Lichtträger / Der Sohn des Sehers Bd.2
Originalausgabe
Die neue All-Age-Trilogie
Gegen jede Wahrscheinlichkeit ist es dem jungen Seher Awin gelungen, den Lichtstein zu erlangen. Aber als er zu den Zelten seines Stammes zurückkehrt, hat die Wüstengöttin Slahan seine Sippe entführt. Awin bricht sofort auf, um...
Gegen jede Wahrscheinlichkeit ist es dem jungen Seher Awin gelungen, den Lichtstein zu erlangen. Aber als er zu den Zelten seines Stammes zurückkehrt, hat die Wüstengöttin Slahan seine Sippe entführt. Awin bricht sofort auf, um...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Lichtträger / Der Sohn des Sehers Bd.2 “
Die neue All-Age-Trilogie
Gegen jede Wahrscheinlichkeit ist es dem jungen Seher Awin gelungen, den Lichtstein zu erlangen. Aber als er zu den Zelten seines Stammes zurückkehrt, hat die Wüstengöttin Slahan seine Sippe entführt. Awin bricht sofort auf, um seinen Clan zu retten, doch Intrigen, Missgunst und alte Feinde halten ihn auf. Und als Awin endlich erahnt, was die grausame Slahan wirklich plant, scheint es längst zu spät zu sein, um sie aufzuhalten ...
Gegen jede Wahrscheinlichkeit ist es dem jungen Seher Awin gelungen, den Lichtstein zu erlangen. Aber als er zu den Zelten seines Stammes zurückkehrt, hat die Wüstengöttin Slahan seine Sippe entführt. Awin bricht sofort auf, um seinen Clan zu retten, doch Intrigen, Missgunst und alte Feinde halten ihn auf. Und als Awin endlich erahnt, was die grausame Slahan wirklich plant, scheint es längst zu spät zu sein, um sie aufzuhalten ...
Lese-Probe zu „Lichtträger / Der Sohn des Sehers Bd.2 “
Lichtträger - Der Sohn des Sehers 2 von Torsten Fink Prolog
Der Bogen war fast fertig. Tuge nahm ihn in seine kräftigen
Hände und prüfte ihn erneut. er begutachtete das Horn
und lauschte auf das leise knarren des Holzkerns. es klang
beinahe vollkommen, aber eben nur beinahe. Vorsichtig nahm
er sein kleines Messer zur Hand und schabte etwas Horn vom
Bogenbauch. Auf der anderen seite des Feuers saß der junge
kolyn und sah ihm mit leuchtenden Augen zu. »wenn es so
kalt ist wie jetzt, musst du ihn warm halten, dann schöpfen
seine Arme neue kraft«, mahnte ihn Tuge mit strengem Blick.
kolyn nickte eifrig. Der Bogner seufzte. Vor zwei Jahren hatte
er Holz und Horn für dieses stück ausgesucht. er hatte nur
vom Allerbesten genommen, denn dieser Bogen hätte einmal
seinem sohn Tauru gehören sollen. Doch der war tot, gefallen
und begraben in der Fremde.
»ist er jetzt fertig, Meister Tuge?«, fragte der Junge.
Der Bogner schüttelte den kopf. »nicht so ungeduldig, junger
Freund, aber ich glaube, wir können langsam daran denken,
die sehne aufzuziehen.«
»Und dann ist er fertig?«
Tuge lächelte. seit kolyn wusste, dass dieser Bogen für ihn
bestimmt war, saß er jeden Tag in seinem Zelt. Der Bogner
prüfte mit dem Daumen die stelle, die er gerade bearbeitet
hatte. es fühlte sich gut an. »er braucht noch seine schutzschicht,
weißt du das nicht?«
»Dann morgen?«
... mehr
»eine woche, vielleicht zwei«, erklärte Tuge. »es kommt
darauf an, wie er sich mit der sehne macht.« Der knabe
erlebte gerade seinen elften winter. es zeigte, wie verzweifelt
sie waren, dass sie kolyn schon zum Jungkrieger beriefen und
ihm einen Bogen anvertrauten, der eigentlich zu groß für ihn
war. Tuge fuhr noch einmal mit der Hand über das glatte Horn.
Tauru hätte der Bogen sicher gefallen.
Das Zelt erzitterte unter einem windstoß. seit Tagen plagte
sie ein eiskalter, namenloser nordwind. noch ein Grund,
warum sich kolyn lieber im warmen Zelt als draußen bei den
Herden aufhielt. sein Vater Meryak hatte nichts dagegen. Die
Herden waren klein geworden, denn der Heredhan hatte ihnen
die meisten Tiere genommen. Tuges Miene verdüsterte sich, als
er daran dachte, mit welcher selbstherrlichkeit Heredhan Horket
in ihr Lager geritten war, geschützt von Dutzenden kriegern,
um eine sühne einzufordern, die ihm der klan angeblich
schuldete. es war gut, dass Yaman Aryak das nicht mehr erleben
musste. was hatte Horket ihnen gelassen? Zwei Dutzend
Pferde und ebenso viele schafe, eine Handvoll Trampeltiere
und die Ziegen. es reichte gerade zum Überleben - vielleicht.
Der winter konnte noch lang werden, und irgendwann würden
die wölfe kommen. Dann konnten sie einen weiteren
Bogen gut gebrauchen, auch wenn er in der Hand eines kindes
lag. Die doppelte Lederhaut vor dem eingang wurde zurückgeschlagen,
und eine junge Frau steckte ihren kopf herein.
»onkel Tuge, komm, sieh dir das an!«, forderte sie.
Tuge runzelte die stirn. Die Arbeit an einem Bogen war
etwas Heiliges, er schätzte störungen dieser Art nicht besonders.
»was gibt es denn, wela, Tuwins Tochter, dass du mich
von meiner Arbeit fort in diese böse kälte hinauslocken
willst?«, brummte er.
»sieh es dir an. ich glaube, es gibt bald einen sandsturm.«
»Du musst dich irren, nichte. es ist tiefster winter, und wir
sind weit von der slahan entfernt. ich glaube, selbst der wütende
nyet würde sich nicht so weit hinaus in die steppe wagen.«
»Dann komm und sieh!«, forderte wela.
Missmutig erhob sich der Bogner und trat vor das Zelt.
seine nichte würde ohnehin keine ruhe geben. es war still.
Der nordwind schien sich gelegt zu haben. Tuge blickte in die
richtung, in die wela wies. Tatsächlich, der Horizont zeigte
sich gelb verfärbt, das untrügliche Zeichen für einen sandsturm.
Dennoch, es war unmöglich. Tuge sah sich um. Die
Handvoll rundzelte, die ihr klan bewohnte, war halb eingegraben,
weit über den südhang eines Hügels verteilt. kein
Mensch war draußen. nur die Ziegen drängten sich unruhig
aneinander. sie schienen den kommenden sturm zu wittern.
in der Ferne wieherte ein Pferd. Meryak war mit Malde und
den rössern in einem kleinen Tal, das schutz vor dem eisigen
nordwind bot. Doch dieser schien jetzt eingeschlafen zu sein.
es war nahezu windstill. ein weiterer Vorbote dieses seltsamen
sturms, der sich in der Ferne abzeichnete.
»was machst du überhaupt hier draußen, wela?«, fragte Tuge.
»Die Luft in den Zelten hat mir kopfschmerzen verursacht,
onkel, die Luft, und das Geschwätz der Frauen. Aber es wird
auch hier draußen nicht besser.«
»skefer«, sagte der junge kolyn mit kennermiene.
Tuge warf ihm einen halb belustigten Blick zu. »soso, junger
Freund, dann verrate mir doch, was skefer so weit von seiner
Heimat entfernt will.«
»er geht dem sturm voraus«, behauptete der knabe kühn.
wela grinste. »Du kennst die winde der slahan gut, kolyn«,
lobte sie ihn.
»Ja, und jetzt ist es auf einmal Dauwe, der mit seinem
schweigen nyet ankündigt.«
»Dauwe erscheint nie im winter«, belehrte ihn Tuge.
er spürte einen stich im Bein, eine alte wunde, die ihn bei
wetterwechseln oft plagte. Die gelbe wand war in die Höhe
gewachsen und schon beträchtlich näher gerückt. »Vielleicht
ist es wirklich nyet«, sagte er mit einem Achselzucken, »und
vielleicht vertreibt er diesen elenden Frost. Dann soll mir sein
Zorn willkommen sein.«
»soll ich Malde und Meryak warnen?«, fragte wela.
»sie werden es schon selbst bemerken. Außerdem glaube
ich nicht, dass du sie noch vor dem sturm erreichen würdest.«
Tuge legte die stirn in besorgte Falten. Dieser sturm kam sehr
schnell näher, selbst für nyets Verhältnisse. eine leichte, milde
Brise wehte plötzlich um die Halteseile seines Zeltes, und der
Bogner vermeinte, ein leises Flüstern im wind zu vernehmen.
