»Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert«
Das Kriegstagebuch eines deutschen Heeresrichters 1944/45. Mit e. Vorw. v. Wolfram Wette
Was konnten "ganz normale Deutsche" wissen?
Wir haben es mit einem NS-Gegner in Uniform zu tun, der hinter die Kulissen der nationalsozialistischen Propagandaformeln vom "Endsieg" blickt und damit ein wirklichkeitsgetreues Bild der militärischen...
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Was konnten "ganz normale Deutsche" wissen?
Wir haben es mit einem NS-Gegner in Uniform zu tun, der hinter die Kulissen der nationalsozialistischen Propagandaformeln vom "Endsieg" blickt und damit ein wirklichkeitsgetreues Bild der militärischen Lage dokumentiert.
"Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert" - notiert der Heeresrichter Werner Otto Müller-Hill im April 1944 in sein Tagebuch. Eindrucksvoll drückt er damit sein sicheres Gefühl nicht nur für den militärischen, sondern auch moralischen Bankrott des "Dritten Reichs" aus.
Ein bemerkenswertes Dokument, das uns deutlich zu machen vermag, dass es 1944/45 auch Deutsche gab, die sich von der Nazi-Propaganda nicht blenden ließen, die nicht behaupteten, von den Judenmorden nichts gewusst zu haben, und die sich selbstkritische Gedanken über die Zukunft Deutschlands nach einem verlorenen Krieg machten.
Das faszinierende Tagebuch eines deutschen Heeresrichters aus dem letzten Kriegsjahr.
Klappentext zu „»Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert« “
Was konnten "ganz normale Deutsche" wissen?Wir haben es mit einem NS-Gegner in Uniform zu tun, der hinter die Kulissen der nationalsozialistischen Propagandaformeln vom "Endsieg" blickt und damit ein wirklichkeitsgetreues Bild der militärischen Lage dokumentiert.
"Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert" - notiert der Heeresrichter Werner Otto Müller-Hill im April 1944 in sein Tagebuch. Eindrucksvoll drückt er damit sein sicheres Gefühl nicht nur für den militärischen, sondern auch moralischen Bankrott des "Dritten Reichs" aus.
Ein bemerkenswertes Dokument, das uns deutlich zu machen vermag, dass es 1944/45 auch Deutsche gab, die sich von der Nazi-Propaganda nicht blenden ließen, die nicht behaupteten, von den Judenmorden nichts gewusst zu haben, und die sich selbstkritische Gedanken über die Zukunft Deutschlands nach einem verlorenen Krieg machten.
Das faszinierende Tagebuch eines deutschen Heeresrichters aus dem letzten Kriegsjahr.
Lese-Probe zu „»Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert« “
»Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert« von Werner Otto Müller-HillKein Blutrichter
Als Ende der 1970er-Jahre der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger als einstiger Marinerichter »enttarnt« wurde, rückten Aufgabe und Funktion der Wehrmachtsrichter erstmals in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Filbinger, ein prominenter Vertreter des konservativen Flügels der CDU, leugnete beharrlich seine Beteiligung an Todesurteilen, versuchte die Wehrmachtsjustiz als rechtsstaatlich einwandfrei darzustellen und weigerte sich halsstarrig, das Unrecht einzugestehen. Dabei hatte das Oberkommando der Wehrmacht in einem Erlass vom 26. September 1942 unmissverständlich dargelegt, die Militärjustiz sei »ein Organ der militärischen Führung« und ihre Hauptaufgabe »die Aufrechterhaltung der Disziplin in der Wehrmacht«. es sei selbstverständlich, »dass der Richter jeden Ranges fest in der nationalsozialistischen Weltanschauung wurzelt und seine Arbeit danach ausrichtet«.1
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Dennoch konnte sich nach 1945 - unter dem großen Schutzschirm der Legende von der »sauberen« Wehrmacht2 - auch die Legende von der gewissenhaften und unabhängigen Wehrmachtsjustiz in den Köpfen der Menschen festsetzen. auf diese Weise gelang es den ehemaligen Kriegsrichtern zunächst, vergessen zu machen, dass sie ihr Juristengeschäft in einem Unrechtsstaat verrichtet hatten.3 Doch 1978, als die Filbinger-affäre hochkochte, war die Zeit der apologetischen Beschönigung der NS-Zeit vorbei. selbst seine eigene Partei, die CDU, setzte Filbinger zu und zwang ihn schließlich dazu, Konsequenzen zu ziehen und zurückzutreten.4 unbeabsichtigt gab Filbinger mit seinem uneinsichtigen gebaren den Anstoß zur wissenschaftlichen Überprüfung der Wehrmachtsjustiz.
