Meine zwei Halbzeiten
Als Erfolgs-Trainer gehört Jörg Berger in der DDR der 70er-Jahre zu den Privilegierten. Doch sein Unmut über die staatliche Kontrolle wächst und 1979 flieht er in den Westen. 2002, als er es in der Bundesliga längst geschafft hat,...
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Als Erfolgs-Trainer gehört Jörg Berger in der DDR der 70er-Jahre zu den Privilegierten. Doch sein Unmut über die staatliche Kontrolle wächst und 1979 flieht er in den Westen. 2002, als er es in der Bundesliga längst geschafft hat, ewartet ihn die größte Herausforderung: Diagnose Krebs!
Erste HalbzeitDie Flucht
Flughafen Berlin-Schönefeld, 25. März 1979. Nach fast drei Jahren «West-Verbot » durfte ich meine Fußballmannschaft nach Jugoslawien begleiten – aus DDR-Sicht so etwas wie ein «kapitalistisches
Ausland », für mich das Tor zu einem anderen Leben. Titos Vielvölkerstaat mischte sozialistische Wirtschaftsprinzipien mit marktwirtschaftlichen; zudem war das Land außenpolitisch neutral, seine Grenze nach Westeuropa nicht so abgeschottet.
Deshalb bekamen nur diejenigen DDR-Bürger eine Ausreisegenehmigung
dorthin, die besonders privilegiert, linientreu und möglichst verheiratet waren. Zumindest die letzte Voraussetzung konnte ich nicht erfüllen. Seit meiner Scheidung hatten mich die Sportfunktionäre für ungeeignet gehalten, jungen Spielern ein sozialistisches Vorbild zu sein, gingen sie davon aus, ich würde Republik und Partei verraten, indem ich im Westen blieb, wenn sich eine Möglichkeit
bot. Es grenzte fast an ein Wunder, dass ich an diesem Montag mit dabei sein durfte. Immerhin galt es, den «Klassenauftrag » zu erfüllen. Mit einem Sieg meiner U23, der Nationalmannschaft
verhindern gesucht hatte: eine Flucht in die Bundesrepublik. Ich wusste nur nicht, wie ich es anstellen sollte.
Noch auf der Gangway ins Flugzeug dachte ich, gleich würde mich einer der Sportfunktionäre zurückpfeifen, es wäre nicht das
erste Mal gewesen. «Ausdelegieren » war die offizielle Bezeichnung für dieses Vorgehen. Den Spielern musste ich in solchen Fällen Lügen auftischen, Lügen, mit denen ich nicht mehr leben wollte. Sie sollten dazu beitragen, dass die Mannschaft durch meine plötzliche Abwesenheit nicht verunsichert wurde, die bevorstehende Begegnung mit einem Feind-Verein verlor. Aber diesmal erschien niemand, um mich aus dem Flieger zu holen. Die Maschine war klein, wir mussten eng beieinander sitzen. Begleitet wurden wir von einer Delegation, mit der ich noch nie unterwegs gewesen war. Wolfgang Riedel, der Leiter, galt als hundertfünfzigprozentig parteitreu und war ein perfekt geschulter Hardliner. Auf mich machte er keinen angenehmen Eindruck, eine Zusammenarbeit mit ihm schien nicht leicht zu sein. Ihm zur Seite stand Klaus Petersdorf, das absolute Gegenteil von Riedel. Schon äußerlich passten die beiden nicht zusammen. Petersdorf war groß gewachsen, gut aussehend und hatte einen freundlichen, sympathischen Gesichtsausdruck. Es zeigte sich dann auch, dass man mit ihm zurechtkommen konnte. Als ich die Mitteilung erhielt, dass ich als Trainer bei dem Länderspiel gegen die jugoslawische Mannschaft dabei sein würde, stand für mich außer Frage: « Diese Möglichkeit lässt du dir nicht entgehen, um abzuhauen. » Doch kurz darauf erfuhr ich etwas,
das mir für einige Nächte den Schlaf raubte. Lutz Eigendorf, zweiundzwanzigjähriger Spieler beim BFC Dynamo und eines der größten Talente der DDR, war fünf Tage zuvor, am 20. März, von einem Freundschaftsspiel beim 1. FC Kaiserslautern nicht zurückgekehrt. Es hieß, «sportfeindliche Kräfte » aus dem NSW, dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, hätten ihn abgeworben. Als ich das hörte, dachte ich nur: Ist der verrückt, muss der gerade jetzt flüchten? Eigendorf war doch bei genügend internationalen Begegnungen dabei gewesen, um dies schon früher tun zu können. Seit diesem Vorfall wurde von ihm als einem «Verbrecher », einem «Verräter », gesprochen, der die Republik und den Fußball im Stich gelassen hätte. Und es war klar: Wir hatten in Jugoslawien mit schärfster Überwachung zu rechnen – nicht die beste Ausgangssituation für mich.
