Mein Leben nach der Todeszelle
Während seine angeblichen Mittäter 1993 zu Haftstrafen verurteilt wurden, verhängte das Gericht gegen Damien Echols die Todestrafe: Das Trio sollte einen achtjährigen Jungen ermordet haben. Nach 18 Jahren Todeszelle schildert der...
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Produktinformationen zu „Mein Leben nach der Todeszelle “
Während seine angeblichen Mittäter 1993 zu Haftstrafen verurteilt wurden, verhängte das Gericht gegen Damien Echols die Todestrafe: Das Trio sollte einen achtjährigen Jungen ermordet haben. Nach 18 Jahren Todeszelle schildert der inzwischen rehabilitierte Echols die schwere Zeit.
Klappentext zu „Mein Leben nach der Todeszelle “
Die ebenso schockierende wie bewegende Geschichte eines Mannes, der 18 Jahre in der Todeszelle saß.Im Jahr 1993 wurden Damien Echols, Jason Baldwin und Jessie Misskelley Jr. - bald bekannt unter dem Namen "The West Memphis Three" - für schuldig befunden, drei achtjährige Jungen ermordet zu haben. Baldwin und Misskelley erhielten lebenslange Haftstrafen, Echols wurde zum Tode verurteilt. In den folgenden Jahren wurden die "WM3" weltweit zum Symbol für die Verfehlungen des amerikanischen Justizsystems und erhielten breite Unterstützung. In einer spektakulären Wende der Situation und aufgrund neuerlicher DNA-Tests wurden alle drei Männer im August 2011 entlassen. In seinem Buch schildert Damien Echols, der stets seine Unschuld beteuerte, was es bedeutet, 18 Jahre lang in der Todeszelle zu sitzen, und er erzählt, wie es ihm gelang, den psychischen wie physischen Terror, dem er ausgesetzt war, zu überleben.
Lese-Probe zu „Mein Leben nach der Todeszelle “
Mein Leben nach der Todeszelle von Damien EcholsVORWORT
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»Heiliger Raymond Nonnatus, niemals hat man gehört, dass jemand, der dich um deine Hilfe gebeten oder um dein Eingreifen ersucht hat, allein geblieben wäre. Zu dir komme ich, vor dir stehe ich. Verschmähe du nicht mein Bitten, sondern höre mich in deiner Barmherzigkeit und steh mir bei.«
Der Heilige Raymond Nonnatus ist einer meiner Schutzpatrone. Ich möchte wetten, die meisten Leute ahnen nicht, dass er der Schutzheilige der unschuldig Angeklagten ist. Ich möchte gern glauben, dass ich einen besonderen Platz in seinem Herzen habe, denn viel größer als bei mir kann das Unrecht der Anschuldigungen kaum sein. Deshalb haben ich und der alte Raymond eine Abmachung getroffen. Wenn er mir aus dieser Lage heraushilft, werde ich zu allen großen Kathedralen der Welt reisen und allen seinen Statuen, die ich finden kann, Blumen und Schokolade zu Füßen legen. Sie haben nicht gewusst, dass Heilige Schokolade mögen? Tja, dann haben Sie jetzt schon etwas gelernt, und wir haben gerade erst angefangen!
Ich habe insgesamt drei Schutzheilige. Sie mögen sich fragen, wer die beiden anderen sind und wie ein vulgärer Sünder wie ich nicht mit einem, sondern gleich mit drei Heiligen gesegnet sein kann, die über ihn wachen. Mein zweiter Schutzpatron ist der heilige Dismas. Er ist der Beschützer der zum Tode Verurteilten und Gefangenen. Bisher hat er seine Arbeit getan und auf mich aufgepasst. Da habe ich keine Klagen. Welche Vereinbarung der heilige Dismas und ich haben? Nur die, dass ich jede Woche zur Messe in die Gefängniskapelle gehe, es sei denn, ich hätte einen verdammt guten Grund, es nicht zu tun.
Mein dritter Schutzpatron ist einer, mit dem ich aus gutem Grund viele Male in meinem Leben sprechen musste: der heilige Judas, der Heilige für verzweifelte und hoffnungslose Fälle. Ich würde sagen, für etwas, das ich nicht getan habe, in der Todeszelle zu sitzen ist ein ziemlich verzweifelter und hoffnungsloser Fall. Was der heilige Judas bekommt? Es macht ihm einfach Spaß, dabei zuzusehen, in welche lächerliche Notlage ich als Nächstes gerate.
