Mein Jahr als Mörder
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Am Nikolaustag 1968 hört ein Berliner Student im Radio, dass Hans-Joachim Rehse, Richter an Freislers Volksgerichtshof, freigesprochen wurde. Noch während die Nachrichten laufen, beschließt er ein Zeichen zu setzen: Er wird diesen Mann umbringen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Rehse hat den Vater seines besten Freundes zum Tode verurteilt, den Arzt Georg Groscurth...
"Unbedingt lesen" (Literaturen)
Mein Jahr als Mörder von FriedrichChristian Delius
LESEPROBE
Eine freieStimme der freien Welt
Es war an einem Nikolausabend, inder Dämmerstunde, als ich den Auftrag erhielt, ein Mörder zu werden. Von einer Minuteauf die andere war ich, wenn auch flatternden Leichtsinns, einverstanden. Einefeste männliche Stimme aus der Luft, aus dem unendlichen Äther, stiftete michan, kein Teufel, kein Gott, sondern ein Nachrichtensprecher, der seineMeldungen ablas und, wie auf einer zweiten Tonspur, mir die Aufforderung insOhr blies, den Mörder R. zu ermorden. Eine Stimme aus dem RIAS, dem Rundfunk imamerikanischen Sektor, noch dazu am Tag des heiligen Nikolaus - ich verstehejeden, der mich oder den, der ich damals war, für verrückt hält, wenn ichheute den längst verjährten Mordanschlag gestehe.
Mein Geheimnis kennt niemand, diePolizei hat von den verborgenen kriminellen Trieben so wenig bemerkt wie meinebesten Freunde, und da ich als stiller und friedlicher Mensch gelte, ist meinSchweigen beim Thema Mord und Gewalt nie verdächtig gewesen. Jetzt darf ichsprechen, das Geständnis ist fällig. Allmählich wächst die Lust, die Geisterbahnder Erinnerung anzuwerfen und in die kleine Wohnung im Souterrain hinabzusteigen, wo ein Student das Radio anstellt, denKachelofen mit Eierkohlen füttert, Wasser für Pulverkaffee kochen lässt und demDuft der Pfeffernüsse aus dem Adventspäckchen der Mutter nicht widerstehenkann.
Weil mir niemand so schnell denMörder glauben wird, muss ich etwas ausholen, auch Ofen und Gebäck gehören in dieIndizienkette des Erzählens. Solange ich nicht ausschließen kann, dass diePfeffernüsse meine Mordlust stimuliert haben, darf ich sie im schriftlichenGeständnis nicht übergehen. Mein Verhör muss ich mit mir selbst führen. Dasist das Pech, wenn man nicht erwischt worden ist. Wie in jedem besseren Krimikönnen die Motive, Umstände und Peinlichkeiten der Tat erst nach und nachenthüllt werden.
Es kamen die Nachrichten,gewöhnliche Sätze im gewöhnlichen Nachrichtendeutsch, ich hörte nicht richtigzu, in mir die verschleppte Müdigkeit des grauen, nassen Dezembers. Das Zimmerwar noch kühl, ein Kachelofen braucht seine Zeit, ich ließ mich wärmen von derStimme des Sprechers, von dem vertrauten Bass, der sich im Stundentakt zurfreien Stimme der freien Welt erhob. Die Pfeffernüsse waren hart undschmeckten nach einer ärmlichen Süße, ich wartete auf die Wetteraussichten unddann auf Mozart oder Beethoven zum Abschalten.
Wie alle Sender in Berlin war auchder amerikanische RIAS nicht frei von Propaganda, aber er hatte die bestenSprecher mit suggestiven, tief schwingenden Stimmen, männlich, schützend undentschieden wie die Schutzmacht selbst. Ich hörte mehr auf die markanteModulation des Basses als auf die Neuigkeiten, bis die routiniert dahingesprochene Meldung kam: Das Schwurgericht amBerliner Landgericht hat den früheren Richter am Volksgerichtshof Hans Joachim Rehse, vom Vorwurf des Mordes in sieben Fällenfreigesprochen.