Nach einem gut zweistündigen Flug landeten wir bei warmer Märzsonne in Belgrad. Die Passkontrolle verlief ohne Schwierigkeiten, anschließend stiegen wir in einen Bus, der uns nach Subotica bringen sollte, dem Austragungsort des Länderspiels. Unsere Delegation war inzwischen um drei Genossen vergrößert worden, bestimmt Sicherheitsleute – eine Auswirkung von Eigendorfs Republikflucht. Subotica lag ungefähr zweihundert Kilometer nördlich von der jugoslawischen Hauptstadt entfernt; die Ortschaft befindet sich heute in Serbien, nahe der ungarischen Grenze. Endlose Felder mit dunkler Erde zogen an mir vorbei, bald würden sie langsam
grün werden. Ich musste aufpassen, nicht zu nachdenklich zu wirken. Bloß nicht auffallen – noch ein einziges Mal musste ich mir das abverlangen. In der Vergangenheit hatte ich mich stets
unkompliziert und fröhlich gegeben, das sollte mir doch auch auf dieser Sportreise gelingen.
Schließlich hielt der Bus gegen halb fünf Uhr nachmittags vor dem Hotel Patria. Ein typischer Kastenbau, nichts Besonderes. Nachdem alle ausgestiegen waren, drückte mir der Delegationsleiter eine Liste mit der Raumverteilung in die Hand. Normalerweise
war die Zuordnung von Spielern und Hotelzimmern eine Entscheidung des Trainers. Sie mir abzunehmen, gehörte anscheinend zu den Vorsichtsmaßnahmen. Bei der Liste fiel auf, dass niemals
zwei Spieler aus demselben Verein einen Raum teilten. Auf diese Weise, so hoffte man wohl, sollte eine gemeinsame Flucht, eine gegenseitige Deckung verhindert werden. Perfekt durchdacht,
nahezu. Ähnlich auffallend: Normalerweise wurden wir während eines Hotelaufenthalts auf mehrere Stockwerke verteilt, dieses Mal aber belegten wir sämtliche Zimmer auf einer einzigen Etage, nämlich der dritten. Geschlossene Anstalt. Am Abend aßen wir mit der gesamten Truppe im Speisesaal des Hotels, anschließend erhielten wir die Erlaubnis, auf unsere Zimmer zu gehen. Ich hatte eines für mich allein, sonst musste ich es mir immer mit einem Funktionär oder Co-Trainer teilen. Angesichts der Situation geradezu ein Planungsfehler. Der nächste Tag, der Dienstag, war straff durch organisiert: vormittags Training, nachmittags Training, dazwischen Mittagessen und anderthalb Stunden zum Ausruhen. In dieser Zeit musste ich meinem Ziel näher kommen. Bei unserer Anreise waren wir an dem Bahnhof von Subotica vorbeigefahren, er lag nicht weit vom Hotel entfernt. Seitdem jeder von uns ein Taschengeld in Höhe von 300 Dinaren ausgehändigt bekommen hatte, wusste ich, was zu tun war. Zu Fuß machte ich mich auf, um zu diesem Bahnhof zu gelangen. Mein Orientierungssinn ließ mich nicht im Stich, und ich erreichte mein Ziel ohne größere Umwege. Am Schalter löste ich von meinem jugoslawischen Geld eine Einfachfahrkarte Subotica–Belgrad. Da ich Russisch durch den Schulunterricht mindestens so gut sprechen und verstehen konnte wie der Bahnangestellte, war der Kauf in der «Brudersprache » schnell abgewickelt. Ich erfuhr, dass es einen Zug aus Budapest in Richtung der jugoslawischen Hauptstadt gab, der an jedem Werktag morgens um fünf Uhr in Subotica hielt. Die Fahrkarte selbst mit der Aufschrift « Beograd » war zwei Tage gültig. Als ich sie in den Händen hielt, blickte ich mich um. Ich konnte nichts Auffälliges entdecken. Und der Mann in dem Park gegenüber dem Bahnhof? Drehte der nicht schon zum zweiten Mal eine Runde? Schaute der nicht verstohlen zu mir herüber? War er nicht einer der Sicherheitsleute? Egal, es