Mein Vater, der Deserteur
Eine Familiengeschichte
René Freund setzt sich mit dem Kriegstagebuch seines Vaters auseinander - und wie man in mörderischen Zeiten Mensch bleibt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mein Vater, der Deserteur “
René Freund setzt sich mit dem Kriegstagebuch seines Vaters auseinander - und wie man in mörderischen Zeiten Mensch bleibt.
Klappentext zu „Mein Vater, der Deserteur “
Paris, August 1944. Die Stadt ist von Hitlers Wehrmacht besetzt, doch die Tage der deutschen Herrschaft sind gezählt. Gerhard Freund ist achtzehn, als er zur Wehrmacht eingezogen wird; Mitte August 1944 soll seine Einheit an der Schlacht um Paris teilnehmen. Der junge Soldat erlebt die sinnlose Brutalität des Kampfes und desertiert. Er wird von der Résistance festgenommen und von amerikanischen Soldaten vor der Erschießung gerettet. Mehr als sechzig Jahre später liest René Freund das Kriegstagebuch seines verstorbenen Vaters, stöbert in Archiven, spricht mit Zeitzeugen und fährt nach Paris, auf der Suche nach einem schärferen Bild von seinem Vater - und der eigenen Familiengeschichte.
Lese-Probe zu „Mein Vater, der Deserteur “
Mein Vater, der Deserteur von René FreundFamilienstellen. Ursprungsbild
Vater, dich stell ich in die Mitte. Hierher, ja. Die Mutter zu deiner
Linken. Nein. Die Mutter zu deiner Rechten. Dich, meine
Schwester, vor die Mutter. Ja, so ist es recht. Mich selbst vor den
Vater. Das fühlt sich gut an. Du willst mich sehen, Schwester?
Ich wende mich dir zu. Einen Schritt zur Seite. Besser? Gut. Wie
geht es dir? Warum hat Mutter Angst? Warum ist Vater zornig?
Oder ist er traurig? Fehlt hier jemand? Und du, Vater, warum
stehst du neben deiner Mutter? Deine kleinen Schwestern vor
dir, als wären sie deine Kinder. Stehst du gut, Mutter? Sind das
Tränen in deinen Augen? Dein Vater und deine Mutter stehen
hinter dir und deiner kleinen Schwester. Sie scheinen jemanden
zu suchen. Und all die anderen tauchen auf aus dunklem
Hintergrund, Kinder, geborene und ungeborene, Lebende und
Tote, jeder sucht seinen Platz und alles kommt in Bewegung,
bleibt in Bewegung, es scheint wie ein Tanz, und die einzelnen
Menschen lösen sich auf in dem Ganzen, verschwinden in der
Suche nach Gleichgewicht und Ordnung.
1979
... mehr
Eine Frage wollte ich meinem Vater immer stellen: »Hast du einen
anderen Menschen erschossen?« Ich habe es nie gewagt,
meinem Vater diese Frage zu stellen. Heute ist es zu spät. Mehr
als drei Jahrzehnte zu spät. Mein Vater starb, als ich zwölf war.
Ich weiß noch, wie er auf dem Sofa im Wohnzimmer lag und
meiner Mutter zustöhnte: »Zweihundertfünfzig zu hundertachtzig.
« Er hatte sich den Blutdruck gemessen. Er maß sich
ständig den Blutdruck, um sich zu beruhigen, vielleicht auch,
um sich zu beunruhigen. In seinem Kopf war eine Ader geplatzt.
Aneurysma, hieß es im ärztlichen Fachjargon. Das Wort
erinnerte mich zwölfjährigen Buben an den Lieblingsedelstein
meiner Mineraliensammlung: Amethyst. Aneurysma war auch
violett. Jedenfalls verfärbte es das Gesicht meines Vaters in der
Folge violett. Aber das weiß ich nur aus den Erzählungen meiner
Mutter. Ich habe meinen Vater »so« nie gesehen. Sie wollte
nicht, dass ich und meine vier Jahre jüngere Schwester Natalie
ihn »so« sahen. Wir sahen ihn dann nie wieder.
Der Krankenwagen kam und holte ihn ab. Da war ich schon
nicht mehr dabei. Meine Mutter hat uns weggeschickt. Ich weiß
auch nicht mehr, ob wir den Surbraten noch gegessen haben.
Es war ein Sonntag, als das Aneurysma meines Vaters platzte.
Das geschah in dem Moment, als er sich zum Backofen hinabbeugte,
um nachzusehen, ob der Surbraten schon gar und
knusprig war. Mein Vater hätte eigentlich gar keinen Surbraten
essen sollen. Er hatte schon fünfzehn Jahre davor eine Gehirnblutung
gehabt. Die Ärzte verordneten ihm Diät, Ruhe, sie gaben
ihm Blutdrucksenker, Beruhigungsmittel und Aufputschmittel,
damit er sich seine Befindlichkeiten einrichten konnte.
Damals glaubte man noch mehr als heute an die Macht der
Chemie.
1944
Freitag, 11. August
18 Uhr Abschied von zu Hause, 23 Uhr Abfahrt Wien,
Westbahnhof
Der Krieg hat meinen Vater umgebracht, behauptet seine
Schwester, meine Tante. Sie sieht ihn als Gefallenen, gestorben
für Führer, Volk und Vaterland, 34 Jahre nach Kriegsende. Es
waren die Entbehrungen, sagt meine Tante. Und die Angst.
Mein Vater war ein unruhiger Mensch. Und er konnte keinem
Genuss widerstehen. Die tägliche Rindsbouillon. Innereien.
Würste. Fettes Fleisch. Wein. Fernet. Und »Falk«, achtzig Zigaretten
täglich. Und die Medikamente. Die Ärzte haben deinen
Vater auch umgebracht, sagt meine Tante. Und der Krieg. Aber
natürlich hat er sich selbst umgebracht, »weil es muss ja keine«.
Muss keiner?