Auch wela hatte es gehört. »seweti?«, fragte sie erstaunt.
Tuge schüttelte den kopf. »Die Tänzerin verspottet jene,
die nyet in offener wüste begegnen und sich hinterher fluchend
aus dem sand ausgraben. niemals geht sie einem sturm
voraus«, sagte er langsam.
»Holla, Tuge, was geht da vor?«, rief eine stimme. es war
Gregil, Yaman Aryaks witwe, die vor ihr Zelt getreten war und
den Himmel musterte.
Tuge zögerte mit einer Antwort. Der sturm raste heran.
in wenigen Augenblicken würde er über ihren Zelten zusammenschlagen.
es war Zeit, hineinzugehen und den eingang zu
verschließen. Dann konnte man nur noch einen sud aufsetzen,
dem wind lauschen und warten. Die winterzelte der Hakul
waren ein gutes stück in die erde eingegraben und konnten
selbst einem sehr wütenden nyet trotzen. Aber Tuge zögerte.
Das Flüstern im wind war jetzt nicht mehr zu überhören. es
erinnerte ihn an die Geschichten der Alten. An erzählungen
aus der fernen Zeit, bevor etys mit dem Lichtstein die Gefal-
lene Göttin gebannt hatte, als Xlifara slahan, die Verfluchte,
in Gestalt eines sturmes die Zelte der Hakul heimgesucht und
Menschen verschleppt hatte, um mit ihrem Blut ihren ewigen
Durst zu stillen. Und zuvor hatte seweti die Tänzerin zu
jener Zeit die Hakul verhöhnt, ihnen mit ihrem Flüstern Angst
gemacht. Tuge erbleichte.
Der Lichtstein war geraubt worden, er schützte sie gar nicht
mehr vor der rachsüchtigen Göttin. Die ersten windböen
drängten ins Zelt und ließen die ledernen Häute knarren. ein
süßlicher Geruch stieg dem Bogner in die nase. er formte die
Hände zu einem Trichter, um den wind zu übertönen, und rief
Gregil zu: »ins Zelt, ins Zelt, es ist Xlifara! slahan kommt, um
unser Blut zu holen!« er war sich nicht sicher, ob die Yamani
ihn verstanden hatte. wela starrte ihn ungläubig an, dann verstand
sie und rief: »schnell, wir müssen die anderen ...«
Tuge packte sie am kragen und hielt sie fest. »Bleib. es ist
zu spät. Die Göttin ist hier.« Und mit diesen worten zog er die
widerstrebende wela und den jungen kolyn hastig in sein Zelt.
»Aber, onkel ...«, begann wela.
Tuge beachtete sie nicht, er zog die Verschlüsse des eingangs
fest. Der süßliche Geruch drang dennoch herein. es roch
nach Tod und Verwesung. er sah sich um und versuchte, sich an
die alten Geschichten zu erinnern. es gab etwas, das die Alten
gepredigt hatten: schutz, einen weg, die Gefallene Göttin am
Betreten eines Zeltes zu hindern. Das rundzelt wankte unter
einem heftigen schlag. Der sturm war da. stimmen waren im
wind, ein stöhnen und wimmern, das dem Bogner durch
Mark und Bein ging. kolyn sah ihn ängstlich an.
»Den Trog, vor den eingang, schnell!«, rief Tuge und lief
selbst schon zu dem schweren Bottich, in dem er sonst den
Bogenleim anzurühren pflegte. wela packte mit an. »Den
eimer, Junge, den wassereimer, aber lass ihn nicht fallen!«,
herrschte Tuge den verstörten kolyn an. Dieser nickte verwirrt
und schleppte stolpernd den wassereimer heran. Tuge goss das
wasser in den Trog. würde das wirklich ausreichen? er sandte
ein stoßgebet an Tengwil, die schicksalsweberin, sie möge
auf ihre Fäden achten. es wurde dunkel, und das kleine Feuer
schien zu schrumpfen, als sich die Finsternis des sandsturms auf
das Zelt legte. Das stöhnen draußen wuchs zu einem Brüllen
an, und wieder wankte das Zelt unter dem wütenden nyet. Die
werkzeuge und Gerätschaften, die der Bogner an die innere
Zeltwand gehängt hatte, klapperten unruhig. Besorgt musterte
Tuge die stangen. Bis jetzt hatte sein Zelt jedem sturm
standgehalten, doch nun rüttelte eine Göttin an seinen Pfosten.
Hakul-Zelte waren geweiht, ein alter Brauch aus jener dunklen
Zeit, als Xlifara noch oft über das staubland gekommen war.
Der Bogner fragte sich, ob die alten Zauber noch wirkten. Das
Brüllen nyets vermischte sich mit einem alles durchdringenden
Heulen und stöhnen, das wenig irdisches an sich hatte.
Tuge sah, dass kolyn mit den Tränen kämpfte.
»sie kann nicht herein«, versuchte er ihn zu beruhigen.
Der Junge nickte tapfer. ein reißendes Geräusch erklang vom
eingang. Dort machte sich jemand an den Häuten zu schaffen.
war das nur der wind? sechs Augen schauten gebannt auf
die doppelte Lederhaut. Plötzlich stieß die spitze eines Dolchs
hindurch. noch einmal. Und dann schnitt die klinge, sorgsam
geführt, die Verschlussleinen auf. wer immer dort draußen mit
dem sturm gekommen war, er kannte die Art, wie die Hakul
ihre Zelte bauten. Die Lederhäute wurden zurückgeschlagen.
sand und staub wirbelten herein, und mittendrin zeichnete
sich der Umriss eines Mannes ab. wela schrie auf. es war ein
Hakul, die Tracht war unverkennbar, aber in dem Flackern, das
ihr schwaches Feuer über sein Gesicht huschen ließ, stachen
zwei Augen hervor, die nichts Menschliches an sich hatten. sie
waren vollkommen gelb. Der Fremde hielt den Dolch in der
Hand und hob den Fuß, um das Zelt zu betreten. Hinter ihm
war ein zweiter Umriss zu erahnen. Der Mann mit den gelben
Augen zögerte, als er den Bottich bemerkte. er zischte, und
sand rann aus seinem Mund.
Plötzlich durchschnitt ein helles, kurzes sausen das Heulen
des sturms, und ein gefiederter Pfeil durchbohrte dem eindringling
die Brust. er stolperte zurück und sackte noch auf der
schwelle zusammen. Der schatten hinter ihm stieg über den
Gefallenen. Auch er trug die kleidung eines Hakul, und auch
ihm waren diese furchtbaren gelben Augen zu eigen. er verharrte
am eingang, starrte auf den Trog und wurde von einem
zweiten Pfeil zurückgeworfen. Tuge ließ den Bogen sinken. er
spürte, dass ihm der kalte schweiß ausgebrochen war. sand
wirbelte durch den zerschnittenen eingang hinein.
»was war das, Meister Tuge?«, fragte kolyn zitternd.
Der Bogner antwortete nicht, sondern legte einen weiteren
Pfeil auf die sehne. er lauschte auf den sturm und die grausamen
stimmen, die den wind begleiteten. Das Zelt ächzte unter
der wut nyets, die stangen knackten, und dann hörte Tuge,
wie eines der Halteseile riss. Xlifara slahan rüttelte an seinem
Zelt, und er vermeinte zu spüren, wie ihr uralter Hass auf alle
Menschen sich einen weg durch die nähte und Lederhäute
suchte, ja, er war sich sicher, dass sie erst von ihnen ablassen
würde, wenn sie alle tot waren.
Frostland
Der Atem Der Pferde bildete flüchtige wolken in der kalten
Luft. Awin schlug den sandschal zurück. sofort fuhr ihm
der eisige nordwind ins Gesicht. er zog die grob zugeschnittene
Lederhaut, die er über seinem Gewand trug, enger an sich,
ohne allzu viel Linderung zu erwarten. Die kälte war ihm in
die knochen gekrochen, und sie schien nicht die Absicht zu
haben, von dort so bald wieder zu weichen.
»ein seltsamer winter ist das. wenn wenigstens schnee liegen
würde«, sagte Merege.
Die kariwa hatte ein schaffell nachlässig über die schmalen
schultern gelegt, und es war offensichtlich, dass ihr der kalte
wind nichts ausmachte. Awin hingegen sehnte sich nach einem
Zelt und einem wärmenden Feuer. es war nicht mehr weit bis
zu den Hügeln, in denen der klan Jahr für Jahr sein winterlager
aufschlug. er zitterte. Viel schlimmer als die kälte war
jedoch die Angst, dass er auch dort das schreckensbild vorfinden
würde, das er nun schon dreimal gesehen hatte. Unruhig
sah er zu, wie eri durch das weiße Gras schritt, den Blick auf
den Boden geheftet. es war schon richtig, die Pferde brauchten
eine Pause, auch die reiter brauchten eine rast, aber er
wollte weiter. Aus dem Augenwinkel sah er hinüber zu Curru.
