Marionetten
Roman
Hamburg nach 9/11. Ein muslimischer Terrorverdächtiger ist die Schlüsselfigur im gnadenlosen Wettlauf internationaler Geheimdienste. Der neue Roman von John le Carré erzählt von einer durch den Terror veränderten Gesellschaft,...
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Produktinformationen zu „Marionetten “
Hamburg nach 9/11. Ein muslimischer Terrorverdächtiger ist die Schlüsselfigur im gnadenlosen Wettlauf internationaler Geheimdienste. Der neue Roman von John le Carré erzählt von einer durch den Terror veränderten Gesellschaft, in der jeder Unschuldige und Schuldige gleichermaßen Statist in einem undurchschaubaren Marionettenspiel ist.
Klappentext zu „Marionetten “
Ein junger Moslem reist illegal über die Türkei und Dänemark nach Deutschland ein. Im Hamburger Stadtteil Altona bittet er eine türkische Familie um Hilfe. Nur langsam finden die verängstigten Gastgeber heraus, wer der Fremde ist und was er in der Hansestadt will. So beginnt John le Carrés meisterhaft komponierter Roman über unsere Gesellschaft des Verdachts nach dem 11. September 2001.In einem raffiniert gesponnenen Netz aus privaten und politischen Interessenbe wegen sich seine Figuren zwischen Gewissenlosigkeit und Nächsten liebe,eis kaltem Kalkül und Gleichgültigkeit. Die Bedrohung durch den islamistischenTerror wird zur Kulisse für ein skrupelloses Spiel der Geheimdienste.
Lese-Probe zu „Marionetten “
Marionetten von John LeCarre 1Von einem türkischen Schwergewichtsmeister, der Arm in Arm mit seiner Mutter eine Hamburger Straße entlangspaziert, kann wohl niemand verlangen, daß er es bemerkt, wenn ihn ein klappriger junger Mann im schwarzen Mantel verfolgt.
Big Melik, wie er bei seinen zahlreichen Bewunderern hieß, war ein gutmütiger Riese, etwas zottelig, etwas zerzaust, mit einem breiten, von Herzen kommenden Grinsen, schwarzem Pferdeschwanz und einem unbeschwerten, wiegenden Gang, der auch ohne seine Mutter den halben Bürgersteig einnahm. Mit seinen zwanzig Jahren war er in seiner kleinen Welt eine Berühmtheit, und das nicht nur wegen seiner Verdienste im Boxring: er war Jugendsprecher seines islamischen Sportvereins, er war dreimaliger norddeutscher Vizemeister über hundert Meter Schmetterling, und samstags feierte er im Fußballtor Triumphe.
Wie die meisten sehr großen Menschen war er es außerdem eher gewohnt, Blicke auf sich zu ziehen, als um sich zu blicken: auch das ein Grund, warum der klapprige Junge ihm drei Tage am Stück unbemerkt folgen konnte.
... mehr
Zum erstenmal wurde er auf ihn aufmerksam, als er mit seiner Mutter Leyla aus dem Al-Umma-Reisebüro kam, wo sie Flüge für die Hochzeit seiner Schwester in ihrem Heimatdorf in der Nähe von Ankara gebucht hatten. Melik spürte, daß ihn jemand anstarrte, sah sich um und fand sich Angesicht in Angesicht mit einem sehr großen, entsetzlich mageren jungen Mann mit struppigem Bart, geröteten, tief in den Höhlen liegenden Augen und einem langen schwarzen Mantel, in dem drei Zauberer Platz gehabt hätten. Er trug eine schwarzweiße Kefije um den Hals und über der Schulter eine Satteltasche aus Kamelleder, wie Touristen sie als Mitbringsel kaufen. Von Melik sah er zu Leyla, dann wieder zu Melik, immer mit dem gleichen unverwandt-flehenden Blick aus glühenden, eingesunkenen Augen.
