Magie
Roman. Die Vorgeschichte der Trilogie "Die Gilde der Schwarzen Magier"
Tessa wünscht sich nichts mehr, als Heilerin zu werden. Eines Tages muss sie sich in der Burg des Magiers Lord Dakon gegen einen sachakanischen Zauberer erwehren - und gebraucht dabei instinktiv Magie. Doch schon bald merkt sie, dass ihre Gabe auch große Gefahren birgt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Magie “
Tessa wünscht sich nichts mehr, als Heilerin zu werden. Eines Tages muss sie sich in der Burg des Magiers Lord Dakon gegen einen sachakanischen Zauberer erwehren - und gebraucht dabei instinktiv Magie. Doch schon bald merkt sie, dass ihre Gabe auch große Gefahren birgt.
Klappentext zu „Magie “
Eine Novizin folgt ihrem Traum!Trudi Canavan kehrt dorthin zurück, wo ihr Aufsehen erregender Erfolg begann zur Welt von Sonea und der Gilde der Schwarzen Magier!
Tessia wächst als die Tochter eines Dorfheilers in Kyralia auf, und nichts wünscht sie sich mehr, als selbst Heilerin zu werden sehr zum Ärger ihrer Mutter, die Tessia lieber verheiratet sehen möchte. Doch dann nimmt das Leben der jungen Frau eine dramatische Wendung! Als sie in der Burg ihres Lehnsherrn, des Magiers Lord Dakon, einen Verletzten versorgt, muss Tessia sich der brutalen Annäherungsversuche eines sachakanischen Zauberers erwehren und gebraucht dabei instinktiv Magie.
Plötzlich blickt sie einer völlig neuen Zukunft als Lord Dakons Novizin entgegen. Bei aller Begeisterung und allem Stolz über ihre unerwartete Bestimmung erkennt Tessia aber schon bald, dass mit ihren magischen Gaben auch große Gefahr einhergeht. Denn am Horizont zieht ein verheerender Krieg zwischen Kyralia und Sachaka auf und Tessia muss schneller ihre Magie zu beherrschen lernen als je eine Novizin vor ihr
Die Vorgeschichte der Bestsellertrilogie "Die Gilde der Schwarzen Magier"!
Lese-Probe zu „Magie “
Magie von Trudi CanavanErster Teil
1
Es gab keine schnelle und schmerzlose Methode, eine Amputation durchzuführen, das wusste Tessia. Nicht, wenn man es richtig machte. Für eine saubere Amputation musste man einen Hautlappen schneiden, um damit den Stumpf zu bedecken, und das kostete Zeit.
Während ihr Vater mit geschickten Bewegungen begann, die Haut um den Finger des Jungen herum einzuritzen, beobachtete Tessia das Mienenspiel der Menschen im Raum. Der Vater des Jungen stand mit vor der Brust verkreuzten Armen und durchgedrücktem Rücken da. Sein Stirnrunzeln konnte die Spuren von Sorge nicht ganz verbergen, doch Tessia wusste nicht, ob es Mitgefühl mit seinem Sohn war oder die bange Frage, ob er rechtzeitig mit der Ernte fertig werden würde. Wahrscheinlich ein wenig von beidem.
Die Mutter hielt die andere Hand ihres Sohnes fest umklammert, während sie ihm ins Gesicht starrte. Seine Haut war gerötet, Schweißperlen standen ihm auf Stirn und Wangen. Der Junge biss die Zähne zusammen, und trotz der Warnung des Heilers sah er aufmerksam zu, wie dieser arbeitete. Er hatte bisher vollkommen reglos dagesessen und weder seine verletzte Hand bewegt noch gezappelt. Kein Laut war über seine Lippen gekommen. Solche Selbstbeherrschung beeindruckte Tessia, vor allem bei einem so jungen Menschen. Landarbeiter galten als ein zähes Völkchen, aber ihrer Erfahrung nach traf das nicht immer zu. Sie fragte sich, ob das Kind in der Lage sein würde, auch weiterhin so tapfer zu sein. Schließlich würde noch Schlimmeres kommen.
Das Gesicht ihres Vaters war angespannt vor Konzentration. Er hatte die Haut des Fingers vorsichtig über das Gelenk des Knöchels zurückgezogen. Auf einen Blick von ihm nahm sie das kleine Gelenkmesser vom Brenner und reichte es ihm. Dann nahm sie ihm den Schäler Nr. 5 ab, wusch ihn und hielt die Klinge
... mehr
sorgfältig über den Brenner, um sie mit Hilfe des Feuers zu reinigen.
Als sie aufblickte, war das Gesicht des Jungen von Falten überzogen. Tessias Vater hatte begonnen, durch das Gelenk zu schneiden. Sie hob den Kopf und bemerkte, dass der Vater des Jungen jetzt eine teigig-graue Gesichtsfarbe angenommen hatte; die der Mutter war schneeweiß.
»Schaut nicht hin«, murmelte Tessia warnend. Die Frau wandte abrupt den Kopf ab.
Die Klinge traf mit einem Klacken auf das Operationsbrett. Nachdem sie ihrem Vater das kleine Gelenkmesser abgenommen hatte, reichte Tessia ihm eine gebogene Nadel, in der bereits ein feiner, aus einer Sehne gefertigter Faden steckte. Die Nadel glitt mühelos durch die Haut des Jungen, und ein Funke von Stolz glomm in Tessia auf; sie hatte sie zur Vorbereitung auf diese Operation sorgfältig geschärft, und der Sehnenzwirn war der feinste, den sie je hergestellt hatte.
Sie betrachtete den amputierten Finger, der am Ende des Operationsbrettes lag: auf der einen Seite eine geschwärzte, eiternde Masse, aber das abgeschnittene Ende zeigte beruhigend gesundes Fleisch. Vor einigen Tagen hatte der Junge sich den Finger bei einem Unfall während der Erntearbeiten böse gequetscht, aber wie die meisten Dorfbewohner und Landarbeiter, die ihr Vater versorgte, hatten weder der Junge noch der Vater Hilfe gesucht, bis die Wunde sich entzündet hatte. Erst bei extremen Schmerzen akzeptierte ein Mensch die Entfernung eines Körperteils.
Wenn man zu lange wartete, konnte eine solche Entzündung das Blut vergiften und zu Fieber und sogar zum Tod führen. Dass eine kleine Wunde sich als tödlich erweisen konnte, faszinierte sie. Und es machte ihr Angst. Sie kannte einen Mann, den ein bloßer verfaulter Zahn in den Wahnsinn und zur Selbstverstümmelung getrieben hatte; normalerweise robuste Frauen verbluteten, nachdem sie ein Kind geboren hatten. Sie wusste auch von gesunden Säuglingen, die ohne erkennbaren Grund zu atmen aufgehört hatten, und von Fieberkrankheiten, die sich im Dorf verbreitet und nur ein oder zwei Menschenleben gefordert hatten, während die übrigen nicht mehr als ein gewisses Unbehagen hatten erdulden müssen.