Sobald ich anfange zu glauben, dass das, was ich schreibe, aus objektiver Sicht keinen Wert hat, werde ich den Stift aus der Hand legen. Mich plagt oft der Gedanke, dass die Menschen mich entweder als jemanden sehen, der in der Todeszelle sitzt, oder als einen, der dort mal gesessen hat. Ich bin unzufrieden, wenn ich mir vorstelle, dass ein morbides Gefühl der Neugier jemanden dazu bringt, das zu lesen, was ich niederschreibe. Die Leute sollen lesen, was ich aufschreibe, weil es ihnen etwas bedeutet - weil es sie zum Lachen bringt oder weil es sie an Dinge erinnert, die sie vergessen haben und die ihnen einmal wichtig waren, oder weil es sie einfach auf irgendeine Weise berührt. Ich will keine Absonderlichkeit sein, kein Freak, keine Kuriosität. Kein Autounfall, bei dem man bremst und gafft.
Wenn jemand anfängt zu lesen, weil er das Leben aus einer anderen Perspektive als seiner eigenen sehen will, bin ich zufrieden. Wenn jemand liest, weil er wissen will, wie das Leben von da aussieht, wo ich stehe, bin ich glücklich. Die Vampire sind es, bei denen mir flau und unbehaglich wird - die, denen nichts an mir liegt, sondern die sich nur für so etwas wie Menschen in der Todeszelle interessieren. Diese Leute erscheinen mir wie kreisende Aasgeier, und sie haben etwas Ungesundes. Sie suhlen sich in Depressionen, und ihr Leben folgt einem Abwärtstrend. Im Geiste sind sie fast so tot wie die Maden, die an einem Sommertag in einem überfahrenen Igel wimmeln. Mit dieser Art von Energie will ich nichts zu tun haben. Ich möchte etwas von bleibender Schönheit erschaffen, kein groteskes Ausstellungsstück in einem Monstrositätenkabinett.
Diese Geschichten aufzuschreiben ist auch eine Läuterung für mich. Ein reinigender Akt. Wie kann man den Dingen ausgesetzt sein, denen ich ausgesetzt war, ohne von ihnen verfolgt zu werden? Man kann einen Mann nicht nach Vietnam schicken und sich dann wundern, wenn er Flashbacks hat, oder? Dies ist die einzige Möglichkeit für mich, meine Psyche von dem Trauma zu befreien. Therapiesitzungen für hundert Dollar die Stunde stehen mir nicht zur Verfügung. Ich brauche aber auch keinen Freud mit seiner Ödipus- Theorie. Geben Sie mir einfach Stift und Papier.
Ich bin hier Zeuge von Dingen geworden, die mich zum Lachen gebracht haben, und über andere habe ich geweint. Die Umgebung, in der ich lebe, ist so verzerrt, dass Ereignisse, die in der Außenwelt Stoff für Legenden bieten würden, hier am nächsten Tag schon vergessen sind. Dinge, die in der Außenwelt Schlagzeilen machen würden, finden hinter diesen dreckigen Mauern höchstens flüchtige Beachtung. Als ich 1994 in den Hochsicherheitstrakt in Tucker, Arkansas, eingeliefert wurde, haute es mich um. Nach mehr als zehn Jahren hinter Gittern bin ich »gefängnis- alt«, und was ich hier sehe, beeindruckt mich nicht mehr so sehr. Wenn man ein Wort mit dem Zusatz »gefängnis- « versieht, definiert man es neu. »Gefängnis- alt« kann man schon mit dreißig sein. »Gefängnis- reich« ist ein Mann, der hundert Dollar oder mehr besitzt. In der Außenwelt gilt ein dreißigjähriger Mann mit hundert Dollar in der Tasche weder als alt noch als reich. Hier drin sieht die Sache völlig anders aus.
Am Abend meiner Ankunft im Todestrakt kam ich in eine Zelle zwischen die zwei hasserfülltesten alten Scheißkerle auf der ganzen Welt. Der eine hieß Jonas, der andere Albert. Beide waren Ende fünfzig, und körperlich hatten sie schon bessere Tage gesehen. Jonas hatte nur ein Bein, Albert nur ein Auge. Beide waren krankhaft fett, und ihre Stimmen hörten sich an, als hätten sie aus dem Aschenbecher gegessen. Diese beiden Männer hassten einander mehr, als man in Worte fassen kann, und sie wünschten sich gegenseitig den Tod.
