Madalyn
Roman
Herzzerreißend!
Madalyn ist 14 und erlebt ihre erste, hoffnungslos komplizierte Liebe. Kompliziert deswegen, weil Moritz bei einem Einbruch erwischt wurde und ein notorischer Lügner ist.
"Michael Köhlmeier...
Madalyn ist 14 und erlebt ihre erste, hoffnungslos komplizierte Liebe. Kompliziert deswegen, weil Moritz bei einem Einbruch erwischt wurde und ein notorischer Lügner ist.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Madalyn “
Herzzerreißend!
Madalyn ist 14 und erlebt ihre erste, hoffnungslos komplizierte Liebe. Kompliziert deswegen, weil Moritz bei einem Einbruch erwischt wurde und ein notorischer Lügner ist.
"Michael Köhlmeier erzählt in seinen neuen Roman packend von Gefühlen, Beziehungen und vom Erzählen."
Der Standard
Madalyn ist 14 und erlebt ihre erste, hoffnungslos komplizierte Liebe. Kompliziert deswegen, weil Moritz bei einem Einbruch erwischt wurde und ein notorischer Lügner ist.
"Michael Köhlmeier erzählt in seinen neuen Roman packend von Gefühlen, Beziehungen und vom Erzählen."
Der Standard
Klappentext zu „Madalyn “
Sebastian Lukasser, Schriftsteller, kennt Madalyn seit ihrem fünften Lebensjahr. Sie kann ihm Dinge anvertrauen, die ihre Eltern nicht verstehen würden. Jetzt ist sie vierzehn und erlebt ihre erste, ausweglos komplizierte Liebesgeschichte. Kompliziert, weil Moritz alles andere als ein leichter Fall ist - er wurde bei einem Einbruch erwischt und ist ein notorischer Lügner. Oder spricht er vielleicht doch die Wahrheit? Michael Köhlmeiers Roman über Madalyn und Moritz ist eine herzzerreißende Erzählung über die erste Liebe und große Gefühle.
Lese-Probe zu „Madalyn “
Madalyn von Michael Köhlmeier1
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Im Frühling 09 war Madalyn noch nicht vierzehn Jahre alt. Ich kannte sie seit ihrer Geburt. Als ihre Eltern in unser Haus in der Heumühlgasse zogen, war Frau Reis mit ihr schwanger. Herr Reis arbeitete in einem Unternehmen, das Maschinen zur Herstellung von Computerchips konstruierte und - allerdings nicht in Wien - auch baute; er war Techniker oder Manager oder beides. Sowohl die Firma als auch er hätten einiges in petto, hieß es. Ich erfuhr davon über das Gerede im Haus, an dem ich mich gern beteiligte, vor allem, wenn es sich um die Kombination von Geld und Zukunft drehte. Es war die Zeit, als fast jeder Aktien kaufte, ich für eine Million Schilling aus einem brasilianischen Telekommunikationsfond, die fünf Jahre später nur noch knapp ein Zehntel wert waren. Herr Reis und seine Frau investierten klüger, sie kauften die Wohnung ein Stockwerk unter mir; woraus ich außerdem schloss, dass sie vorhatten, hier zu bleiben. Von meinem Arbeitszimmer aus konnte ich auf ihren Balkon schauen. Dort standen eine Bank aus silbrig grauem Holz und ein Tischchen, dessen Platte den Venus-kopf von Botticelli, zusammengefügt aus Mosaiksteinchen, zeigte. Ich hatte nie jemanden dort sitzen sehen. Einmal war ich mit der Hochschwangeren allein im Lift gefahren und hatte gesagt, weil mir nichts anderes einfiel und weil es auch stimmte, dass wir uns auf das Kind freuten, wir alle im Haus, und hatte hinzugefügt, dass sie hier reichlich Auswahl an Babysittern fände. Sie war nicht sehr gesprächig, und ich bin mir hinterher töricht und aufdringlich vorgekommen. Das Ehepaar Reis - sagte mir Frau Malic, die Koordinatorin allen Geredes im Haus - gehöre irgendeiner christlichen Abspaltung an. Darüber wollte ich nichts wissen; ich wehrte mich gegen meine eigene Neugierde und war durchaus erfolgreich. Aber mit ihrer Tochter, mit Madalyn, verband mich durch deren Kindheit hindurch eine besondere Freundschaft, und dafür gab es einen Grund.