Bei der Arbeit für ihren Vater hatte sie in ihren sechzehn Jahren mehr Verletzungen, Krankheiten und Todesfälle erlebt als die meisten Frauen in ihrem ganzen Leben. Aber sie hatte auch gesehen, wie Gebrechen geheilt, chronische Krankheiten gelindert und Leben gerettet wurden. Sie kannte jeden Mann, jede Frau und jedes Kind im Dorf und im Lehen und etliche, die jenseits dieser Grenzen lebten. Sie hatte Kenntnis von Dingen, in die nur wenige eingeweiht waren. Im Gegensatz zu den meisten Einheimischen konnte sie lesen und schreiben, logische Schlüsse ziehen und …
Ihr Vater blickte auf und reichte ihr die Nadel und den verbliebenen Faden. Ordentliche Stiche hielten die Hautlasche über dem Fingerstumpf des Jungen zusammen. Da sie wusste, was als Nächstes kam, nahm Tessia ein wenig Watte und Verbandszeug aus der Heilertasche und reichte sie ihm.
»Nimm das hier«, sagte er zu der Mutter.
Die Frau ließ die andere Hand des Jungen los und nahm von Tessias Vater etwas Verbandmull und Watte entgegen. Dann legte der den Fingerstumpf mitten auf die Watte und griff nach der Aderpresse am Arm des Jungen.
»Wenn ich dies hier lockere, wird das Blut in seinem Arm seinen Rhythmus wiederfinden«, erklärte er. »Sein Finger wird anfangen zu bluten. Du musst die Watte fest um den Finger drücken und gedrückt halten, bis das Blut einen neuen Pulspfad findet.«
Die Frau biss sich auf die Unterlippe und nickte. Als Tessias Vater die Aderpresse lockerte, nahmen der Arm und die Hand des Jungen langsam wieder einen gesunden, rosigen Ton an. Blut quoll zwischen den Stichen hervor, und die Mutter schloss hastig ihre Hand um den Stumpf. Der Junge verzog das Gesicht. Sie strich ihm liebevoll übers Haar.
Tessia unterdrückte ein Lächeln. Ihr Vater hatte sie gelehrt, dass es klug war, eine Familie in den Heilungsprozess einzubinden. Es gab ihnen das Gefühl, nicht vollkommen hilflos zu sein, und sie würden den Methoden, die er anwandte, weniger argwöhnisch oder geringschätzig gegenüberstehen, wenn sie daran teilhatten.
Nach einer kurzen Wartezeit überprüfte ihr Vater den Stumpf, dann bandagierte er ihn fest und gab der Familie Anweisungen, wie oft die Verbände zu wechseln wären, dass sie sauber und trocken gehalten werden mussten, wenn der Junge seine Arbeit wieder aufnahm (er war nicht dumm genug, den Eltern zu sagen, sie sollten den Jungen zu Hause behalten), wann sie endgültig abgelegt werden konnten und auf welche Zeichen einer Entzündung sie achten mussten.
Während er die Medikamente und zusätzlichen Verbände auflistete, die sie benötigen würden, nahm Tessia die gewünsch ten Dinge aus seiner Tasche und legte sie auf die sauberste Stelle des Tisches, die sie finden konnte. Den amputierten Finger wickelte sie ein und schob ihn beiseite. Patienten und ihre Familien zogen es vor, solche Dinge zu vergraben oder zu verbrennen, vielleicht weil sie sich Sorgen machten, was damit geschehen würde, wenn sie sich nicht selbst darum kümmerten. Zweifellos hatten sie die beunruhigenden und lächerlichen Geschichten gehört, die von Zeit zu Zeit die Runde machten: Angeblich experimentierten Heiler in Kyralia heimlich mit amputierten Gliedmaßen, mahlten Knochen zu magischen Tränken oder brachten es irgendwie fertig, sie wiederzubeleben.
Nachdem sie die Nadel gesäubert und über dem Brenner gereinigt hatte, packte sie sie mitsamt den anderen Instrumenten wieder ein. Das Operationsbrett würde später zu Hause gesäubert werden müssen. Sie löschte den Brenner und wartete, während die Familie ihnen dankte.
Auch dies war ein gründlich einstudierter Teil ihrer Arbeit. Ihr Vater hasste es, wenn Patienten ihn mit Dankesbekundungen überschütteten. Es war ihm peinlich. Schließlich bot er seine Dienste nicht kostenlos an. Lord Dakon versorgte ihn und seine Familie im Austausch dafür, dass er sich um die Menschen seines Lehens kümmerte, mit einem Haus und mit einem Einkommen.
Aber indem er ihren Dank bescheiden und geduldig entgegennahm, das wusste ihr Vater, erhielt er sich das Wohlwollen der Einheimischen. Geschenke nahm er jedoch grundsätzlich nicht an. Alle Untertanen Lord Dakons zahlten ihrem Herrn einen Zehnten, was bedeutete, dass sie Tessias Vater bereits für seine Dienste entlohnt hatten.
Tessias Aufgabe bestand darin, auf den richtigen Augenblick zu warten, um sich einzuschalten und ihren Vater daran zu erinnern, dass noch mehr Arbeit auf sie wartete. Die Familie entschuldigte sich dann. Ihr Vater entschuldigte sich. Und schließlich geleitete man sie hinaus.
Aber als der richtige Augenblick näher kam, wurde draußen das Trommeln von Hufschlägen vernehmbar. Alle hielten inne, um zu lauschen. Die Hufschläge brachen ab, an ihre Stelle traten Schritte, dann ein Klopfen an der Tür.
»Veran, der Heiler? Ist Veran der Heiler hier?«
Der Bauer und ihr Vater traten gleichzeitig auf die Tür zu, dann blieb ihr Vater stehen, sodass der Mann die Tür selbst öffnen konnte. Ein gut gekleideter Mann in mittleren Jahren stand davor; seine Stirn war feucht von Schweiß. Tessia kannte ihn: Keron, der Haushofmeister von Lord Dakon.
»Er ist hier«, sagte der Bauer.