wäre zu spät gewesen. Die Fahrkarte hinunterzuschlucken, hätte mir auch nichts mehr genützt. Schon der Aufenthalt auf dem «West »-Bahnhof war verboten. Schweißgebadet steckte ich auf der Bahnhofstoilette die kleine braune Pappkarte in meine rechte Socke. Beim Umziehen zum nächsten Training musste ich allerdings aufpassen, dass ich die Socken nicht unbedacht auszog. Normalerweise benutzte ich lediglich Stutzen. Sollte mich jemand fragen, warum ich zusätzlich Socken trug, konnte ich immer noch sagen, dass mir vom vielen Rumstehen heute Morgen kalt geworden sei. Das Nachmittagstraining verlief ohne Zwischenfälle, die Spieler waren sichtlich motiviert, einen Sieg über den Kapitalismus davonzutragen. Danach begann das Freizeitprogramm, ein Stadtspaziergang war angesagt. Es war inzwischen halb sechs. Sollte ich tatsächlich am nächsten Morgen fliehen, wären es knapp zwölf Stunden bis zur Abfahrt des Zuges nach Belgrad. Noch hatte ich aber nicht entschieden, ob ich vor oder nach dem Spiel das Wagnis auf mich nehmen wollte. Trotzdem fing ich an, die Stunden zu zählen. Den üblichen Delegationsanzug hatte ich gegen einen anthrazitfarbenen Rollkragenpullover, eine schwarze Lederjacke, beigefarbene Hosen und halbhohe Stiefel eingetauscht. Die Fahrkarte befand sich weiterhin in den nun etwas schweißigen Socken. Auf dem Weg in die Innenstadt von Subotica blieb Klaus Petersdorf an meiner Seite. «Was machst du mit deinem jugoslawischen Geld? », fragte er. Ich überlegte fieberhaft: War das eine Fangfrage? Hatte man während des Trainings meine Sachen durchsucht? Festgestellt, dass ich so gut wie keine Dinare mehr besaß? Was sollte ich antworten, damit Petersdorf nicht argwöhnisch wurde, sich später nicht darüber wunderte, dass ich nichts einkaufen würde? Ich musste es darauf ankommen lassen. «Ich werde mich nur umschauen », sagte ich. «Mein Geld möchte ich einem Bekannten geben, der bald längere Zeit in Belgrad tätig sein wird. Er ist Musikfan wie ich und soll in Ruhe einige Platten für mich ausfindig machen. » Das war zum Teil nicht einmal gelogen. Jeder wusste, dass ich ein Musikfreak war, wenn vielleicht auch nicht gerade Petersdorf – aber er schien sich mit meiner Erklärung zufrieden zu geben. Jedenfalls hakte er nicht weiter nach. Später, befragt über meine Flucht, machte er nur eine einzige Aussage: Ihm sei aufgefallen, dass ich kein Geld ausgegeben hätte. In den nächsten zwei Stunden wurde der Programmpunkt« Stadtspaziergang » abgehakt. Das hieß: mit der ganzen Truppe rein in ein Kaufhaus und mit der ganzen Truppe wieder raus aus dem Kaufhaus. Im Alleingang durch die Straßen zu gehen oder etwas zu besichtigen – das wäre in dieser politisch heißen Zeit nach dem «Verrat» eines Vorzeigespielers wie Lutz Eigendorf nicht denkbar gewesen. Auf einmal hörte ich, wie Petersdorf sagte, die Spieler dürften noch ins Kino, und zwar in Begleitung unseres Mannschaftsmasseurs, die «Offiziellen» wiederum seien eingeladen zu einem Bankett der jugoslawischen Delegation. Ich zählte zu den «Offiziellen». Ein Bankett in Jugoslawien war im Prinzip das gleiche wie die Festessen in sozialistischen Ländern; es handelte sich um ein Zusammensein von Funktionären. Nur schmeckten die Speisen besser, denn wir waren ja im «Westen ». Was die Menge an ausgeschenktem Alkohol betraf, konnte ich jedoch keinen Unterschied ausmachen. «Mensch, Jörg, morgen ist zwar das Länderspiel, aber du kannst ruhig mit uns anstoßen. » Immer wieder