Mittelmäßiges Heimweh
Auf dem Fernsehschirm in der Kneipe flimmert ein Fußballspiel, auf dem Fußboden liegt ein Ohr. Dieter Rotmund weiß sofort: Das kann nur seines sein. Hat jemand etwas bemerkt? Und wie findet man durch den Alltag, wenn die Körperteile abhanden kommen?...
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Auf dem Fernsehschirm in der Kneipe flimmert ein Fußballspiel, auf dem Fußboden liegt ein Ohr. Dieter Rotmund weiß sofort: Das kann nur seines sein. Hat jemand etwas bemerkt? Und wie findet man durch den Alltag, wenn die Körperteile abhanden kommen? Wilhelm Genazino erzählt die Geschichte eines Mannes, der neben seinem Ohr noch weitere Verluste erleiden muss. Und der davor erschrickt, dass selbst seine Gefühle nur noch mittelmäßig sind. Ein Roman voller Ironie, Detailbesessenheit und mit einer Bosheit, die den Figuren nichts erspart.
Ein Roman voller Ironie, Detailbesessenheit und mit einer Bosheit, die den Figuren nichts erspart.
Ein Roman voller Ironie, Detailbesessenheit und mit einer Bosheit, die den Figuren nichts erspart.
Mittelmäßiges Heimweh von Wilhelm Genazino
LESEPROBE
Es ist frühabend und immer noch hell. Die Stadt ist fast leer. Diemeisten Leute sind in Urlaub oder sitzen in Gartenlokalen. Die Hitze drückt aufdie Dächer. Ich könnte in mein Apartment gehen, aber dort ist es genauso warmwie draußen. Gestern abendbin ich so lange in der Stadt umhergelaufen, bis ich durch die Müdigkeit ganzleicht geworden war. Schließlich habe ich mich auf eine Bank gesetzt und bindort sogar eingeschlafen. Grölende Jugendliche haben mich zwanzig Minutenspäter geweckt, das war unangenehm. Es ist nicht einfach, ein einzelner zusein. Ein Halbschuh liegt auf der Straße, die Sohle nach oben. Aus einerSeitenstraße kommt das Geräusch eines Autos, das über eine Plastikflaschefährt. Es überholt mich ein Angestellter mit einem über der Schulter hängendenKoffer. Der Koffer zieht so stark nach unten, daß derTrageriemen den Rückenteil des Anzugs nach unten zieht und den Mann wie eingehendes Unglück aussehen läßt. Ich ekle mich ein bißchen über die tief nach unten hängenden Unterlippeneiniger vorüberkeuchender Jogger. Die Türen vieler Lokale sind weit offen. Inmanches Lokal trete ich kurz ein und kehre rasch wieder um. In Kürze werde ichdazu keine Lust mehr haben und mich einfach irgendwo auf einen Stuhl setzen undein Glas Bier bestellen. Ich biege in die Wormser Straße ein und sehe in einiger Entfernung das Sportlereck. In diesemLokal bin ich in der vorigen Woche zweimal gewesen. Der Wirt hob schon beimzweiten Mal wohlwollend die Hand, als er mich wiedererkannte.Die Tür und die Fenster des Pils-Stübchens sind ebenfalls weit geöffnet, derLärm der Besucher dringt auf die Straße und vermischt sich mit dem Lärm andererWirtschaften. Seit etwa einer Woche werden im Fernsehen die Spiele derFußball-Europameisterschaft übertragen. In den meisten Lokalen sind dieFernsehapparate eingeschaltet. Meine Schritte führen mich halbautomatisch indie offene Tür des Sportlerecks hinein, obwohl ich mich nicht für Fußballinteressiere. Ich suche sogar den Blick des Wirts, damit er in mir wieder denhalbwegs bekannter werdenden Fremden erkennt. Im Sportlereck ist an der rechten Stirnseite eineGroßbildleinwand aufgebaut, und an der vorderen Stirnseite, fast über derTheke, hängt ein zweiter, normaler Fernsehapparat. Besonders stark ist dasGeschrei, wenn zwei verschiedene Spiele gleichzeitig übertragen werden. Andiesem Abend spielt auf der Großbildleinwand Deutschland gegen Tschechien. DasLokal ist voll, obwohl das Spiel noch nicht begonnen hat. Ich finde noch einenSitzplatz ganz vorne, dicht vor der Wand. Männer in Unterhemden treten ein unddrängeln sich zwischen Garderobe und Theke nach vorne und lassen sich auf einerHolzbank nieder. Ein übergewichtiger Mischling betritt die Kneipe, einige Leuterufen: Hansi kriegt sofort ein Bier. Ich bestelle ein Glas Weißwein und einMineralwasser. Einige Frauen massieren ihren Männern den Rücken. Die Frauensind es, die am lautesten schreien. Das Spiel wird angepfiffen, der Wirt stelltvor dem Mann namens Hansi ein riesiges Bier ab. Die meisten Gäste sind mit dendeutschen Spielern sofort unzufrieden. Kauf dir eine Blindenbrille, ruft einMann einem Spieler nach. So gehts nicht, sagt derMann neben mir. Nach einer halben Stunde sagt der Reporter: Deutschland machtzuwenig. Ein ältliches Fräulein sagt am Nebentisch: Manchmal lauert die Gefahrdort, wo man sie nicht wittert. Männer gehen zwischendurch nach draußen, laufeneine Weile umher, wenn sie zu erregt sind. Ich sitze jetzt mitten imallgemeinen Gebrüll. Der Wirt bringt neue Biere und sagt: Wenn die Deutschen jetztkein Tor machen, kriegen sie in der achtzigsten Minute eines rein, und dann istFeierabend. Das Zittern nimmt zu, sagt der Reporter.