Ich war noch nicht lange da, als der Typ, der den Boden wischte, kurz stehen blieb und mir einen Zettel reichte. Dabei sah er mich merkwürdig an, als wollte er etwas sagen und hätte es sich dann anders überlegt. Ich verstand sein Benehmen sofort, als ich den Zettel auseinanderfaltete und anfing zu lesen. Er war mit »Lisa« unterschrieben und enthielt eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Arten, auf die »sie« mir eine wunderbare Freundin sein würde, wozu auch »ihr« sexuelles Repertoire gehörte. Ich war verblüfft, denn ich saß in einem Männergefängnis und hatte hier noch niemanden gesehen, der aussah, als höre er auf den Namen Lisa. Am unteren Rand des Blattes stand noch eine kurze Zeile. »PS: Bitte schick mir eine Zigarette. « Ich warf den Zettel vor Alberts Zelle und sagte: »Lies das und sag mir, ob du weißt, wer das ist.« Nach einigen Augenblicken hörte ich eine Explosion von bösartigen Flüchen und Schimpfwörtern, und dann erklärte Albert: »Das ist von dieser alten Nutte Jonas. Der Penner tut alles für eine Zigarette. « Lisa war also ein fettleibiger sechsundfünfzigjähriger Mann mit nur einem Bein. Ich schüttelte mich vor Ekel.
Wie sich herausstellte, würde Jonas für eine Zigarette wirklich alles tun. Er war absolut pleite und hatte keine Freunde oder Verwandten, die ihm Geld schickten, und deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als Kunststücke zu machen, um seine Gewohnheiten zu befriedigen. Er war schwer gestört, und ich glaube, ihm gefiel auch der Masochismus, der dabei im Spiel war. Zum Beispiel trank er einmal eine Halbliterflasche Urin für eine einzige handgedrehte Zigarette. Ich könnte kaum sagen, wer da mehr zu leiden hatte - Jonas oder die Leute, die ihm beim Röcheln und Würgen zuhören mussten. Bei anderer Gelegenheit stand er unter der Dusche und schob sich ein Stuhlbein in den After, während der ganze Trakt zuschaute. Der Lohn dafür war eine Zigarette. Und es waren nicht mal Markenzigaretten, sondern handgedrehte aus No-Name-Tabak, die einen Penny das Stück kosteten.
Wie gesagt, Jonas war kein besonders gefestigter Charakter. Ich rede von einem Mann, der sich die Zähne in fluoreszierendem Pink und Lila lackierte und der Buntstiftminen zermahlte, um sich daraus Lidschatten zu machen. Der eine Fuß, den er noch hatte, war verschlissen und abstoßend, und die Zehennägel sahen aus wie Cornflakes. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen bestand darin, mit einer Chilisaucenflasche Oralsex zu imitieren. Einmal verkaufte er sein Bein (die Prothese) an einen anderen Insassen und erzählte dann den Wärtern, der Mann habe es ihm gewaltsam weggenommen. Der andere Häftling rächte sich, indem er Jonas Rattengift in den Kaffee schüttete. Dass etwas nicht stimmte, merkten die Wärter, als Jonas Blut erbrach. Er war der meistverabscheute Mann im Todestrakt, gemieden von allen anderen Häftlingen. Ein wahrer Fürst des Strafvollzugs. Man trifft hier nicht viele Gentlemen, aber Jonas fiel selbst in dieser Umgebung auf.
Glauben Sie jetzt bloß nicht, dass Albert im Vergleich dazu ein Schmuckstück war. Er log und betrog ununterbrochen. Einmal schrieb er einen Brief an einen Talkshow- Moderator und versprach, die Verstecke weiterer Leichen zu enthüllen, gegen tausend Dollar Honorar. Da er in Arkansas und Mississippi zum Tode verurteilt worden war, hatte er nichts mehr zu verlieren. Als er schließlich hingerichtet wurde, hinterließ er mir sein Gebiss zur Erinnerung. Jemand anders erbte sein Glasauge.
