Mein Gott, Wanda
Roman
Wanda, 63, steht kurz vor ihrem Urlaub. Blöderweise hat ihr Sohn einen Skiunfall und bittet sie, sich um seinen Fitnessclub zu kümmern. Großartig. Zusammen mit ihren Freundinnen Biggi und Marianne inspiziert sie den Laden erstmal. Eins ist...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mein Gott, Wanda “
Wanda, 63, steht kurz vor ihrem Urlaub. Blöderweise hat ihr Sohn einen Skiunfall und bittet sie, sich um seinen Fitnessclub zu kümmern. Großartig. Zusammen mit ihren Freundinnen Biggi und Marianne inspiziert sie den Laden erstmal. Eins ist klar: Hier muss was passieren. Erstmal die ungesunden Eiweißdrinks von der Karte streichen. Aber wie den Club wieder auf Trab bringen?
Klappentext zu „Mein Gott, Wanda “
'Wanda, 63, hat gerade ihren Teeladen verkauft und freut sich auf eine Australien-Reise in attraktiver Herrenbegleitung. Da hat ihr Sohn einen Skiunfall und bittet sie, nach seinem Fitnessclub zu sehen. Wanda muss wählen: Kängurus oder Schweißgeruch? Abenteuer oder Familie? Mit ihren Freundinnen Biggi und Marianne inspiziert sie den Club. Biggi wischt gleich mal feucht durch, und Marianne streicht die Eiweißdrinks von der Karte, zu ungesund! Eins steht fest: Hier muss etwas passieren. Schweren Herzens packt Wanda die Koffer wieder aus. Wie soll sie mit den muskulösen Stammgästen zurechtkommen und wie den Club wieder in Schwung bringen?
Lese-Probe zu „Mein Gott, Wanda “
Mein Gott, Wanda von Ulrike Herwig1
Sie sind jetzt mal der Mann Salsa - nicht nur ein Tanz, ein Lebensgefühl, so lockte die Überschrift. Das tanzende Paar auf dem Foto der Webseite sah wirklich elegant aus, da konnte man nicht meckern. Allein schon, wie die Frau ihren Kopf in den Nacken geworfen hatte. Das musste man erst mal nachmachen. Das konnte nicht jeder. Wanda konnte das schon gleich gar nicht, jedenfalls nicht um acht Uhr morgens. Wenn sie jetzt den Kopf in den Nacken warf wie die auf dem Foto, würde er mit einem grässlichen Knacken für den Rest des Tages da hinten bleiben oder zumindest so lange, bis sie sich irgendwie zu Dr. Mauerbach geschleppt und der ihn wieder gerade gerückt hatte.
Wanda biss von ihrem Brötchen ab und klickte sich auf der Webseite weiter. Leidenschaftlich. Geschmeidig. Temperamentvoll. Sie hielt inne. Die Leute auf den Fotos waren allesamt deprimierend jung und dünn. Und lachten so aufdringlich. Eine Schnapsidee, dieser Salsa-Kurs. Und was für Schuhe sollte sie da überhaupt anziehen? Die einzigen Schuhe, in denen sie halbwegs geschmeidig auftreten konnte, waren die Schaffellstiefel, die Stefan ihr letztes Jahr aus Australien mitgebracht hatte. »Ugg Boots, Mama. Die sind der Hit.« Erstaunlicherweise waren die Stiefel wirklich bequem, auch wenn sie sich in den klobigen Dingern immer wie ein Mammut vorkam und sie nur zu Hause anzog. Jedenfalls hatte sie keine Salsa-Schuhe. Wanda schaltete den Computer aus. Sie sollte Biggi anrufen und den Unsinn absagen. Heute Abend kam ein guter Spielfilm im Ersten, dazu könnte sie sich was Leckeres kochen. In ihrem Alter musste sie nicht mehr abends mit irgendwelchem Jungvolk zu La Bamba herumhopsen.