Zu ihrem fünften Geburtstag bekam Madalyn ein Fahrrad geschenkt. Es war Herbst. Sie brachte sich das Fahren ganz allein bei, schob das Rad jeden Nachmittag nach dem Kindergarten über den Naschmarkt in den kleinen Park an der Linken Wienzeile und rollte dort über den flachen künstlichen Hügel hinunter. Und zufällig war ich der erste, dem sie ihre fertige Kunst vorführte. Manchmal setzte ich mich auf eine Bank unter den Ahornbäumen zwischen Schaukeln und Rutschen - eigentlich nur im Herbst und im Winter tat ich das, wenn keine Kinder anwesend waren, dann wurde der kleine Park auch von den Erwachsenen vergessen, und es war still wie im Wald und das mitten in der Stadt. So saß ich und las, als Madalyn mit ihrem Rad daherkam. Im Gegensatz zu ihren Eltern redete sie gern, sehr gern sogar, schüchtern war sie nicht. Sie hatte mir bereits im Stiegenhaus ausführlich von ihrem ersten Tag im Kindergarten erzählt und mir bei jedem weiteren Treffen Zwischenberichte geliefert, hatte mir die Papierflieger gezeigt, die sie in der Kreativgruppe gefaltet hatten, und wir haben sie durch das Stiegenhausfenster in den Innenhof geschickt. Sie spielte gern im Stiegenhaus, und sie spielte immer allein. Sie redete laut mit sich selbst, offenbar gefiel ihr die Akustik. Es war Evelyn und mir oft eine Freude gewesen, sie dabei zu belauschen. Wir mochten ihre heisere Stimme, die gut zu ihren wilden, krausen, kaum frisierbaren Haaren und zu ihrem Gesichtchen passte, das ein wenig derb war. Evelyn erinnerte sie an sich selbst - nicht nur wegen des Gleichklangs der letzten Silbe ihrer Namen, wie sie sagte -, sie habe als Kind ebenfalls die meiste Zeit allein gespielt und dabei laut gesprochen, ganze Nachmittage hindurch, und wie Madalyn im Dialog mit einer fiktiven Freundin.
Madalyn sagte, sie wolle mir zeigen, was sie könne, setzte sich aufs Rad und fuhr los und kreischte dabei, trat in die Pedale und fuhr Kurven über den Rasen. Mit dem Absteigen hatte sie allerdings Probleme. Sie lenkte zu mir hin und rief, ich solle sie aufhalten. Sie war stolz, weil sie bisher nur ohne zu treten gefahren war. Ich sagte, das bedeute, von heute an könne sie tatsächlich Fahrrad fahren, denn ohne zu treten sei nicht wirklich Fahren, erst bei Treten könne man von Fahren sprechen. Und in der folgenden Stunde - ich war Zeuge - lernte sie auch, zu bremsen und abzusteigen.
»Kann ich jetzt wirklich Radfahren?« fragte sie.
»So gut wie jeder andere auch«, sagte ich.
Ich hätte es nicht so kräftig betonen sollen. Ein paar Tage später raste sie, ohne auf die Straße zu achten, aus der Einfahrt unseres Hauses und direkt vor ein Auto. Sie wurde in die Luft geschleudert und landete fünf Meter weiter auf der Fahrbahn. Was ein Glück war. Sie hätte ebensogut unter die Räder kommen können - wie ihr Fahrrad. Und zufällig war ich wieder Zeuge gewesen. Ich kam die Straße vom Naschmarkt herauf und habe alles gesehen. Ich bin gleich zu ihr hingelaufen. Die Fahrerin blieb einfach in ihrem Wagen sitzen, die Hände am Lenkrad, und drückte die Augen zu. Madalyn hatte das Bewusstsein verloren, sie blutete an der Innenseite ihres Unterarms. Ich hatte mein Mobiltelefon nicht bei mir und rief laut um Hilfe. Aus einem der Fenster schaute ein Mann, ich rief, er solle die Rettung holen. »Hundertvierundvierzig wählen! Hundertvierundvierzig wählen!«
Madalyns Arm blutete so stark, dass sich eine Lache auf dem Asphalt bildete. Ein Stück Haut war an der Innenseite aufgerissen. Ich zog mir einen Schuh aus und band ihr mit meinem Strumpf den Arm ab. Sie öffnete die Augen, und als sie mich sah, verzog sie den Mund und begann zu schluchzen. Ich sagte, es sei alles gut, ich sei bei ihr, die Mama werde gleich kommen und in ein paar Tagen werde sie darüber lachen.