Zwar gibt es auch Gegenbeispiele zu Richtern wie Filbinger - das hier vorliegende Tagebuch des zum NS-Regime oppositionell eingestellten Wehrmachtsrichters Werner Otto Müller-Hill zeugt davon -, doch generell eruierte die Forschung ein anderes Bild der Wehrmachtsjustiz: auf ihr Konto gingen mehr als 30 000 Todesurteile, von denen etwa 20 000 auch vollstreckt wurden. aufgrund dieser Erkenntnisse wurden die Opfer der ns-Militärjustiz, insbesondere Deserteure, Kriegsdienstverweigerer, »Wehrkraftzersetzer« und »Kriegsverräter«, zunächst von der deutschen Öffentlichkeit und später auch förmlich vom Deutschen Bundestag in mehreren Etappen politisch, moralisch und juristisch rehabilitiert.5 auf diesem Umweg kam es auch zu einer Neubewertung der Wehrmachtsjustiz.
Das Bundessozialgericht sprach 1991 der NS-Militärjustiz die rechtsstaatliche Qualität ab und bezeichnete diese Institution des Dritten Reiches als »terroristisch« und »verbrecherisch«.6 Die Militärrichter hätten nicht unabhängig gerichtet, sondern nach den Weisungen des militärischen gerichtsherrn.7 Die Todesurteile gegen Deserteure bewertete das Gericht generell als »offensichtlich unrechtmäßig« und die Militärgerichte als »Gehilfen des NS-Terrors« und Mittäter in einem »völkerrechtswidrigen Krieg«.
einen weiteren Wendepunkt in der Bewertung der NS-Militärjustiz bildete ein in der Öffentlichkeit als sensationell empfundenes Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) aus dem Jahr 1995. es stellte fest, die Todesstrafen Praxis der Militärjustiz sei »rechtsbeugerisch« gewesen. Das bedeutete, dass die Kriegsrichter das recht bewusst falsch angewandt und damit Verbrechen begangen hatten. Die Praxis, Todesstrafen zu verhängen, hätte »in einer Vielzahl von Fällen zur Verurteilung von Richtern und Staatsanwälten des nationalsozialistischen Gewaltregimes führen müssen«. aber »trotz des tausendfachen Missbrauchs der Todesstrafe« habe es derartige Verurteilungen nicht gegeben. Der BGH bezeichnete die Richter, die in der NS-Militärjustiz tätig gewesen waren und anschließend in der Bundesrepublik ihre Laufbahn fortgesetzt hatten, als »Blutrichter«, die sich eigentlich »wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen«.
Vor dem Hintergrund der enormen Diskrepanz zwischen den Selbstrechtfertigungen der NS-Militärjuristen und der völlig entgegengesetzten Bewertung dieser Justiz durch die Rechtsprechung in den 1990er-Jahren ist es von erheblichem Interesse, den sonder- fall eines Heeresrichters wie Werner Otto Müller-Hill näher kennenzulernen.
er wurde 1885 in Freiburg im Breisgau geboren.9 Dort leitete sein Vater ein großes Ingenieurbüro, das mit dem Bau der Höllentalbahn beauftragt war, die 1887 eröffnet wurde. seine Mutter spielte Klavier und war als Konzertsängerin ausgebildet. im wohlhabenden elterlichen Haushalt gab es einen Salon und ein Musikzimmer. Der Junge besuchte zusammen mit anderen Kindern der bürgerlichen Oberschicht zunächst eine Privatschule, dann ein humanistisches Gymnasium. in den Jahren 1907 bis 1912 studierte er in Freiburg Jura und ließ sich bereits 1913 als Rechtsanwalt nieder. im ersten Weltkrieg war er von 1915 bis 1919 Militärhilfsrichter und ab 1916 Kriegsgerichtsrat im Heer.