Sie sah erneut auf die Uhr. Gerade mal zehn nach acht. Normalerweise hätte sie jetzt das Haus verlassen, um dann Punkt 9.00 Uhr ihren Teeladen aufzuschließen. Um den unvergleichlichen
... mehr
Geruch nach all den Teesorten einzuatmen - geheimnisvoll, orientalisch, fruchtig. Um die bauchigen Teekannen im Regal zu begrüßen wie gute alte Bekannte und um schließlich dem ersten zögerlichen Kunden bei der Auswahl des perfekten Tees behilflich zu sein. Beruhigend, erfrischend, anregend, je nachdem, wonach die Leute sich sehnten. Sie seufzte und stellte dann energisch das Frühstücksgeschirr zusammen. Das war vorbei, und das war gut so. Wie oft hatte sie in den letzten Jahren genau davon geträumt - im Bademantel, ungeschminkt und völlig stressfrei ein schönes Frühstück zu genießen, nicht zur Arbeit hetzen zu müssen und all die Sorgen um den Teeladen abladen zu können wie einen schweren Rucksack. Und jetzt, als es endlich so weit war, verwandelte sie sich in ein sentimentales altes Huhn. Dabei lag der ganze Tag noch vor ihr, es war gerade mal Viertel nach acht. Viertel nach acht ... Wanda sprang wie elektrisiert auf. Wie hatte sie nur die Zeit verpassen können. Mit einem Satz war sie an der Haustür, riss sie auf und sprang mit zwei raschen Schritten durch den kleinen Vorgarten. Wenn sie den verdammten Hundebesitzer mit seinem Mistköter heute erwischte, würde sie ihn so was von zusammenstauchen. Da!
»Kusch!«, schrie sie wütend. Es war nicht zu fassen. Da war das Vieh und hockte an genau derselben Stelle wie gestern, wie vorgestern, wie die ganze verdammte letzte Woche lang. In ihrem kleinen Steingarten! Und sie musste den Mist - im wahrsten Sinne des Wortes - dann wieder wegräumen.
»So eine Sauerei«, rief sie laut. »Sie können Ihren Hund doch nicht einfach in fremde Gärten machen lassen!« Noch im Bademantel rannte sie auf die Straße. Wo war diese verantwortungslose Person? Der Hund, ein Dackel, lief jetzt schwanzwedelnd und ohne Eile zum Fußweg und sah sie aus braunen Hundeaugen freundlich an.
»Hau ab!«, rief Wanda. Der Hund setzte sich zögernd in Bewegung. Auf der Straße war niemand zu sehen. Keiner, der »Fiffi, komm!« rief oder pfiff oder geistesabwesend eine Hundeleine hinter sich herschleifte und dabei Zeitung las. War dieser Köter etwa alleine unterwegs? Das wäre ja ungeheuerlich. Einen Moment lang zog sie in Erwägung, den Hund zu verfolgen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie noch nicht mal angezogen war. Überdies ging jetzt auch noch bei ihrem Nachbarn die Tür auf. Der alte Herr Gilder kam heraus, mit Steppweste und Gummistiefeln bekleidet und mit einer Harke bewaffnet.