Die Nachricht hatte nichtsSensationelles, nichts Unerwartetes, auch damals nicht. Jedes andere Urteilwäre eine Überraschung gewesen. Juristen werden von Juristen nicht verurteilt,Nazijuristen, auch wenn sie über zweihundert Todesurteile produziert haben,sowieso nicht. Ein Klischee wurde bestätigt, und doch lauerte hinter dieserNachricht eine andere, eine geflüsterte Neuigkeit. Wie in einem dritten Ohr,im Labyrinth des Innenohrs, wo die Widersprüche hängen bleiben, hörte ich inden Silben aus dem Äther die Schwingungen einer geheimen Botschaft, diedeutliche Aufforderung: Einer wird ein Zeichen setzen und diesen Mörderumbringen, und das wirst du sein.
Nein, ich hatte nichts getrunken,stand nicht unter Drogen, war nicht aus dem Bett einer Freundin getaumelt. Völlignüchtern war ich, nur etwas müde, als der Satz mich traf: Einer wird einZeichen setzen und diesen Mörder umbringen, und das wirst du sein!
Der Sprecher kündigte das Wetter fürdas Wochenende an, während meine Phantasie vorwärts schoss: Ich mit Pistole,ein Knall, ein Mann kippt um, so einfach ist das, die logische Fortsetzung derNachrichten. Es hätte mich nicht gewundert, aus dem Radio die Eilmeldung zuhören: Wie wir soeben erfahren, hat ein Berliner Student den Entschlussgefasst, den Richter R. umzubringen.
Du spinnst! Ausgerechnet du! Vergisses! So versuchte ich die Phantasie zu stoppen. Es war nicht einmal komisch, eswar nur lächerlich, blöde, keinen halben Gedanken wert. Schluss!
Denn ich hatte ja nicht einmal denMut, einen Pflasterstein in die Hand zu nehmen, geschweige denn zu werfen. Ichals Täter, als Mörder, diese Vorstellung war mehr als tollkühn, sie warunmöglich, irre, bekloppt. Aber gerade wegen ihrer Absurdität, vermute ichheute, schlug sie Funken und entzündete die empfindliche Einbildungskraft, diesofort die passenden Bilder lieferte:
Ich lehnte am Hauseingang irgendwoin der Witzlebenstraße vor dem Kammergericht, ich hatte die Hauptrolle undwartete auf den Justizmörder. Nicht lange, dann trat er, ein unauffälliger ältererHerr, aus dem Portal, wenige Stufen hinab und lief zu seinem Auto, wo ich ihn,nach kurzem Zielblick über Kimme und Korn, mit drei Schüssen niederstreckteund ruhigen Schritts Richtung Lietzensee entschwand,von allen Passanten erkannt und doch nicht aufgehalten in meinemselbstbewussten, stolzen Gang: junger Mann, ca. 20 bis 25 Jahre, ca. 180 cm,schlank, blond, bekleidet mit dunkelblauer Windjacke und blauen Jeans - bis dieSirenen vom Kaiserdamm her meine feierliche Festnahme verkündeten und dieFilmrolle riss.
Ein simpler Kurzfilm: ein Schuft,ein Kerl, ein Schuss. Ein B-Movie, das war klar, aberich spürte sofort die stimulierende Wirkung: das Glück, für einige Minuten einHeld zu sein, der Rächer der Gerechten.
Es war zu spät, ich hatte keineWahl. Denn das alles geschah, das kommt erschwerend hinzu, im Jahr neunzehnhundertachtundsechzig.
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© RowohltVerlag
- Autor: Friedrich Christian Delius
- 2006, 4. Aufl., 304 Seiten, Maße: 11,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499239329
- ISBN-13: 9783499239328
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