Der ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Pfeilwunde aus
der schlacht am Glutrücken immer noch plagte, aber wenn er
sich unbeobachtet fühlte, so wie jetzt, stahl sich ein Ausdruck
des schmerzes in sein Gesicht.
»sand«, sagte eri düster.
Awin biss sich auf die Lippen. es durfte nicht sein! Vor einer
woche waren sie auf das erste zerstörte Lager gestoßen. sie
hatten sich lange in wilden Vermutungen ergangen, wer für die
Zerstörung verantwortlich sein könnte, nur weil sie sich nicht
eingestehen wollten, was sie im Grunde ihrer Herzen wussten.
sie hatten sich eingeredet, es könnte ein Zufall sein - ein anderer
Feind musste dieses Lager zerstört haben, und nur zufällig
war die von ihnen in die Flucht geschlagene slahan darübergezogen.
so hatten sie sich den allgegenwärtigen sand erklärt.
in feinen schleiern lag er überall, wo ihn der eisige nordwind
nicht hatte aufnehmen und forttragen können.
es war ein erschreckender Anblick gewesen, selbst für die
krieger der Hakul: die toten Pferde und schafe, von Geiern
und anderen Aasfressern nur halb abgenagt, weil die tödliche
ernte so reich war, die zahlreichen, hastig in die gefrorene erde
gekratzten Gräber, die zusammengefallenen Zelte und diese
bedrückende stille, die über der Zerstörung lastete. selbst die
Aasfresser waren weitergezogen, und sie erfuhren bald, warum:
Zwei Tage später fanden sie das zweite zerstörte klanlager. Ab
da gab es keine Zweifel mehr, dass slahan für diese Verwüstung
verantwortlich war, denn wieder fand sich feiner sand im weiß
gefrorenen Gras. es war die Gefallene Göttin, die sie in Uos
Mund besiegt hatten. Und sie zog eine breite spur der Verwüstung
durch srorlendh. Die spur war leicht zu verfolgen,
und dennoch gab sie ihnen rätsel auf. sie lief nach nordosten,
schwenkte plötzlich nach westen und verlor sich in der wüste.
Dort verfolgten sie sie nicht weiter, glaubten sie doch, der
Zorn der Göttin habe sich wieder gelegt. Aber die spur kreuzte
später wieder ihren weg, lief abermals nach nordost, nur um
dann erneut nach westen abzubiegen. es war Curru, der das
rätsel schließlich löste: »es ist Fahs' Fluch. Die Göttin kann
kein offenes wasser überqueren, sie kann ja nicht einmal davon
trinken. Also ist jeder kleine Bach für sie ein unüberwindbares
Hindernis.«
Das war einleuchtend, aber auch beunruhigend, denn sie
kehrte immer wieder in das staubland zurück, wenn sie einen
Bachlauf umgangen hatte, und stets kamen der sturm, die Zerstörung
und der Tod mit ihr. Auf Umwegen führte ihr weg
sie so immer weiter nach norden. keiner von ihnen sprach es
aus, aber jeder fürchtete, dass slahan in ihrem rachefeldzug
auch das Lager ihres eigenen klans überfallen könnte. Von
diesem Augenblick an war aus ihrem ritt eine grimmige, aber
hoffnungslose Jagd geworden. Die Göttin war ihnen fast zwei
wochen voraus. Und sosehr sie ihre Pferde auch antrieben, sie
wussten, sie konnten den sturm nicht einholen. sie ließen alle
Vorsicht außer Acht und folgten der Göttin mitten durch Horkets
weideland, obwohl sie hier das schlimmste befürchten
mussten. Heredhan Horket hatte ganz sicher nicht vergessen,
dass eri seinen Vetter getötet hatte.
»es ist nicht gesagt, dass sie unser Lager findet. es liegt
geschützt«, meinte Curru jetzt.
Merege schüttelte den kopf. »ich weiß nicht, warum dieser
knabe überhaupt vom Pferd gestiegen ist. seht ihr nicht,
dass sich das Land verfärbt hat, so weit das Auge reicht? selbst
der reine nordwind, der hier das Gras unablässig mit weißem
Atem überzieht, kann den sand nicht tilgen. slahan ist hier
durchgekommen, mit aller Macht, über die sie noch gebietet,
und wenn es stimmt, dass euer Lager hier in der nähe liegt,
bräuchte es weit mehr als einfaches Glück, um dem Hass der
Göttin zu entgehen.«
»Achte auf deine worte, Hexe. Tengwil könnte dich hören«,
zischte Curru wütend.
»es ist doch schon Tage her, dass sie hier durchkam«, nahm
Awin das Mädchen in schutz.
»ich sehe hier keine Toten, weit und breit nicht«, sagte eri.
»ein schlechtes Zeichen«, entgegnete Merege trocken.
Awin wollte dazu nichts sagen. Die Leichen, auf die sie
immer wieder stießen, waren das schlimmste. Zunächst hatte
Awin sich eingeredet, es handele sich um Tote, die der sturm
irgendwie aus der erde gewühlt hatte, aber bald war klar, dass
der furchtbare Anblick der toten körper daher rührte, dass slahan
sie ausgesaugt und nicht viel mehr als eine vertrocknete
Hülle übrig gelassen hatte.
»immer hat sie Durst«, warf Curru jetzt ein. »ich kann ihn
fühlen, ebenso ihren Hass, den diese Hexe und mein ehemaliger
schüler geweckt haben.«
Auch auf diese Bemerkung ging Awin nicht ein. er war in
Gedanken bei seiner schwester Gunwa und bei all den anderen
Menschen, die sie zurückgelassen hatten, als sie ausgezogen
waren, den Dieb des Lichtsteins und Mörder elwahs zu jagen.
Fünfunddreißig Mal hatte er seitdem die sonne aufgehen sehen,
doch in der welt außerhalb von Uos Mund war ein halbes
Jahr vergangen. Der winter hatte das Land fest im Griff,
der winter und slahan, die Gefallene Göttin. »ich glaube, die
Pferde können weiter«, sagte er knapp.
»Dann lasst uns eilen. noch vor Anbruch der nacht können
wir dort sein«, meinte eri und sprang in den sattel. Dann gab
er seinem Tier die Fersen und jagte davon. sie folgten ihm,
und Awin trieb seinen Braunen zur eile. Das Tier hatte ihm
gute Dienste geleistet. Von Uos Mund bis zum rotsee hatten
sie laufen müssen, ein gefährlicher weg. eigentlich hätten sie
diesen Marsch kaum überleben dürfen, denn der Glutrücken
kannte keinen winter - doch slahan war fort, und es schien,
als habe der kalte nordwind die Gelegenheit genutzt und die
verlassene wüste erobert. Das hatte ihnen letztlich das Leben
gerettet. Die Pferde waren ihnen dann am rotwasser zugelau-
fen, das heißt, eigentlich war es Merege gewesen, die abends
hinter den Felsen verschwunden und am Morgen mit dem
Braunen und drei weiteren Pferden wiedergekehrt war. Curru
war deswegen immer noch beleidigt. er war ein Hakul, im sattel
geboren, wie er zu sagen pflegte - und da kam diese kariwa
vom rand der welt und verstand sich besser auf Pferde als sie
alle zusammen. natürlich beschuldigte er sie wieder der Hexerei,
aber seine Abneigung gegen Merege war doch nicht groß
genug, um das mitgebrachte Tier, einen stark gebauten schimmel,
abzulehnen.
Das Land wurde schon hügeliger, und in nicht allzu großer
Ferne ragten die schwarzen Berge aus der ebene auf. Awin sah
Curru die wachsende Unruhe an. sie würden bald das Lager
erreichen. egwa war dort, Currus Frau und Awins Ziehmutter.
Und Gunwa würde vermutlich bei ihr sein. sie würde am
Feuer sitzen und sehr staunen, denn sie musste glauben, dass
ihr Bruder tot war wie all die anderen aus Aryaks sger, die in
der schlacht am Glutrücken gefallen waren.
Die Dämmerung tauchte die weiße ebene bereits in ungewisses
Zwielicht, als eri, der ihnen stets ein gutes stück vorausritt,
sein Pferd mit einem scharfen reißen am Zügel anhielt. Das
wintertal, so nannten sie jene senke zwischen sanften Hängen,
in der sie seit Menschengedenken ihr Lager in den kalten
Monden aufzuschlagen pflegten. es war nur ein Tal unter
vielen hier, unweit der schwarzen Berge, und nicht leicht zu
finden. ein Fremder würde auf das Lager nur stoßen, wenn er
den rauch der Feuer sah. Und in gefährlichen Zeiten konnten
die Hakul selbst im winter auf Feuer verzichten. Genau
deswegen hielt Awin schon die ganze Zeit Ausschau nach den
schlanken rauchfahnen, die über dem Lager stehen mussten.
es wäre ein Zeichen dafür gewesen, dass das Lager sich in
sicherheit wiegte. Aber die Luft war rein und klar, und nirgendwo
trübte ein grauer schleier die grausame schönheit des
Abendrots. Awin sank der Mut. Alles in der Haltung des jungen
kriegers oben auf dem kamm sagte ihm, dass ihre Befürchtungen
wahr geworden waren. es war, als sei eri im sattel förmlich
erstarrt. Curru stieß einen heiseren ruf aus und trieb sein
Pferd zur eile. Awin folgte ihm und verlangte einen letzten
Galopp von seinem Braunen. noch vor der kuppe zügelte er
das Tier. immer langsamer näherte er sich dem Unausweichlichen.
schließlich hielt er neben den anderen und blickte hinab.
es war das Lager des klans, auch wenn er sich wünschte, dass
es nicht so wäre. slahan war hier gewesen, und sie hatte nicht
viel übrig gelassen. Dort lag ein eingestürztes Zelt, daneben
tote Ziegen. raureif bedeckte die verbogenen Zeltstangen und
die zerrissenen Lederbahnen, die träge im wind flatterten.