Mein Vater musste Soldat werden. Musste er? Geboren am
5. September 1925, erst bei der HJ, dann beim Reichsarbeitsdienst,
ein großer, schlanker, blauäugiger Junge. Vier Tage vor
seinem vierzehnten Geburtstag konnte dieser hübsche Junge
im Radio Adolf Hitlers Worte hören: »Seit 5.45 Uhr wird jetzt
zurückgeschossen.« Jene Umkehrung der Tatsachen, die den
verheerendsten Krieg der Menschheitsgeschichte einleitete. Zur
Ausbildung eingezogen 1943, mit achtzehn Jahren. An die Front
geschickt im August 1944. Zwischen Musterungspapieren und
Marschbefehlen finde ich ein Gedicht, das er von seiner Mutter
zum Abschied bekommen hat. Schon deren Vater war Dichter
gewesen. Offensichtlich hat man in diesem Familienzweig
Sorgen und Kummer stets literarisch verarbeitet. Das Gedicht
der Mutter meines Vaters ist datiert: »Wien, 30. VII. 1944«. Die
Schrift ist gut zu lesen:
»Mein armer Sohn, Du musst hinaus
Ins Feindesland, ins Schlachtgebraus.
Doch orgelt wild der Tod Dir dort sein Lied,
So denk daran, dass irgendwie Dein Vater mit Dir zieht.
Er, der den Tod schon überwunden,
Er ist bei Dir in jenen Stunden,
Er wird mit seinem Rat Dir gegenwärtig sein.
Lass Deines Vaters Stimme bei Dir ein.
Du weißt, was er einst fühlte und auch litt,
An seiner Bürde trägst auch Du noch mit.
Ringst Du blutig um Dein Leben,
Möge Gott Gelingen geben!
Und Du weißt den Sinn zu deuten,
Um Dein Menschtum musst Du streiten!
Sieg ist, was Du selbst Dir abgerungen!
Deiner Eltern Liebe hält Dich eng umschlungen!
Gedenke auch Du öfter Deiner
Mutter –«
2010
Die Internet-Plattform WikiLeaks veröffentlicht geheime Dokumente
über amerikanische Kriegsverbrechen im Irak. Die
Weltöffentlichkeit scheint überrascht. Ich greife wie so oft in
das Regal hinter mir und nehme einen Band der zehnteiligen
Werkausgabe von Kurt Tucholsky zur Hand. Tucholsky hat immer
schon alles gewusst.
In Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und als Warnung vor
dem Zweiten schrieb Kurt Tucholsky in der Glosse »Der bewachte
Kriegsschauplatz« die berühmt gewordenen Sätze: »Da
gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen
war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon
entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich
Mord. Soldaten sind Mörder.«
Dieser Satz »Soldaten sind Mörder« des ehemaligen Soldaten
Tucholsky führte nicht nur 1931 zu einem Prozess, er beschäftigte
so oder in Abwandlungen die bundesdeutschen Gerichte
bis in die neunziger Jahre. Ich fand diesen Satz immer
unbestechlich richtig, einleuchtend und wahr. Doch mein von
meinem Vater geprägter Pazifismus, später weiter geschult
und bestärkt durch Erich Kästner, Alfred Polgar, Karl Kraus,
Konstantin Wecker, Werner Schneyder, hat für mich in den letzten
Jahren an Strahlkraft verloren. Ist es mein Verdacht, dass
Österreichs bedingungsloser Glaube an die Neutralität mehr
mit Provinzialismus als mit Pazifismus zu tun hat? Wie war das
im jugoslawischen Bürgerkrieg? Wie war das mit dem Massaker
von Srebrenica, wo Tausende Menschen abgeschlachtet wurden?
Soll man Gewalt dulden und die Verbrecher walten lassen?
Andererseits: Ist nicht das Wort »Kriegsverbrechen« selbst
ein Verbrechen? Bedeutet es nicht, dass es einen Krieg gibt, der
kein Verbrechen ist?
Hatte nicht Benjamin Franklin die Sache ein für alle Mal geklärt,
als er sagte: »There never was a god war or a bad peace.«
Heute werden für Kriege »humanitäre« Gründe vorgeschützt,
um die wirtschaftlichen Interessen zu verschleiern. Der brutale
Einsatz modernster Waffen in entlegenen afghanischen Bergregionen
soll die Welt vom Terrorismus befreien und führt zu
dessen Verstärkung. Oder ein paar Jahre vorher: Wer außer ein
paar willfährigen Journalisten glaubte tatsächlich an irakische
Massenvernichtungswaffen? George Bush selbst wohl am allerwenigsten.
Und wer konnte tatsächlich überrascht sein von
der via Internet verbreiteten Entdeckung, wonach Krieg eine
schmutzige Sache sei? Tausende Zivilisten wurden von überforderten
Soldaten über den Haufen geschossen. Es gab systematische,
vom Präsidenten selbst angeordnete Folter. Das Bild
vom amerikanischen Helden als Behüter der Freiheit hat zuerst
in Vietnam, danach im Irak schlimme Kratzer bekommen.
Auch Rückschlüsse auf die Vergangenheit durften nun gezogen
werden. Man wusste, auch amerikanische Soldaten hatten
sich während des Zweiten Weltkriegs diverser Kriegsverbrechen
schuldig gemacht. Über das Ausmaß dieser Kriegsverbrechen
hat bisher keiner so offen geschrieben wie der britische Historiker
Antony Beevor in seinem monumentalen Werk »D-Day.
Die Schlacht um die Normandie« (2010). Ich werde darauf zurückkommen.
Im Grunde geht es um die Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt.
Darf ein Geheimdienst Terroristen foltern, um unschuldige
Menschen vor Attentaten zu bewahren? Ab wann ist es legitim
zu töten? War Stauffenberg ein Held? Und Saddams Henker?