Keron spähte in das dunkle Haus. »Deine Dienste werden im Herrenhaus gebraucht, Heiler Veran. Es ist dringend.«
Tessias Vater runzelte die Stirn, dann drehte er sich um und winkte sie zu sich. Sie griff nach seiner Tasche und dem Brenner und eilte hinter ihm her ins Tageslicht hinaus. Einer der älteren Söhne des Bauern wartete neben dem Pferd und dem Karren, die Lord Dakon ihrem Vater für Besuche von Patienten außerhalb des Dorfes zur Verfügung stellte, und der Junge stand hastig auf und zog einen Futtersack vom Kopf der alten Stute. Tessias Vater nickte ihm dankend zu, dann nahm er Tessia die Tasche ab und verstaute sie hinten im Wagen. Als sie auf den Sitz kletterten, galoppierte Keron auch schon an ihnen vorbei in Richtung Dorf. Ihr Vater nahm die Zügel und zog sie kurz an. Die Stute schnaubte, schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung.
Tessia sah ihren Vater an. »Glaubst du …?«, begann sie, brach jedoch gleich wieder ab, weil ihr die Sinnlosigkeit ihrer Frage bewusst wurde.
Glaubst du, es könnte etwas mit dem Sachakaner zu tun haben? hatte sie sagen wollen. Aber solche Fragen waren sinnlos. Sie würden es herausfinden, wenn sie dort ankamen.
Es war schwer, sich nicht das Schlimmste vorzustellen. Seit der Ankunft des Sachakaners hatten die Dorfbewohner nicht aufgehört, über den fremdländischen Magier zu tuscheln, der Lord Dakons Haus besuchte, und es war schwer, sich von ihrer Angst und Ehrfurcht nicht anstecken zu lassen. Obwohl Lord Dakon ebenfalls Magier war, war er doch vertraut und angesehen, und er war Kyralier. Wenn man ihn fürchtete, dann nur wegen der Magie, über die er gebieten konnte, und wegen der Macht, die er über ihrer aller Leben hatte; aber er war kein Landbesitzer, der seine Macht missbrauchte. Sachakanische Magier dagegen hatten Kyralia noch vor wenigen Jahrhunderten regiert und versklavt, und allen Berichten zufolge erinnerten sie die Menschen bei jeder Gelegenheit immer noch gern daran, wie die Dinge gewesen waren, bevor Kyralia seine Unabhängigkeit gewährt worden war.
Denk wie eine Heilerin, mahnte sie sich, während der Karren die Straße entlangholperte. Analysiere die Informationen, die du hast. Vertraue dem Verstand mehr als dem Gefühl.
Weder der Sachakaner noch Lord Dakon konnten krank sein. Beide waren Magier und damit bis auf wenige seltene Ausnahmen gefeit vor allen Krankheiten. Sie waren nicht immun gegen Seuchen, erlagen ihnen jedoch kaum einmal. Lord Dakon hätte ihren Vater herbeigerufen, lange bevor irgendeine Krankheit dringende Aufmerksamkeit erforderte; der Sachakaner allerdings würde möglicherweise eine Krankheit nicht offenbart haben, wenn er sich nicht von einem kyralischen Heiler hätte versorgen lassen wollen.
Magier konnten an Wunden sterben, dass wusste sie. Lord Dakon konnte sich verletzt haben. Dann kam ihr eine noch erschreckendere Möglichkeit in den Sinn. Hatten Lord Dakon und der Sachakaner gegeneinander gekämpft?
Wenn ja, würde das Haus des Lords – und vielleicht auch das ganze Dorf – nur mehr aus schwelenden Ruinen bestehen, sagte sie sich, falls die Geschichten über magische Schlachten der Wahrheit entsprechen. Von der Straße, die vom Haus des Bauern hinabführte, hatte man einen guten Blick auf die Gebäude darunter, die diesseits des Flusses beide Seiten der Hauptstraße säumten. Alles war so ruhig und friedlich wie bei ihrem Aufbruch.
Vielleicht waren der Patient oder die Patienten, die sie behandeln sollten, Dienstboten Lord Dakons. Abgesehen von Keron hielten sechs weitere Haus- und Stalldiener das Anwesen in Ordnung. Sie und ihr Vater hatten sie schon viele Male behandelt. Landarbeiter, die außerhalb des Dorfes lebten, fuhren manchmal zum Herrenhaus, wenn sie krank oder verletzt waren, obwohl sie im Allgemeinen direkt zu ihrem Vater kamen.
Wer ist sonst noch dort? Ah, natürlich. Da wäre noch Jayan, Lord Dakons Meisterschüler, erinnerte sie sich. Aber soweit ich weiß, verfügt er über den gleichen körperlichen Schutz gegen Krankheiten wie ein höherer Magier. Vielleicht hatte er sich in einen Kampf mit dem Sachakaner verwickeln lassen. Für die Sachakaner war ein Mann wie Jayan nicht viel mehr als ein Sklave, und …
»Tessia.«
Sie sah ihren Vater erwartungsvoll an. Hatte er eine Ahnung, wer seiner Dienste bedurfte?
»Ich … deine Mutter will, dass du aufhörst, mir zu helfen.«
Aus freudiger Erwartung wurde Ärger. »Ich weiß.« Sie verzog das Gesicht. »Sie will, dass ich mir einen netten Ehemann suche und anfange, Kinder in die Welt zu setzen.«
Er lächelte nicht, wie er es früher getan hatte, wenn das Thema zur Sprache gekommen war. »Ist das so schlimm? Du kannst keine Heilerin werden, Tessia.«
Als sie den Ernst in seiner Stimme hörte, sah sie ihn überrascht und enttäuscht an. Obwohl ihre Mutter diese Meinung schon viele Male geäußert hatte, hatte ihr Vater ihr nie darin zugestimmt. Sie hatte das Gefühl, als würde etwas in ihr zu Stein, in ihrem Magen, kalt, hart und unnachgiebig. Was natürlich unmöglich war. Menschliche Organe verwandelten sich nicht in Stein.
»Die Dorfbewohner werden dich nicht akzeptieren«, fuhr er fort.