»Das verspreche ich dir, Madalyn. Ich sag es, weil ich es weiß.« Ich traute mich nicht, ihren Oberkörper hochzuheben, um sie in den Arm zu nehmen. Inzwischen standen Leute um uns herum, auch eine Frau aus unserem Haus. Ich sagte, sie solle bei Familie Reis klingeln und Madalyns Mutter verständigen. Ihr Vater war bei der Arbeit, der war sicher nicht zu Hause. - Die Mutter auch nicht.
Die Rettung kam, Madalyn wurde auf eine Bahre gelegt. Sie hielt meine Hand fest und bat mich mit kleiner Stimme, nicht wegzugehen. Der Arzt meinte, es sei in Ordnung, ich könne mit ihnen mitfahren. Während der Fahrt ins Allgemeine Krankenhaus ließ sie meine Hand nicht los. Ich streichelte ihr über die Stirn, und der Arzt versorgte ihre Wunden. Auch am Kopf hatte sie eine Wunde, die hatte ich nicht bemerkt. Ich sprach mit ihr, bemühte mich um einen ruhigen gewöhnlichen Ton. Was mir schwerfiel. Sie versuchte zu lächeln, zog aber gleich wieder die Mundwinkel nach unten und begann zu schluchzen, und ich musste an mich halten, damit ich nicht einstimmte.
Außer der Verletzung am Unterarm, die sich niemand recht erklären konnte, und einer leichten Gehirnerschütterung hatte Madalyn keinen Schaden davongetragen. Man behielt sie im AKH, bis ihre Mutter komme, um sie abzuholen. Das dauerte bis zum Abend! Sie war nicht erreichbar gewesen. Ebenso Madalyns Vater. In der Firma sagte man, er habe einen wichtigen Auswärtstermin, sein Handy habe er nicht eingeschaltet, das sei Firmenphilosophie. Der Arzt wollte die Eltern zur Rede stellen, er überlege sogar, ob er nicht Anzeige wegen Vernachlässigung erstatten solle, sagte er - ein Kind von fünf Jahren von Mittag bis Abend allein zu lassen! Als Frau Reis kam, zog er sich zurück und überließ alles mir.
Sie hatte eine einschüchternde Art, fixierte einen mit den Augen und bewegte sich dabei kein bisschen; als wäre sie eingefroren. Ich erklärte ihr, was geschehen war, enthielt mich aber der Kritik. Nahm mir allerdings vor, in den nächsten Tagen einen Stock tiefer zu gehen und meine Meinung zu deponieren. Große Sorgen schien sich diese Frau nicht zu machen. Und bei mir bedankt hat sie sich auch nicht. Ich trug Madalyn hinaus ins Auto. Frau Reis bot mir nicht einmal an, mich mitzunehmen. Ich fuhr mit dem Bus und der U-Bahn vom AKH nach Hause. Jeder hat seinen eigenen Stil, schockiert zu sein, dachte ich, bei Frau Reis geht es halt so.
Ein paar Tage später klingelte es an meiner Tür. Madalyn stand draußen, Arm und Kopf im Verband. In der Hand hielt sie eine Kinderzeichnung, die sie für mich angefertigt hatte. Darauf war in mehreren Sequenzen ihr Unfall dargestellt.
»Ich möchte danke sagen und hab das da gemalt. Für Sie.«
»Das freut mich sehr«, sagte ich. »Ich werde das Bild in einen Rahmen geben und es mir an die Wand hängen.«
»Wirklich!« fragte sie. »Wie ein Kunstbild?«
»Ich finde, es ist ein Kunstbild«, sagte ich. »Und außerdem erzählt es eine Geschichte. Die meisten Kunstbilder erzählen keine Geschichte, dieses schon.«
Das Bild stellte unser gemeinsames Abenteuer dar. Auf jeder Sequenz war auch ich zu sehen: Ich, wie ich auf der Straße gehe und sehe, wie Madalyn durch die Luft fliegt; ich, wie ich neben ihr am Boden hocke, zwischen uns ein See von Blut; ich, wie ich im Rettungsauto mit dem roten Kreuz sitze und Madalyns Hand halte. Ich habe das Bild zum Kunstgeschäft Wolfrum bei der Albertina gebracht und einen schwarzen Lackrahmen mit goldenem Streifen ausgesucht. Nachdem ich es in der Bibliothek an den einzigen freien Platz gehängt hatte, ging ich nach unten. Madalyn war wieder allein. Ich sagte, ich würde gern ihren Vater und ihre Mutter und natürlich auch sie zu einem Tee oder Kaffee oder Kakao einladen und das gerahmte Bild zeigen. Sie wollte nicht auf ihre Eltern warten, sie wollte es gleich sehen.