Kann es moralisch richtig sein zu töten? Darf man töten, wenn
es befohlen wird? Zielt nicht jede militärische Ausbildung auf
die Umkehrung des fünften Gebots? Im Zweiten Weltkrieg traf
das sicher auf alle Armeen zu: »Du sollst töten!« Die alliierten
Soldaten konnten und können sich immerhin darauf berufen,
den »richtigen« Feind gehabt zu haben. Das Gefühl, für die
rechte Sache zu kämpfen, hatten die GIs im Irak oder in Afghanistan
offensichtlich nicht. 2012 starben mehr Soldaten der USArmee
durch Selbstmord als im Kampfeinsatz.
Im Dokumentarfilm »The Fog of War« kommt der US-Stabsoffizier
und spätere Außenminister Robert McNamara zu
manch später Einsicht. McNamara, der im Zweiten Weltkrieg
mathematische Modelle für die möglichst zerstörerische Bombardierung
japanischer Städte entwickelte und für den Tod von
rund einer Million Zivilisten mitverantwortlich ist, bekannte
offen, die USA hätten sich verhalten wie Kriegsverbrecher –
und hätten sie den Krieg verloren, hätte man ihnen den Prozess
gemacht. Aber, so lautete ein Leitsatz McNamaras: »Um Gutes
zu tun, kann es notwendig sein, sich auf das Böse einzulassen.«
Das ist genau die Frage nach dem Zweck und den Mitteln.
Der Schriftsteller Doron Rabinovici erzählt mir bei einer Begegnung,
er sei kein Pazifist, sei nie Pazifist gewesen. »Die Sätze
›Nie wieder Krieg‹ und ›Nie wieder Auschwitz‹ widersprechen
einander«, sagt er. Das kann ich nur so stehen lassen.
Was wäre gewesen, wenn man die Welt Adolf Hitler und seinen
Erben überlassen hätte? Man hätte das millionenfache Morden
geduldet. Toleriert. Gesagt: Macht nur weiter, wir finden
das vielleicht nicht schön, aber wir lassen euch in Ruhe. Können
solcherart Pazifisten zu Mördern werden? Ist es nicht legitim,
für die Freiheit zu kämpfen? »Im Alter werden die Huren
fromm«, soll Axel Springer einmal gesagt haben. Und die Pazifisten
nachdenklich.
1985
Als ich achtzehn war, lagen die Antworten viel klarer vor mir:
»Soldaten sind Mörder.« Ich hatte meinen Tucholsky gelesen.
Als ich den Einberufungsbefehl zur Stellungskommission des
österreichischen Bundesheers bekam, empfand ich das als eine
Art Todesurteil. Ich wollte untauglich sein, weshalb ich vor den
ärztlichen Tests Unmengen Kaffee trank und wie ein Verrückter
rauchte, was auf meine gute Gesamtverfassung keinerlei Auswirkungen
hatte. Bei den psychologischen Tests stellte ich mich
blöd, das aber mit so wenig Intelligenz, dass mir der Militärpsychiater
draufkam.
Ich landete also Monate später vor der Zivildienstprüfungskommission.
Um den Wehrersatzdienst zu leisten, musste man
damals eine Gewissensprüfung über sich ergehen lassen. Ich
hatte gehört, dort würden Fragen gestellt wie: »Sie gehen mit
Ihrer Freundin im Wald spazieren. Plötzlich wird Ihre Freundin
von einem Gewalttäter attackiert. Was machen Sie?« Diese
Fragestellung ist nicht legitim, hörte ich mich antworten, denn
private Notwehr kann nicht mit militärischen Befehlsstrukturen
verglichen werden und Waffengewalt nicht mit sportlichen
Techniken zur Selbstverteidigung, ebenso wenig wie Sie einen
Boxkampf mit dem atomaren Overkill vergleichen können.
Overkill, das war ein Wort der achtziger Jahre. Es bedeutete,
dass sich die Menschheit dank ausgefeilter Waffensysteme unzählige
Male selbst vernichten konnte. Das trifft heute immer
noch zu, aber Overkill sagt man nicht mehr. Überhaupt kam
ich nicht dazu, meine großartigen Antworten zu geben. Der
Vorsitzende der Zivildienstprüfungskommission fragte mich,
ob ich der Sohn von Gerhard Freund sei. Als ich das bejahte, begann
er von meinem Vater zu schwärmen, der habe sich noch
was getraut als Fernsehdirektor, denken Sie nur an den »Herrn
Karl« vom Qualtinger, überhaupt sei er ein so sympathischer
und engagierter und volksnaher Fernsehdirektor gewesen,
heute gebe es das ja alles nicht mehr, und erst die Sendungen,
die man damals gemacht habe, und unter welchen Umständen
diese Sendungen zustande gekommen seien! Der Vorsitzende
zitierte Beispiele, ich weiß bis heute nicht, warum er sich so
gut auskannte, vielleicht war er einfach ein begeisterter Fernsehzuschauer.
Nach einem zehnminütigen Monolog fragte er
mich, ob ich noch etwas sagen wolle. Ich überlegte, denn ich
hätte gerne mit den Herren diskutiert. Mich beschäftigte die
Frage, ob Notwehr gegen äußere Gewalt legitim ist und unter
welchen Umständen diese Gegengewalt organisiert werden darf
oder muss. Gut, unterbrach der Vorsitzende mein Schweigen,
ich glaube, es ist gut gelaufen für Sie, Sie werden schriftlich verständigt.
Und wie Sie Ihrem Herrn Vater ähnlich sehen!
So hat mich mein Vater, der Soldat, vor dem Dienst mit der
Waffe gerettet.
1944
Samstag, 12. August
15 Uhr Ankunft in Straßburg, Abfahrt nach Zabern, von
dort um 23 Uhr Abfahrt nach Metz. Kein Fahrplan mehr,
Chaos auf den Bahnlinien, äußerlich normales Leben.