Wanda raffte den Bademantel vorne zu und schenkte dem alten Mann ein schwaches Lächeln. »Morgen!«, rief sie. »Wie geht's?«
Der alte Gilder sah auf seine Armbanduhr. »Halb neun«, rief er zurück. Wanda zwang sich zu einem freundlichen Nicken und trat den Rückzug ins Haus an. Halb neun. Als ob sie ihr schwerhöriger Nachbar daran erinnern musste, wie ewig lang dieser Tag noch war. Ein Tag, der ihr schon die erste schmähliche Niederlage eingebracht hatte, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte. Ein Tag, der genauso ereignislos verlaufen würde wie die letzten vierzig Tage. Seit sie ihren Teeladen verkauft und sich selbst mit dreiundsechzig ins Rentnerdasein befördert hatte. Irgendwie hatte sie sich das alles anders vorgestellt. Befreiender. Aufregender. Voller Kunstausstellungen, Konzerte, Reisen. Voller alleinstehender, niveauvoller Männer in ihrem Alter ... Stattdessen fühlte sie sich seit vierzig Tagen wie von einer unerklärlichen Lähmung befallen und hatte es gerade mal geschafft, ihren Badezimmerschrank zu entmisten. Wenn ihre Freundinnen Biggi und Marianne sie in den letzten Wochen nicht immer wieder gezwungen hätten, irgendwas zu unternehmen, wäre sie völlig versauert. Was war nur mit ihr los? Sie war doch gesund, sie sah noch attraktiv aus - kurze dunkle Haare mit ein paar grauen Strähnchen, voller Mund, dunkle Augenbrauen. Jemand hatte ihr vor einiger Zeit gesagt, dass sie Isabella Rosselini ähnelte, allerdings offenbar erst im Alter, denn über sechzig Jahre lang war das keiner Menschenseele aufgefallen. Abgesehen von etwas Hüftspeck war Wanda noch relativ schlank, sie hatte Geschmack, die Andeutung eines Grübchens, wenn sie lachte, eine Menge Fältchen um Augen und Mund, aber wenigstens keine bizarren Warzen, aus denen Haare wuchsen, oder nervöse Ticks und Macken. Das hoffte sie jedenfalls stark. Und dennoch - nach all den Sorgen um den Teeladen der letzten Jahre fühlte sie sich wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Leer, schlaff und irgendwie unmotiviert. Würde das etwa so bleiben? Würde sie jeden Tag aufs Neue morgens in der Hoffnung aufstehen, dass vielleicht an diesem Tag etwas Grandioses, Aufregendes passierte, nur um abends wieder resigniert festzustellen, dass ihre besten Jahre offenbar hinter ihr lagen und »Lebensabend« einfach nur bedeutete, dass einen die moderne Welt irgendwann nicht mehr vermisste, selbst wenn man noch am Leben war?
Nein, verdammt noch mal. Sie schraubte die Marmelade zu. Rentnerin - wie das klang. Nach Apotheke, nach beigefarbenen Sandalen, nach Haarnetzen. Wanda holte tief Luft.
Sie würde heute Abend mit Biggi zum Salsakurs gehen. Und dort würde sie geschmeidig, temperamentvoll und leidenschaftlich tanzen, denn sie würde sich heute die passenden Schuhe dafür kaufen. Wenn noch Zeit war, würde sie gleich mal im Tee- laden nach dem Rechten sehen. Vielleicht brauchte Martin ja noch ein paar gute Ratschläge.
Etwas, das sie dem neuen Besitzer bei ihren fast täglichen Besuchen in den letzten Wochen vergessen hatte mitzuteilen.
Entgegen den vollmundigen Versprechungen der Webseite war Salsa kein Lebensgefühl, sondern eine Zumutung, das erkannte Wanda sofort. Ihre neuen Schuhe brannten und drückten, und sie hatte sich viel zu sehr aufgedonnert mit ihrer türkisfarbenen Tunika. Biggi sah allerdings auch nicht viel besser aus. Sie platzte bald aus dem unvorteilhaften Kleid aus rotbraunem Knittersamt heraus. Seit ihrer Scheidung vor einem Jahr zog Biggi nur noch so mondänes Zeug an, egal, ob es zu ihr passte oder nicht. Sie wollte keine Motte mehr sein, sondern ein Schmetterling, hatte sie Wanda erklärt. Ein Schmetterling mit zweiundsechzig ... Na ja. Auf Wanda machte sie heute mehr den Eindruck eines Mehlkäfers in Feinstrumpfhosen, aber andererseits war Wanda ja froh, dass sie Biggi hatte. In der spartanischen Turnhalle wirkten sie jedenfalls beide völlig fehl am Platz. Biggis schweres Parfüm vermischte sich mit dem Geruch nach Medizinbällen und pubertärem Schweiß, der diesem Ort anhaftete, und Wanda bekam kaum noch Luft. Sie wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Vielleicht ein Café oder elegantes Tanzstudio ... Stattdessen saßen sie in der Turnhalle der Wagnerschule auf Holzbänken, die wahrscheinlich untendrunter mit Kinderpopeln beschmiert waren, und warteten gemeinsam mit sechs anderen Frauen auf einen gewissen Ernesto. Nur mit anderen Frauen. Männer waren noch keine gekommen.