Von 1919 bis 1940 arbeitete Müller-Hill wieder als Rechtsanwalt, bis er erneut zum Kriegsdienst eingezogen wurde und die Wehrmacht ihn als Feldkriegsgerichtsrat der Reserve verwendete.10 er gehörte also nicht zu den aktiven Kriegsrichtern, sondern hatte den Status eines Reserveoffiziers, in dem er sich offenbar wie ein zwangsweise eingekleideter Zivilist fühlte. Vom 1. Januar 1940 bis zum 30. April 1945 leistete Müller-Hill Militärdienst als Heeresrichter, ab 1. Mai 1944 mit dem Dienstgrad Oberstabsrichter,11 was dem Rang eines Oberstleutnants bei Heer oder Luftwaffe entspricht. Von Februar 1942 bis Oktober 1944 war er beim Feldkriegsgericht der ersatz-Division 158 (später umbenannt in 405) in Straßburg eingesetzt. in der Endphase des Krieges 1945 wechselte Müller-Hill mit seinem Divisionsstab in die südbadische Stadt Oberkirch und später nach Tübingen.
Der bei Kriegsende bereits sechzigjährige und - soweit schon damals erkennbar - unbelastete Jurist fand bald im badischen Justiz- dienst Verwendung. 1947 wurde er in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit berufen12 und zwei Jahre später zum Oberstaatsanwalt mit Dienstort Offenburg/baden ernannt. 1950 wurde er pensioniert.13 Müller- Hill starb 1977 hochbetagt, in seinem 92. Lebensjahr.
sein handschriftlich verfasstes und später transkribiertes Kriegstagebuch umfasst den Zeitraum vom 28. März 1944 bis zum 7. Juni 1945, also die letzten 14 Monate des Zweiten Weltkrieges und einige Wochen darüber hinaus. Zweifellos hat Müller-Hill tatsächlich Tagebuch geführt - und seine Ausführungen nicht etwa erst nach dem Krieg verfasst. Was den Text für uns heute interessant macht, ist der Umstand, dass hier ein Wehrmachtsoffizier in der herausgehobenen Funktion des Heeresrichters seine dezidiert oppositionelle Einstellung dokumentiert. Müller-Hill war ein NS-gegner in Uniform, der seine analytischen Fähigkeiten dazu einsetzte, hinter die Kulissen der nationalsozialistischen Propagandaformeln »Endsieg«, »Sein oder Nichtsein« oder »sieg oder Untergang« zu schauen und sich ein einigermaßen wirklichkeitsgemäßes Bild von der militärischen Lage zu verschaffen. immer wieder reflektierte er auf der Basis der ihm zugänglichen Informationen - NS-Zeitungen, Wehrmachtsbericht, Auslandssender - über die Kriegsabläufe und versuchte, mögliche Entwicklungen vorherzusehen. Darüber hinaus stellte der Tagebuchschreiber öfter Spekulationen über mögliche politische Entwicklungen in der Nachkriegszeit an, wobei für ihn immer feststand, dass Deutschland den Krieg verlieren würde.
Weshalb schrieb Müller-Hill Tagebuch? Offenbar wollte er Zeugnis ablegen von seiner politischen Einstellung, gegenüber seiner Familie und einer imaginierten Nachwelt. er wusste natürlich, dass ihn ein solches Tagebuch, wäre es in falsche Hände geraten, in allergrößte Schwierigkeiten gebracht hätte. es hätte wohl, wie er selbst schreibt, seine »völlige Auslöschung« bedeutet: »ich würde entlassen und der GeStaPo als Zivilist zur Schulung überantwortet werden und dies wäre wohl gleichbedeutend mit dem Tode.« Vorstellbar ist aber auch, dass er sich selbst entlasten wollte. immerhin stand er trotz seiner Gegnerschaft zum Regime in dessen Dienst.