Der ganze Irrsinn, der im Inneren des Gefängnisses stattfindet, ist nichts im Vergleich zu dem, was man im Hof sieht und hört. 2003 wurden die zum Tode verurteilten Häftlinge in Arkansas in einen neuen »Super- Maximum- Hochsicherheitstrakt « in Grady, Arkansas, verlegt. Hier gibt es eigentlich keinen Hof. Man wird - natürlich mit Hand- und Fußschellen - aus der Zelle geholt und durch einen schmalen Korridor nach »draußen « geführt, wo man, ohne tatsächlich einen einzigen Schritt vor die Gefängnismauern zu tun, in eine winzige, verdreckte Betonkammer gesperrt ist, die Ähnlichkeit mit einem winzigen Getreidesilo hat. Einen halben Meter unter dem oberen Rand der einen Mauer befindet sich ein Maschendrahtfenster, das Tageslicht einfallen lässt, sodass man weiß, das »Draußen « ist dahinter, aber man sieht es nicht. Man hat hier keinen Umgang mit anderen Gefangenen, und man wagt nicht, allzu tief einzuatmen, weil man sich sonst irgendeine Krankheit holen könnte. Ich war mal morgens draußen, und da lagen allein in meinem Pferch drei tote, verwesende Tauben und mehr Fäkalien, als ich je gesehen hatte. Der Geruch erinnert mich an das Löwenhaus im Zoo von Memphis, wo ich als Kind mal gewesen war. Wenn man zum ersten Mal da reinkommt, muss man mit einem Würgereflex kämpfen. Es ist richtige Drecksarbeit, sich ein bisschen Bewegung zu verschaffen.
Bevor wir hierherkamen, hatten wir einen richtigen Hof. Da war man tatsächlich draußen, in der Sonne und in der frischen Luft. Man konnte herumgehen und mit anderen reden, und es gab zwei Basketballkörbe. Die Männer saßen herum und spielten Dame, Schach, Domino, oder sie machten Liegestütze. Ein paar hockten auch in den Ecken herum und rauchten Joints, die sie von den Wärtern gekauft hatten.
Ich war noch keine zwei Wochen mit von der Partie gewesen, als ich im Hof eines Tages auf einen anderen Gefangenen aufmerksam wurde, den alle »Cathead « - Katzenkopf - nannten. Der unappetitliche Typ hatte diesen Namen bekommen, weil er haargenau so aussah. Wenn man einen alten, streunenden Kater einfängt und ihm den Schädel kahl rasiert, hat man exakt diesen Kerl vor sich. Cathead saß auf dem Boden, ließ sich von der Sonne bescheinen und kaute auf einem Grashalm, der ihm aus dem Mundwinkel hing. Er starrte ins Leere, als sei er tief in Gedanken versunken. Ich hatte meine Runden um den Hof gelaufen und mir die Landschaft angeschaut. Als ich zum hundertsten Mal an Cathead vorbeikam, blickte er zu mir auf (genau genommen war es eher, als sehe er irgendetwas ganz anderes, aber sein Kopf drehte sich in meine Richtung), und er fragte: »Weißt du, wie du fünf Mann daran hinderst, dich zu vergewaltigen? « Darauf war ich nicht vorbereitet, denn mit dieser Frage hatte ich mich noch nie beschäftigt, und ich hatte sie auch noch nicht beantworten müssen. Ich starrte die Kreatur an und wartete auf die Pointe, denn ich hoffte, er wollte einen Witz machen. Und gleich beantwortete er seine Frage selbst: »Kneif die Arschbacken zusammen und fang an zu beißen. « Ich war entsetzt. Er meinte es todernst, und anscheinend fand er, er habe soeben eine unglaublich wohl durchdachte Perle der Weisheit von sich gegeben. Mir dagegen ging nur eins durch den Kopf: In was für eine Hölle hat man mich hier geschickt? Sind das die Gespräche, die man hier führt? Sofort lief ich weiter meine Runden und überließ Cathead seinen Gedanken.
Das Gefängnis ist eine Freakshow. Barnum & Bailey mit ihrem ganzen Zirkus haben keine Ahnung, was ihnen entgeht. Ich werde Ihr Showmaster sein, wenn wir gleich eine Führung durch diese kleine Ecke der Hölle veranstalten. Sie werden geblendet und verblüfft sein; bereiten Sie sich darauf vor. Wenn es stimmt, dass die Hand schneller ist als das Auge, werden Sie gar nicht wissen, was Sie da gerammt hat. Ich wusste es auch nicht.