Wanda sah sich unauffällig um. Drei stämmige Freundinnen in Sportkleidung saßen wie eine Gebirgsformation nebeneinander und tuschelten leise. Sie waren in Wandas Alter. Zwei andere Frauen waren noch ganz jung und starrten ununterbrochen auf ihre Handys. Die letzte Frau war um die fünfzig und offenbar ganz alleine hergekommen. Wanda fand das ziemlich mutig. In dem Alter wäre sie nie alleine irgendwohin gegangen. Allerdings war sie da auch Teil eines Ehepaares gewesen, und da ging man nicht alleine weg. Auch dann nicht, wenn diese Ehe quasi nur noch auf dem Papier existierte.
»Wollen wir wieder abhauen?«, flüsterte sie Biggi zu.
»Wart's doch erst mal ab«, flüsterte Biggi zurück. Sie sah mit hungrigen Augen zum Eingang, genau wie alle anderen im Raum. Dort öffnete sich jetzt die Tür, und jemand sah herein. Ein Mann!
Verstört blickte er in die Halle. Die Köpfe der jungen Frauen klappten sofort wieder gleichgültig nach unten. Der Mann hatte seine Hosen in der Art alter Männer bis fast unter die Achseln hochgezogen, dabei war er vielleicht gerade mal sechzig und auch nicht alleine. Eine Frau schob ihn von hinten, und Wanda konnte hören, wie sie leise »Nun geh doch nur mal rein, Holger« sagte. Die Frauen in Sportsachen wandten sich enttäuscht ab. Die Tür öffnete sich wieder, und diesmal kam ein sportlicher, schlanker Typ um die dreißig herein. Er trug ein weißes Hemd unter einer schwarzen Weste und hielt sich aus gesprochen gerade.
»Señoras y señores!«, rief er ausgelassen und verwandelte damit auf magische Weise selbst den Mann mit den hochgezogenen Hosen in einen glutäugigen Kubaner. »Ich bin Ernesto. Fangen wir an!« Er machte sich ohne weitere Umstände an einer schwarzen Musikbox zu schaffen, und auf einmal schallten lateinamerikanische Rhythmen durch die miefige Turnhalle, als befänden sie sich alle in einer Nachtbar in Havanna, Mojito in der Hand und Blumen im Haar. Die anderen Frauen standen zögernd auf, Wanda machte es ihnen nach.
»Sie können alle keinen Salsa, nein?«, rief Ernesto. Er trippelte ein paar Tanzschritte, schüttelte den Kopf und lachte ungläubig bei der Vorstellung, dass ein Mensch tatsächlich sein bisheriges Leben verbracht haben konnte, ohne täglich Salsa zu tanzen. »Anita wird euch die Grundschritte für die Frau zeigen.« Anita? Die Enttäuschung war geradezu körperlich im Raum zu spüren, als Ernestos flotte Tanzpartnerin quasi aus dem Nichts hinter ihm auftauchte.
»Ich stell mich mal mit dem Rücken zu euch hin, damit ihr das besser sehen könnt«, begann sie. »So. Und dann gehen wir mit dem rechten Fuß nach hinten, das ist die eins, auf zwei gehen wir links vor und auf drei rechts vor, anhalten, auf der fünf gehen wir vor, auf sechs rechts zurück, auf sieben ...«
»Was?«, fragte Wanda verwirrt. Sie hatte bereits den Faden verloren. Und was war mit der vier? Wo war Schritt Nummer vier abgeblieben?