Mein Vater schrieb: Strassburg und aeusserlich, denn die französische
oder amerikanische Schreibmaschine, auf der er sein
Kriegstagebuch tippte, verfügte weder über ein scharfes S noch
über Umlaute. Sonst schrieb er ein fehlerfreies Deutsch, was
für einen Kriegsmaturanten nicht selbstverständlich war. Er
war das älteste von drei Geschwistern, der einzige Sohn, Mutters
Augenstern. Man lebte zwar zu fünft in »Zimmer, Küche,
Kabinett« in Wien-Meidling, aber man hielt etwas auf Kultur.
Vater Maximilian Freund war Lehrer, bis ihn die Nazis aufgrund
dunkler Stellen im Ariernachweis seines Postens enthoben,
wonach er sehr schnell starb, keine 54 Jahre alt, an einer
Lungenentzündung. Das Penicillin war damals bereits erfunden,
aber im Deutschen Reich nicht erhältlich. Mutter Mechtilde
lernte mit den Kindern Gedichte, die deutschen Klassiker,
besonders Schiller.
Sonntag, 13., Montag, 14. August
In Metz. Stadt ohne Zivil, Waffenschule, über 50 Kasernen,
Bombardement, Bahnhof getroffen, den wir eine Viertelstunde
vorher verlassen hatten. Sonst sehr unterhaltlich.
Montag abends Abfahrt nach Paris. Wir erwischten den
letzten Zug. Leider? Gott sei Dank?
»Unterhaltlich«? Was war »unterhaltlich«?
Das Kriegstagebuch hat ein merkwürdiges Format. Nicht A3,
nicht A4. Etwas dazwischen. Das Papier ist dünn wie Zigarettenpapier.
Ich wundere mich, dass es nicht längst zu Staub zerfallen
ist. Ich kann mich nicht erinnern, wie das Kriegstagebuch
in meine Hände gekommen ist. Hat es mir mein Vater seinerzeit
zu lesen gegeben? Möglich. Habe ich es in irgendeiner Lade
in meinem Elternhaus gefunden, zufällig? Auch möglich. Außer
mir kennt niemand in der Familie das Kriegstagebuch. Es ist
eine Entdeckung.
Dienstag, 15. August
Abenteuerliche Fahrt. Jagdbomberangriffe, wir liegen
mehr neben dem Zug im Gelände als wir fahren. Während
der Luftangriffe werden wir mehrmals von Partisanen
beschossen, ein Wunder, dass niemand verletzt wird.
Nachts wandern wir über eine Bombentrichter besäte
Straße, um eine zerstörte Brücke zu umgehen. Der Weg ist
so schmal und halsbrecherisch, dass die Herren Offiziere
ihr Gepäck zurücklassen müssen. Drüben wartet ein leerer
Zug auf uns und den Rest der Nacht verbringen wir zu dritt
in einem Abteil erster Klasse und schlafen durch bis Paris.
Die Zeichen des Krieges, die wir während der ganzen Fahrt
beobachten konnten, nehmen hier wieder ab.
Wovon die einfachen Wehrmachtssoldaten nichts wussten: Am
selben Tag, dem 15. August 1944, trat die Pariser Polizei in den
Streik. Die Polizisten weigerten sich, die Ordnung für die deutsche
Besatzungsmacht aufrechtzuerhalten. Die alliierten Truppen,
die am 6. Juni 1944 in der Normandie gelandet waren,
standen vor den Toren der Stadt.
Am selben 15. August – den Hitler als »schlimmsten Tag seines
Lebens« bezeichnete – landeten die Alliierten in Südfrankreich.
Das besetzte Frankreich war für die Nazis so gut wie verloren.
Die Widerstandskämpfer in Paris bewaffneten sich und kamen
aus ihren Verstecken. In der Stadt herrschte Chaos, und mitten
hinein fuhr, schlafend, mein Vater.
1983
Meine Mutter macht die besten Wiener Schnitzel der Welt. Sie
sind eher untypisch, das Fleisch dick geschnitten und nicht geklopft,
die Panier fest angedrückt, ohne Luftblasen und Wölbungen,
in Schweineschmalz nicht golden, sondern dunkelbraun
herausgebacken. So etwas prägt.
Nach den sonntäglichen Wiener Schnitzeln fuhren wir gelegentlich
zum Hietzinger Friedhof, um das Grab meines Vaters
zu besuchen. Ich war ein Halbwüchsiger von vielleicht fünfzehn
oder sechzehn Jahren. Rebellisch pubertiert habe ich nie. Nach
dem Tod meines Vaters nahm ich seinen Platz bei Tisch ein, was
meine Mutter seltsamerweise zuließ. Während des Frühstücks
vor der Schule las ich die »Süddeutsche Zeitung« oder hörte
eine Symphonie von Beethoven, Karajan und die Berliner Philharmoniker.
Ich trank Tee mit Milch, wie es mein Vater getan
hatte, und in die Schule ging ich wie ins Büro.
Bei den Mittagessen am Sonntag war stets meine Großmutter
anwesend, die Mutter meiner Mutter, Mummy genannt. Sie war
damals schon über achtzig Jahre alt, bewohnte ein Haus in Salmannsdorf,
dem Villenviertel eines Wiener Nobelbezirks. Das
geografische, politische und soziale Gegenteil von Meidling, wo
mein Vater aufgewachsen war. Mummy schminkte sich jeden
Tag und legte die große Garderobe an, auch wenn sie nur den
Briefträger sah. »Man darf sich niemals gehenlassen«, so lautete
ihr ehernes Lebensmotto, und ich musste oft daran denken, als
ihr Geist sie später im Stich ließ und sie gezwungen war, sich gehenzulassen.
Jedes Mal, wenn wir zum Grab meines Vaters gingen, schnitzelgesättigt,
blieb meine Großmutter am Weg vor einer Marmorgruft
stehen, um ein Gebet zu sprechen. Auf dem Grabstein
stand: »Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß geb. 1892 gest.