Übersetzung: Rainer Schmidt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe Mai 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Heiliger Raymond Nonnatus, niemals hat man gehört, dass jemand, der dich um deine Hilfe gebeten oder um dein Eingreifen ersucht hat, allein geblieben wäre. Zu dir komme ich, vor dir stehe ich. Verschmähe du nicht mein Bitten, sondern höre mich in deiner Barmherzigkeit und steh mir bei.«
Der Heilige Raymond Nonnatus ist einer meiner Schutzpatrone. Ich möchte wetten, die meisten Leute ahnen nicht, dass er der Schutzheilige der unschuldig Angeklagten ist. Ich möchte gern glauben, dass ich einen besonderen Platz in seinem Herzen habe, denn viel größer als bei mir kann das Unrecht der Anschuldigungen kaum sein. Deshalb haben ich und der alte Raymond eine Abmachung getroffen. Wenn er mir aus dieser Lage heraushilft, werde ich zu allen großen Kathedralen der Welt reisen und allen seinen Statuen, die ich finden kann, Blumen und Schokolade zu Füßen legen. Sie haben nicht gewusst, dass Heilige Schokolade mögen? Tja, dann haben Sie jetzt schon etwas gelernt, und wir haben gerade erst angefangen!
Ich habe insgesamt drei Schutzheilige. Sie mögen sich fragen, wer die beiden anderen sind und wie ein vulgärer Sünder wie ich nicht mit einem, sondern gleich mit drei Heiligen gesegnet sein kann, die über ihn wachen. Mein zweiter Schutzpatron ist der heilige Dismas. Er ist der Beschützer der zum Tode Verurteilten und Gefangenen. Bisher hat er seine Arbeit getan und auf mich aufgepasst. Da habe ich keine Klagen. Welche Vereinbarung der heilige Dismas und ich haben? Nur die, dass ich jede Woche zur Messe in die Gefängniskapelle gehe, es sei denn, ich hätte einen verdammt guten Grund, es nicht zu tun.
Mein dritter Schutzpatron ist einer, mit dem ich aus gutem Grund viele Male in meinem Leben sprechen musste: der heilige Judas, der Heilige für verzweifelte und hoffnungslose Fälle. Ich würde sagen, für etwas, das ich nicht getan habe, in der Todeszelle zu sitzen ist ein ziemlich verzweifelter und hoffnungsloser Fall. Was der heilige Judas bekommt? Es macht ihm einfach Spaß, dabei zuzusehen, in welche lächerliche Notlage ich als Nächstes gerate.
Sobald ich anfange zu glauben, dass das, was ich schreibe, aus objektiver Sicht keinen Wert hat, werde ich den Stift aus der Hand legen. Mich plagt oft der Gedanke, dass die Menschen mich entweder als jemanden sehen, der in der Todeszelle sitzt, oder als einen, der dort mal gesessen hat. Ich bin unzufrieden, wenn ich mir vorstelle, dass ein morbides Gefühl der Neugier jemanden dazu bringt, das zu lesen, was ich niederschreibe. Die Leute sollen lesen, was ich aufschreibe, weil es ihnen etwas bedeutet - weil es sie zum Lachen bringt oder weil es sie an Dinge erinnert, die sie vergessen haben und die ihnen einmal wichtig waren, oder weil es sie einfach auf irgendeine Weise berührt. Ich will keine Absonderlichkeit sein, kein Freak, keine Kuriosität. Kein Autounfall, bei dem man bremst und gafft.
Wenn jemand anfängt zu lesen, weil er das Leben aus einer anderen Perspektive als seiner eigenen sehen will, bin ich zufrieden. Wenn jemand liest, weil er wissen will, wie das Leben von da aussieht, wo ich stehe, bin ich glücklich. Die Vampire sind es, bei denen mir flau und unbehaglich wird - die, denen nichts an mir liegt, sondern die sich nur für so etwas wie Menschen in der Todeszelle interessieren. Diese Leute erscheinen mir wie kreisende Aasgeier, und sie haben etwas Ungesundes. Sie suhlen sich in Depressionen, und ihr Leben folgt einem Abwärtstrend. Im Geiste sind sie fast so tot wie die Maden, die an einem Sommertag in einem überfahrenen Igel wimmeln. Mit dieser Art von Energie will ich nichts zu tun haben. Ich möchte etwas von bleibender Schönheit erschaffen, kein groteskes Ausstellungsstück in einem Monstrositätenkabinett.