»... und eins, zwei, drei und fünf, sechs, sieben ...«
Wanda sah sich um. Die beiden jungen Frauen hatten den Schritt schon drauf, es war nicht zu fassen. Die Musik schien immer schneller zu werden, Bongos und Congas hetzten Wanda durch den Raum, immer einen Schritt zu spät oder zu falsch. Sie fing an zu schwitzen. Was zum Teufel hatte sie hier verloren?
Warum saß sie nicht auf ihrer gemütlichen Couch und guckte sich den Film mit Ulrich Tukur an, den sie heute brachten?
»Meinst du, es kommt noch jemand?«, schnaufte Biggi neben ihr. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und hing ihr wirr ins Gesicht.
Wanda antwortete nicht. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, denn jetzt zeigte Ernesto den Männerschritt.
»Hacke nicht ganz absetzen, gerade bleiben, immer leicht in den Knien ...« Er scharwenzelte mit Anita durch die Halle, was das Zeug hielt, verfolgt von den schmachtenden Blicken der drei Frauen im Sportlook.
»Und jetzt machen wir das mal als Paar.« Zu Wandas Entsetzen kam Ernesto genau auf sie zu. Er griff nach ihrer und nach Biggis Hand. »Wir bieten unsere Hände an, also die Frauen legen ihre Hände da so rein, keine Daumen benutzen.« Damit hakelte er Biggis widerstrebende Finger in Wandas hinein. »Sie sind jetzt mal der Mann«, sagte er zu Wanda. »Und Augenkontakt nicht vergessen und eins, zwei, drei und fünf, sechs, sieben!«
Die Musik dröhnte wieder los und scheuchte Wanda erneut durch den Raum, diesmal mit der schweren, ächzenden Biggi im Schlepptau. Ihre Finger hielten sich krampfhaft aneinander fest, wie bei Ertrinkenden. Ständig traten sie sich auf die Füße.
»Aufpassen, du bist doch der Mann«, sagte Biggi. Sie kicherte albern. »Wir können ja mal wechseln.«
Nie wieder, dachte Wanda. Nie wieder. Ihre gequälten Zehen wollten nichts mehr, als aus diesen Schuhen raus und in ihre weichen Wollsocken zu Hause rein. Gab es etwas Peinlicheres, als mitteleuropäische Rentnerinnen, die an einem kalten Oktoberabend zwischen Sprossenwand und Basketballkorb mit dem Hintern wackelten wie Fidel Castros Fernsehballett?
© MARION VON SCHRÖDER (Verlag)
»Kusch!«, schrie sie wütend. Es war nicht zu fassen. Da war das Vieh und hockte an genau derselben Stelle wie gestern, wie vorgestern, wie die ganze verdammte letzte Woche lang. In ihrem kleinen Steingarten! Und sie musste den Mist - im wahrsten Sinne des Wortes - dann wieder wegräumen.
»So eine Sauerei«, rief sie laut. »Sie können Ihren Hund doch nicht einfach in fremde Gärten machen lassen!« Noch im Bademantel rannte sie auf die Straße. Wo war diese verantwortungslose Person? Der Hund, ein Dackel, lief jetzt schwanzwedelnd und ohne Eile zum Fußweg und sah sie aus braunen Hundeaugen freundlich an.
»Hau ab!«, rief Wanda. Der Hund setzte sich zögernd in Bewegung. Auf der Straße war niemand zu sehen. Keiner, der »Fiffi, komm!« rief oder pfiff oder geistesabwesend eine Hundeleine hinter sich herschleifte und dabei Zeitung las. War dieser Köter etwa alleine unterwegs? Das wäre ja ungeheuerlich. Einen Moment lang zog sie in Erwägung, den Hund zu verfolgen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie noch nicht mal angezogen war. Überdies ging jetzt auch noch bei ihrem Nachbarn die Tür auf. Der alte Herr Gilder kam heraus, mit Steppweste und Gummistiefeln bekleidet und mit einer Harke bewaffnet.