bekam ich so etwas zu hören, immer wieder wurde mir das Schnapsglas nachgefüllt. Da ich bei Alkohol damals selten nein sagte, fiel meine Zurückhaltung schon auf. Aber ich wollte unbedingt nüchtern bleiben. Ein oder zweimal leerte ich das Wodkaglas, ansonsten schüttete ich den Inhalt einfach unter den Tisch. Es hatte sich schon eine ansehnliche Pfütze unter meinem Stuhl gebildet. Schließlich sagte ich resolut: « Beim besten Willen, ich kann nicht mehr. Mir geht es nicht so gut, ich hab Zahnschmerzen. » Ein besserer Vorwand war mir nicht eingefallen. Gegen 23 Uhr war das Bankett beendet, eine Stunde später
sollte eine Zusammenkunft der «Genossen» stattfinden. In dieser freien Stunde probierte ich unzählige Male, meine Zimmertür geräuschlos auf- und wieder zuzumachen. Am Ende hatte ich den Dreh raus.
Mitternacht. Es wurde Zeit für die Sitzung. Riedel brachte uns noch einmal den Fall Eigendorf in Erinnerung: « Genossen, wir müssen wachsam sein, besonders nach dem Länderspiel. Aus diesem Grund wird es in der Nacht nach der Begegnung, also von Mittwoch auf Donnerstag, in den Gängen unseres Hotels Kontrollen geben. Wir werden alles dafür tun, dass unsere Delegation geschlossen und ohne Zwischenfälle in die DDR zurückreist. » Damit war die Entscheidung gefallen: Ich musste heute in den Zug steigen, morgen würde es zu gefährlich sein.
Als Erster verabschiedete ich mich aus der Funktionärsrunde, wiederholte, dass ich Zahnschmerzen hätte, völlig erledigt sei. Mir war klar, dass Riedel und Petersdorf nach meinem Abgang über mich reden würden, darüber, wie ich mich bei meinem ersten Einsatz in einem «westlichen » Ausland nach dem Reiseverbot verhalten hätte. Gründe für besondere Auffälligkeiten konnte ich ihnen meiner Meinung nach nicht geliefert haben – bis jetzt jedenfalls. Wieder auf meinem Zimmer, sah ich unentwegt auf die Armbanduhr. Es wurde ein Uhr, es wurde zwei Uhr. Angst hatte ich
seit dem Erwerb der Fahrkarte kaum verspürt. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt gewesen, mich nicht durch irgendeine Geste, durch ein falsches Wort zu verraten. Nun war ich jedoch allein und hatte Zeit für alle möglichen Bedenken. Wieso willst du eigentlich in den Westen?, fragte ich mich, als hätte ich in den vergangenen Jahren nie darüber nachgedacht. Dir geht es gut in der DDR, du bist privilegiert. Du kannst im Sommer an die
Ostsee reisen, im Winter im Erzgebirge Ski fahren. Nicht jeder Bürger hat dazu die Möglichkeit. Und nicht zu vergessen: Bei den Frauen kommst du an. Über mangelnde Aufmerksamkeit musst
du dich nicht beklagen, das kann im Westen ganz anders aussehen. Hast du dir überhaupt Gedanken darüber gemacht, was dich in der Bundesrepublik erwartet? Du hast keine Kontakte geknüpft, kannst keine Adresse aufsuchen, dich bei keinem Verein melden. Keiner wartet darauf, dass du kommst, anders als bei Eigendorf. Bist du eigentlich ganz bei Sinnen? Inzwischen war es fast drei. Und was passiert, wenn die Flucht misslingt? Ich erschrak – diese Möglichkeit hatte ich bei all meinen BRD-Phantasien verdrängt. Eine hilfreiche Methode, um allerlei Bauchschmerzen von sich fernzuhalten. Mit wie vielen Jahren im berüchtigten Gefängnis Bautzen musste ich eigentlich bei einer Verhaftung rechnen? Es würden wohl einige sein. Und meine Karriere als Fußballtrainer ? Immerhin konnte ich es als DDR-Coach bis zur A-Nationalmannschaft schaffen. Doch damit wäre es ein für alle Mal vorbei. Zerreiß die Fahrkarte!