Awin entdeckte drei menschliche körper, die dicht beieinander
auf der weißen erde lagen. sein Herz setzte einen schlag aus.
neben ihm stöhnte Curru auf.
»es gibt ein Grab«, sagte Merege und deutete auf einen flachen
Hügel. Aus irgendeinem Grund schien sie das wichtig zu
finden. Awin blickte sie verständnislos an, und sie erklärte es
ihm: »Jemand muss diese Gräber ausgehoben haben.«
»Überlebende!«, rief Awin.
sie trieben die Pferde eilig den Hügel hinunter. Curru stieg
ab und sah sich die drei Leichen an. »es sind keine unserer
Männer, jedoch Hakul«, sagte er nachdenklich.
»sie wurden nicht begraben«, wunderte sich Awin.
»Dort drüben liegt noch einer. Vielleicht Plünderer«, rief
eri, der sein Pferd durch das Lager hetzte.
»ich glaube nicht, dass hier noch etwas von wert ist«, sagte
Curru düster.
»seht nur, hier unter den Häuten liegt ein wagen, doch
man hat ihn zerschlagen«, rief Awin überrascht. er hatte sich
das zusammengefallene Zelt angesehen und erleichtert festgestellt,
dass es nicht das seiner Zieheltern war, also auch nicht
das, in dessen Überresten er seine schwester vermuten musste.
Aber es gab noch ein Grab. er versuchte, ruhig zu bleiben, und
sandte ein stoßgebet an die schicksalsweberin.
»Und sie haben das Holz nicht mitgenommen«, murmelte
Curru, der hinzugetreten war.
»Vielleicht galt es, wichtigeres mitzunehmen«, meinte Merege.
»wichtiger als Holz?«, fragte Curru mit bitterem Lachen.
»Man merkt, dass du vom Leben im staubland wenig weißt,
kariwa.«
Auch Awin fand das seltsam, noch seltsamer als die Tatsache,
dass man ein Zelt zurückgelassen hatte. Holz war sehr kostbar
in diesem Teil der steppe.
»sei es, wie es sei«, rief eri ungeduldig. »wenigstens werden
wir in der nacht ein gutes Feuer haben, aber jetzt brauchen
wir Fackeln.« er war vom Pferd gesprungen, drängte sich
nun an Curru vorbei und zog einen schmalen Pflock unter dem
Leder hervor.
Awin legte ihm eine Hand auf den Arm. im wind war ein
neuer Geruch. seine nackenhaare richteten sich auf. Das bedeutete
Gefahr. »warte«, flüsterte er.
»worauf? Dass es noch dunkler wird?«
ein leises sirren durchschnitt die Luft. Awin ahnte das Geschoss
mehr, als dass er es sah. er stieß eri, ohne nachzudenken,
zur seite und spürte, wie etwas seinen ledernen Überwurf
traf. es war ein Hakul-Pfeil. eine Handbreit weiter rechts hätte
er sein Herz durchbohrt, so aber fuhr er unter seiner Achsel
hindurch, ohne ihm ein Haar zu krümmen.
»Deckung!«, zischte Curru und kauerte schon hinter dem
Zelt. ein zweiter Pfeil sirrte durch die Luft. Awin warf sich auf
den Boden.
»Gebt es ihnen! Verschont keinen!«, rief eine raue stimme.
Awin rollte sich zur seite und kroch eilig in den schatten des
Zeltes. Der schutz der Dunkelheit war beinahe alles, was sie zu
ihrer Verteidigung hatten. ihre Bogen hatten sie am Glutrücken
eingebüßt. wenn der Feind das bemerkte, waren sie verloren.
Zwei Pfeile trafen genau da, wo Awin eben noch gelegen
hatte, den gefrorenen Boden, prallten ab und glitten davon.
»Vorsicht, einer will zu den Pferden!«, rief die stimme.
»Tuge? Tuge der Bogner, bist du das?«, rief Curru hinüber.
»wer will das wissen?«, fragte die stimme, die Awin jetzt
auch eindeutig als die von Tuge erkannte.
»ich bin es, Curru, mit Yaman eri. Um kalmons willen, hört
auf zu schießen.«
»Curru? Der ist lange tot«, lautete die Antwort, mit einem
Pfeil übersandt, der sich dicht neben dem alten seher in das Zelt bohrte.
»Tuge, du störrischer esel, erkennst du die stimme eines
Freundes nicht, wenn du sie hörst?«, rief Curru hinüber.
»er ist es wirklich, onkel«, rief eine helle stimme.
»wela?«, fragte Awin. »wela, Tuwins Tochter? ich bin es, Awin!«
»Bei den Hütern, es ist ein wunder, ein großes wunder.
Hört auf zu schießen, hört auf! sie sind es wahrhaftig«, rief Tuge.
neben wela war noch ein Junge mit Tuge gekommen. er hieß
kolyn, und Awin erinnerte sich, dass er vor ihrem Aufbruch
noch ein kind gewesen war, ein Ziegenhirte, von dem niemand
verlangt hätte, in den krieg zu ziehen. Jetzt baumelte
ein sichelschwert an seinem waffengurt, und er führte einen
Bogen, für den er eigentlich noch zu klein war. Awins erste
Frage galt seiner schwester, und auch eri und Curru bestürmten
den Bogner mit Fragen nach ihren Familien, doch Tuge
wehrte bekümmert ab und sagte: »ich habe schlechte nachrichten
für euch, und ich weiß nicht, ob ich die richtigen worte
finde, um zu beschreiben, was geschehen ist, doch denke ich,
dass es besser ist, der reihe nach zu berichten, denn sonst werdet
ihr vielleicht nicht verstehen, was ich euch über die euren zu sagen habe.«
nach dieser umständlichen einleitung schilderte Tuge, wie
der sturm über die Hügel herangekommen war, und in seinem
schutz slahan, die Menschendiebin. »sie kam nicht allein.
nyet ging ihr voraus und rüttelte an unseren Zelten, seweti
war dort und verspottete uns mit ihrem Flüstern, und als es
vorüber war, blieb Dauwe zurück mit seinem lastenden schweigen
und labte sich an unserem elend. Aber am seltsamsten war,
dass auch Menschen bei ihr waren. seht ihr jene drei dort? solche
hat sie viele, sklaven, und ihre Augen sind aus sand. ich
bin nicht sicher, ob es noch Menschen sind, doch kann man
sie töten, so wie ich diese drei tötete. Deine Mutter Gregil hat
ebenfalls einen erschlagen, eri, einen krieger, der über ihre
schwelle wollte, und so blieb auch ihr Zelt verschont, und alle,
die darinnen waren. Doch viele hatten weniger Glück. Viele
hat slahan getötet, und die liegen dort, unter jenem Grabhügel,
und ich muss dir leider sagen, Curru, mein Freund, dass deine
Frau egwa unter ihnen ist.«
Curru verfärbte sich, aber er sagte keinen Ton. Awin
schluckte und unterdrückte die Tränen, die ihm in die Augen
steigen wollten. Die strenge und immer etwas raue egwa hatte
ihn und seine schwester an kindes statt angenommen und
großgezogen. »Auch Meryak liegt dort, der bei den Herden
von slahan überrascht wurde, nicht aber Malde, der bei ihm
war. Und auch von meinem sohn karak fehlt jede spur. ich
fürchte, ihnen ist schlimmeres widerfahren als der Tod. Außer
uns dreien sind nur Gregil, die alte Telia, eine Handvoll kinder
und der junge Mabak, der gar nicht im Lager war, dem
Verhängnis entkommen. wirklich, Tengwil hat ein furchtbares
schicksal für uns gewoben.« Und dann zählte er die namen
derer auf, die bei dem Angriff gestorben waren. es waren viele.
»Und Gunwa, meine schwester?«, rief Awin, der die Ungewissheit
nicht länger ertrug.
»Auch sie ist verschwunden, wie viele andere unseres klans.
slahan hat sie mitgenommen, zu welchen düsteren Zwecken
auch immer.«
ein Abgrund öffnete sich vor Awin. seine schwester war von
Xlifara slahan verschleppt worden?