Mit dem Straßburger Divisions-Heeresgericht gehörte Müller-Hill einem Gericht an, an dem, wie er schrieb, »noch recht gewährt« wurde, an dem es aber auch »ausgesprochene Blutrichter« gab. er selbst schildert sich als einen verständnisvollen Richter, der seine Handlungsspielräume dazu nutzte, den angeklagten Soldaten Schutz zu gewähren. nach dem Krieg konnte Müller-Hill nachweisen, dass er »weder der Partei noch einer ihrer Gliederungen angehört«14 und nie ein Todesurteil ausgesprochen sowie sich für milde Urteile eingesetzt hatte.15 er nahm für sich in Anspruch, angeklagte Soldaten geschützt zu haben, anstatt sie zu abschreckungszwecken mit terrorurteilen zu verfolgen. Die Tatsache, dass er während der gesamten Kriegszeit nicht befördert wurde, spricht dafür, dass diese Selbstbeschreibung zutrifft. Damit stand Müller-Hill völlig im Kontrast zu der von der Wehrmachtsführung intendierten Funktion der Militärjustiz, nämlich die Kriegsführungsfähigkeit der Wehrmacht zu garantieren.
Seine im Tagebuch geäußerte Kritik galt in erster Linie der NS- Führung und weniger der Wehrmachtsführung. Den einzelnen deutschen Soldaten nahm er ausdrücklich in Schutz. im September 1944 erkannte und notierte er, dass die NS-Führung eher dazu bereit war, das Volk zu opfern, als selbst unterzugehen. Die »Führungsclique« bestehe aus einer Bande von »Verbrecher[n]«, welche die Menschen als »Kanonenfutter « betrachte, wie man insbesondere am Volkssturm und an den Werwölfen sehen könne. Dort werde die deutsche Jugend verheizt.16
Müller-Hill stellt in seinem Tagebuch ein ausgeprägtes Realitätsbewusstsein unter Beweis, das ihn schon im Frühjahr 1944 begreifen ließ, dass die Deutschen den Krieg nicht würden gewinnen können. Für Goebbels' Anrufung der »Macht des Geistes« hatte er nur Spott übrig. Darüber hinaus suchte der Tagebuchschreiber nach einer Erklärung für das Unvermögen der Deutschen, den Krieg zu beenden. er fand sie - und das ist aus heutiger Sicht beachtlich - in den älteren Kontinuitätslinien der deutschen Geschichte, nämlich in der traditionsreichen Machtpolitik, die mit Friedrich ii. von Preußen begann und dann von Bismarck und Hitler fortgesetzt wurde.17 in diesem Kontext sah Müller- Hill die Deutschnationalen als die Schrittmacher des Nationalsozialismus an. Dessen Ende, sagte er voraus, werde auch das Ende der »heroische[ n] Idee« bedeuten, womit der kriegerische geist gemeint war.
Copyright © 2012 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Dennoch konnte sich nach 1945 - unter dem großen Schutzschirm der Legende von der »sauberen« Wehrmacht2 - auch die Legende von der gewissenhaften und unabhängigen Wehrmachtsjustiz in den Köpfen der Menschen festsetzen. auf diese Weise gelang es den ehemaligen Kriegsrichtern zunächst, vergessen zu machen, dass sie ihr Juristengeschäft in einem Unrechtsstaat verrichtet hatten.3 Doch 1978, als die Filbinger-affäre hochkochte, war die Zeit der apologetischen Beschönigung der NS-Zeit vorbei. selbst seine eigene Partei, die CDU, setzte Filbinger zu und zwang ihn schließlich dazu, Konsequenzen zu ziehen und zurückzutreten.4 unbeabsichtigt gab Filbinger mit seinem uneinsichtigen gebaren den Anstoß zur wissenschaftlichen Überprüfung der Wehrmachtsjustiz.