Evelyn war hingerissen von dem Bild (damals steckten wir mitten in der Diskussion der Frage, ob wir zusammenziehen sollten), am meisten aber faszinierte sie die Tatsache, dass Madalyn Sie zu mir sagte.
»Das ist mehr als ungewöhnlich«, schwärmte sie. »Ihre Eltern legen offensichtlich Wert auf Manieren.«
»Ganz offensichtlich«, sagte ich.
Madalyn und ich unterhielten uns von nun an noch ausführlicher, wenn wir einander auf der Stiege oder auf der Straße vor dem Haus begegneten oder im Hof, wenn wir den Müll entsorgten. Sie erzählte mir von ihrem ersten Schultag, präsentierte ihr erstes Zeugnis, zeigte mir, was sie zu Weihnachten bekommen hatte; schilderte mir einen Schulausflug in den Lainzer Tiergarten, wo sie Wildschweine mit Jungen gesehen hätten; und jubilierte im Sommer, weil sie schwimmen gelernt habe und wie wunderbar es sei. Auf dem Fensterbrett im Stiegenhaus habe ich ihr einmal bei der Mathehausaufgabe geholfen; und als sie mir einen Witz erzählte, habe ich ohne zu spielen laut gelacht. Einmal hat sie mich gefragt, ob sie meine Schuhe putzen dürfe. Ich sagte, tun wir es gemeinsam, du putzt deine, ich putz meine. Und so waren wir auf der Stiege gesessen und hatten gebürstet und poliert und geplaudert.
Wenn ich sie eine Woche lang nicht gesehen oder gehört hatte, wurde ich unruhig. Nicht nur einmal stand ich vor der Tür der Familie Reis, den Finger bereits auf dem Klingelknopf, weil ich mich nach ihr erkundigen wollte. Draufgedrückt habe ich freilich nicht. Seit Madalyns Unfall hatte ich den Eindruck, ihre Mutter sei nicht mehr nur wortkarg, sondern sie gehe mir aus dem Weg. Was ich irgendwie nachvollziehen konnte. Aber ich bildete mir zudem ein, einen Vorwurf in ihren Augen zu sehen. Erklärbar ist wahrscheinlich auch dieses Verhalten; geärgert habe ich mich trotzdem.
Aber Madalyn mochte mich gern, und es machte mir Freude, dies in ihrem Gesicht zu lesen.
Einmal sagte sie zu mir: »Sie haben mir das Leben gerettet.« Da wollte ich ihr nicht widersprechen.
»Etwas Schöneres habe ich in meinem Leben nicht getan«, antwortete ich.
© Carl Hanser Verlag, München
Im Frühling 09 war Madalyn noch nicht vierzehn Jahre alt. Ich kannte sie seit ihrer Geburt. Als ihre Eltern in unser Haus in der Heumühlgasse zogen, war Frau Reis mit ihr schwanger. Herr Reis arbeitete in einem Unternehmen, das Maschinen zur Herstellung von Computerchips konstruierte und - allerdings nicht in Wien - auch baute; er war Techniker oder Manager oder beides. Sowohl die Firma als auch er hätten einiges in petto, hieß es. Ich erfuhr davon über das Gerede im Haus, an dem ich mich gern beteiligte, vor allem, wenn es sich um die Kombination von Geld und Zukunft drehte. Es war die Zeit, als fast jeder Aktien kaufte, ich für eine Million Schilling aus einem brasilianischen Telekommunikationsfond, die fünf Jahre später nur noch knapp ein Zehntel wert waren. Herr Reis und seine Frau investierten klüger, sie kauften die Wohnung ein Stockwerk unter mir; woraus ich außerdem schloss, dass sie vorhatten, hier zu bleiben. Von meinem Arbeitszimmer aus konnte ich auf ihren Balkon schauen. Dort standen eine Bank aus silbrig grauem Holz und ein Tischchen, dessen Platte den Venus-kopf von Botticelli, zusammengefügt aus Mosaiksteinchen, zeigte. Ich hatte nie jemanden dort sitzen sehen. Einmal war ich mit der Hochschwangeren allein im Lift gefahren und hatte gesagt, weil mir nichts anderes einfiel und weil es auch stimmte, dass wir uns auf das Kind freuten, wir alle im Haus, und hatte hinzugefügt, dass sie hier reichlich Auswahl an Babysittern fände. Sie war nicht sehr gesprächig, und ich bin mir hinterher töricht und aufdringlich vorgekommen. Das Ehepaar Reis - sagte mir Frau Malic, die Koordinatorin allen Geredes im Haus - gehöre irgendeiner christlichen Abspaltung an. Darüber wollte ich nichts wissen; ich wehrte mich gegen meine eigene Neugierde und war durchaus erfolgreich. Aber mit ihrer Tochter, mit Madalyn, verband mich durch deren Kindheit hindurch eine besondere Freundschaft, und dafür gab es einen Grund.