»Das kannst du nicht wissen«, protestierte sie. »Nicht, bevor ich es versucht habe und gescheitert bin. Welchen Grund könnten sie haben, mir zu misstrauen?«
»Keinen. Sie mögen dich durchaus, aber die Vorstellung, eine Frau könnte heilen, ist ihnen genauso fremd wie die, dass einem Reber Flügel wachsen und er fliegen könnte. Es liegt nicht in der Natur einer Frau, einen klugen Kopf zu haben, denken sie.«
»Aber die Geburtsmütter … Ihnen vertrauen sie doch auch. Warum besteht ein Unterschied zwischen ihrem Geschäft und der Heilkunst?«
»Weil das, was die Geburtsmütter tun, sich auf ein kleines, genau festgelegtes Gebiet beschränkt. Vergiss nicht, die Menschen wenden sich an mich um Hilfe, wenn das Wissen einer Geburtsmutter unzureichend ist. Ein Heiler verfügt über Kenntnisse, zu denen keine Geburtsmutter Zugang hat. Die meisten Geburtsmütter können nicht einmal lesen.«
»Und doch vertrauen die Menschen ihnen. Manchmal vertrauen sie ihnen mehr als dir.«
»Das Gebären ist eine ausschließlich weibliche Fähigkeit«, erwiderte er trocken. »Das Heilen ist es nicht.«
Tessia konnte nicht sprechen. Ärger und Enttäuschung stiegen in ihr hoch, aber sie wusste, dass sie ihrer Sache durch Wutausbrüche nicht half. Sie musste überzeugend sein, und ihr Vater war kein einfältiger Dörfler, den man leicht beeinflussen konnte. Er war wahrscheinlich der klügste Mann im Dorf.
Als der Wagen die Hauptstraße erreichte, fluchte sie im Stillen. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr er sich der Meinung ihrer Mutter angenähert hatte. Ich muss seine Meinung wieder ändern, und ich muss vorsichtig dabei zu Werke gehen, überlegte sie. Er verstößt nicht gern gegen Mutters Wünsche. Also muss ich ebenso ihr Vertrauen in ihre Argumente schwächen, wie ich Vaters Zweifel an der Fortsetzung meiner Ausbildung zerstreuen muss. Sie musste alle Argumente erwägen, die für eine Zukunft als Heilerin sprachen, so wie die, die dagegen sprachen. Und dann musste sie ihre Erkenntnisse zu ihrem Nutzen einsetzen. Außerdem musste sie die Pläne ihrer Eltern bis ins Kleinste kennen.
»Was wirst du tun, wenn ich dir nicht mehr helfe?«, fragte sie.
»Ich werde einen Jungen aus dem Dorf zu mir nehmen«, sagte ihr Vater.
»Welchen?«
»Vielleicht den Jüngsten des Müllers. Er macht einen intelligenten Eindruck.«
Er hatte also bereits über diese Frage nachgedacht. Ein Stich der Kränkung durchzuckte sie.
Die gut gewartete Hauptstraße war weniger gefurcht als der Viehweg des Bauern, daher ließ ihr Vater abermals die Zügel schnalzen und drängte die Stute zu einem schnelleren Tempo. Die verstärkte Vibration des Wagens raubte Tessia die Fähigkeit zum Nachdenken. Als sie sich dem Dorf näherten, sah sie Gesichter in den Fenstern auftauchen. Die wenigen Dorfbewohner, die draußen unterwegs waren, blieben stehen und grüßten ihren Vater mit einem Nicken und einem Lächeln.
Als ihr Vater die Zügel anzog, um die Stute durch die Tore des Herrenhauses zu lenken, hielt Tessia sich am Geländer des Wagens fest. In dem fahlen Licht, das im Schatten des Hauses herrschte, konnte sie Stallarbeiter ausmachen, die herbeikamen, um die Zügel zu übernehmen, sobald der Wagen stehen blieb. Ihr Vater sprang von der Sitzbank, und Keron trat vor, um die Tasche ihres Vaters entgegenzunehmen. Sie sprang ebenfalls aus dem Wagen und eilte hinter den beiden Männern her, die im Herrenhaus verschwanden.
Durch die Türen des Flurs, den sie entlanggingen, konnte Tessia flüchtige Blicke in die Küche, die Vorratskammer, das Waschzimmer und andere Arbeitsräume der Dienstboten werfen. Schnelle Schritte hallten durch ein enges Treppenhaus, während sie in den oberen Stock hinaufgingen. Einige Biegungen später gelangten sie in einen Teil des Hauses, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Geschmackvoll geschmückte Wände und kostbare Möbel ließen vermuten, dass es sich um einen Wohnbereich handelte, aber dies waren nicht die Räume, die sie vor einigen Jahren einmal gesehen hatte, als man ihren Vater ins Herrenhaus gerufen hatte, um eine ziemlich fade, reiche junge Frau zu behandeln, die einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Sie konnte einige Schlafzimmer und ein Wohnzimmer erkennen und vermutete, dass diese Räume für Gäste reserviert waren.
Daher überraschte es sie, als Keron eine Tür öffnete und sie in einen kleinen, nur mit einem schlichten Bett und einem schmalen Tisch möblierten Raum führte. Es gab keine Fenster, die Licht eingelassen hätten, nur eine winzige Lampe brannte im Zimmer. Der Raum kam ihr armselig und schäbig vor. Dann blickte sie zum Bett hinüber, und plötzlich waren alle Gedanken an die Einrichtung vergessen.
Ein Mann lag dort. Ein Mann, dessen Gesicht so übel verschrammt und geschwollen war, dass ein Auge sich zu einem blutigen, schmalen Schlitz verengt hatte. Das Weiß des anderen Auges war dunkel. Sie vermutete, dass es bei besserem Licht rot gewirkt hätte. Die Lippen des Mannes bildeten keine gerade Linie, was wahrscheinlich ein Hinweis auf einen gebrochenen Kiefer war. Sein Gesicht schien breit und eigenartig geformt, obwohl dies eine Wirkung der Verletzungen sein konnte.
Außerdem hielt er die rechte Hand an die Brust gedrückt, und sie sah sofort, dass sein Unterarm sich auf eine Weise krümmte, wie er das nicht tun sollte. Auch seine Brust war dunkel von Prellungen. Als Kleidung trug er lediglich eine kurze, zerlumpte Hose, die an vielen Stellen schlecht geflickt war. Die Haut seines schmalen Körpers war von der Sonne dunkel gebräunt, und Erde hatte seine nackten Füße schwarz gefärbt. Ein Knöchel war böse geschwollen, die Wade des anderen Beins etwas schief, als sei sie nach einem Bruch schlecht verheilt.
Im Raum war es still, bis auf die schnellen, gequälten Atemstöße des Mannes. Tessia erkannte das Geräusch, und ein flaues Gefühl stieg in ihr auf. Ihr Vater hatte einmal einen Mann behandelt, dessen Rippen gebrochen waren und die Lungen durchstochen hatten. Dieser Mann war gestorben.
Ihr Vater hatte sich nicht bewegt, seit sie den Raum betreten hatten. Er stand still da, den Rücken leicht gebeugt, während er den geschundenen Mann auf dem Bett betrachtete.
»Vater«, sagte sie leise.