»sie wird sie zu sklaven machen, wie die, die ihr getötet
habt«, warf Merege kühl ein, »oder sie wird auch mit ihrem
Blut ihren Durst stillen.«
eine tiefe stille folgte dieser Bemerkung. schließlich sagte
Curru böse: »was weißt du schon, Hexe?«
»ich glaube, alter Freund, dieses Mädchen hat recht«, sagte
Tuge nach einer längeren Pause.
»wenn sie gefangen sind, dann können wir sie auch befreien«,
sagte Awin mit einer entschlossenheit, die ihn selbst überraschte.
»Befreien? Aus den klauen einer Göttin? Aber wir sind nur
schwache Menschen«, wandte der Bogner ein.
»wir haben den Heolin. wir können sie besiegen«, entgegnete
Awin grimmig. »schon einmal haben wir das geschafft.«
»ihr habt ihn wieder?«, rief Tuge mit großen Augen.
»wir wären nicht ohne ihn zurückgekehrt, Bogner«, antwortete eri stolz.
Curru richtete sich auf. er war immer noch leichenblass. »Ja,
1. Auflage
originalausgabe August 2010 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe random House GmbH, München
Copyright © 2010 by Torsten Fink
Umschlaggestaltung: HildenDesign München
Lektorat: simone Heller
Hk • Herstellung: sam
satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
Druck und einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
isBn: 978-3-442-26692-0
www.blanvalet.de
»eine woche, vielleicht zwei«, erklärte Tuge. »es kommt
darauf an, wie er sich mit der sehne macht.« Der knabe
erlebte gerade seinen elften winter. es zeigte, wie verzweifelt
sie waren, dass sie kolyn schon zum Jungkrieger beriefen und
ihm einen Bogen anvertrauten, der eigentlich zu groß für ihn
war. Tuge fuhr noch einmal mit der Hand über das glatte Horn.
Tauru hätte der Bogen sicher gefallen.
Das Zelt erzitterte unter einem windstoß. seit Tagen plagte
sie ein eiskalter, namenloser nordwind. noch ein Grund,
warum sich kolyn lieber im warmen Zelt als draußen bei den
Herden aufhielt. sein Vater Meryak hatte nichts dagegen. Die
Herden waren klein geworden, denn der Heredhan hatte ihnen
die meisten Tiere genommen. Tuges Miene verdüsterte sich, als
er daran dachte, mit welcher selbstherrlichkeit Heredhan Horket
in ihr Lager geritten war, geschützt von Dutzenden kriegern,
um eine sühne einzufordern, die ihm der klan angeblich
schuldete. es war gut, dass Yaman Aryak das nicht mehr erleben
musste. was hatte Horket ihnen gelassen? Zwei Dutzend
Pferde und ebenso viele schafe, eine Handvoll Trampeltiere
und die Ziegen. es reichte gerade zum Überleben - vielleicht.
Der winter konnte noch lang werden, und irgendwann würden
die wölfe kommen. Dann konnten sie einen weiteren
Bogen gut gebrauchen, auch wenn er in der Hand eines kindes
lag. Die doppelte Lederhaut vor dem eingang wurde zurückgeschlagen,
und eine junge Frau steckte ihren kopf herein.
»onkel Tuge, komm, sieh dir das an!«, forderte sie.
Tuge runzelte die stirn. Die Arbeit an einem Bogen war
etwas Heiliges, er schätzte störungen dieser Art nicht besonders.
»was gibt es denn, wela, Tuwins Tochter, dass du mich
von meiner Arbeit fort in diese böse kälte hinauslocken
willst?«, brummte er.
»sieh es dir an. ich glaube, es gibt bald einen sandsturm.«
»Du musst dich irren, nichte. es ist tiefster winter, und wir
sind weit von der slahan entfernt. ich glaube, selbst der wütende
nyet würde sich nicht so weit hinaus in die steppe wagen.«
»Dann komm und sieh!«, forderte wela.
Missmutig erhob sich der Bogner und trat vor das Zelt.
seine nichte würde ohnehin keine ruhe geben. es war still.
Der nordwind schien sich gelegt zu haben. Tuge blickte in die
richtung, in die wela wies. Tatsächlich, der Horizont zeigte
sich gelb verfärbt, das untrügliche Zeichen für einen sandsturm.
Dennoch, es war unmöglich. Tuge sah sich um. Die
Handvoll rundzelte, die ihr klan bewohnte, war halb eingegraben,
weit über den südhang eines Hügels verteilt. kein
Mensch war draußen. nur die Ziegen drängten sich unruhig
aneinander. sie schienen den kommenden sturm zu wittern.
in der Ferne wieherte ein Pferd. Meryak war mit Malde und
den rössern in einem kleinen Tal, das schutz vor dem eisigen
nordwind bot. Doch dieser schien jetzt eingeschlafen zu sein.
es war nahezu windstill. ein weiterer Vorbote dieses seltsamen
sturms, der sich in der Ferne abzeichnete.
»was machst du überhaupt hier draußen, wela?«, fragte Tuge.
»Die Luft in den Zelten hat mir kopfschmerzen verursacht,
onkel, die Luft, und das Geschwätz der Frauen. Aber es wird
auch hier draußen nicht besser.«
»skefer«, sagte der junge kolyn mit kennermiene.
Tuge warf ihm einen halb belustigten Blick zu. »soso, junger
Freund, dann verrate mir doch, was skefer so weit von seiner
Heimat entfernt will.«
»er geht dem sturm voraus«, behauptete der knabe kühn.
wela grinste. »Du kennst die winde der slahan gut, kolyn«,
lobte sie ihn.
»Ja, und jetzt ist es auf einmal Dauwe, der mit seinem
schweigen nyet ankündigt.«
»Dauwe erscheint nie im winter«, belehrte ihn Tuge.
er spürte einen stich im Bein, eine alte wunde, die ihn bei
wetterwechseln oft plagte. Die gelbe wand war in die Höhe
gewachsen und schon beträchtlich näher gerückt. »Vielleicht
ist es wirklich nyet«, sagte er mit einem Achselzucken, »und
vielleicht vertreibt er diesen elenden Frost. Dann soll mir sein
Zorn willkommen sein.«
»soll ich Malde und Meryak warnen?«, fragte wela.
»sie werden es schon selbst bemerken. Außerdem glaube
ich nicht, dass du sie noch vor dem sturm erreichen würdest.«
Tuge legte die stirn in besorgte Falten. Dieser sturm kam sehr
schnell näher, selbst für nyets Verhältnisse. eine leichte, milde
Brise wehte plötzlich um die Halteseile seines Zeltes, und der
Bogner vermeinte, ein leises Flüstern im wind zu vernehmen.
Auch wela hatte es gehört. »seweti?«, fragte sie erstaunt.
Tuge schüttelte den kopf. »Die Tänzerin verspottet jene,
die nyet in offener wüste begegnen und sich hinterher fluchend
aus dem sand ausgraben. niemals geht sie einem sturm
voraus«, sagte er langsam.
»Holla, Tuge, was geht da vor?«, rief eine stimme. es war
Gregil, Yaman Aryaks witwe, die vor ihr Zelt getreten war und
den Himmel musterte.
Tuge zögerte mit einer Antwort. Der sturm raste heran.
in wenigen Augenblicken würde er über ihren Zelten zusammenschlagen.
es war Zeit, hineinzugehen und den eingang zu
verschließen. Dann konnte man nur noch einen sud aufsetzen,
dem wind lauschen und warten. Die winterzelte der Hakul
waren ein gutes stück in die erde eingegraben und konnten
selbst einem sehr wütenden nyet trotzen. Aber Tuge zögerte.
Das Flüstern im wind war jetzt nicht mehr zu überhören. es
erinnerte ihn an die Geschichten der Alten. An erzählungen
aus der fernen Zeit, bevor etys mit dem Lichtstein die Gefal-
lene Göttin gebannt hatte, als Xlifara slahan, die Verfluchte,
in Gestalt eines sturmes die Zelte der Hakul heimgesucht und
Menschen verschleppt hatte, um mit ihrem Blut ihren ewigen
Durst zu stillen. Und zuvor hatte seweti die Tänzerin zu
jener Zeit die Hakul verhöhnt, ihnen mit ihrem Flüstern Angst
gemacht. Tuge erbleichte.
Der Lichtstein war geraubt worden, er schützte sie gar nicht
mehr vor der rachsüchtigen Göttin. Die ersten windböen
drängten ins Zelt und ließen die ledernen Häute knarren. ein
süßlicher Geruch stieg dem Bogner in die nase. er formte die
Hände zu einem Trichter, um den wind zu übertönen, und rief
Gregil zu: »ins Zelt, ins Zelt, es ist Xlifara! slahan kommt, um
unser Blut zu holen!« er war sich nicht sicher, ob die Yamani
ihn verstanden hatte. wela starrte ihn ungläubig an, dann verstand
sie und rief: »schnell, wir müssen die anderen ...«
Tuge packte sie am kragen und hielt sie fest. »Bleib. es ist
zu spät. Die Göttin ist hier.« Und mit diesen worten zog er die
widerstrebende wela und den jungen kolyn hastig in sein Zelt.