Zu ihrem fünften Geburtstag bekam Madalyn ein Fahrrad geschenkt. Es war Herbst. Sie brachte sich das Fahren ganz allein bei, schob das Rad jeden Nachmittag nach dem Kindergarten über den Naschmarkt in den kleinen Park an der Linken Wienzeile und rollte dort über den flachen künstlichen Hügel hinunter. Und zufällig war ich der erste, dem sie ihre fertige Kunst vorführte. Manchmal setzte ich mich auf eine Bank unter den Ahornbäumen zwischen Schaukeln und Rutschen - eigentlich nur im Herbst und im Winter tat ich das, wenn keine Kinder anwesend waren, dann wurde der kleine Park auch von den Erwachsenen vergessen, und es war still wie im Wald und das mitten in der Stadt. So saß ich und las, als Madalyn mit ihrem Rad daherkam. Im Gegensatz zu ihren Eltern redete sie gern, sehr gern sogar, schüchtern war sie nicht. Sie hatte mir bereits im Stiegenhaus ausführlich von ihrem ersten Tag im Kindergarten erzählt und mir bei jedem weiteren Treffen Zwischenberichte geliefert, hatte mir die Papierflieger gezeigt, die sie in der Kreativgruppe gefaltet hatten, und wir haben sie durch das Stiegenhausfenster in den Innenhof geschickt. Sie spielte gern im Stiegenhaus, und sie spielte immer allein. Sie redete laut mit sich selbst, offenbar gefiel ihr die Akustik. Es war Evelyn und mir oft eine Freude gewesen, sie dabei zu belauschen. Wir mochten ihre heisere Stimme, die gut zu ihren wilden, krausen, kaum frisierbaren Haaren und zu ihrem Gesichtchen passte, das ein wenig derb war. Evelyn erinnerte sie an sich selbst - nicht nur wegen des Gleichklangs der letzten Silbe ihrer Namen, wie sie sagte -, sie habe als Kind ebenfalls die meiste Zeit allein gespielt und dabei laut gesprochen, ganze Nachmittage hindurch, und wie Madalyn im Dialog mit einer fiktiven Freundin.
Madalyn sagte, sie wolle mir zeigen, was sie könne, setzte sich aufs Rad und fuhr los und kreischte dabei, trat in die Pedale und fuhr Kurven über den Rasen. Mit dem Absteigen hatte sie allerdings Probleme. Sie lenkte zu mir hin und rief, ich solle sie aufhalten. Sie war stolz, weil sie bisher nur ohne zu treten gefahren war. Ich sagte, das bedeute, von heute an könne sie tatsächlich Fahrrad fahren, denn ohne zu treten sei nicht wirklich Fahren, erst bei Treten könne man von Fahren sprechen. Und in der folgenden Stunde - ich war Zeuge - lernte sie auch, zu bremsen und abzusteigen.
»Kann ich jetzt wirklich Radfahren?« fragte sie.
»So gut wie jeder andere auch«, sagte ich.