Trotzdem hätte die Verzweiflung, die der Junge ausstrahlte, Melik nicht übermäßig nahegehen müssen, denn das Reisebüro lag am Vorplatz des Hamburger Hauptbahnhofs, der zu jeder Tagesund Nachtzeit von verlorenen Seelen aller Art bevölkert war: deutschen Obdachlosen, Asiaten, Arabern, Afrikanern oder auch Türken wie Melik, die es nur schlechter getroffen hatten als er – ganz zu schweigen von den Beinamputierten auf Elektrowägelchen, Dealern und ihren Kunden, Bettlern mit ihren Hunden oder dem siebzigjährigen Cowboy mit Stetson und silberbeschlagener Lederreithose. Wenige hier hatten Arbeit, und eine Handvoll hätten deutschen Boden gar nicht erst betreten dürfen und wurden im Zuge einer gezielten Verelendungspolitik bestenfalls geduldet, bis die Abschiebung sie ereilte, für gewöhnlich im ersten Morgengrauen. Nur Neuankömmlinge oder die ganz Verwegenen gingen das Risiko ein. Erfahrenere Illegale machten einen großen Bogen um den Bahnhof.
Ein zweiter guter Grund, den Jungen zu ignorieren, war die klassische Musik, mit der die Stadt über eine Batterie strategisch verteilter Lautsprecher diesen Teil des Bahnhofs beschallte: Musik, die nicht dazu gedacht war, unter den Zuhörern Wohlbehagen zu verbreiten, sondern, im Gegenteil, sie zu vertreiben.
Doch trotz alledem prägte sich das Gesicht des klapprigen Jungen Melik ein, und einen flüchtigen Moment lang schämte er sich für sein eigenes Glück. Aber warum eigentlich, verdammt? Etwas Phantastisches war geschehen, und er konnte es kaum erwarten, seine Schwester anzurufen und ihr zu erzählen, daß Leyla, die sechs Monate nicht vom Sterbebett ihres Mannes gewichen war und sich dann ein Jahr lang die Seele aus dem Leib getrauert hatte, jetzt plötzlich übersprudelte vor Vorfreude auf die Hochzeit ihrer Tochter und auf geregt überlegte, welches Kleid sie anziehen sollte, ob die Mitgift auch üppig genug war und ob der Bräutigam wirklich so blendend aussah, wie jeder, allen voran Meliks Schwester, behauptete.
Was also sollte Melik davon abhalten, in die Fröhlichkeit seiner Mutter einzustimmen? – denn das tat er, aus vollem Herzen, den ganzen Weg bis nach Hause. Es war die Stille, die den Jungen umgab, entschied er später. Diese Falten, die sich in ein Gesicht gegraben hatten, das so jung wie sein eigenes war. Dieser Hauch von Winter an einem strahlenden Frühlingstag.
Das war am Donnerstag.
Und am Freitagabend, als Melik und Leyla zusammen aus der Moschee kamen, stand er wieder da, derselbe Junge mit seiner Kefije und dem überdimensionalen Mantel, in den Schatten eines schmuddeligen Hauseingangs gedrückt. Diesmal fiel Melik auf, daß der magere Körper leicht Schlagseite hatte, so als hätte ihm jemand einen Rippenstoß verpaßt, nach dem er sich lange nicht wieder hatte aufrichten können. Und seine Augen glühten noch beschwörender als am Vortag. Melik erwiderte seinen Blick, bereute es prompt und sah weg.
Und dieses zweite Zusammentreffen war um so unwahrscheinlicher, als Leyla und Melik so gut wie nie in die Moschee gingen, auch in keine gemäßigte, türkischsprachige. Seit den Anschlägen vom elften September waren die Hamburger Moscheen gefährliche Orte geworden. Ein einziger Besuch in der falschen – oder in der richtigen, aber beim falschen Imam –, und man landete mitsamt der ganzen Sippschaft für alle Zeit auf der Verdächtigenliste der Polizei. Niemand bezweifelte, daß in fast jeder Gebetsreihe ein vom Staat bezahlter Informant kniete. Niemand, sei er Muslim, Polizeispitzel oder beides, konnte vergessen, daß der Stadtstaat Hamburg, ohne es zu ahnen, drei der Attentäter vom elften September nebst weiteren Zellenmitgliedern und Mitverschwörern be herbergt hatte und daß Mohammed Atta, der mit dem ersten Flugzeug in die Zwillingstürme gekracht war, in einer bescheidenen Hamburger Moschee zu seinem grimmigen Gott gebetet hatte.