»Aber, onkel ...«, begann wela.
Tuge beachtete sie nicht, er zog die Verschlüsse des eingangs
fest. Der süßliche Geruch drang dennoch herein. es roch
nach Tod und Verwesung. er sah sich um und versuchte, sich an
die alten Geschichten zu erinnern. es gab etwas, das die Alten
gepredigt hatten: schutz, einen weg, die Gefallene Göttin am
Betreten eines Zeltes zu hindern. Das rundzelt wankte unter
einem heftigen schlag. Der sturm war da. stimmen waren im
wind, ein stöhnen und wimmern, das dem Bogner durch
Mark und Bein ging. kolyn sah ihn ängstlich an.
»Den Trog, vor den eingang, schnell!«, rief Tuge und lief
selbst schon zu dem schweren Bottich, in dem er sonst den
Bogenleim anzurühren pflegte. wela packte mit an. »Den
eimer, Junge, den wassereimer, aber lass ihn nicht fallen!«,
herrschte Tuge den verstörten kolyn an. Dieser nickte verwirrt
und schleppte stolpernd den wassereimer heran. Tuge goss das
wasser in den Trog. würde das wirklich ausreichen? er sandte
ein stoßgebet an Tengwil, die schicksalsweberin, sie möge
auf ihre Fäden achten. es wurde dunkel, und das kleine Feuer
schien zu schrumpfen, als sich die Finsternis des sandsturms auf
das Zelt legte. Das stöhnen draußen wuchs zu einem Brüllen
an, und wieder wankte das Zelt unter dem wütenden nyet. Die
werkzeuge und Gerätschaften, die der Bogner an die innere
Zeltwand gehängt hatte, klapperten unruhig. Besorgt musterte
Tuge die stangen. Bis jetzt hatte sein Zelt jedem sturm
standgehalten, doch nun rüttelte eine Göttin an seinen Pfosten.
Hakul-Zelte waren geweiht, ein alter Brauch aus jener dunklen
Zeit, als Xlifara noch oft über das staubland gekommen war.
Der Bogner fragte sich, ob die alten Zauber noch wirkten. Das
Brüllen nyets vermischte sich mit einem alles durchdringenden
Heulen und stöhnen, das wenig irdisches an sich hatte.
Tuge sah, dass kolyn mit den Tränen kämpfte.
»sie kann nicht herein«, versuchte er ihn zu beruhigen.
Der Junge nickte tapfer. ein reißendes Geräusch erklang vom
eingang. Dort machte sich jemand an den Häuten zu schaffen.
war das nur der wind? sechs Augen schauten gebannt auf
die doppelte Lederhaut. Plötzlich stieß die spitze eines Dolchs
hindurch. noch einmal. Und dann schnitt die klinge, sorgsam
geführt, die Verschlussleinen auf. wer immer dort draußen mit
dem sturm gekommen war, er kannte die Art, wie die Hakul
ihre Zelte bauten. Die Lederhäute wurden zurückgeschlagen.
sand und staub wirbelten herein, und mittendrin zeichnete
sich der Umriss eines Mannes ab. wela schrie auf. es war ein
Hakul, die Tracht war unverkennbar, aber in dem Flackern, das
ihr schwaches Feuer über sein Gesicht huschen ließ, stachen
zwei Augen hervor, die nichts Menschliches an sich hatten. sie
waren vollkommen gelb. Der Fremde hielt den Dolch in der
Hand und hob den Fuß, um das Zelt zu betreten. Hinter ihm
war ein zweiter Umriss zu erahnen. Der Mann mit den gelben
Augen zögerte, als er den Bottich bemerkte. er zischte, und
sand rann aus seinem Mund.
Plötzlich durchschnitt ein helles, kurzes sausen das Heulen
des sturms, und ein gefiederter Pfeil durchbohrte dem eindringling
die Brust. er stolperte zurück und sackte noch auf der
schwelle zusammen. Der schatten hinter ihm stieg über den
Gefallenen. Auch er trug die kleidung eines Hakul, und auch
ihm waren diese furchtbaren gelben Augen zu eigen. er verharrte
am eingang, starrte auf den Trog und wurde von einem
zweiten Pfeil zurückgeworfen. Tuge ließ den Bogen sinken. er
spürte, dass ihm der kalte schweiß ausgebrochen war. sand
wirbelte durch den zerschnittenen eingang hinein.
»was war das, Meister Tuge?«, fragte kolyn zitternd.
Der Bogner antwortete nicht, sondern legte einen weiteren
Pfeil auf die sehne. er lauschte auf den sturm und die grausamen
stimmen, die den wind begleiteten. Das Zelt ächzte unter
der wut nyets, die stangen knackten, und dann hörte Tuge,
wie eines der Halteseile riss. Xlifara slahan rüttelte an seinem
Zelt, und er vermeinte zu spüren, wie ihr uralter Hass auf alle
Menschen sich einen weg durch die nähte und Lederhäute
suchte, ja, er war sich sicher, dass sie erst von ihnen ablassen
würde, wenn sie alle tot waren.
Frostland
Der Atem Der Pferde bildete flüchtige wolken in der kalten
Luft. Awin schlug den sandschal zurück. sofort fuhr ihm
der eisige nordwind ins Gesicht. er zog die grob zugeschnittene
Lederhaut, die er über seinem Gewand trug, enger an sich,
ohne allzu viel Linderung zu erwarten. Die kälte war ihm in
die knochen gekrochen, und sie schien nicht die Absicht zu
haben, von dort so bald wieder zu weichen.
»ein seltsamer winter ist das. wenn wenigstens schnee liegen
würde«, sagte Merege.
Die kariwa hatte ein schaffell nachlässig über die schmalen
schultern gelegt, und es war offensichtlich, dass ihr der kalte
wind nichts ausmachte. Awin hingegen sehnte sich nach einem
Zelt und einem wärmenden Feuer. es war nicht mehr weit bis
zu den Hügeln, in denen der klan Jahr für Jahr sein winterlager
aufschlug. er zitterte. Viel schlimmer als die kälte war
jedoch die Angst, dass er auch dort das schreckensbild vorfinden
würde, das er nun schon dreimal gesehen hatte. Unruhig
sah er zu, wie eri durch das weiße Gras schritt, den Blick auf
den Boden geheftet. es war schon richtig, die Pferde brauchten
eine Pause, auch die reiter brauchten eine rast, aber er
wollte weiter. Aus dem Augenwinkel sah er hinüber zu Curru.
Der ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Pfeilwunde aus
der schlacht am Glutrücken immer noch plagte, aber wenn er
sich unbeobachtet fühlte, so wie jetzt, stahl sich ein Ausdruck
des schmerzes in sein Gesicht.
»sand«, sagte eri düster.
Awin biss sich auf die Lippen. es durfte nicht sein! Vor einer
woche waren sie auf das erste zerstörte Lager gestoßen. sie
hatten sich lange in wilden Vermutungen ergangen, wer für die
Zerstörung verantwortlich sein könnte, nur weil sie sich nicht
eingestehen wollten, was sie im Grunde ihrer Herzen wussten.
sie hatten sich eingeredet, es könnte ein Zufall sein - ein anderer
Feind musste dieses Lager zerstört haben, und nur zufällig
war die von ihnen in die Flucht geschlagene slahan darübergezogen.
so hatten sie sich den allgegenwärtigen sand erklärt.
in feinen schleiern lag er überall, wo ihn der eisige nordwind
nicht hatte aufnehmen und forttragen können.
es war ein erschreckender Anblick gewesen, selbst für die
krieger der Hakul: die toten Pferde und schafe, von Geiern
und anderen Aasfressern nur halb abgenagt, weil die tödliche
ernte so reich war, die zahlreichen, hastig in die gefrorene erde
gekratzten Gräber, die zusammengefallenen Zelte und diese
bedrückende stille, die über der Zerstörung lastete. selbst die
Aasfresser waren weitergezogen, und sie erfuhren bald, warum:
Zwei Tage später fanden sie das zweite zerstörte klanlager. Ab
da gab es keine Zweifel mehr, dass slahan für diese Verwüstung
verantwortlich war, denn wieder fand sich feiner sand im weiß
gefrorenen Gras. es war die Gefallene Göttin, die sie in Uos
Mund besiegt hatten. Und sie zog eine breite spur der Verwüstung
durch srorlendh. Die spur war leicht zu verfolgen,
und dennoch gab sie ihnen rätsel auf. sie lief nach nordosten,
schwenkte plötzlich nach westen und verlor sich in der wüste.