Ich hätte es nicht so kräftig betonen sollen. Ein paar Tage später raste sie, ohne auf die Straße zu achten, aus der Einfahrt unseres Hauses und direkt vor ein Auto. Sie wurde in die Luft geschleudert und landete fünf Meter weiter auf der Fahrbahn. Was ein Glück war. Sie hätte ebensogut unter die Räder kommen können - wie ihr Fahrrad. Und zufällig war ich wieder Zeuge gewesen. Ich kam die Straße vom Naschmarkt herauf und habe alles gesehen. Ich bin gleich zu ihr hingelaufen. Die Fahrerin blieb einfach in ihrem Wagen sitzen, die Hände am Lenkrad, und drückte die Augen zu. Madalyn hatte das Bewusstsein verloren, sie blutete an der Innenseite ihres Unterarms. Ich hatte mein Mobiltelefon nicht bei mir und rief laut um Hilfe. Aus einem der Fenster schaute ein Mann, ich rief, er solle die Rettung holen. »Hundertvierundvierzig wählen! Hundertvierundvierzig wählen!«
Madalyns Arm blutete so stark, dass sich eine Lache auf dem Asphalt bildete. Ein Stück Haut war an der Innenseite aufgerissen. Ich zog mir einen Schuh aus und band ihr mit meinem Strumpf den Arm ab. Sie öffnete die Augen, und als sie mich sah, verzog sie den Mund und begann zu schluchzen. Ich sagte, es sei alles gut, ich sei bei ihr, die Mama werde gleich kommen und in ein paar Tagen werde sie darüber lachen.
»Das verspreche ich dir, Madalyn. Ich sag es, weil ich es weiß.« Ich traute mich nicht, ihren Oberkörper hochzuheben, um sie in den Arm zu nehmen. Inzwischen standen Leute um uns herum, auch eine Frau aus unserem Haus. Ich sagte, sie solle bei Familie Reis klingeln und Madalyns Mutter verständigen. Ihr Vater war bei der Arbeit, der war sicher nicht zu Hause. - Die Mutter auch nicht.
Die Rettung kam, Madalyn wurde auf eine Bahre gelegt. Sie hielt meine Hand fest und bat mich mit kleiner Stimme, nicht wegzugehen. Der Arzt meinte, es sei in Ordnung, ich könne mit ihnen mitfahren. Während der Fahrt ins Allgemeine Krankenhaus ließ sie meine Hand nicht los. Ich streichelte ihr über die Stirn, und der Arzt versorgte ihre Wunden. Auch am Kopf hatte sie eine Wunde, die hatte ich nicht bemerkt. Ich sprach mit ihr, bemühte mich um einen ruhigen gewöhnlichen Ton. Was mir schwerfiel. Sie versuchte zu lächeln, zog aber gleich wieder die Mundwinkel nach unten und begann zu schluchzen, und ich musste an mich halten, damit ich nicht einstimmte.
Außer der Verletzung am Unterarm, die sich niemand recht erklären konnte, und einer leichten Gehirnerschütterung hatte Madalyn keinen Schaden davongetragen. Man behielt sie im AKH, bis ihre Mutter komme, um sie abzuholen. Das dauerte bis zum Abend! Sie war nicht erreichbar gewesen. Ebenso Madalyns Vater. In der Firma sagte man, er habe einen wichtigen Auswärtstermin, sein Handy habe er nicht eingeschaltet, das sei Firmenphilosophie. Der Arzt wollte die Eltern zur Rede stellen, er überlege sogar, ob er nicht Anzeige wegen Vernachlässigung erstatten solle, sagte er - ein Kind von fünf Jahren von Mittag bis Abend allein zu lassen! Als Frau Reis kam, zog er sich zurück und überließ alles mir.
Sie hatte eine einschüchternde Art, fixierte einen mit den Augen und bewegte sich dabei kein bisschen; als wäre sie eingefroren. Ich erklärte ihr, was geschehen war, enthielt mich aber der Kritik. Nahm mir allerdings vor, in den nächsten Tagen einen Stock tiefer zu gehen und meine Meinung zu deponieren. Große Sorgen schien sich diese Frau nicht zu machen. Und bei mir bedankt hat sie sich auch nicht. Ich trug Madalyn hinaus ins Auto. Frau Reis bot mir nicht einmal an, mich mitzunehmen. Ich fuhr mit dem Bus und der U-Bahn vom AKH nach Hause. Jeder hat seinen eigenen Stil, schockiert zu sein, dachte ich, bei Frau Reis geht es halt so.