Wanda raffte den Bademantel vorne zu und schenkte dem alten Mann ein schwaches Lächeln. »Morgen!«, rief sie. »Wie geht's?«
Der alte Gilder sah auf seine Armbanduhr. »Halb neun«, rief er zurück. Wanda zwang sich zu einem freundlichen Nicken und trat den Rückzug ins Haus an. Halb neun. Als ob sie ihr schwerhöriger Nachbar daran erinnern musste, wie ewig lang dieser Tag noch war. Ein Tag, der ihr schon die erste schmähliche Niederlage eingebracht hatte, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte. Ein Tag, der genauso ereignislos verlaufen würde wie die letzten vierzig Tage. Seit sie ihren Teeladen verkauft und sich selbst mit dreiundsechzig ins Rentnerdasein befördert hatte. Irgendwie hatte sie sich das alles anders vorgestellt. Befreiender. Aufregender. Voller Kunstausstellungen, Konzerte, Reisen. Voller alleinstehender, niveauvoller Männer in ihrem Alter ... Stattdessen fühlte sie sich seit vierzig Tagen wie von einer unerklärlichen Lähmung befallen und hatte es gerade mal geschafft, ihren Badezimmerschrank zu entmisten. Wenn ihre Freundinnen Biggi und Marianne sie in den letzten Wochen nicht immer wieder gezwungen hätten, irgendwas zu unternehmen, wäre sie völlig versauert. Was war nur mit ihr los? Sie war doch gesund, sie sah noch attraktiv aus - kurze dunkle Haare mit ein paar grauen Strähnchen, voller Mund, dunkle Augenbrauen. Jemand hatte ihr vor einiger Zeit gesagt, dass sie Isabella Rosselini ähnelte, allerdings offenbar erst im Alter, denn über sechzig Jahre lang war das keiner Menschenseele aufgefallen. Abgesehen von etwas Hüftspeck war Wanda noch relativ schlank, sie hatte Geschmack, die Andeutung eines Grübchens, wenn sie lachte, eine Menge Fältchen um Augen und Mund, aber wenigstens keine bizarren Warzen, aus denen Haare wuchsen, oder nervöse Ticks und Macken. Das hoffte sie jedenfalls stark. Und dennoch - nach all den Sorgen um den Teeladen der letzten Jahre fühlte sie sich wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Leer, schlaff und irgendwie unmotiviert. Würde das etwa so bleiben? Würde sie jeden Tag aufs Neue morgens in der Hoffnung aufstehen, dass vielleicht an diesem Tag etwas Grandioses, Aufregendes passierte, nur um abends wieder resigniert festzustellen, dass ihre besten Jahre offenbar hinter ihr lagen und »Lebensabend« einfach nur bedeutete, dass einen die moderne Welt irgendwann nicht mehr vermisste, selbst wenn man noch am Leben war?
Nein, verdammt noch mal. Sie schraubte die Marmelade zu. Rentnerin - wie das klang. Nach Apotheke, nach beigefarbenen Sandalen, nach Haarnetzen. Wanda holte tief Luft.
Sie würde heute Abend mit Biggi zum Salsakurs gehen. Und dort würde sie geschmeidig, temperamentvoll und leidenschaftlich tanzen, denn sie würde sich heute die passenden Schuhe dafür kaufen. Wenn noch Zeit war, würde sie gleich mal im Tee- laden nach dem Rechten sehen. Vielleicht brauchte Martin ja noch ein paar gute Ratschläge.
Etwas, das sie dem neuen Besitzer bei ihren fast täglichen Besuchen in den letzten Wochen vergessen hatte mitzuteilen.