Ohnehin waren Melik und seine Mutter in Glaubensdingen etwas nachlässig geworden, seit sein Vater gestorben war. Sicher, der alte Herr war gläubiger Muslim gewesen, sogar Laienprediger. Vor allem jedoch war er ein militanter Kämpfer für die Rechte der Arbeiter, darum hatte er die Heimat ja verlassen müssen. In die Moschee waren sie einzig deshalb gegangen, weil es die impulsive Leyla plötzlich dazu gedrängt hatte. Sie war glücklich. Die Trauer lockerte ihren eisernen Griff. Aber der erste Todestag ihres Mannes stand bevor. Sie mußte Zwiesprache mit ihm halten und die frohe Nachricht mit ihm teilen. Das große Freitagsgebet hatten sie schon verpaßt, weshalb sie eigentlich auch zu Hause hätten beten können. Doch Leylas Laune war Gesetz. Mit dem unwiderlegbaren Argument, daß private Bittgebete größere Erfolgschancen haben, wenn sie am Abend dargebracht werden, hatte sie durchgesetzt, daß sie die letzte Gebetsstunde des Tages besuchten, was gleichzeitig hieß, daß die Moschee nahezu leer war.
Weswegen Meliks zweites Zusammentreffen mit dem Jungen, genau wie das erste, purer Zufall sein mußte. Was sollte es sonst sein? Das zumindest sagte sich, schlichten Gemüts, der gutherzige Melik.
Am nächsten Tag, Samstag, fuhr Melik seinen reichen Onkel väterlicherseits in dessen Kerzenfabrik am anderen Ende der Stadt besuchen. Zu Lebzeiten seines Vaters hatte es zwischen den Brüdern Spannungen gegeben, aber seit seinem Tod hatte er die Freundschaft des Onkels schätzengelernt. Er stieg in den Bus, und was sah er? Keinen anderen als den klapprigen Jungen, der unter ihm im Wartehäuschen saß und ihm hinterherschaute. Und als er sechs Stunden später an derselben Haltestelle wieder ausstieg, war der Kerl immer noch da, in seine Kefije und den Zauberermantel gehüllt, in dieselbe Ecke des Unterstands gekauert wie zuvor, wartend.
Bei seinem Anblick wurde Melik, den das Gebot Gottes dazu verpflichtete, alle Menschen gleichermaßen zu lieben, von einer ganz unfrommen Abneigung gepackt. Von dem Jungen schien ein Vorwurf auszugehen, und den nahm er ihm übel. Schlimmer noch, er hatte trotz seines erbärmlichen Zustands etwas Hochmütiges an sich. Was bezweckte er überhaupt mit diesem lächerlichen schwarzen Mantel? Hielt er sich damit für unsichtbar? Oder wollte er irgendwem weismachen, er wäre so unbeleckt von westlichen Gebräuchen, daß er nicht wußte, was für ein Bild er in dem Ding abgab?
Egal. Melik war entschlossen, ihn abzuschütteln. Statt ihn also anzusprechen und sich zu erkundigen, ob er Hilfe brauchte oder krank war, wie er es andernfalls sicher getan hätte, nahm er mit langen Schritten Kurs auf zu Hause, in der beruhigenden Gewißheit, daß diese halbe Portion nie mit ihm würde mithalten können.
Die Sonne schien ungewöhnlich heiß für einen Frühlingstag, das Pflaster glühte förmlich. Dennoch schaffte es der Junge auf wundersame Weise, auf dem belebten Gehsteig mit Melik Schritt zu halten: humpelnd und keuchend, röchelnd und schwitzend, mit vereinzelten ungelenken Hüpfern dazwischen, als litte er Schmerzen, schloß er an jeder Kreuzung wieder zu ihm auf.