Diese Geschichten aufzuschreiben ist auch eine Läuterung für mich. Ein reinigender Akt. Wie kann man den Dingen ausgesetzt sein, denen ich ausgesetzt war, ohne von ihnen verfolgt zu werden? Man kann einen Mann nicht nach Vietnam schicken und sich dann wundern, wenn er Flashbacks hat, oder? Dies ist die einzige Möglichkeit für mich, meine Psyche von dem Trauma zu befreien. Therapiesitzungen für hundert Dollar die Stunde stehen mir nicht zur Verfügung. Ich brauche aber auch keinen Freud mit seiner Ödipus- Theorie. Geben Sie mir einfach Stift und Papier.
Ich bin hier Zeuge von Dingen geworden, die mich zum Lachen gebracht haben, und über andere habe ich geweint. Die Umgebung, in der ich lebe, ist so verzerrt, dass Ereignisse, die in der Außenwelt Stoff für Legenden bieten würden, hier am nächsten Tag schon vergessen sind. Dinge, die in der Außenwelt Schlagzeilen machen würden, finden hinter diesen dreckigen Mauern höchstens flüchtige Beachtung. Als ich 1994 in den Hochsicherheitstrakt in Tucker, Arkansas, eingeliefert wurde, haute es mich um. Nach mehr als zehn Jahren hinter Gittern bin ich »gefängnis- alt«, und was ich hier sehe, beeindruckt mich nicht mehr so sehr. Wenn man ein Wort mit dem Zusatz »gefängnis- « versieht, definiert man es neu. »Gefängnis- alt« kann man schon mit dreißig sein. »Gefängnis- reich« ist ein Mann, der hundert Dollar oder mehr besitzt. In der Außenwelt gilt ein dreißigjähriger Mann mit hundert Dollar in der Tasche weder als alt noch als reich. Hier drin sieht die Sache völlig anders aus.
Am Abend meiner Ankunft im Todestrakt kam ich in eine Zelle zwischen die zwei hasserfülltesten alten Scheißkerle auf der ganzen Welt. Der eine hieß Jonas, der andere Albert. Beide waren Ende fünfzig, und körperlich hatten sie schon bessere Tage gesehen. Jonas hatte nur ein Bein, Albert nur ein Auge. Beide waren krankhaft fett, und ihre Stimmen hörten sich an, als hätten sie aus dem Aschenbecher gegessen. Diese beiden Männer hassten einander mehr, als man in Worte fassen kann, und sie wünschten sich gegenseitig den Tod.
Ich war noch nicht lange da, als der Typ, der den Boden wischte, kurz stehen blieb und mir einen Zettel reichte. Dabei sah er mich merkwürdig an, als wollte er etwas sagen und hätte es sich dann anders überlegt. Ich verstand sein Benehmen sofort, als ich den Zettel auseinanderfaltete und anfing zu lesen. Er war mit »Lisa« unterschrieben und enthielt eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Arten, auf die »sie« mir eine wunderbare Freundin sein würde, wozu auch »ihr« sexuelles Repertoire gehörte. Ich war verblüfft, denn ich saß in einem Männergefängnis und hatte hier noch niemanden gesehen, der aussah, als höre er auf den Namen Lisa. Am unteren Rand des Blattes stand noch eine kurze Zeile. »PS: Bitte schick mir eine Zigarette. « Ich warf den Zettel vor Alberts Zelle und sagte: »Lies das und sag mir, ob du weißt, wer das ist.« Nach einigen Augenblicken hörte ich eine Explosion von bösartigen Flüchen und Schimpfwörtern, und dann erklärte Albert: »Das ist von dieser alten Nutte Jonas. Der Penner tut alles für eine Zigarette. « Lisa war also ein fettleibiger sechsundfünfzigjähriger Mann mit nur einem Bein. Ich schüttelte mich vor Ekel.