Entgegen den vollmundigen Versprechungen der Webseite war Salsa kein Lebensgefühl, sondern eine Zumutung, das erkannte Wanda sofort. Ihre neuen Schuhe brannten und drückten, und sie hatte sich viel zu sehr aufgedonnert mit ihrer türkisfarbenen Tunika. Biggi sah allerdings auch nicht viel besser aus. Sie platzte bald aus dem unvorteilhaften Kleid aus rotbraunem Knittersamt heraus. Seit ihrer Scheidung vor einem Jahr zog Biggi nur noch so mondänes Zeug an, egal, ob es zu ihr passte oder nicht. Sie wollte keine Motte mehr sein, sondern ein Schmetterling, hatte sie Wanda erklärt. Ein Schmetterling mit zweiundsechzig ... Na ja. Auf Wanda machte sie heute mehr den Eindruck eines Mehlkäfers in Feinstrumpfhosen, aber andererseits war Wanda ja froh, dass sie Biggi hatte. In der spartanischen Turnhalle wirkten sie jedenfalls beide völlig fehl am Platz. Biggis schweres Parfüm vermischte sich mit dem Geruch nach Medizinbällen und pubertärem Schweiß, der diesem Ort anhaftete, und Wanda bekam kaum noch Luft. Sie wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Vielleicht ein Café oder elegantes Tanzstudio ... Stattdessen saßen sie in der Turnhalle der Wagnerschule auf Holzbänken, die wahrscheinlich untendrunter mit Kinderpopeln beschmiert waren, und warteten gemeinsam mit sechs anderen Frauen auf einen gewissen Ernesto. Nur mit anderen Frauen. Männer waren noch keine gekommen.
Wanda sah sich unauffällig um. Drei stämmige Freundinnen in Sportkleidung saßen wie eine Gebirgsformation nebeneinander und tuschelten leise. Sie waren in Wandas Alter. Zwei andere Frauen waren noch ganz jung und starrten ununterbrochen auf ihre Handys. Die letzte Frau war um die fünfzig und offenbar ganz alleine hergekommen. Wanda fand das ziemlich mutig. In dem Alter wäre sie nie alleine irgendwohin gegangen. Allerdings war sie da auch Teil eines Ehepaares gewesen, und da ging man nicht alleine weg. Auch dann nicht, wenn diese Ehe quasi nur noch auf dem Papier existierte.
»Wollen wir wieder abhauen?«, flüsterte sie Biggi zu.
»Wart's doch erst mal ab«, flüsterte Biggi zurück. Sie sah mit hungrigen Augen zum Eingang, genau wie alle anderen im Raum. Dort öffnete sich jetzt die Tür, und jemand sah herein. Ein Mann!
Verstört blickte er in die Halle. Die Köpfe der jungen Frauen klappten sofort wieder gleichgültig nach unten. Der Mann hatte seine Hosen in der Art alter Männer bis fast unter die Achseln hochgezogen, dabei war er vielleicht gerade mal sechzig und auch nicht alleine. Eine Frau schob ihn von hinten, und Wanda konnte hören, wie sie leise »Nun geh doch nur mal rein, Holger« sagte. Die Frauen in Sportsachen wandten sich enttäuscht ab. Die Tür öffnete sich wieder, und diesmal kam ein sportlicher, schlanker Typ um die dreißig herein. Er trug ein weißes Hemd unter einer schwarzen Weste und hielt sich aus gesprochen gerade.
»Señoras y señores!«, rief er ausgelassen und verwandelte damit auf magische Weise selbst den Mann mit den hochgezogenen Hosen in einen glutäugigen Kubaner. »Ich bin Ernesto. Fangen wir an!« Er machte sich ohne weitere Umstände an einer schwarzen Musikbox zu schaffen, und auf einmal schallten lateinamerikanische Rhythmen durch die miefige Turnhalle, als befänden sie sich alle in einer Nachtbar in Havanna, Mojito in der Hand und Blumen im Haar. Die anderen Frauen standen zögernd auf, Wanda machte es ihnen nach.
»Sie können alle keinen Salsa, nein?«, rief Ernesto. Er trippelte ein paar Tanzschritte, schüttelte den Kopf und lachte ungläubig bei der Vorstellung, dass ein Mensch tatsächlich sein bisheriges Leben verbracht haben konnte, ohne täglich Salsa zu tanzen. »Anita wird euch die Grundschritte für die Frau zeigen.« Anita? Die Enttäuschung war geradezu körperlich im Raum zu spüren, als Ernestos flotte Tanzpartnerin quasi aus dem Nichts hinter ihm auftauchte.