1934«. Erst als unser Geschichtsunterricht allmählich die Habsburger
und Napoleon hinter sich zu lassen begann, lernte ich, dass
es sich um den Anführer des Austrofaschismus handelte, jenen
Mann, der die Demokratie in Österreich ausgeschaltet und 1934
das Bundesheer gegen die Sozialdemokraten mobilisiert hatte.
Und der im selben Jahr von einem Nazi erschossen worden war.
Eines Tages fragte ich meine Großmutter – die Scheu, solche
Fragen zu stellen, überspringt wie viele Konflikte und Ängste
eine Generation –, warum sie am Grab eines Mannes betete,
der einen Bürgerkrieg verschuldet hatte. Der auf Arbeiter und
Sozialisten hatte schießen lassen.
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag
Eine Frage wollte ich meinem Vater immer stellen: »Hast du einen
anderen Menschen erschossen?« Ich habe es nie gewagt,
meinem Vater diese Frage zu stellen. Heute ist es zu spät. Mehr
als drei Jahrzehnte zu spät. Mein Vater starb, als ich zwölf war.
Ich weiß noch, wie er auf dem Sofa im Wohnzimmer lag und
meiner Mutter zustöhnte: »Zweihundertfünfzig zu hundertachtzig.
« Er hatte sich den Blutdruck gemessen. Er maß sich
ständig den Blutdruck, um sich zu beruhigen, vielleicht auch,
um sich zu beunruhigen. In seinem Kopf war eine Ader geplatzt.
Aneurysma, hieß es im ärztlichen Fachjargon. Das Wort
erinnerte mich zwölfjährigen Buben an den Lieblingsedelstein
meiner Mineraliensammlung: Amethyst. Aneurysma war auch
violett. Jedenfalls verfärbte es das Gesicht meines Vaters in der
Folge violett. Aber das weiß ich nur aus den Erzählungen meiner
Mutter. Ich habe meinen Vater »so« nie gesehen. Sie wollte
nicht, dass ich und meine vier Jahre jüngere Schwester Natalie
ihn »so« sahen. Wir sahen ihn dann nie wieder.
Der Krankenwagen kam und holte ihn ab. Da war ich schon
nicht mehr dabei. Meine Mutter hat uns weggeschickt. Ich weiß
auch nicht mehr, ob wir den Surbraten noch gegessen haben.
Es war ein Sonntag, als das Aneurysma meines Vaters platzte.
Das geschah in dem Moment, als er sich zum Backofen hinabbeugte,
um nachzusehen, ob der Surbraten schon gar und
knusprig war. Mein Vater hätte eigentlich gar keinen Surbraten
essen sollen. Er hatte schon fünfzehn Jahre davor eine Gehirnblutung
gehabt. Die Ärzte verordneten ihm Diät, Ruhe, sie gaben
ihm Blutdrucksenker, Beruhigungsmittel und Aufputschmittel,
damit er sich seine Befindlichkeiten einrichten konnte.
Damals glaubte man noch mehr als heute an die Macht der
Chemie.
1944
Freitag, 11. August
18 Uhr Abschied von zu Hause, 23 Uhr Abfahrt Wien,
Westbahnhof
Der Krieg hat meinen Vater umgebracht, behauptet seine
Schwester, meine Tante. Sie sieht ihn als Gefallenen, gestorben
für Führer, Volk und Vaterland, 34 Jahre nach Kriegsende. Es
waren die Entbehrungen, sagt meine Tante. Und die Angst.
Mein Vater war ein unruhiger Mensch. Und er konnte keinem
Genuss widerstehen. Die tägliche Rindsbouillon. Innereien.
Würste. Fettes Fleisch. Wein. Fernet. Und »Falk«, achtzig Zigaretten
täglich. Und die Medikamente. Die Ärzte haben deinen
Vater auch umgebracht, sagt meine Tante. Und der Krieg. Aber
natürlich hat er sich selbst umgebracht, »weil es muss ja keine«.
Muss keiner?
Mein Vater musste Soldat werden. Musste er? Geboren am
5. September 1925, erst bei der HJ, dann beim Reichsarbeitsdienst,
ein großer, schlanker, blauäugiger Junge. Vier Tage vor
seinem vierzehnten Geburtstag konnte dieser hübsche Junge
im Radio Adolf Hitlers Worte hören: »Seit 5.45 Uhr wird jetzt
zurückgeschossen.« Jene Umkehrung der Tatsachen, die den
verheerendsten Krieg der Menschheitsgeschichte einleitete. Zur
Ausbildung eingezogen 1943, mit achtzehn Jahren. An die Front
geschickt im August 1944. Zwischen Musterungspapieren und
Marschbefehlen finde ich ein Gedicht, das er von seiner Mutter
zum Abschied bekommen hat. Schon deren Vater war Dichter
gewesen. Offensichtlich hat man in diesem Familienzweig
Sorgen und Kummer stets literarisch verarbeitet. Das Gedicht
der Mutter meines Vaters ist datiert: »Wien, 30. VII. 1944«. Die
Schrift ist gut zu lesen:
»Mein armer Sohn, Du musst hinaus
Ins Feindesland, ins Schlachtgebraus.
Doch orgelt wild der Tod Dir dort sein Lied,
So denk daran, dass irgendwie Dein Vater mit Dir zieht.
Er, der den Tod schon überwunden,
Er ist bei Dir in jenen Stunden,
Er wird mit seinem Rat Dir gegenwärtig sein.
Lass Deines Vaters Stimme bei Dir ein.
Du weißt, was er einst fühlte und auch litt,
An seiner Bürde trägst auch Du noch mit.
Ringst Du blutig um Dein Leben,
Möge Gott Gelingen geben!
Und Du weißt den Sinn zu deuten,
Um Dein Menschtum musst Du streiten!
Sieg ist, was Du selbst Dir abgerungen!
Deiner Eltern Liebe hält Dich eng umschlungen!