Zwar gibt es auch Gegenbeispiele zu Richtern wie Filbinger - das hier vorliegende Tagebuch des zum NS-Regime oppositionell eingestellten Wehrmachtsrichters Werner Otto Müller-Hill zeugt davon -, doch generell eruierte die Forschung ein anderes Bild der Wehrmachtsjustiz: auf ihr Konto gingen mehr als 30 000 Todesurteile, von denen etwa 20 000 auch vollstreckt wurden. aufgrund dieser Erkenntnisse wurden die Opfer der ns-Militärjustiz, insbesondere Deserteure, Kriegsdienstverweigerer, »Wehrkraftzersetzer« und »Kriegsverräter«, zunächst von der deutschen Öffentlichkeit und später auch förmlich vom Deutschen Bundestag in mehreren Etappen politisch, moralisch und juristisch rehabilitiert.5 auf diesem Umweg kam es auch zu einer Neubewertung der Wehrmachtsjustiz.
Das Bundessozialgericht sprach 1991 der NS-Militärjustiz die rechtsstaatliche Qualität ab und bezeichnete diese Institution des Dritten Reiches als »terroristisch« und »verbrecherisch«.6 Die Militärrichter hätten nicht unabhängig gerichtet, sondern nach den Weisungen des militärischen gerichtsherrn.7 Die Todesurteile gegen Deserteure bewertete das Gericht generell als »offensichtlich unrechtmäßig« und die Militärgerichte als »Gehilfen des NS-Terrors« und Mittäter in einem »völkerrechtswidrigen Krieg«.
einen weiteren Wendepunkt in der Bewertung der NS-Militärjustiz bildete ein in der Öffentlichkeit als sensationell empfundenes Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) aus dem Jahr 1995. es stellte fest, die Todesstrafen Praxis der Militärjustiz sei »rechtsbeugerisch« gewesen. Das bedeutete, dass die Kriegsrichter das recht bewusst falsch angewandt und damit Verbrechen begangen hatten. Die Praxis, Todesstrafen zu verhängen, hätte »in einer Vielzahl von Fällen zur Verurteilung von Richtern und Staatsanwälten des nationalsozialistischen Gewaltregimes führen müssen«. aber »trotz des tausendfachen Missbrauchs der Todesstrafe« habe es derartige Verurteilungen nicht gegeben. Der BGH bezeichnete die Richter, die in der NS-Militärjustiz tätig gewesen waren und anschließend in der Bundesrepublik ihre Laufbahn fortgesetzt hatten, als »Blutrichter«, die sich eigentlich »wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen«.
Vor dem Hintergrund der enormen Diskrepanz zwischen den Selbstrechtfertigungen der NS-Militärjuristen und der völlig entgegengesetzten Bewertung dieser Justiz durch die Rechtsprechung in den 1990er-Jahren ist es von erheblichem Interesse, den sonder- fall eines Heeresrichters wie Werner Otto Müller-Hill näher kennenzulernen.
er wurde 1885 in Freiburg im Breisgau geboren.9 Dort leitete sein Vater ein großes Ingenieurbüro, das mit dem Bau der Höllentalbahn beauftragt war, die 1887 eröffnet wurde. seine Mutter spielte Klavier und war als Konzertsängerin ausgebildet. im wohlhabenden elterlichen Haushalt gab es einen Salon und ein Musikzimmer. Der Junge besuchte zusammen mit anderen Kindern der bürgerlichen Oberschicht zunächst eine Privatschule, dann ein humanistisches Gymnasium. in den Jahren 1907 bis 1912 studierte er in Freiburg Jura und ließ sich bereits 1913 als Rechtsanwalt nieder. im ersten Weltkrieg war er von 1915 bis 1919 Militärhilfsrichter und ab 1916 Kriegsgerichtsrat im Heer.
