fütterung, ohne Werbepausen und ohneEnergiedrinks. Obwohl sie ein Fünftel ihres Körpergewichts einbüßten, legtendie Aale dabei eine Marathondistanz von 5500 km zurück, eine erstaunliche Leistung.Statt auf einem Siegerpodest landeten die Aale nach der Strapaze allerdings aufdem Seziertisch. Wie sie es schaffen, so ausdauernd zu schwimmen, ist unklar, dasssie es aber können, scheint damit bewiesen. Zudem gibt es Hinweise, dass Aalein der Lage sind, sich nach dem Erdmagnetfeld zu richten, was eine Möglichkeitwäre, sich im Meer zu orientieren. Auch ist es mittlerweile gelungen, Aale inGefangenschaft beim Befruchten ihrer Eier zu beobachten - aber eben nicht infreier Wildbahn. Andererseits zeigt eine neuere Arbeit des Japaners Tsukamoto und seiner Kollegen, dass im Atlantik gesammelteAale ihr ganzes Leben dort verbracht haben, was völlig rätselhaft ist, weil esdie gesamte oben zusammengefasste Aalwanderungstheorie infrage stellt. Und weiterhingibt es mittlerweile leise Zweifel, ob alle Süßwasseraalein Europa genetisch einwandfrei derselben Art angehören, sich daher alleuntereinander paaren können und überhaupt dieselben Ziele im Leben anstreben,Laichgründe eingeschlossen, wovon man eigentlich seit hundert Jahrenausgegangen ist.
Nach wie vor also ist viel Raum fürFruchtbarkeitsmythen, Aalgötter und Spekulationen über Telekinese bei Fischen.Auftrieb könnte die Aalforschung in Zukunft durch den ebenfalls rätselhaftenNiedergang der Glasaalpopulation erhalten. Immer weniger junge Aale kommen anEuropas Küsten an; es könnte an Parasiten liegen, an der Meereserwärmung,Umweltgiften oder an ganz anderen Dingen. Aber weil Glasaaleein Wirtschaftsfaktor sind, besteht Hoffnung auf Rettung. Obwohl man es demAal zutrauen würde, eines Tages ohne jeden ersichtlichenGrund einfach so von der Erde zu verschwinden.
© Rowohlt Verlag
- Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz
- 2007, 7. Aufl., 254 Seiten, Maße: 13,3 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3871345695
- ISBN-13: 9783871345692
- Erscheinungsdatum: 20.07.2007
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