Gedenke auch Du öfter Deiner
Mutter –«
2010
Die Internet-Plattform WikiLeaks veröffentlicht geheime Dokumente
über amerikanische Kriegsverbrechen im Irak. Die
Weltöffentlichkeit scheint überrascht. Ich greife wie so oft in
das Regal hinter mir und nehme einen Band der zehnteiligen
Werkausgabe von Kurt Tucholsky zur Hand. Tucholsky hat immer
schon alles gewusst.
In Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und als Warnung vor
dem Zweiten schrieb Kurt Tucholsky in der Glosse »Der bewachte
Kriegsschauplatz« die berühmt gewordenen Sätze: »Da
gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen
war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon
entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich
Mord. Soldaten sind Mörder.«
Dieser Satz »Soldaten sind Mörder« des ehemaligen Soldaten
Tucholsky führte nicht nur 1931 zu einem Prozess, er beschäftigte
so oder in Abwandlungen die bundesdeutschen Gerichte
bis in die neunziger Jahre. Ich fand diesen Satz immer
unbestechlich richtig, einleuchtend und wahr. Doch mein von
meinem Vater geprägter Pazifismus, später weiter geschult
und bestärkt durch Erich Kästner, Alfred Polgar, Karl Kraus,
Konstantin Wecker, Werner Schneyder, hat für mich in den letzten
Jahren an Strahlkraft verloren. Ist es mein Verdacht, dass
Österreichs bedingungsloser Glaube an die Neutralität mehr
mit Provinzialismus als mit Pazifismus zu tun hat? Wie war das
im jugoslawischen Bürgerkrieg? Wie war das mit dem Massaker
von Srebrenica, wo Tausende Menschen abgeschlachtet wurden?
Soll man Gewalt dulden und die Verbrecher walten lassen?
Andererseits: Ist nicht das Wort »Kriegsverbrechen« selbst
ein Verbrechen? Bedeutet es nicht, dass es einen Krieg gibt, der
kein Verbrechen ist?
Hatte nicht Benjamin Franklin die Sache ein für alle Mal geklärt,
als er sagte: »There never was a god war or a bad peace.«
Heute werden für Kriege »humanitäre« Gründe vorgeschützt,
um die wirtschaftlichen Interessen zu verschleiern. Der brutale
Einsatz modernster Waffen in entlegenen afghanischen Bergregionen
soll die Welt vom Terrorismus befreien und führt zu
dessen Verstärkung. Oder ein paar Jahre vorher: Wer außer ein
paar willfährigen Journalisten glaubte tatsächlich an irakische
Massenvernichtungswaffen? George Bush selbst wohl am allerwenigsten.
Und wer konnte tatsächlich überrascht sein von
der via Internet verbreiteten Entdeckung, wonach Krieg eine
schmutzige Sache sei? Tausende Zivilisten wurden von überforderten
Soldaten über den Haufen geschossen. Es gab systematische,
vom Präsidenten selbst angeordnete Folter. Das Bild
vom amerikanischen Helden als Behüter der Freiheit hat zuerst
in Vietnam, danach im Irak schlimme Kratzer bekommen.
Auch Rückschlüsse auf die Vergangenheit durften nun gezogen
werden. Man wusste, auch amerikanische Soldaten hatten
sich während des Zweiten Weltkriegs diverser Kriegsverbrechen
schuldig gemacht. Über das Ausmaß dieser Kriegsverbrechen
hat bisher keiner so offen geschrieben wie der britische Historiker
Antony Beevor in seinem monumentalen Werk »D-Day.
Die Schlacht um die Normandie« (2010). Ich werde darauf zurückkommen.
Im Grunde geht es um die Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt.
Darf ein Geheimdienst Terroristen foltern, um unschuldige
Menschen vor Attentaten zu bewahren? Ab wann ist es legitim
zu töten? War Stauffenberg ein Held? Und Saddams Henker?
Kann es moralisch richtig sein zu töten? Darf man töten, wenn
es befohlen wird? Zielt nicht jede militärische Ausbildung auf
die Umkehrung des fünften Gebots? Im Zweiten Weltkrieg traf
das sicher auf alle Armeen zu: »Du sollst töten!« Die alliierten
Soldaten konnten und können sich immerhin darauf berufen,
den »richtigen« Feind gehabt zu haben. Das Gefühl, für die
rechte Sache zu kämpfen, hatten die GIs im Irak oder in Afghanistan
offensichtlich nicht. 2012 starben mehr Soldaten der USArmee
durch Selbstmord als im Kampfeinsatz.
Im Dokumentarfilm »The Fog of War« kommt der US-Stabsoffizier
und spätere Außenminister Robert McNamara zu
manch später Einsicht. McNamara, der im Zweiten Weltkrieg
mathematische Modelle für die möglichst zerstörerische Bombardierung
japanischer Städte entwickelte und für den Tod von
rund einer Million Zivilisten mitverantwortlich ist, bekannte
offen, die USA hätten sich verhalten wie Kriegsverbrecher –
und hätten sie den Krieg verloren, hätte man ihnen den Prozess
gemacht. Aber, so lautete ein Leitsatz McNamaras: »Um Gutes
zu tun, kann es notwendig sein, sich auf das Böse einzulassen.«
Das ist genau die Frage nach dem Zweck und den Mitteln.
Der Schriftsteller Doron Rabinovici erzählt mir bei einer Begegnung,
er sei kein Pazifist, sei nie Pazifist gewesen. »Die Sätze
›Nie wieder Krieg‹ und ›Nie wieder Auschwitz‹ widersprechen
einander«, sagt er. Das kann ich nur so stehen lassen.
Was wäre gewesen, wenn man die Welt Adolf Hitler und seinen
Erben überlassen hätte? Man hätte das millionenfache Morden
geduldet. Toleriert. Gesagt: Macht nur weiter, wir finden
das vielleicht nicht schön, aber wir lassen euch in Ruhe. Können
solcherart Pazifisten zu Mördern werden? Ist es nicht legitim,
für die Freiheit zu kämpfen? »Im Alter werden die Huren
fromm«, soll Axel Springer einmal gesagt haben. Und die Pazifisten
nachdenklich.