Von 1919 bis 1940 arbeitete Müller-Hill wieder als Rechtsanwalt, bis er erneut zum Kriegsdienst eingezogen wurde und die Wehrmacht ihn als Feldkriegsgerichtsrat der Reserve verwendete.10 er gehörte also nicht zu den aktiven Kriegsrichtern, sondern hatte den Status eines Reserveoffiziers, in dem er sich offenbar wie ein zwangsweise eingekleideter Zivilist fühlte. Vom 1. Januar 1940 bis zum 30. April 1945 leistete Müller-Hill Militärdienst als Heeresrichter, ab 1. Mai 1944 mit dem Dienstgrad Oberstabsrichter,11 was dem Rang eines Oberstleutnants bei Heer oder Luftwaffe entspricht. Von Februar 1942 bis Oktober 1944 war er beim Feldkriegsgericht der ersatz-Division 158 (später umbenannt in 405) in Straßburg eingesetzt. in der Endphase des Krieges 1945 wechselte Müller-Hill mit seinem Divisionsstab in die südbadische Stadt Oberkirch und später nach Tübingen.
Der bei Kriegsende bereits sechzigjährige und - soweit schon damals erkennbar - unbelastete Jurist fand bald im badischen Justiz- dienst Verwendung. 1947 wurde er in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit berufen12 und zwei Jahre später zum Oberstaatsanwalt mit Dienstort Offenburg/baden ernannt. 1950 wurde er pensioniert.13 Müller- Hill starb 1977 hochbetagt, in seinem 92. Lebensjahr.
sein handschriftlich verfasstes und später transkribiertes Kriegstagebuch umfasst den Zeitraum vom 28. März 1944 bis zum 7. Juni 1945, also die letzten 14 Monate des Zweiten Weltkrieges und einige Wochen darüber hinaus. Zweifellos hat Müller-Hill tatsächlich Tagebuch geführt - und seine Ausführungen nicht etwa erst nach dem Krieg verfasst. Was den Text für uns heute interessant macht, ist der Umstand, dass hier ein Wehrmachtsoffizier in der herausgehobenen Funktion des Heeresrichters seine dezidiert oppositionelle Einstellung dokumentiert. Müller-Hill war ein NS-gegner in Uniform, der seine analytischen Fähigkeiten dazu einsetzte, hinter die Kulissen der nationalsozialistischen Propagandaformeln »Endsieg«, »Sein oder Nichtsein« oder »sieg oder Untergang« zu schauen und sich ein einigermaßen wirklichkeitsgemäßes Bild von der militärischen Lage zu verschaffen. immer wieder reflektierte er auf der Basis der ihm zugänglichen Informationen - NS-Zeitungen, Wehrmachtsbericht, Auslandssender - über die Kriegsabläufe und versuchte, mögliche Entwicklungen vorherzusehen. Darüber hinaus stellte der Tagebuchschreiber öfter Spekulationen über mögliche politische Entwicklungen in der Nachkriegszeit an, wobei für ihn immer feststand, dass Deutschland den Krieg verlieren würde.
Weshalb schrieb Müller-Hill Tagebuch? Offenbar wollte er Zeugnis ablegen von seiner politischen Einstellung, gegenüber seiner Familie und einer imaginierten Nachwelt. er wusste natürlich, dass ihn ein solches Tagebuch, wäre es in falsche Hände geraten, in allergrößte Schwierigkeiten gebracht hätte. es hätte wohl, wie er selbst schreibt, seine »völlige Auslöschung« bedeutet: »ich würde entlassen und der GeStaPo als Zivilist zur Schulung überantwortet werden und dies wäre wohl gleichbedeutend mit dem Tode.« Vorstellbar ist aber auch, dass er sich selbst entlasten wollte. immerhin stand er trotz seiner Gegnerschaft zum Regime in dessen Dienst.