»Ich stell mich mal mit dem Rücken zu euch hin, damit ihr das besser sehen könnt«, begann sie. »So. Und dann gehen wir mit dem rechten Fuß nach hinten, das ist die eins, auf zwei gehen wir links vor und auf drei rechts vor, anhalten, auf der fünf gehen wir vor, auf sechs rechts zurück, auf sieben ...«
»Was?«, fragte Wanda verwirrt. Sie hatte bereits den Faden verloren. Und was war mit der vier? Wo war Schritt Nummer vier abgeblieben?
»... und eins, zwei, drei und fünf, sechs, sieben ...«
Wanda sah sich um. Die beiden jungen Frauen hatten den Schritt schon drauf, es war nicht zu fassen. Die Musik schien immer schneller zu werden, Bongos und Congas hetzten Wanda durch den Raum, immer einen Schritt zu spät oder zu falsch. Sie fing an zu schwitzen. Was zum Teufel hatte sie hier verloren?
Warum saß sie nicht auf ihrer gemütlichen Couch und guckte sich den Film mit Ulrich Tukur an, den sie heute brachten?
»Meinst du, es kommt noch jemand?«, schnaufte Biggi neben ihr. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und hing ihr wirr ins Gesicht.
Wanda antwortete nicht. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, denn jetzt zeigte Ernesto den Männerschritt.
»Hacke nicht ganz absetzen, gerade bleiben, immer leicht in den Knien ...« Er scharwenzelte mit Anita durch die Halle, was das Zeug hielt, verfolgt von den schmachtenden Blicken der drei Frauen im Sportlook.
»Und jetzt machen wir das mal als Paar.« Zu Wandas Entsetzen kam Ernesto genau auf sie zu. Er griff nach ihrer und nach Biggis Hand. »Wir bieten unsere Hände an, also die Frauen legen ihre Hände da so rein, keine Daumen benutzen.« Damit hakelte er Biggis widerstrebende Finger in Wandas hinein. »Sie sind jetzt mal der Mann«, sagte er zu Wanda. »Und Augenkontakt nicht vergessen und eins, zwei, drei und fünf, sechs, sieben!«
Die Musik dröhnte wieder los und scheuchte Wanda erneut durch den Raum, diesmal mit der schweren, ächzenden Biggi im Schlepptau. Ihre Finger hielten sich krampfhaft aneinander fest, wie bei Ertrinkenden. Ständig traten sie sich auf die Füße.
»Aufpassen, du bist doch der Mann«, sagte Biggi. Sie kicherte albern. »Wir können ja mal wechseln.«
Nie wieder, dachte Wanda. Nie wieder. Ihre gequälten Zehen wollten nichts mehr, als aus diesen Schuhen raus und in ihre weichen Wollsocken zu Hause rein. Gab es etwas Peinlicheres, als mitteleuropäische Rentnerinnen, die an einem kalten Oktoberabend zwischen Sprossenwand und Basketballkorb mit dem Hintern wackelten wie Fidel Castros Fernsehballett?
© MARION VON SCHRÖDER (Verlag)
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Autoren-Porträt von Ulrike Herwig
Ulrike Herwig arbeitete zehn Jahre in London als Deutschlehrerin. Seit 2001 lebt sie mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Seattle, USA. Um sich nicht den ganzen Tag über die verrückten amerikanischen Moms wundern zu müssen, zieht sich Ulrike Herwig so oft es geht an ihren Schreibtisch zurück. Außerdem regnet es ganz schön oft in Seattle, und da will man sowieso nicht vor die Tür. Ideal für eine Autorin!
Bibliographische Angaben
- Autor: Ulrike Herwig
- 2012, 272 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: MARION VON SCHRÖDER
- ISBN-10: 3547711843
- ISBN-13: 9783547711844
Kommentare zu "Mein Gott, Wanda"
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