Ich rauchte wie ein Schlot. Dabei war ich eigentlich kein Raucher, eher dafür bekannt, dass ich mir hin und wieder eine Zigarette schnorrte. In meinem Kopf arbeitete es weiter: Niemandem hatte ich von meinen Fluchtplänen erzählt. Weder meiner Ex-Frau noch meinem Sohn, auch meine Eltern und die Freunde hatten keine Ahnung, was mich in den letzten Jahren innerlich beschäftigt hatte. Nur meine Mutter wusste etwas. Noch konnte ich zurückkehren, und alles würde so weiterlaufen wie bisher. Zugleich tauchte immer wieder der Fünf-Uhr-Zug nach Belgrad als Verlockung auf. Wenn ich ihn nicht besteige, sagte ich mir, würde ich vielleicht meine letzte Chance verspielen, in den Westen zu
gelangen. Es war keineswegs sicher, dass man mich nach dieser Jugoslawienreise wieder als Trainer für ein kapitalistisches Ausland einteilte. Und regulär hätte ich erst als Rentner in die Bundesrepublik
reisen dürfen. Fest stand nur eins: Würde ich nach dem Spiel wieder mit nach Berlin fliegen, käme ich unweigerlich bei einem weiteren Fortkommen noch stärker in die Fänge des Systems. Das wollte ich keinesfalls. Kurz vor halb fünf. Leise öffnete ich mit nun gekonntem Griff die Tür, schaute vorsichtig nach links, anschließend nach rechts. Niemand war auf dem langen Flur zu sehen, weder Spieler noch Hotelpersonal. Ich ging die Treppen hinunter, der Pförtner am Eingang des Hotels blickte müde hoch, als er mich sah. «Ich muss mal an die Luft, ich hab solche Zahnschmerzen », sagte ich auf Deutsch. Für den Fall, dass er mich nicht verstand, setzte ich zudem einen gequälten Gesichtsausdruck auf und hielt mir mit der rechten Hand die Wange. Der ältere Mann nickte nur und wandte sich wieder seiner Zeitung zu, die er, ihrem Aussehen nach zu urteilen, schon mehrmals Zeile für Zeile durchgelesen haben musste. Die Idee mit den Zahnschmerzen stellte sich immer mehr als nützlich heraus. Sollte mich jetzt jemand beobachten und es seltsam finden, dass ich um diese Uhrzeit das Hotel verließ, so konnte ich behaupten, sie hätten mich dazu getrieben, einen Spaziergang zu machen. Im Prinzip glaubhaft. Außerdem hatte ich nichts Auffälliges dabei, keine Tasche mit Kleidung oder andere persönliche Gegenstände, einzig meinen Führerschein, den Personalausweis mit einem beigelegten Passfoto – wer weiß, wozu es nützlich sein konnte – sowie den Ausweis des Deutschen Sportbundes der DDR. Meine Fahrkarte in der Socke würde man nur finden, wenn man mich dazu zwang, mich vollkommen auszuziehen. Fast hatte ich den Park, der auf den Bahnhof zuführte, durchquert, da zuckte ich plötzlich zusammen. Jemand lief hinter mir her. Keine Chance, sich noch in die Büsche zu schlagen. Ich versuchte ruhig weiterzuatmen, meinen gleichmäßigen Schritt beizubehalten. Im nächsten Moment würde man mich packen, abführen und verhören. Inzwischen waren vielleicht zwanzig Minuten vergangen, seitdem ich das Hotel verlassen hatte. Der Pförtner hatte bestimmt Meldung gemacht, weil ich nicht in mein Zimmer zurückgekehrt war. Doch ich hatte Glück: Der Mann rannte an mir vorbei, Richtung Bahnhof. Er sah nach einem jugoslawischen Arbeiter aus, der seinen Frühzug nicht versäumen wollte. Ich atmete tief durch. Noch einmal davongekommen! Das sollte ich in den nächsten beiden Tagen noch häufiger denken.
© 2009 bi Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
- Autor: Jörg Berger
- 2009, 272 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Mitarbeit: Carstensen, Regina
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498006541
- ISBN-13: 9783498006549
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