Und als Melik das winzige Backsteinhaus betrat, das seine Mutter nach mehreren Jahrzehnten eisernen Sparens fast vollständig abbezahlt hatte, konnte er nur ein paarmal durchatmen, ehe die Türklingel ihren Dreiklang ertönen ließ. Und als er wieder nach unten ging, stand auf der Türschwelle der klapprige Junge mit seiner Satteltasche über der Schulter. Seine Augen loderten wild von der Anstrengung des Laufens, über sein Gesicht strömte der Schweiß wie ein Sommerregen, und in seiner zitternden Hand hielt er ein Stück braune Pappe, auf der in türkischer Sprache stand: Ich bin ein muslimischer Medizinstudent. Ich bin müde und ich möchte bei Ihnen wohnen. Issa. Und wie um die Botschaft noch zu unterstreichen, hing um sein Handgelenk ein schmales Goldkettchen, von dem ein winziger goldener Koran baumelte.
Aber Melik stank die Sache inzwischen gewaltig. Gut, er war vielleicht nicht die größte Leuchte, die seine Schule jemals hervorgebracht hatte – aber sollte er sich deshalb schuldig und minderwertig fühlen, nur weil ein Bettler mit Starallüren sich an seine Fersen heftete und ihn belästigte? Seit sein Vater tot war, fiel Melik die stolze Rolle des Hausherrn und Beschützers seiner Mutter zu, und zum krönenden Beweis hatte er weiterverfolgt, was sein Vater nicht mehr hatte zu Ende bringen können: als türkischer Einwanderer in der zweiten Generation hatte er gemeinsam mit seiner Mutter den langen, steinigen Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft angetreten, auf dem jede Facette ihres Lebenswandels unter die Lupe genommen werden würde und acht Jahre untadeligen Betragens die erste Bedingung waren. Das letzte, was seine Mutter oder er brauchen konnten, war ein geisteskranker Penner, der sich für einen Medizinstudenten hielt und an ihrer Haustür bettelte.
»Mach, daß du wegkommst«, befahl er dem Jungen barsch auf türkisch und pflanzte sich breit in die Tür. »Hau ab. Hör auf, uns hinterherzulaufen, und laß dich hier nicht mehr blicken.«
Die einzige Reaktion auf dem ausgemergelten Gesicht war ein Zucken, als hätte jemand ihn geschlagen. Melik wiederholte seine Aufforderung auf deutsch. Aber als er die Tür zuknallen wollte, stand hinter ihm auf der Treppe Leyla und sah über seine Schulter auf den Jungen und auf das Pappschild, das unkontrolliert in seiner Hand zitterte.
Und er sah, daß sie schon Tränen des Mitleids in den Augen hatte.
© Ullstein Verlag
Übersetzung: Sabine Roth und Regina Rawlinson
Trotzdem hätte die Verzweiflung, die der Junge ausstrahlte, Melik nicht übermäßig nahegehen müssen, denn das Reisebüro lag am Vorplatz des Hamburger Hauptbahnhofs, der zu jeder Tagesund Nachtzeit von verlorenen Seelen aller Art bevölkert war: deutschen Obdachlosen, Asiaten, Arabern, Afrikanern oder auch Türken wie Melik, die es nur schlechter getroffen hatten als er – ganz zu schweigen von den Beinamputierten auf Elektrowägelchen, Dealern und ihren Kunden, Bettlern mit ihren Hunden oder dem siebzigjährigen Cowboy mit Stetson und silberbeschlagener Lederreithose. Wenige hier hatten Arbeit, und eine Handvoll hätten deutschen Boden gar nicht erst betreten dürfen und wurden im Zuge einer gezielten Verelendungspolitik bestenfalls geduldet, bis die Abschiebung sie ereilte, für gewöhnlich im ersten Morgengrauen. Nur Neuankömmlinge oder die ganz Verwegenen gingen das Risiko ein. Erfahrenere Illegale machten einen großen Bogen um den Bahnhof.