Mit einem Ruck richtete er sich auf und dreht sich zu ihr um. Als sein Blick dem ihren begegnete, wusste sie, dass sie einander verstanden. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf und stellte fest, dass er das Gleiche tat. Dann lächelte sie. In Augenblicken wie diesem, da sie nicht einmal zu sprechen brauchten, um einander zu verstehen, konnte er doch gewiss erkennen, dass sie dazu bestimmt war, in seine Fußstapfen zu treten?
Er runzelte die Stirn und schaute zu Boden, dann drehte er sich wieder zu dem Bett um. Ein jähes Gefühl schmerzlichen Verlustes stieg in ihr auf. Seine Reaktion hätte eine andere sein sollen: Er hätte lächeln oder nicken oder ihr irgendein Zeichen der Beteuerung übermitteln sollen, dass sie auch in Zukunft zusammenarbeiten würden.
Ich muss sein Vertrauen zurückgewinnen, dachte sie. Sie nahm Keron die Tasche ihres Vaters ab, stellte sie auf den schmalen Tisch und öffnete sie. Nachdem sie den Brenner herausgenommen hatte, zündete sie ihn an und stellte die Flamme richtig ein. Draußen im Flur erklangen Schritte.
»Wir brauchen mehr Licht«, murmelte ihr Vater.
Sofort wurde der Raum erfüllt von einem blendend weißen Licht. Tessia duckte sich, als ein leuchtender Ball sich an ihrem Kopf vorbeibewegte. Sie starrte ihm nach und bereute es sofort. Das Licht war zu hell. Als sie den Blick abwandte, trübte ein runder Schatten ihre Sicht.
Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100
Das für dieses Buch verwendete fsc-zertifizierte Papier EOS
liefert Salzer, St. Pölten.
1. Auflage
© 2009 by Trudi Canavan
© der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Penhaligon Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München
www.hildendesign.de
Umschlagillustration: © HildenDesign, Maximilian Meinzold
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-7645-3037-2
www.penhaligon.de
Als sie aufblickte, war das Gesicht des Jungen von Falten überzogen. Tessias Vater hatte begonnen, durch das Gelenk zu schneiden. Sie hob den Kopf und bemerkte, dass der Vater des Jungen jetzt eine teigig-graue Gesichtsfarbe angenommen hatte; die der Mutter war schneeweiß.
»Schaut nicht hin«, murmelte Tessia warnend. Die Frau wandte abrupt den Kopf ab.
Die Klinge traf mit einem Klacken auf das Operationsbrett. Nachdem sie ihrem Vater das kleine Gelenkmesser abgenommen hatte, reichte Tessia ihm eine gebogene Nadel, in der bereits ein feiner, aus einer Sehne gefertigter Faden steckte. Die Nadel glitt mühelos durch die Haut des Jungen, und ein Funke von Stolz glomm in Tessia auf; sie hatte sie zur Vorbereitung auf diese Operation sorgfältig geschärft, und der Sehnenzwirn war der feinste, den sie je hergestellt hatte.
Sie betrachtete den amputierten Finger, der am Ende des Operationsbrettes lag: auf der einen Seite eine geschwärzte, eiternde Masse, aber das abgeschnittene Ende zeigte beruhigend gesundes Fleisch. Vor einigen Tagen hatte der Junge sich den Finger bei einem Unfall während der Erntearbeiten böse gequetscht, aber wie die meisten Dorfbewohner und Landarbeiter, die ihr Vater versorgte, hatten weder der Junge noch der Vater Hilfe gesucht, bis die Wunde sich entzündet hatte. Erst bei extremen Schmerzen akzeptierte ein Mensch die Entfernung eines Körperteils.
Wenn man zu lange wartete, konnte eine solche Entzündung das Blut vergiften und zu Fieber und sogar zum Tod führen. Dass eine kleine Wunde sich als tödlich erweisen konnte, faszinierte sie. Und es machte ihr Angst. Sie kannte einen Mann, den ein bloßer verfaulter Zahn in den Wahnsinn und zur Selbstverstümmelung getrieben hatte; normalerweise robuste Frauen verbluteten, nachdem sie ein Kind geboren hatten. Sie wusste auch von gesunden Säuglingen, die ohne erkennbaren Grund zu atmen aufgehört hatten, und von Fieberkrankheiten, die sich im Dorf verbreitet und nur ein oder zwei Menschenleben gefordert hatten, während die übrigen nicht mehr als ein gewisses Unbehagen hatten erdulden müssen.
Bei der Arbeit für ihren Vater hatte sie in ihren sechzehn Jahren mehr Verletzungen, Krankheiten und Todesfälle erlebt als die meisten Frauen in ihrem ganzen Leben. Aber sie hatte auch gesehen, wie Gebrechen geheilt, chronische Krankheiten gelindert und Leben gerettet wurden. Sie kannte jeden Mann, jede Frau und jedes Kind im Dorf und im Lehen und etliche, die jenseits dieser Grenzen lebten. Sie hatte Kenntnis von Dingen, in die nur wenige eingeweiht waren. Im Gegensatz zu den meisten Einheimischen konnte sie lesen und schreiben, logische Schlüsse ziehen und …
Ihr Vater blickte auf und reichte ihr die Nadel und den verbliebenen Faden. Ordentliche Stiche hielten die Hautlasche über dem Fingerstumpf des Jungen zusammen. Da sie wusste, was als Nächstes kam, nahm Tessia ein wenig Watte und Verbandszeug aus der Heilertasche und reichte sie ihm.
»Nimm das hier«, sagte er zu der Mutter.
Die Frau ließ die andere Hand des Jungen los und nahm von Tessias Vater etwas Verbandmull und Watte entgegen. Dann legte der den Fingerstumpf mitten auf die Watte und griff nach der Aderpresse am Arm des Jungen.
»Wenn ich dies hier lockere, wird das Blut in seinem Arm seinen Rhythmus wiederfinden«, erklärte er. »Sein Finger wird anfangen zu bluten. Du musst die Watte fest um den Finger drücken und gedrückt halten, bis das Blut einen neuen Pulspfad findet.«
Die Frau biss sich auf die Unterlippe und nickte. Als Tessias Vater die Aderpresse lockerte, nahmen der Arm und die Hand des Jungen langsam wieder einen gesunden, rosigen Ton an. Blut quoll zwischen den Stichen hervor, und die Mutter schloss hastig ihre Hand um den Stumpf. Der Junge verzog das Gesicht. Sie strich ihm liebevoll übers Haar.