Wie sich herausstellte, würde Jonas für eine Zigarette wirklich alles tun. Er war absolut pleite und hatte keine Freunde oder Verwandten, die ihm Geld schickten, und deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als Kunststücke zu machen, um seine Gewohnheiten zu befriedigen. Er war schwer gestört, und ich glaube, ihm gefiel auch der Masochismus, der dabei im Spiel war. Zum Beispiel trank er einmal eine Halbliterflasche Urin für eine einzige handgedrehte Zigarette. Ich könnte kaum sagen, wer da mehr zu leiden hatte - Jonas oder die Leute, die ihm beim Röcheln und Würgen zuhören mussten. Bei anderer Gelegenheit stand er unter der Dusche und schob sich ein Stuhlbein in den After, während der ganze Trakt zuschaute. Der Lohn dafür war eine Zigarette. Und es waren nicht mal Markenzigaretten, sondern handgedrehte aus No-Name-Tabak, die einen Penny das Stück kosteten.
Wie gesagt, Jonas war kein besonders gefestigter Charakter. Ich rede von einem Mann, der sich die Zähne in fluoreszierendem Pink und Lila lackierte und der Buntstiftminen zermahlte, um sich daraus Lidschatten zu machen. Der eine Fuß, den er noch hatte, war verschlissen und abstoßend, und die Zehennägel sahen aus wie Cornflakes. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen bestand darin, mit einer Chilisaucenflasche Oralsex zu imitieren. Einmal verkaufte er sein Bein (die Prothese) an einen anderen Insassen und erzählte dann den Wärtern, der Mann habe es ihm gewaltsam weggenommen. Der andere Häftling rächte sich, indem er Jonas Rattengift in den Kaffee schüttete. Dass etwas nicht stimmte, merkten die Wärter, als Jonas Blut erbrach. Er war der meistverabscheute Mann im Todestrakt, gemieden von allen anderen Häftlingen. Ein wahrer Fürst des Strafvollzugs. Man trifft hier nicht viele Gentlemen, aber Jonas fiel selbst in dieser Umgebung auf.
Glauben Sie jetzt bloß nicht, dass Albert im Vergleich dazu ein Schmuckstück war. Er log und betrog ununterbrochen. Einmal schrieb er einen Brief an einen Talkshow- Moderator und versprach, die Verstecke weiterer Leichen zu enthüllen, gegen tausend Dollar Honorar. Da er in Arkansas und Mississippi zum Tode verurteilt worden war, hatte er nichts mehr zu verlieren. Als er schließlich hingerichtet wurde, hinterließ er mir sein Gebiss zur Erinnerung. Jemand anders erbte sein Glasauge.
Der ganze Irrsinn, der im Inneren des Gefängnisses stattfindet, ist nichts im Vergleich zu dem, was man im Hof sieht und hört. 2003 wurden die zum Tode verurteilten Häftlinge in Arkansas in einen neuen »Super- Maximum- Hochsicherheitstrakt « in Grady, Arkansas, verlegt. Hier gibt es eigentlich keinen Hof. Man wird - natürlich mit Hand- und Fußschellen - aus der Zelle geholt und durch einen schmalen Korridor nach »draußen « geführt, wo man, ohne tatsächlich einen einzigen Schritt vor die Gefängnismauern zu tun, in eine winzige, verdreckte Betonkammer gesperrt ist, die Ähnlichkeit mit einem winzigen Getreidesilo hat. Einen halben Meter unter dem oberen Rand der einen Mauer befindet sich ein Maschendrahtfenster, das Tageslicht einfallen lässt, sodass man weiß, das »Draußen « ist dahinter, aber man sieht es nicht. Man hat hier keinen Umgang mit anderen Gefangenen, und man wagt nicht, allzu tief einzuatmen, weil man sich sonst irgendeine Krankheit holen könnte. Ich war mal morgens draußen, und da lagen allein in meinem Pferch drei tote, verwesende Tauben und mehr Fäkalien, als ich je gesehen hatte. Der Geruch erinnert mich an das Löwenhaus im Zoo von Memphis, wo ich als Kind mal gewesen war. Wenn man zum ersten Mal da reinkommt, muss man mit einem Würgereflex kämpfen. Es ist richtige Drecksarbeit, sich ein bisschen Bewegung zu verschaffen.