1985
Als ich achtzehn war, lagen die Antworten viel klarer vor mir:
»Soldaten sind Mörder.« Ich hatte meinen Tucholsky gelesen.
Als ich den Einberufungsbefehl zur Stellungskommission des
österreichischen Bundesheers bekam, empfand ich das als eine
Art Todesurteil. Ich wollte untauglich sein, weshalb ich vor den
ärztlichen Tests Unmengen Kaffee trank und wie ein Verrückter
rauchte, was auf meine gute Gesamtverfassung keinerlei Auswirkungen
hatte. Bei den psychologischen Tests stellte ich mich
blöd, das aber mit so wenig Intelligenz, dass mir der Militärpsychiater
draufkam.
Ich landete also Monate später vor der Zivildienstprüfungskommission.
Um den Wehrersatzdienst zu leisten, musste man
damals eine Gewissensprüfung über sich ergehen lassen. Ich
hatte gehört, dort würden Fragen gestellt wie: »Sie gehen mit
Ihrer Freundin im Wald spazieren. Plötzlich wird Ihre Freundin
von einem Gewalttäter attackiert. Was machen Sie?« Diese
Fragestellung ist nicht legitim, hörte ich mich antworten, denn
private Notwehr kann nicht mit militärischen Befehlsstrukturen
verglichen werden und Waffengewalt nicht mit sportlichen
Techniken zur Selbstverteidigung, ebenso wenig wie Sie einen
Boxkampf mit dem atomaren Overkill vergleichen können.
Overkill, das war ein Wort der achtziger Jahre. Es bedeutete,
dass sich die Menschheit dank ausgefeilter Waffensysteme unzählige
Male selbst vernichten konnte. Das trifft heute immer
noch zu, aber Overkill sagt man nicht mehr. Überhaupt kam
ich nicht dazu, meine großartigen Antworten zu geben. Der
Vorsitzende der Zivildienstprüfungskommission fragte mich,
ob ich der Sohn von Gerhard Freund sei. Als ich das bejahte, begann
er von meinem Vater zu schwärmen, der habe sich noch
was getraut als Fernsehdirektor, denken Sie nur an den »Herrn
Karl« vom Qualtinger, überhaupt sei er ein so sympathischer
und engagierter und volksnaher Fernsehdirektor gewesen,
heute gebe es das ja alles nicht mehr, und erst die Sendungen,
die man damals gemacht habe, und unter welchen Umständen
diese Sendungen zustande gekommen seien! Der Vorsitzende
zitierte Beispiele, ich weiß bis heute nicht, warum er sich so
gut auskannte, vielleicht war er einfach ein begeisterter Fernsehzuschauer.
Nach einem zehnminütigen Monolog fragte er
mich, ob ich noch etwas sagen wolle. Ich überlegte, denn ich
hätte gerne mit den Herren diskutiert. Mich beschäftigte die
Frage, ob Notwehr gegen äußere Gewalt legitim ist und unter
welchen Umständen diese Gegengewalt organisiert werden darf
oder muss. Gut, unterbrach der Vorsitzende mein Schweigen,
ich glaube, es ist gut gelaufen für Sie, Sie werden schriftlich verständigt.
Und wie Sie Ihrem Herrn Vater ähnlich sehen!
So hat mich mein Vater, der Soldat, vor dem Dienst mit der
Waffe gerettet.
1944
Samstag, 12. August
15 Uhr Ankunft in Straßburg, Abfahrt nach Zabern, von
dort um 23 Uhr Abfahrt nach Metz. Kein Fahrplan mehr,
Chaos auf den Bahnlinien, äußerlich normales Leben.
Mein Vater schrieb: Strassburg und aeusserlich, denn die französische
oder amerikanische Schreibmaschine, auf der er sein
Kriegstagebuch tippte, verfügte weder über ein scharfes S noch
über Umlaute. Sonst schrieb er ein fehlerfreies Deutsch, was
für einen Kriegsmaturanten nicht selbstverständlich war. Er
war das älteste von drei Geschwistern, der einzige Sohn, Mutters
Augenstern. Man lebte zwar zu fünft in »Zimmer, Küche,
Kabinett« in Wien-Meidling, aber man hielt etwas auf Kultur.
Vater Maximilian Freund war Lehrer, bis ihn die Nazis aufgrund
dunkler Stellen im Ariernachweis seines Postens enthoben,
wonach er sehr schnell starb, keine 54 Jahre alt, an einer
Lungenentzündung. Das Penicillin war damals bereits erfunden,
aber im Deutschen Reich nicht erhältlich. Mutter Mechtilde
lernte mit den Kindern Gedichte, die deutschen Klassiker,
besonders Schiller.
Sonntag, 13., Montag, 14. August
In Metz. Stadt ohne Zivil, Waffenschule, über 50 Kasernen,
Bombardement, Bahnhof getroffen, den wir eine Viertelstunde
vorher verlassen hatten. Sonst sehr unterhaltlich.
Montag abends Abfahrt nach Paris. Wir erwischten den
letzten Zug. Leider? Gott sei Dank?
»Unterhaltlich«? Was war »unterhaltlich«?
Das Kriegstagebuch hat ein merkwürdiges Format. Nicht A3,
nicht A4. Etwas dazwischen. Das Papier ist dünn wie Zigarettenpapier.
Ich wundere mich, dass es nicht längst zu Staub zerfallen
ist. Ich kann mich nicht erinnern, wie das Kriegstagebuch
in meine Hände gekommen ist. Hat es mir mein Vater seinerzeit
zu lesen gegeben? Möglich. Habe ich es in irgendeiner Lade
in meinem Elternhaus gefunden, zufällig? Auch möglich. Außer
mir kennt niemand in der Familie das Kriegstagebuch. Es ist
eine Entdeckung.