Tessia unterdrückte ein Lächeln. Ihr Vater hatte sie gelehrt, dass es klug war, eine Familie in den Heilungsprozess einzubinden. Es gab ihnen das Gefühl, nicht vollkommen hilflos zu sein, und sie würden den Methoden, die er anwandte, weniger argwöhnisch oder geringschätzig gegenüberstehen, wenn sie daran teilhatten.
Nach einer kurzen Wartezeit überprüfte ihr Vater den Stumpf, dann bandagierte er ihn fest und gab der Familie Anweisungen, wie oft die Verbände zu wechseln wären, dass sie sauber und trocken gehalten werden mussten, wenn der Junge seine Arbeit wieder aufnahm (er war nicht dumm genug, den Eltern zu sagen, sie sollten den Jungen zu Hause behalten), wann sie endgültig abgelegt werden konnten und auf welche Zeichen einer Entzündung sie achten mussten.
Während er die Medikamente und zusätzlichen Verbände auflistete, die sie benötigen würden, nahm Tessia die gewünsch ten Dinge aus seiner Tasche und legte sie auf die sauberste Stelle des Tisches, die sie finden konnte. Den amputierten Finger wickelte sie ein und schob ihn beiseite. Patienten und ihre Familien zogen es vor, solche Dinge zu vergraben oder zu verbrennen, vielleicht weil sie sich Sorgen machten, was damit geschehen würde, wenn sie sich nicht selbst darum kümmerten. Zweifellos hatten sie die beunruhigenden und lächerlichen Geschichten gehört, die von Zeit zu Zeit die Runde machten: Angeblich experimentierten Heiler in Kyralia heimlich mit amputierten Gliedmaßen, mahlten Knochen zu magischen Tränken oder brachten es irgendwie fertig, sie wiederzubeleben.
Nachdem sie die Nadel gesäubert und über dem Brenner gereinigt hatte, packte sie sie mitsamt den anderen Instrumenten wieder ein. Das Operationsbrett würde später zu Hause gesäubert werden müssen. Sie löschte den Brenner und wartete, während die Familie ihnen dankte.
Auch dies war ein gründlich einstudierter Teil ihrer Arbeit. Ihr Vater hasste es, wenn Patienten ihn mit Dankesbekundungen überschütteten. Es war ihm peinlich. Schließlich bot er seine Dienste nicht kostenlos an. Lord Dakon versorgte ihn und seine Familie im Austausch dafür, dass er sich um die Menschen seines Lehens kümmerte, mit einem Haus und mit einem Einkommen.
Aber indem er ihren Dank bescheiden und geduldig entgegennahm, das wusste ihr Vater, erhielt er sich das Wohlwollen der Einheimischen. Geschenke nahm er jedoch grundsätzlich nicht an. Alle Untertanen Lord Dakons zahlten ihrem Herrn einen Zehnten, was bedeutete, dass sie Tessias Vater bereits für seine Dienste entlohnt hatten.
Tessias Aufgabe bestand darin, auf den richtigen Augenblick zu warten, um sich einzuschalten und ihren Vater daran zu erinnern, dass noch mehr Arbeit auf sie wartete. Die Familie entschuldigte sich dann. Ihr Vater entschuldigte sich. Und schließlich geleitete man sie hinaus.
Aber als der richtige Augenblick näher kam, wurde draußen das Trommeln von Hufschlägen vernehmbar. Alle hielten inne, um zu lauschen. Die Hufschläge brachen ab, an ihre Stelle traten Schritte, dann ein Klopfen an der Tür.
»Veran, der Heiler? Ist Veran der Heiler hier?«
Der Bauer und ihr Vater traten gleichzeitig auf die Tür zu, dann blieb ihr Vater stehen, sodass der Mann die Tür selbst öffnen konnte. Ein gut gekleideter Mann in mittleren Jahren stand davor; seine Stirn war feucht von Schweiß. Tessia kannte ihn: Keron, der Haushofmeister von Lord Dakon.
»Er ist hier«, sagte der Bauer.
Keron spähte in das dunkle Haus. »Deine Dienste werden im Herrenhaus gebraucht, Heiler Veran. Es ist dringend.«
Tessias Vater runzelte die Stirn, dann drehte er sich um und winkte sie zu sich. Sie griff nach seiner Tasche und dem Brenner und eilte hinter ihm her ins Tageslicht hinaus. Einer der älteren Söhne des Bauern wartete neben dem Pferd und dem Karren, die Lord Dakon ihrem Vater für Besuche von Patienten außerhalb des Dorfes zur Verfügung stellte, und der Junge stand hastig auf und zog einen Futtersack vom Kopf der alten Stute. Tessias Vater nickte ihm dankend zu, dann nahm er Tessia die Tasche ab und verstaute sie hinten im Wagen. Als sie auf den Sitz kletterten, galoppierte Keron auch schon an ihnen vorbei in Richtung Dorf. Ihr Vater nahm die Zügel und zog sie kurz an. Die Stute schnaubte, schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung.
Tessia sah ihren Vater an. »Glaubst du …?«, begann sie, brach jedoch gleich wieder ab, weil ihr die Sinnlosigkeit ihrer Frage bewusst wurde.
Glaubst du, es könnte etwas mit dem Sachakaner zu tun haben? hatte sie sagen wollen. Aber solche Fragen waren sinnlos. Sie würden es herausfinden, wenn sie dort ankamen.
Es war schwer, sich nicht das Schlimmste vorzustellen. Seit der Ankunft des Sachakaners hatten die Dorfbewohner nicht aufgehört, über den fremdländischen Magier zu tuscheln, der Lord Dakons Haus besuchte, und es war schwer, sich von ihrer Angst und Ehrfurcht nicht anstecken zu lassen. Obwohl Lord Dakon ebenfalls Magier war, war er doch vertraut und angesehen, und er war Kyralier. Wenn man ihn fürchtete, dann nur wegen der Magie, über die er gebieten konnte, und wegen der Macht, die er über ihrer aller Leben hatte; aber er war kein Landbesitzer, der seine Macht missbrauchte. Sachakanische Magier dagegen hatten Kyralia noch vor wenigen Jahrhunderten regiert und versklavt, und allen Berichten zufolge erinnerten sie die Menschen bei jeder Gelegenheit immer noch gern daran, wie die Dinge gewesen waren, bevor Kyralia seine Unabhängigkeit gewährt worden war.
Denk wie eine Heilerin, mahnte sie sich, während der Karren die Straße entlangholperte. Analysiere die Informationen, die du hast. Vertraue dem Verstand mehr als dem Gefühl.