Dort verfolgten sie sie nicht weiter, glaubten sie doch, der
Zorn der Göttin habe sich wieder gelegt. Aber die spur kreuzte
später wieder ihren weg, lief abermals nach nordost, nur um
dann erneut nach westen abzubiegen. es war Curru, der das
rätsel schließlich löste: »es ist Fahs' Fluch. Die Göttin kann
kein offenes wasser überqueren, sie kann ja nicht einmal davon
trinken. Also ist jeder kleine Bach für sie ein unüberwindbares
Hindernis.«
Das war einleuchtend, aber auch beunruhigend, denn sie
kehrte immer wieder in das staubland zurück, wenn sie einen
Bachlauf umgangen hatte, und stets kamen der sturm, die Zerstörung
und der Tod mit ihr. Auf Umwegen führte ihr weg
sie so immer weiter nach norden. keiner von ihnen sprach es
aus, aber jeder fürchtete, dass slahan in ihrem rachefeldzug
auch das Lager ihres eigenen klans überfallen könnte. Von
diesem Augenblick an war aus ihrem ritt eine grimmige, aber
hoffnungslose Jagd geworden. Die Göttin war ihnen fast zwei
wochen voraus. Und sosehr sie ihre Pferde auch antrieben, sie
wussten, sie konnten den sturm nicht einholen. sie ließen alle
Vorsicht außer Acht und folgten der Göttin mitten durch Horkets
weideland, obwohl sie hier das schlimmste befürchten
mussten. Heredhan Horket hatte ganz sicher nicht vergessen,
dass eri seinen Vetter getötet hatte.
»es ist nicht gesagt, dass sie unser Lager findet. es liegt
geschützt«, meinte Curru jetzt.
Merege schüttelte den kopf. »ich weiß nicht, warum dieser
knabe überhaupt vom Pferd gestiegen ist. seht ihr nicht,
dass sich das Land verfärbt hat, so weit das Auge reicht? selbst
der reine nordwind, der hier das Gras unablässig mit weißem
Atem überzieht, kann den sand nicht tilgen. slahan ist hier
durchgekommen, mit aller Macht, über die sie noch gebietet,
und wenn es stimmt, dass euer Lager hier in der nähe liegt,
bräuchte es weit mehr als einfaches Glück, um dem Hass der
Göttin zu entgehen.«
»Achte auf deine worte, Hexe. Tengwil könnte dich hören«,
zischte Curru wütend.
»es ist doch schon Tage her, dass sie hier durchkam«, nahm
Awin das Mädchen in schutz.
»ich sehe hier keine Toten, weit und breit nicht«, sagte eri.
»ein schlechtes Zeichen«, entgegnete Merege trocken.
Awin wollte dazu nichts sagen. Die Leichen, auf die sie
immer wieder stießen, waren das schlimmste. Zunächst hatte
Awin sich eingeredet, es handele sich um Tote, die der sturm
irgendwie aus der erde gewühlt hatte, aber bald war klar, dass
der furchtbare Anblick der toten körper daher rührte, dass slahan
sie ausgesaugt und nicht viel mehr als eine vertrocknete
Hülle übrig gelassen hatte.
»immer hat sie Durst«, warf Curru jetzt ein. »ich kann ihn
fühlen, ebenso ihren Hass, den diese Hexe und mein ehemaliger
schüler geweckt haben.«
Auch auf diese Bemerkung ging Awin nicht ein. er war in
Gedanken bei seiner schwester Gunwa und bei all den anderen
Menschen, die sie zurückgelassen hatten, als sie ausgezogen
waren, den Dieb des Lichtsteins und Mörder elwahs zu jagen.
Fünfunddreißig Mal hatte er seitdem die sonne aufgehen sehen,
doch in der welt außerhalb von Uos Mund war ein halbes
Jahr vergangen. Der winter hatte das Land fest im Griff,
der winter und slahan, die Gefallene Göttin. »ich glaube, die
Pferde können weiter«, sagte er knapp.
»Dann lasst uns eilen. noch vor Anbruch der nacht können
wir dort sein«, meinte eri und sprang in den sattel. Dann gab
er seinem Tier die Fersen und jagte davon. sie folgten ihm,
und Awin trieb seinen Braunen zur eile. Das Tier hatte ihm
gute Dienste geleistet. Von Uos Mund bis zum rotsee hatten
sie laufen müssen, ein gefährlicher weg. eigentlich hätten sie
diesen Marsch kaum überleben dürfen, denn der Glutrücken
kannte keinen winter - doch slahan war fort, und es schien,
als habe der kalte nordwind die Gelegenheit genutzt und die
verlassene wüste erobert. Das hatte ihnen letztlich das Leben
gerettet. Die Pferde waren ihnen dann am rotwasser zugelau-
fen, das heißt, eigentlich war es Merege gewesen, die abends
hinter den Felsen verschwunden und am Morgen mit dem
Braunen und drei weiteren Pferden wiedergekehrt war. Curru
war deswegen immer noch beleidigt. er war ein Hakul, im sattel
geboren, wie er zu sagen pflegte - und da kam diese kariwa
vom rand der welt und verstand sich besser auf Pferde als sie
alle zusammen. natürlich beschuldigte er sie wieder der Hexerei,
aber seine Abneigung gegen Merege war doch nicht groß
genug, um das mitgebrachte Tier, einen stark gebauten schimmel,
abzulehnen.
Das Land wurde schon hügeliger, und in nicht allzu großer
Ferne ragten die schwarzen Berge aus der ebene auf. Awin sah
Curru die wachsende Unruhe an. sie würden bald das Lager
erreichen. egwa war dort, Currus Frau und Awins Ziehmutter.
Und Gunwa würde vermutlich bei ihr sein. sie würde am
Feuer sitzen und sehr staunen, denn sie musste glauben, dass
ihr Bruder tot war wie all die anderen aus Aryaks sger, die in
der schlacht am Glutrücken gefallen waren.
Die Dämmerung tauchte die weiße ebene bereits in ungewisses
Zwielicht, als eri, der ihnen stets ein gutes stück vorausritt,
sein Pferd mit einem scharfen reißen am Zügel anhielt. Das
wintertal, so nannten sie jene senke zwischen sanften Hängen,
in der sie seit Menschengedenken ihr Lager in den kalten
Monden aufzuschlagen pflegten. es war nur ein Tal unter
vielen hier, unweit der schwarzen Berge, und nicht leicht zu
finden. ein Fremder würde auf das Lager nur stoßen, wenn er
den rauch der Feuer sah. Und in gefährlichen Zeiten konnten
die Hakul selbst im winter auf Feuer verzichten. Genau
deswegen hielt Awin schon die ganze Zeit Ausschau nach den
schlanken rauchfahnen, die über dem Lager stehen mussten.
es wäre ein Zeichen dafür gewesen, dass das Lager sich in
sicherheit wiegte. Aber die Luft war rein und klar, und nirgendwo
trübte ein grauer schleier die grausame schönheit des
Abendrots. Awin sank der Mut. Alles in der Haltung des jungen
kriegers oben auf dem kamm sagte ihm, dass ihre Befürchtungen
wahr geworden waren. es war, als sei eri im sattel förmlich
erstarrt. Curru stieß einen heiseren ruf aus und trieb sein
Pferd zur eile. Awin folgte ihm und verlangte einen letzten
Galopp von seinem Braunen. noch vor der kuppe zügelte er
das Tier. immer langsamer näherte er sich dem Unausweichlichen.
schließlich hielt er neben den anderen und blickte hinab.
es war das Lager des klans, auch wenn er sich wünschte, dass
es nicht so wäre. slahan war hier gewesen, und sie hatte nicht
viel übrig gelassen. Dort lag ein eingestürztes Zelt, daneben
tote Ziegen. raureif bedeckte die verbogenen Zeltstangen und
die zerrissenen Lederbahnen, die träge im wind flatterten.
Awin entdeckte drei menschliche körper, die dicht beieinander
auf der weißen erde lagen. sein Herz setzte einen schlag aus.
neben ihm stöhnte Curru auf.
»es gibt ein Grab«, sagte Merege und deutete auf einen flachen
Hügel. Aus irgendeinem Grund schien sie das wichtig zu
finden. Awin blickte sie verständnislos an, und sie erklärte es
ihm: »Jemand muss diese Gräber ausgehoben haben.«
»Überlebende!«, rief Awin.
sie trieben die Pferde eilig den Hügel hinunter. Curru stieg
ab und sah sich die drei Leichen an. »es sind keine unserer
Männer, jedoch Hakul«, sagte er nachdenklich.
»sie wurden nicht begraben«, wunderte sich Awin.
»Dort drüben liegt noch einer. Vielleicht Plünderer«, rief
eri, der sein Pferd durch das Lager hetzte.
»ich glaube nicht, dass hier noch etwas von wert ist«, sagte
Curru düster.
»seht nur, hier unter den Häuten liegt ein wagen, doch
man hat ihn zerschlagen«, rief Awin überrascht. er hatte sich
das zusammengefallene Zelt angesehen und erleichtert festgestellt,
dass es nicht das seiner Zieheltern war, also auch nicht
das, in dessen Überresten er seine schwester vermuten musste.