Ein paar Tage später klingelte es an meiner Tür. Madalyn stand draußen, Arm und Kopf im Verband. In der Hand hielt sie eine Kinderzeichnung, die sie für mich angefertigt hatte. Darauf war in mehreren Sequenzen ihr Unfall dargestellt.
»Ich möchte danke sagen und hab das da gemalt. Für Sie.«
»Das freut mich sehr«, sagte ich. »Ich werde das Bild in einen Rahmen geben und es mir an die Wand hängen.«
»Wirklich!« fragte sie. »Wie ein Kunstbild?«
»Ich finde, es ist ein Kunstbild«, sagte ich. »Und außerdem erzählt es eine Geschichte. Die meisten Kunstbilder erzählen keine Geschichte, dieses schon.«
Das Bild stellte unser gemeinsames Abenteuer dar. Auf jeder Sequenz war auch ich zu sehen: Ich, wie ich auf der Straße gehe und sehe, wie Madalyn durch die Luft fliegt; ich, wie ich neben ihr am Boden hocke, zwischen uns ein See von Blut; ich, wie ich im Rettungsauto mit dem roten Kreuz sitze und Madalyns Hand halte. Ich habe das Bild zum Kunstgeschäft Wolfrum bei der Albertina gebracht und einen schwarzen Lackrahmen mit goldenem Streifen ausgesucht. Nachdem ich es in der Bibliothek an den einzigen freien Platz gehängt hatte, ging ich nach unten. Madalyn war wieder allein. Ich sagte, ich würde gern ihren Vater und ihre Mutter und natürlich auch sie zu einem Tee oder Kaffee oder Kakao einladen und das gerahmte Bild zeigen. Sie wollte nicht auf ihre Eltern warten, sie wollte es gleich sehen.
Evelyn war hingerissen von dem Bild (damals steckten wir mitten in der Diskussion der Frage, ob wir zusammenziehen sollten), am meisten aber faszinierte sie die Tatsache, dass Madalyn Sie zu mir sagte.
»Das ist mehr als ungewöhnlich«, schwärmte sie. »Ihre Eltern legen offensichtlich Wert auf Manieren.«
»Ganz offensichtlich«, sagte ich.
Madalyn und ich unterhielten uns von nun an noch ausführlicher, wenn wir einander auf der Stiege oder auf der Straße vor dem Haus begegneten oder im Hof, wenn wir den Müll entsorgten. Sie erzählte mir von ihrem ersten Schultag, präsentierte ihr erstes Zeugnis, zeigte mir, was sie zu Weihnachten bekommen hatte; schilderte mir einen Schulausflug in den Lainzer Tiergarten, wo sie Wildschweine mit Jungen gesehen hätten; und jubilierte im Sommer, weil sie schwimmen gelernt habe und wie wunderbar es sei. Auf dem Fensterbrett im Stiegenhaus habe ich ihr einmal bei der Mathehausaufgabe geholfen; und als sie mir einen Witz erzählte, habe ich ohne zu spielen laut gelacht. Einmal hat sie mich gefragt, ob sie meine Schuhe putzen dürfe. Ich sagte, tun wir es gemeinsam, du putzt deine, ich putz meine. Und so waren wir auf der Stiege gesessen und hatten gebürstet und poliert und geplaudert.
Wenn ich sie eine Woche lang nicht gesehen oder gehört hatte, wurde ich unruhig. Nicht nur einmal stand ich vor der Tür der Familie Reis, den Finger bereits auf dem Klingelknopf, weil ich mich nach ihr erkundigen wollte. Draufgedrückt habe ich freilich nicht. Seit Madalyns Unfall hatte ich den Eindruck, ihre Mutter sei nicht mehr nur wortkarg, sondern sie gehe mir aus dem Weg. Was ich irgendwie nachvollziehen konnte. Aber ich bildete mir zudem ein, einen Vorwurf in ihren Augen zu sehen. Erklärbar ist wahrscheinlich auch dieses Verhalten; geärgert habe ich mich trotzdem.
Aber Madalyn mochte mich gern, und es machte mir Freude, dies in ihrem Gesicht zu lesen.
Einmal sagte sie zu mir: »Sie haben mir das Leben gerettet.« Da wollte ich ihr nicht widersprechen.
»Etwas Schöneres habe ich in meinem Leben nicht getan«, antwortete ich.