Ein zweiter guter Grund, den Jungen zu ignorieren, war die klassische Musik, mit der die Stadt über eine Batterie strategisch verteilter Lautsprecher diesen Teil des Bahnhofs beschallte: Musik, die nicht dazu gedacht war, unter den Zuhörern Wohlbehagen zu verbreiten, sondern, im Gegenteil, sie zu vertreiben.
Doch trotz alledem prägte sich das Gesicht des klapprigen Jungen Melik ein, und einen flüchtigen Moment lang schämte er sich für sein eigenes Glück. Aber warum eigentlich, verdammt? Etwas Phantastisches war geschehen, und er konnte es kaum erwarten, seine Schwester anzurufen und ihr zu erzählen, daß Leyla, die sechs Monate nicht vom Sterbebett ihres Mannes gewichen war und sich dann ein Jahr lang die Seele aus dem Leib getrauert hatte, jetzt plötzlich übersprudelte vor Vorfreude auf die Hochzeit ihrer Tochter und auf geregt überlegte, welches Kleid sie anziehen sollte, ob die Mitgift auch üppig genug war und ob der Bräutigam wirklich so blendend aussah, wie jeder, allen voran Meliks Schwester, behauptete.
Was also sollte Melik davon abhalten, in die Fröhlichkeit seiner Mutter einzustimmen? – denn das tat er, aus vollem Herzen, den ganzen Weg bis nach Hause. Es war die Stille, die den Jungen umgab, entschied er später. Diese Falten, die sich in ein Gesicht gegraben hatten, das so jung wie sein eigenes war. Dieser Hauch von Winter an einem strahlenden Frühlingstag.
Das war am Donnerstag.
Und am Freitagabend, als Melik und Leyla zusammen aus der Moschee kamen, stand er wieder da, derselbe Junge mit seiner Kefije und dem überdimensionalen Mantel, in den Schatten eines schmuddeligen Hauseingangs gedrückt. Diesmal fiel Melik auf, daß der magere Körper leicht Schlagseite hatte, so als hätte ihm jemand einen Rippenstoß verpaßt, nach dem er sich lange nicht wieder hatte aufrichten können. Und seine Augen glühten noch beschwörender als am Vortag. Melik erwiderte seinen Blick, bereute es prompt und sah weg.
Und dieses zweite Zusammentreffen war um so unwahrscheinlicher, als Leyla und Melik so gut wie nie in die Moschee gingen, auch in keine gemäßigte, türkischsprachige. Seit den Anschlägen vom elften September waren die Hamburger Moscheen gefährliche Orte geworden. Ein einziger Besuch in der falschen – oder in der richtigen, aber beim falschen Imam –, und man landete mitsamt der ganzen Sippschaft für alle Zeit auf der Verdächtigenliste der Polizei. Niemand bezweifelte, daß in fast jeder Gebetsreihe ein vom Staat bezahlter Informant kniete. Niemand, sei er Muslim, Polizeispitzel oder beides, konnte vergessen, daß der Stadtstaat Hamburg, ohne es zu ahnen, drei der Attentäter vom elften September nebst weiteren Zellenmitgliedern und Mitverschwörern be herbergt hatte und daß Mohammed Atta, der mit dem ersten Flugzeug in die Zwillingstürme gekracht war, in einer bescheidenen Hamburger Moschee zu seinem grimmigen Gott gebetet hatte.