Aber es gab noch ein Grab. er versuchte, ruhig zu bleiben, und
sandte ein stoßgebet an die schicksalsweberin.
»Und sie haben das Holz nicht mitgenommen«, murmelte
Curru, der hinzugetreten war.
»Vielleicht galt es, wichtigeres mitzunehmen«, meinte Merege.
»wichtiger als Holz?«, fragte Curru mit bitterem Lachen.
»Man merkt, dass du vom Leben im staubland wenig weißt,
kariwa.«
Auch Awin fand das seltsam, noch seltsamer als die Tatsache,
dass man ein Zelt zurückgelassen hatte. Holz war sehr kostbar
in diesem Teil der steppe.
»sei es, wie es sei«, rief eri ungeduldig. »wenigstens werden
wir in der nacht ein gutes Feuer haben, aber jetzt brauchen
wir Fackeln.« er war vom Pferd gesprungen, drängte sich
nun an Curru vorbei und zog einen schmalen Pflock unter dem
Leder hervor.
Awin legte ihm eine Hand auf den Arm. im wind war ein
neuer Geruch. seine nackenhaare richteten sich auf. Das bedeutete
Gefahr. »warte«, flüsterte er.
»worauf? Dass es noch dunkler wird?«
ein leises sirren durchschnitt die Luft. Awin ahnte das Geschoss
mehr, als dass er es sah. er stieß eri, ohne nachzudenken,
zur seite und spürte, wie etwas seinen ledernen Überwurf
traf. es war ein Hakul-Pfeil. eine Handbreit weiter rechts hätte
er sein Herz durchbohrt, so aber fuhr er unter seiner Achsel
hindurch, ohne ihm ein Haar zu krümmen.
»Deckung!«, zischte Curru und kauerte schon hinter dem
Zelt. ein zweiter Pfeil sirrte durch die Luft. Awin warf sich auf
den Boden.
»Gebt es ihnen! Verschont keinen!«, rief eine raue stimme.
Awin rollte sich zur seite und kroch eilig in den schatten des
Zeltes. Der schutz der Dunkelheit war beinahe alles, was sie zu
ihrer Verteidigung hatten. ihre Bogen hatten sie am Glutrücken
eingebüßt. wenn der Feind das bemerkte, waren sie verloren.
Zwei Pfeile trafen genau da, wo Awin eben noch gelegen
hatte, den gefrorenen Boden, prallten ab und glitten davon.
»Vorsicht, einer will zu den Pferden!«, rief die stimme.
»Tuge? Tuge der Bogner, bist du das?«, rief Curru hinüber.
»wer will das wissen?«, fragte die stimme, die Awin jetzt
auch eindeutig als die von Tuge erkannte.
»ich bin es, Curru, mit Yaman eri. Um kalmons willen, hört
auf zu schießen.«
»Curru? Der ist lange tot«, lautete die Antwort, mit einem
Pfeil übersandt, der sich dicht neben dem alten seher in das Zelt bohrte.
»Tuge, du störrischer esel, erkennst du die stimme eines
Freundes nicht, wenn du sie hörst?«, rief Curru hinüber.
»er ist es wirklich, onkel«, rief eine helle stimme.
»wela?«, fragte Awin. »wela, Tuwins Tochter? ich bin es, Awin!«
»Bei den Hütern, es ist ein wunder, ein großes wunder.
Hört auf zu schießen, hört auf! sie sind es wahrhaftig«, rief Tuge.
neben wela war noch ein Junge mit Tuge gekommen. er hieß
kolyn, und Awin erinnerte sich, dass er vor ihrem Aufbruch
noch ein kind gewesen war, ein Ziegenhirte, von dem niemand
verlangt hätte, in den krieg zu ziehen. Jetzt baumelte
ein sichelschwert an seinem waffengurt, und er führte einen
Bogen, für den er eigentlich noch zu klein war. Awins erste
Frage galt seiner schwester, und auch eri und Curru bestürmten
den Bogner mit Fragen nach ihren Familien, doch Tuge
wehrte bekümmert ab und sagte: »ich habe schlechte nachrichten
für euch, und ich weiß nicht, ob ich die richtigen worte
finde, um zu beschreiben, was geschehen ist, doch denke ich,
dass es besser ist, der reihe nach zu berichten, denn sonst werdet
ihr vielleicht nicht verstehen, was ich euch über die euren zu sagen habe.«
nach dieser umständlichen einleitung schilderte Tuge, wie
der sturm über die Hügel herangekommen war, und in seinem
schutz slahan, die Menschendiebin. »sie kam nicht allein.
nyet ging ihr voraus und rüttelte an unseren Zelten, seweti
war dort und verspottete uns mit ihrem Flüstern, und als es
vorüber war, blieb Dauwe zurück mit seinem lastenden schweigen
und labte sich an unserem elend. Aber am seltsamsten war,
dass auch Menschen bei ihr waren. seht ihr jene drei dort? solche
hat sie viele, sklaven, und ihre Augen sind aus sand. ich
bin nicht sicher, ob es noch Menschen sind, doch kann man
sie töten, so wie ich diese drei tötete. Deine Mutter Gregil hat
ebenfalls einen erschlagen, eri, einen krieger, der über ihre
schwelle wollte, und so blieb auch ihr Zelt verschont, und alle,
die darinnen waren. Doch viele hatten weniger Glück. Viele
hat slahan getötet, und die liegen dort, unter jenem Grabhügel,
und ich muss dir leider sagen, Curru, mein Freund, dass deine
Frau egwa unter ihnen ist.«
Curru verfärbte sich, aber er sagte keinen Ton. Awin
schluckte und unterdrückte die Tränen, die ihm in die Augen
steigen wollten. Die strenge und immer etwas raue egwa hatte
ihn und seine schwester an kindes statt angenommen und
großgezogen. »Auch Meryak liegt dort, der bei den Herden
von slahan überrascht wurde, nicht aber Malde, der bei ihm
war. Und auch von meinem sohn karak fehlt jede spur. ich
fürchte, ihnen ist schlimmeres widerfahren als der Tod. Außer
uns dreien sind nur Gregil, die alte Telia, eine Handvoll kinder
und der junge Mabak, der gar nicht im Lager war, dem
Verhängnis entkommen. wirklich, Tengwil hat ein furchtbares
schicksal für uns gewoben.« Und dann zählte er die namen
derer auf, die bei dem Angriff gestorben waren. es waren viele.
»Und Gunwa, meine schwester?«, rief Awin, der die Ungewissheit
nicht länger ertrug.
»Auch sie ist verschwunden, wie viele andere unseres klans.
slahan hat sie mitgenommen, zu welchen düsteren Zwecken
auch immer.«
ein Abgrund öffnete sich vor Awin. seine schwester war von
Xlifara slahan verschleppt worden?
»sie wird sie zu sklaven machen, wie die, die ihr getötet
habt«, warf Merege kühl ein, »oder sie wird auch mit ihrem
Blut ihren Durst stillen.«
eine tiefe stille folgte dieser Bemerkung. schließlich sagte
Curru böse: »was weißt du schon, Hexe?«
»ich glaube, alter Freund, dieses Mädchen hat recht«, sagte
Tuge nach einer längeren Pause.
»wenn sie gefangen sind, dann können wir sie auch befreien«,
sagte Awin mit einer entschlossenheit, die ihn selbst überraschte.
»Befreien? Aus den klauen einer Göttin? Aber wir sind nur
schwache Menschen«, wandte der Bogner ein.
»wir haben den Heolin. wir können sie besiegen«, entgegnete
Awin grimmig. »schon einmal haben wir das geschafft.«
»ihr habt ihn wieder?«, rief Tuge mit großen Augen.
»wir wären nicht ohne ihn zurückgekehrt, Bogner«, antwortete eri stolz.
Curru richtete sich auf. er war immer noch leichenblass. »Ja,
1. Auflage
originalausgabe August 2010 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe random House GmbH, München
Copyright © 2010 by Torsten Fink
Umschlaggestaltung: HildenDesign München
Lektorat: simone Heller
Hk • Herstellung: sam
satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
Druck und einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
isBn: 978-3-442-26692-0
www.blanvalet.de
... weniger
Autoren-Porträt von Torsten Fink
Torsten Fink, Jahrgang 1965, arbeitete lange als Texter, Journalist und literarischer Kabarettist. Er lebt und schreibt heute in Mainz.
Bibliographische Angaben
- Autor: Torsten Fink
- 2010, 447 Seiten, Maße: 12,5 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442266920
- ISBN-13: 9783442266920
Rezension zu „Lichtträger / Der Sohn des Sehers Bd.2 “
»Finks bildhafter Schreibstil ist mitreißend.«
Kommentar zu "Lichtträger / Der Sohn des Sehers Bd.2"
5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Lichtträger / Der Sohn des Sehers Bd.2".
Kommentar verfassen