© Carl Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von Michael Köhlmeier
Michael Köhlmeier, in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Bei Hanser erschienen die Romane "Abendland" (2007), "Madalyn" (2010), "Die Abenteuer des Joel Spazierer" (2013), "Spielplatz der Helden" (2014, Erstausgabe 1988), "Zwei Herren am Strand" (2014), "Das Mädchen mit dem Fingerhut" (2016), "Bruder und Schwester Lenobel" (2018), "Matou" (2021), "Frankie" (2023) und zuletzt "Das Philosophenschiff" (2024), außerdem die Gedichtbände "Der Liebhaber bald nach dem Frühstück" (Edition Lyrik Kabinett, 2012) und "Ein Vorbild für die Tiere" (Gedichte, 2017) sowie die Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" (2017), "Die Märchen" (mit Bildern von Nikolaus Heidelbach, 2019) und "Das Schöne" (59 Begeisterungen, 2023). Michael Köhlmeier wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Köhlmeier
- 2010, 4. Aufl., 176 Seiten, Maße: 14,8 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446235973
- ISBN-13: 9783446235977
- Erscheinungsdatum: 14.08.2010
Rezension zu „Madalyn “
"Der Reiz liegt unter anderem in dem virtuosen Spiel mit der Täuschung, dem sich der Schriftsteller ausgesetzt sieht. All das geschieht mit Eleganz und Leichthändigkeit, im plaudernden Alltagston, den Köhlmeier so glänzend beherrscht und hinter dessen vermeintlicher Harmlosigkeit sich fundamentale Einsichten verbergen. "Madalyn" ist die mit Einfühlungsvermögen erzählte Geschichte einer ersten Liebe - ein kleines, äußerst charmantes Buch." Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung, 19.08.10"Berückend schöne Momente wie auch Erschütterungen, die eine erste Liebe verlässlich bereithält, all den Zauber des Anfangs und das Zittern der Gedanken, den Größenwahn der Gefühle und das Wirbeln und Schaukeln - das alles beschreibt Michael Köhlmeier wunderbar klar, leicht und liebevoll. Wie kaum ein anderer versteht er es, die Dinge des Lebens zu schildern, ohne dabei je pathetisch oder sentimental zu werden." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.08.10
"Erste Liebe: Michael Köhlmeier erzählt in seinem neuen Roman "Madalyn" packend von Gefühlen, Beziehungen und vom Erzählen." Klaus Zeyringer, Der Standard, 21.08.10
"Michael Köhlmeiers Roman "Madalyn" erzählt vom Glück des wiedergefundenen großen Gefühls. ... Ein subtiler kleiner Roman. Seine Heldin ist ein zauberhaftes seelenstarkes Geschöpf, das beim Leser den Hunger nach großen Gefühlen weckt." Gabriele Killert, Die Zeit, 03.02.11
Pressezitat
"Der Reiz liegt unter anderem in dem virtuosen Spiel mit der Täuschung, dem sich der Schriftsteller ausgesetzt sieht. All das geschieht mit Eleganz und Leichthändigkeit, im plaudernden Alltagston, den Köhlmeier so glänzend beherrscht und hinter dessen vermeintlicher Harmlosigkeit sich fundamentale Einsichten verbergen. "Madalyn" ist die mit Einfühlungsvermögen erzählte Geschichte einer ersten Liebe - ein kleines, äußerst charmantes Buch." Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung, 19.08.10"Berückend schöne Momente wie auch Erschütterungen, die eine erste Liebe verlässlich bereithält, all den Zauber des Anfangs und das Zittern der Gedanken, den Größenwahn der Gefühle und das Wirbeln und Schaukeln - das alles beschreibt Michael Köhlmeier wunderbar klar, leicht und liebevoll. Wie kaum ein anderer versteht er es, die Dinge des Lebens zu schildern, ohne dabei je pathetisch oder sentimental zu werden." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.08.10
"Erste Liebe: Michael Köhlmeier erzählt in seinem neuen Roman "Madalyn" packend von Gefühlen, Beziehungen und vom Erzählen." Klaus Zeyringer, Der Standard, 21.08.10
"Michael Köhlmeiers Roman "Madalyn" erzählt vom Glück des wiedergefundenen großen Gefühls. ... Ein subtiler kleiner Roman. Seine Heldin ist ein zauberhaftes seelenstarkes Geschöpf, das beim Leser den Hunger nach großen Gefühlen weckt." Gabriele Killert, Die Zeit, 03.02.11
Kommentar zu "Madalyn"
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