Mit dem Straßburger Divisions-Heeresgericht gehörte Müller-Hill einem Gericht an, an dem, wie er schrieb, »noch recht gewährt« wurde, an dem es aber auch »ausgesprochene Blutrichter« gab. er selbst schildert sich als einen verständnisvollen Richter, der seine Handlungsspielräume dazu nutzte, den angeklagten Soldaten Schutz zu gewähren. nach dem Krieg konnte Müller-Hill nachweisen, dass er »weder der Partei noch einer ihrer Gliederungen angehört«14 und nie ein Todesurteil ausgesprochen sowie sich für milde Urteile eingesetzt hatte.15 er nahm für sich in Anspruch, angeklagte Soldaten geschützt zu haben, anstatt sie zu abschreckungszwecken mit terrorurteilen zu verfolgen. Die Tatsache, dass er während der gesamten Kriegszeit nicht befördert wurde, spricht dafür, dass diese Selbstbeschreibung zutrifft. Damit stand Müller-Hill völlig im Kontrast zu der von der Wehrmachtsführung intendierten Funktion der Militärjustiz, nämlich die Kriegsführungsfähigkeit der Wehrmacht zu garantieren.
Seine im Tagebuch geäußerte Kritik galt in erster Linie der NS- Führung und weniger der Wehrmachtsführung. Den einzelnen deutschen Soldaten nahm er ausdrücklich in Schutz. im September 1944 erkannte und notierte er, dass die NS-Führung eher dazu bereit war, das Volk zu opfern, als selbst unterzugehen. Die »Führungsclique« bestehe aus einer Bande von »Verbrecher[n]«, welche die Menschen als »Kanonenfutter « betrachte, wie man insbesondere am Volkssturm und an den Werwölfen sehen könne. Dort werde die deutsche Jugend verheizt.16
Müller-Hill stellt in seinem Tagebuch ein ausgeprägtes Realitätsbewusstsein unter Beweis, das ihn schon im Frühjahr 1944 begreifen ließ, dass die Deutschen den Krieg nicht würden gewinnen können. Für Goebbels' Anrufung der »Macht des Geistes« hatte er nur Spott übrig. Darüber hinaus suchte der Tagebuchschreiber nach einer Erklärung für das Unvermögen der Deutschen, den Krieg zu beenden. er fand sie - und das ist aus heutiger Sicht beachtlich - in den älteren Kontinuitätslinien der deutschen Geschichte, nämlich in der traditionsreichen Machtpolitik, die mit Friedrich ii. von Preußen begann und dann von Bismarck und Hitler fortgesetzt wurde.17 in diesem Kontext sah Müller- Hill die Deutschnationalen als die Schrittmacher des Nationalsozialismus an. Dessen Ende, sagte er voraus, werde auch das Ende der »heroische[ n] Idee« bedeuten, womit der kriegerische geist gemeint war.
Copyright © 2012 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Werner O. Müller-Hill
Werner O. Müller-Hill, geboren 1885 als Sohn eines Ingenieurs und dessen kunstliebender Frau in Freiburg im Breisgau, studierte Jura und wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg Anwalt. Schon im Ersten Weltkrieg diente er als Kriegsrichter, in der Weimarer Republik arbeitete er als Anwalt. Den Nationalsozialisten stand er distanziert gegenüber und trat nicht in die NSDAP ein, meldete sich aber bei Kriegsbeginn 1939 bei der Wehrmacht.Werner Otto Müller-Hill überlebte den Zweiten Weltkrieg. Er war kein Widerstandskämpfer, geriet nie in einen offenen Konflikt mit dem Regime. Dass er nicht befördert wurde während des Krieges, war ihm egal. Nach 1945 wurde er Staatsanwalt in der Bundesrepublik. Er starb 1977.
Bibliographische Angaben
- Autor: Werner O. Müller-Hill
- 2012, 175 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14,1 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Siedler
- ISBN-10: 3827500109
- ISBN-13: 9783827500106
- Erscheinungsdatum: 03.09.2012
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»Die Aufzeichnungen dokumentieren auf beeindruckende Weise Eigenständigkeit und Klarsicht eines Richters, der von 1942 bis 1944 bei einem Feldkriegsgericht in Straßburg Dienst tat.«
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