Weder der Sachakaner noch Lord Dakon konnten krank sein. Beide waren Magier und damit bis auf wenige seltene Ausnahmen gefeit vor allen Krankheiten. Sie waren nicht immun gegen Seuchen, erlagen ihnen jedoch kaum einmal. Lord Dakon hätte ihren Vater herbeigerufen, lange bevor irgendeine Krankheit dringende Aufmerksamkeit erforderte; der Sachakaner allerdings würde möglicherweise eine Krankheit nicht offenbart haben, wenn er sich nicht von einem kyralischen Heiler hätte versorgen lassen wollen.
Magier konnten an Wunden sterben, dass wusste sie. Lord Dakon konnte sich verletzt haben. Dann kam ihr eine noch erschreckendere Möglichkeit in den Sinn. Hatten Lord Dakon und der Sachakaner gegeneinander gekämpft?
Wenn ja, würde das Haus des Lords – und vielleicht auch das ganze Dorf – nur mehr aus schwelenden Ruinen bestehen, sagte sie sich, falls die Geschichten über magische Schlachten der Wahrheit entsprechen. Von der Straße, die vom Haus des Bauern hinabführte, hatte man einen guten Blick auf die Gebäude darunter, die diesseits des Flusses beide Seiten der Hauptstraße säumten. Alles war so ruhig und friedlich wie bei ihrem Aufbruch.
Vielleicht waren der Patient oder die Patienten, die sie behandeln sollten, Dienstboten Lord Dakons. Abgesehen von Keron hielten sechs weitere Haus- und Stalldiener das Anwesen in Ordnung. Sie und ihr Vater hatten sie schon viele Male behandelt. Landarbeiter, die außerhalb des Dorfes lebten, fuhren manchmal zum Herrenhaus, wenn sie krank oder verletzt waren, obwohl sie im Allgemeinen direkt zu ihrem Vater kamen.
Wer ist sonst noch dort? Ah, natürlich. Da wäre noch Jayan, Lord Dakons Meisterschüler, erinnerte sie sich. Aber soweit ich weiß, verfügt er über den gleichen körperlichen Schutz gegen Krankheiten wie ein höherer Magier. Vielleicht hatte er sich in einen Kampf mit dem Sachakaner verwickeln lassen. Für die Sachakaner war ein Mann wie Jayan nicht viel mehr als ein Sklave, und …
»Tessia.«
Sie sah ihren Vater erwartungsvoll an. Hatte er eine Ahnung, wer seiner Dienste bedurfte?
»Ich … deine Mutter will, dass du aufhörst, mir zu helfen.«
Aus freudiger Erwartung wurde Ärger. »Ich weiß.« Sie verzog das Gesicht. »Sie will, dass ich mir einen netten Ehemann suche und anfange, Kinder in die Welt zu setzen.«
Er lächelte nicht, wie er es früher getan hatte, wenn das Thema zur Sprache gekommen war. »Ist das so schlimm? Du kannst keine Heilerin werden, Tessia.«
Als sie den Ernst in seiner Stimme hörte, sah sie ihn überrascht und enttäuscht an. Obwohl ihre Mutter diese Meinung schon viele Male geäußert hatte, hatte ihr Vater ihr nie darin zugestimmt. Sie hatte das Gefühl, als würde etwas in ihr zu Stein, in ihrem Magen, kalt, hart und unnachgiebig. Was natürlich unmöglich war. Menschliche Organe verwandelten sich nicht in Stein.
»Die Dorfbewohner werden dich nicht akzeptieren«, fuhr er fort.
»Das kannst du nicht wissen«, protestierte sie. »Nicht, bevor ich es versucht habe und gescheitert bin. Welchen Grund könnten sie haben, mir zu misstrauen?«
»Keinen. Sie mögen dich durchaus, aber die Vorstellung, eine Frau könnte heilen, ist ihnen genauso fremd wie die, dass einem Reber Flügel wachsen und er fliegen könnte. Es liegt nicht in der Natur einer Frau, einen klugen Kopf zu haben, denken sie.«
»Aber die Geburtsmütter … Ihnen vertrauen sie doch auch. Warum besteht ein Unterschied zwischen ihrem Geschäft und der Heilkunst?«
»Weil das, was die Geburtsmütter tun, sich auf ein kleines, genau festgelegtes Gebiet beschränkt. Vergiss nicht, die Menschen wenden sich an mich um Hilfe, wenn das Wissen einer Geburtsmutter unzureichend ist. Ein Heiler verfügt über Kenntnisse, zu denen keine Geburtsmutter Zugang hat. Die meisten Geburtsmütter können nicht einmal lesen.«
»Und doch vertrauen die Menschen ihnen. Manchmal vertrauen sie ihnen mehr als dir.«
»Das Gebären ist eine ausschließlich weibliche Fähigkeit«, erwiderte er trocken. »Das Heilen ist es nicht.«
Tessia konnte nicht sprechen. Ärger und Enttäuschung stiegen in ihr hoch, aber sie wusste, dass sie ihrer Sache durch Wutausbrüche nicht half. Sie musste überzeugend sein, und ihr Vater war kein einfältiger Dörfler, den man leicht beeinflussen konnte. Er war wahrscheinlich der klügste Mann im Dorf.
Als der Wagen die Hauptstraße erreichte, fluchte sie im Stillen. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr er sich der Meinung ihrer Mutter angenähert hatte. Ich muss seine Meinung wieder ändern, und ich muss vorsichtig dabei zu Werke gehen, überlegte sie. Er verstößt nicht gern gegen Mutters Wünsche. Also muss ich ebenso ihr Vertrauen in ihre Argumente schwächen, wie ich Vaters Zweifel an der Fortsetzung meiner Ausbildung zerstreuen muss. Sie musste alle Argumente erwägen, die für eine Zukunft als Heilerin sprachen, so wie die, die dagegen sprachen. Und dann musste sie ihre Erkenntnisse zu ihrem Nutzen einsetzen. Außerdem musste sie die Pläne ihrer Eltern bis ins Kleinste kennen.
»Was wirst du tun, wenn ich dir nicht mehr helfe?«, fragte sie.
»Ich werde einen Jungen aus dem Dorf zu mir nehmen«, sagte ihr Vater.
»Welchen?«
»Vielleicht den Jüngsten des Müllers. Er macht einen intelligenten Eindruck.«
Er hatte also bereits über diese Frage nachgedacht. Ein Stich der Kränkung durchzuckte sie.
Die gut gewartete Hauptstraße war weniger gefurcht als der Viehweg des Bauern, daher ließ ihr Vater abermals die Zügel schnalzen und drängte die Stute zu einem schnelleren Tempo. Die verstärkte Vibration des Wagens raubte Tessia die Fähigkeit zum Nachdenken. Als sie sich dem Dorf näherten, sah sie Gesichter in den Fenstern auftauchen. Die wenigen Dorfbewohner, die draußen unterwegs waren, blieben stehen und grüßten ihren Vater mit einem Nicken und einem Lächeln.