Ohnehin waren Melik und seine Mutter in Glaubensdingen etwas nachlässig geworden, seit sein Vater gestorben war. Sicher, der alte Herr war gläubiger Muslim gewesen, sogar Laienprediger. Vor allem jedoch war er ein militanter Kämpfer für die Rechte der Arbeiter, darum hatte er die Heimat ja verlassen müssen. In die Moschee waren sie einzig deshalb gegangen, weil es die impulsive Leyla plötzlich dazu gedrängt hatte. Sie war glücklich. Die Trauer lockerte ihren eisernen Griff. Aber der erste Todestag ihres Mannes stand bevor. Sie mußte Zwiesprache mit ihm halten und die frohe Nachricht mit ihm teilen. Das große Freitagsgebet hatten sie schon verpaßt, weshalb sie eigentlich auch zu Hause hätten beten können. Doch Leylas Laune war Gesetz. Mit dem unwiderlegbaren Argument, daß private Bittgebete größere Erfolgschancen haben, wenn sie am Abend dargebracht werden, hatte sie durchgesetzt, daß sie die letzte Gebetsstunde des Tages besuchten, was gleichzeitig hieß, daß die Moschee nahezu leer war.
Weswegen Meliks zweites Zusammentreffen mit dem Jungen, genau wie das erste, purer Zufall sein mußte. Was sollte es sonst sein? Das zumindest sagte sich, schlichten Gemüts, der gutherzige Melik.
Am nächsten Tag, Samstag, fuhr Melik seinen reichen Onkel väterlicherseits in dessen Kerzenfabrik am anderen Ende der Stadt besuchen. Zu Lebzeiten seines Vaters hatte es zwischen den Brüdern Spannungen gegeben, aber seit seinem Tod hatte er die Freundschaft des Onkels schätzengelernt. Er stieg in den Bus, und was sah er? Keinen anderen als den klapprigen Jungen, der unter ihm im Wartehäuschen saß und ihm hinterherschaute. Und als er sechs Stunden später an derselben Haltestelle wieder ausstieg, war der Kerl immer noch da, in seine Kefije und den Zauberermantel gehüllt, in dieselbe Ecke des Unterstands gekauert wie zuvor, wartend.
Bei seinem Anblick wurde Melik, den das Gebot Gottes dazu verpflichtete, alle Menschen gleichermaßen zu lieben, von einer ganz unfrommen Abneigung gepackt. Von dem Jungen schien ein Vorwurf auszugehen, und den nahm er ihm übel. Schlimmer noch, er hatte trotz seines erbärmlichen Zustands etwas Hochmütiges an sich. Was bezweckte er überhaupt mit diesem lächerlichen schwarzen Mantel? Hielt er sich damit für unsichtbar? Oder wollte er irgendwem weismachen, er wäre so unbeleckt von westlichen Gebräuchen, daß er nicht wußte, was für ein Bild er in dem Ding abgab?
Egal. Melik war entschlossen, ihn abzuschütteln. Statt ihn also anzusprechen und sich zu erkundigen, ob er Hilfe brauchte oder krank war, wie er es andernfalls sicher getan hätte, nahm er mit langen Schritten Kurs auf zu Hause, in der beruhigenden Gewißheit, daß diese halbe Portion nie mit ihm würde mithalten können.
Die Sonne schien ungewöhnlich heiß für einen Frühlingstag, das Pflaster glühte förmlich. Dennoch schaffte es der Junge auf wundersame Weise, auf dem belebten Gehsteig mit Melik Schritt zu halten: humpelnd und keuchend, röchelnd und schwitzend, mit vereinzelten ungelenken Hüpfern dazwischen, als litte er Schmerzen, schloß er an jeder Kreuzung wieder zu ihm auf.
Und als Melik das winzige Backsteinhaus betrat, das seine Mutter nach mehreren Jahrzehnten eisernen Sparens fast vollständig abbezahlt hatte, konnte er nur ein paarmal durchatmen, ehe die Türklingel ihren Dreiklang ertönen ließ. Und als er wieder nach unten ging, stand auf der Türschwelle der klapprige Junge mit seiner Satteltasche über der Schulter. Seine Augen loderten wild von der Anstrengung des Laufens, über sein Gesicht strömte der Schweiß wie ein Sommerregen, und in seiner zitternden Hand hielt er ein Stück braune Pappe, auf der in türkischer Sprache stand: Ich bin ein muslimischer Medizinstudent. Ich bin müde und ich möchte bei Ihnen wohnen. Issa. Und wie um die Botschaft noch zu unterstreichen, hing um sein Handgelenk ein schmales Goldkettchen, von dem ein winziger goldener Koran baumelte.