Bevor wir hierherkamen, hatten wir einen richtigen Hof. Da war man tatsächlich draußen, in der Sonne und in der frischen Luft. Man konnte herumgehen und mit anderen reden, und es gab zwei Basketballkörbe. Die Männer saßen herum und spielten Dame, Schach, Domino, oder sie machten Liegestütze. Ein paar hockten auch in den Ecken herum und rauchten Joints, die sie von den Wärtern gekauft hatten.
Ich war noch keine zwei Wochen mit von der Partie gewesen, als ich im Hof eines Tages auf einen anderen Gefangenen aufmerksam wurde, den alle »Cathead « - Katzenkopf - nannten. Der unappetitliche Typ hatte diesen Namen bekommen, weil er haargenau so aussah. Wenn man einen alten, streunenden Kater einfängt und ihm den Schädel kahl rasiert, hat man exakt diesen Kerl vor sich. Cathead saß auf dem Boden, ließ sich von der Sonne bescheinen und kaute auf einem Grashalm, der ihm aus dem Mundwinkel hing. Er starrte ins Leere, als sei er tief in Gedanken versunken. Ich hatte meine Runden um den Hof gelaufen und mir die Landschaft angeschaut. Als ich zum hundertsten Mal an Cathead vorbeikam, blickte er zu mir auf (genau genommen war es eher, als sehe er irgendetwas ganz anderes, aber sein Kopf drehte sich in meine Richtung), und er fragte: »Weißt du, wie du fünf Mann daran hinderst, dich zu vergewaltigen? « Darauf war ich nicht vorbereitet, denn mit dieser Frage hatte ich mich noch nie beschäftigt, und ich hatte sie auch noch nicht beantworten müssen. Ich starrte die Kreatur an und wartete auf die Pointe, denn ich hoffte, er wollte einen Witz machen. Und gleich beantwortete er seine Frage selbst: »Kneif die Arschbacken zusammen und fang an zu beißen. « Ich war entsetzt. Er meinte es todernst, und anscheinend fand er, er habe soeben eine unglaublich wohl durchdachte Perle der Weisheit von sich gegeben. Mir dagegen ging nur eins durch den Kopf: In was für eine Hölle hat man mich hier geschickt? Sind das die Gespräche, die man hier führt? Sofort lief ich weiter meine Runden und überließ Cathead seinen Gedanken.
Das Gefängnis ist eine Freakshow. Barnum & Bailey mit ihrem ganzen Zirkus haben keine Ahnung, was ihnen entgeht. Ich werde Ihr Showmaster sein, wenn wir gleich eine Führung durch diese kleine Ecke der Hölle veranstalten. Sie werden geblendet und verblüfft sein; bereiten Sie sich darauf vor. Wenn es stimmt, dass die Hand schneller ist als das Auge, werden Sie gar nicht wissen, was Sie da gerammt hat. Ich wusste es auch nicht.
Übersetzung: Rainer Schmidt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe Mai 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Damien Echols
Damien Echols wurde 1974 in Arkansas geboren und verbrachte seine von häufigen Umzügen geprägte Kindheit und Jugend in Mississippi, Tennessee, Maryland, Oregon, Texas, Louisiana und Arkansas. Im Alter von 18 Jahren wurde er beschuldigt, gemeinsam mit seinen Freunden Jason Baldwin und Jessie Misskelley Jr. drei kleine Jungen ermordet zu haben. Damien Echols wurde zum Tode verurteilt und verbrachte 18 Jahre in der Todeszelle, ohne dass seine Schuld je bewiesen worden wäre. Der Fall der »West Memphis Three« fand weltweite Beachtung, es entstanden zwei große Dokumentarfilme zu dem Thema. 2011 wurden die drei nach einer neuerlichen Prüfung der Beweislage aus dem Gefängnis entlassen. Damien Echols lebt heute mit seiner Frau Lorri Davis in Salem, Massachusetts.
Bibliographische Angaben
- Autor: Damien Echols
- 2013, 416 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Rainer
- Übersetzer: Rainer Schmidt
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442313406
- ISBN-13: 9783442313402
- Erscheinungsdatum: 13.05.2013
Rezension zu „Mein Leben nach der Todeszelle “
"Damien Echols ist im Grunde seines Herzens ein Poet und Mystiker, und er hat nicht ein Buch geschrieben, das Kapital schlägt aus einer schockierenden Geschichte, sondern er hat ein literarisches Werk geschaffen."
Kommentar zu "Mein Leben nach der Todeszelle"
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