Als ihr Vater die Zügel anzog, um die Stute durch die Tore des Herrenhauses zu lenken, hielt Tessia sich am Geländer des Wagens fest. In dem fahlen Licht, das im Schatten des Hauses herrschte, konnte sie Stallarbeiter ausmachen, die herbeikamen, um die Zügel zu übernehmen, sobald der Wagen stehen blieb. Ihr Vater sprang von der Sitzbank, und Keron trat vor, um die Tasche ihres Vaters entgegenzunehmen. Sie sprang ebenfalls aus dem Wagen und eilte hinter den beiden Männern her, die im Herrenhaus verschwanden.
Durch die Türen des Flurs, den sie entlanggingen, konnte Tessia flüchtige Blicke in die Küche, die Vorratskammer, das Waschzimmer und andere Arbeitsräume der Dienstboten werfen. Schnelle Schritte hallten durch ein enges Treppenhaus, während sie in den oberen Stock hinaufgingen. Einige Biegungen später gelangten sie in einen Teil des Hauses, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Geschmackvoll geschmückte Wände und kostbare Möbel ließen vermuten, dass es sich um einen Wohnbereich handelte, aber dies waren nicht die Räume, die sie vor einigen Jahren einmal gesehen hatte, als man ihren Vater ins Herrenhaus gerufen hatte, um eine ziemlich fade, reiche junge Frau zu behandeln, die einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Sie konnte einige Schlafzimmer und ein Wohnzimmer erkennen und vermutete, dass diese Räume für Gäste reserviert waren.
Daher überraschte es sie, als Keron eine Tür öffnete und sie in einen kleinen, nur mit einem schlichten Bett und einem schmalen Tisch möblierten Raum führte. Es gab keine Fenster, die Licht eingelassen hätten, nur eine winzige Lampe brannte im Zimmer. Der Raum kam ihr armselig und schäbig vor. Dann blickte sie zum Bett hinüber, und plötzlich waren alle Gedanken an die Einrichtung vergessen.
Ein Mann lag dort. Ein Mann, dessen Gesicht so übel verschrammt und geschwollen war, dass ein Auge sich zu einem blutigen, schmalen Schlitz verengt hatte. Das Weiß des anderen Auges war dunkel. Sie vermutete, dass es bei besserem Licht rot gewirkt hätte. Die Lippen des Mannes bildeten keine gerade Linie, was wahrscheinlich ein Hinweis auf einen gebrochenen Kiefer war. Sein Gesicht schien breit und eigenartig geformt, obwohl dies eine Wirkung der Verletzungen sein konnte.
Außerdem hielt er die rechte Hand an die Brust gedrückt, und sie sah sofort, dass sein Unterarm sich auf eine Weise krümmte, wie er das nicht tun sollte. Auch seine Brust war dunkel von Prellungen. Als Kleidung trug er lediglich eine kurze, zerlumpte Hose, die an vielen Stellen schlecht geflickt war. Die Haut seines schmalen Körpers war von der Sonne dunkel gebräunt, und Erde hatte seine nackten Füße schwarz gefärbt. Ein Knöchel war böse geschwollen, die Wade des anderen Beins etwas schief, als sei sie nach einem Bruch schlecht verheilt.
Im Raum war es still, bis auf die schnellen, gequälten Atemstöße des Mannes. Tessia erkannte das Geräusch, und ein flaues Gefühl stieg in ihr auf. Ihr Vater hatte einmal einen Mann behandelt, dessen Rippen gebrochen waren und die Lungen durchstochen hatten. Dieser Mann war gestorben.
Ihr Vater hatte sich nicht bewegt, seit sie den Raum betreten hatten. Er stand still da, den Rücken leicht gebeugt, während er den geschundenen Mann auf dem Bett betrachtete.
»Vater«, sagte sie leise.
Mit einem Ruck richtete er sich auf und dreht sich zu ihr um. Als sein Blick dem ihren begegnete, wusste sie, dass sie einander verstanden. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf und stellte fest, dass er das Gleiche tat. Dann lächelte sie. In Augenblicken wie diesem, da sie nicht einmal zu sprechen brauchten, um einander zu verstehen, konnte er doch gewiss erkennen, dass sie dazu bestimmt war, in seine Fußstapfen zu treten?
Er runzelte die Stirn und schaute zu Boden, dann drehte er sich wieder zu dem Bett um. Ein jähes Gefühl schmerzlichen Verlustes stieg in ihr auf. Seine Reaktion hätte eine andere sein sollen: Er hätte lächeln oder nicken oder ihr irgendein Zeichen der Beteuerung übermitteln sollen, dass sie auch in Zukunft zusammenarbeiten würden.
Ich muss sein Vertrauen zurückgewinnen, dachte sie. Sie nahm Keron die Tasche ihres Vaters ab, stellte sie auf den schmalen Tisch und öffnete sie. Nachdem sie den Brenner herausgenommen hatte, zündete sie ihn an und stellte die Flamme richtig ein. Draußen im Flur erklangen Schritte.
»Wir brauchen mehr Licht«, murmelte ihr Vater.
Sofort wurde der Raum erfüllt von einem blendend weißen Licht. Tessia duckte sich, als ein leuchtender Ball sich an ihrem Kopf vorbeibewegte. Sie starrte ihm nach und bereute es sofort. Das Licht war zu hell. Als sie den Blick abwandte, trübte ein runder Schatten ihre Sicht.
Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100
Das für dieses Buch verwendete fsc-zertifizierte Papier EOS
liefert Salzer, St. Pölten.
1. Auflage
© 2009 by Trudi Canavan
© der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Penhaligon Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München
www.hildendesign.de
Umschlagillustration: © HildenDesign, Maximilian Meinzold
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-7645-3037-2
www.penhaligon.de
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Autoren-Porträt von Trudi Canavan
Trudi Canavan wurde 1969 im australischen Melbourne geboren. Sie arbeitete als Grafikerin und Designerin für verschiedene Verlage und begann nebenbei zu schreiben. 1999 gewann sie den Aurealis Award für die beste Fantasy-Kurzgeschichte. Ihr Debütroman wurde weltweit ein riesiger Erfolg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Trudi Canavan
- 2009, 6, 736 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Michaela Link
- Übersetzer: Michaela Link
- Verlag: Penhaligon
- ISBN-10: 3764530375
- ISBN-13: 9783764530372
Rezension zu „Magie “
"Packend geschrieben."
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