Aber Melik stank die Sache inzwischen gewaltig. Gut, er war vielleicht nicht die größte Leuchte, die seine Schule jemals hervorgebracht hatte – aber sollte er sich deshalb schuldig und minderwertig fühlen, nur weil ein Bettler mit Starallüren sich an seine Fersen heftete und ihn belästigte? Seit sein Vater tot war, fiel Melik die stolze Rolle des Hausherrn und Beschützers seiner Mutter zu, und zum krönenden Beweis hatte er weiterverfolgt, was sein Vater nicht mehr hatte zu Ende bringen können: als türkischer Einwanderer in der zweiten Generation hatte er gemeinsam mit seiner Mutter den langen, steinigen Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft angetreten, auf dem jede Facette ihres Lebenswandels unter die Lupe genommen werden würde und acht Jahre untadeligen Betragens die erste Bedingung waren. Das letzte, was seine Mutter oder er brauchen konnten, war ein geisteskranker Penner, der sich für einen Medizinstudenten hielt und an ihrer Haustür bettelte.
»Mach, daß du wegkommst«, befahl er dem Jungen barsch auf türkisch und pflanzte sich breit in die Tür. »Hau ab. Hör auf, uns hinterherzulaufen, und laß dich hier nicht mehr blicken.«
Die einzige Reaktion auf dem ausgemergelten Gesicht war ein Zucken, als hätte jemand ihn geschlagen. Melik wiederholte seine Aufforderung auf deutsch. Aber als er die Tür zuknallen wollte, stand hinter ihm auf der Treppe Leyla und sah über seine Schulter auf den Jungen und auf das Pappschild, das unkontrolliert in seiner Hand zitterte.
Und er sah, daß sie schon Tränen des Mitleids in den Augen hatte.
© Ullstein Verlag
Übersetzung: Sabine Roth und Regina Rawlinson
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Autoren-Porträt von John le Carré
John le Carré, geboren 1931 in Poole, Dorset, studierte in Bern und Oxford Germanistik, bevor er in diplomatischen Diensten u. a. in Bonn und Hamburg tätig war. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall und London. 2011 wurde John le Carré mit der "Goethe-Medaille" für sein "eindrucksvolles humanistisches Plädoyer" in seinem Lebenswerk ausgezeichnet.Regina Rawlinson, geboren 1957 in Bochum, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik sowie Literarisches Übersetzen aus dem Englischen. Seit 1988 übersetzt sie englische Belletristik ins Deutsche, u. a. Peter Carey, John le Carré und Lauren Weisberger. Sie ist Lehrbeauftragte für Literarisches Übersetzen an der LMU München und Vorsitzende des Münchner Übersetzer-Forums e.V .. Sie erhielt mehrere Arbeitsstipendien des Deutschen Übersetzerfonds e.V. , unter anderem für Zurück auf Glück von Patricia Marx. 2011 wurde ihr zudem das Arbeitsstipendium des Freistaates Bayern für literarische Übersetzerinnen und Übersetzer gewährt. Regina Rawlinson lebt in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: John le Carré
- 2008, 7. Aufl., 366 Seiten, Maße: 14,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Roth, Sabine; Rawlinson, Regina
- Übersetzer: Sabine Roth, Regina Rawlinson
- Verlag: BLANK
- ISBN-10: 355008756X
- ISBN-13: 9783550087561
Rezension zu „Marionetten “
Ein Roman von John le Carré sagt mehr als tausend Leitartikel.« Gustav Seibtin Süddeutsche Zeitung über Absolute Freunde »John le Carrés Romane überzeugen wie die von Balzac, sie klagen an wie dievon Zola, aber sie predigen nicht. Sie addieren sich zu einem einzigen großenhumanistischen Plädoyer.« Der Spiegel
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