Dienstag, 15. August
Abenteuerliche Fahrt. Jagdbomberangriffe, wir liegen
mehr neben dem Zug im Gelände als wir fahren. Während
der Luftangriffe werden wir mehrmals von Partisanen
beschossen, ein Wunder, dass niemand verletzt wird.
Nachts wandern wir über eine Bombentrichter besäte
Straße, um eine zerstörte Brücke zu umgehen. Der Weg ist
so schmal und halsbrecherisch, dass die Herren Offiziere
ihr Gepäck zurücklassen müssen. Drüben wartet ein leerer
Zug auf uns und den Rest der Nacht verbringen wir zu dritt
in einem Abteil erster Klasse und schlafen durch bis Paris.
Die Zeichen des Krieges, die wir während der ganzen Fahrt
beobachten konnten, nehmen hier wieder ab.
Wovon die einfachen Wehrmachtssoldaten nichts wussten: Am
selben Tag, dem 15. August 1944, trat die Pariser Polizei in den
Streik. Die Polizisten weigerten sich, die Ordnung für die deutsche
Besatzungsmacht aufrechtzuerhalten. Die alliierten Truppen,
die am 6. Juni 1944 in der Normandie gelandet waren,
standen vor den Toren der Stadt.
Am selben 15. August – den Hitler als »schlimmsten Tag seines
Lebens« bezeichnete – landeten die Alliierten in Südfrankreich.
Das besetzte Frankreich war für die Nazis so gut wie verloren.
Die Widerstandskämpfer in Paris bewaffneten sich und kamen
aus ihren Verstecken. In der Stadt herrschte Chaos, und mitten
hinein fuhr, schlafend, mein Vater.
1983
Meine Mutter macht die besten Wiener Schnitzel der Welt. Sie
sind eher untypisch, das Fleisch dick geschnitten und nicht geklopft,
die Panier fest angedrückt, ohne Luftblasen und Wölbungen,
in Schweineschmalz nicht golden, sondern dunkelbraun
herausgebacken. So etwas prägt.
Nach den sonntäglichen Wiener Schnitzeln fuhren wir gelegentlich
zum Hietzinger Friedhof, um das Grab meines Vaters
zu besuchen. Ich war ein Halbwüchsiger von vielleicht fünfzehn
oder sechzehn Jahren. Rebellisch pubertiert habe ich nie. Nach
dem Tod meines Vaters nahm ich seinen Platz bei Tisch ein, was
meine Mutter seltsamerweise zuließ. Während des Frühstücks
vor der Schule las ich die »Süddeutsche Zeitung« oder hörte
eine Symphonie von Beethoven, Karajan und die Berliner Philharmoniker.
Ich trank Tee mit Milch, wie es mein Vater getan
hatte, und in die Schule ging ich wie ins Büro.
Bei den Mittagessen am Sonntag war stets meine Großmutter
anwesend, die Mutter meiner Mutter, Mummy genannt. Sie war
damals schon über achtzig Jahre alt, bewohnte ein Haus in Salmannsdorf,
dem Villenviertel eines Wiener Nobelbezirks. Das
geografische, politische und soziale Gegenteil von Meidling, wo
mein Vater aufgewachsen war. Mummy schminkte sich jeden
Tag und legte die große Garderobe an, auch wenn sie nur den
Briefträger sah. »Man darf sich niemals gehenlassen«, so lautete
ihr ehernes Lebensmotto, und ich musste oft daran denken, als
ihr Geist sie später im Stich ließ und sie gezwungen war, sich gehenzulassen.
Jedes Mal, wenn wir zum Grab meines Vaters gingen, schnitzelgesättigt,
blieb meine Großmutter am Weg vor einer Marmorgruft
stehen, um ein Gebet zu sprechen. Auf dem Grabstein
stand: »Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß geb. 1892 gest.
1934«. Erst als unser Geschichtsunterricht allmählich die Habsburger
und Napoleon hinter sich zu lassen begann, lernte ich, dass
es sich um den Anführer des Austrofaschismus handelte, jenen
Mann, der die Demokratie in Österreich ausgeschaltet und 1934
das Bundesheer gegen die Sozialdemokraten mobilisiert hatte.
Und der im selben Jahr von einem Nazi erschossen worden war.
Eines Tages fragte ich meine Großmutter – die Scheu, solche
Fragen zu stellen, überspringt wie viele Konflikte und Ängste
eine Generation –, warum sie am Grab eines Mannes betete,
der einen Bürgerkrieg verschuldet hatte. Der auf Arbeiter und
Sozialisten hatte schießen lassen.
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag
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Autoren-Porträt von René Freund
Freund, RenéRené Freund, geboren 1967, lebt als Autor und Übersetzer in Grünau im Almtal. Er studierte Philosophie, Theaterwissenschaft und Völkerkunde und war von 1988 bis 1990 Dramaturg am Theater in der Josefstadt. Bücher (u.a.): Stadt, Land und danke für das Boot (Realsatiren, 2002), Wechselwirkungen (Roman, 2004). Im Deuticke Verlag sind erschienen Liebe unter Fischen (2013), seine Familiengeschichte Mein Vater, der Deserteur (2014), Niemand weiß, wie spät es ist (2016), Ans Meer (2018) und zuletzt der Roman Swinging Bells (2019).
Bibliographische Angaben
- Autor: René Freund
- 2014, 2. Aufl., 208 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,2 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Deuticke
- ISBN-10: 3552062564
- ISBN-13: 9783552062566
- Erscheinungsdatum: 29.09.2014
Rezension zu „Mein Vater, der Deserteur “
"Was dieses ungewöhnliche Dokument so berührend macht, ist die politische Unschuld des 18-jährigen Autors." Sieglinde Geisel, Deutschlandradio Kultur, 24.01.15"Eine höchst persönliche und sehr lebendige Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen des Zweiten Weltkriegs." Mia Eidlhuber, Der Standard, 25.10.14
Kommentar zu "Mein Vater, der Deserteur"
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