In derHalbzeit überlege ich kurz, ob ich nicht doch nach Hause gehen soll. DasFußballspiel unterhält mich nur schwach. Ich betrachte die Zuschauer, nicht dasSpiel. Besonders die schreienden Frauen haben mich in der ersten Halbzeitbeeindruckt. Viele von ihnen stehen auf, wenn sie erregt sind und die Spielerausschimpfen. Zu Beginn der zweiten Halbzeit ertönen Pfiffe im Stadion. Ein bißchen bange ich auch darum, daßdie deutsche Mannschaft das Spiel verlieren könnte. Dabei kenne ich keineneinzigen Spieler mit Namen. Nur als Kind wußte ichein bißchen Bescheid, aber auch nur, weil ich vor denanderen Kindern nicht ahnungslos sein wollte. Wieder schießt ein deutscherSpieler knapp neben das Tor, der Lärm und die Empörung im Lokal sind drastisch.Ein Mann beugt sich über meinen Tisch und sagt: Das sieht aus wie 74, jetztkommt ein Konter, dann fällt ein Tor, und dann ist esaus, Sparwasser damals! Ich nicke, als wüßte ich,wovon er redet. Das Zittern nimmt zu, sagt der Reporter. Ein Mann bietet mirfünf Euro für meinen Platz vor der Wand, ich lehne ab. Das ältliche Fräuleinverschwindet auf der Toilette und lächelt mich bei der Rückkehr an. Die Uhrtickt gnadenlos, sagt der Reporter, es wird eng für Deutschland. Die Stimmungim Lokal schwankt stark. Bislang war die Mehrheit der Zuschauer auf der Seiteder Deutschen, aber mehr und mehr Zuschauer sind jetzt Anhänger der Tschechen.Plötzlich ein schreckliches Schreien und Kreischen. Die Tschechen haben ein Torgeschossen. Die Deutschen, diese Schnarchsäcke, schreit ein Mann und haut aufden Tisch. Ein Meer von tschechischen Fahnen ist zu sehen. Viele Zuschauerzahlen und verlassen das Lokal. Plötzlich sehe ich unter einem der vorderenTische ein Ohr von mir liegen. Es muß mir im Gebrüllunbemerkt abgefallen sein. Offenbar hat es niemand bemerkt. Ich will nicht mitunüberlegten Handlungen auffallen, ich gehe auf die Toilette und schaue in denSpiegel. Es ist wahr, mein linkes Ohr ist weg. Offenbar habe ich es imSchrecken über das Gekreisch verloren. Ich sehe mein Ohr am Boden liegen wieein kleines helles Gebäck, das einem Kind in den Schmutz gefallen ist. Ichüberlege kurz, ob ich das Ohr aufheben und mitnehmen soll. Aber ich kann garnicht überlegen, ich bin erstarrt. Mir wird ein bißchenschlecht, ich kann keine Entscheidungen fällen. Ich lege mein Haar notdürftigüber die Stelle, wo früher das Ohr war. Ich verlasse die Toilette und gebe mirMühe, mein zurückbleibendes Ohr nicht noch einmal anzuschauen. Tatsächlichbesteht zwischen dem Ohr und mir jetzt schon eine riesige Distanz. Ich dränglemich durch das Lokal und zahle an der Theke. Mühsam mache ich mir klar, daß ich seit ein paar Minuten in einer Tragödie lebe.Während der letzten Jahre habe ich immer mal wieder in Tragödien gelebt.Insofern ist das tragische Lebensgefühl für mich nichts Neues. Aber diesmalscheint es sich um eine bösartige Tragödie zu handeln. Sehen die anderen meinEntsetzen? Zum Glück sind nur wenige Menschen unterwegs. Eines meinerinnerlichsten Probleme ist, daß ich nicht mehr mitder Kompliziertheit des Lebens in Berührung kommen will. Erst vor ein paarTagen habe ich mir vorgenommen, meinen Alltag so einzurichten, daß ich nur noch einfache Verhältnisse mit einfachenPersonen darin vorfinde. Lächerlich! Ich sage mir vor, was gerade geschehenist: Du hast im überstarken Lärm eines Lokals ein Ohr verloren. Nach Art derMenschen beginne ich bereits, mein Unglück zu relativieren. Es gibt vieleMenschen, denen ein Bein, ein Arm, eine Hand oder ein Finger fehlt, warumsollte es nicht jemanden geben, dem ein Ohr fehlt? Die innere Unstimmigkeitmeiner Relativierung liegt darin, daß ich schon vielebeinlose, armlose, handlose Menschen gesehen habe, aber einen einohrigen Menschen noch nie. Aber wie man sich an dieanderen gewöhnt hat, so wird man sich auch an einen Einohrigengewöhnen. Am besten wäre, wenn es demnächst mehr Einohrigegeben würde. Dann würde ich nicht mehr so stark auffallen wie in diesenAugenblicken vor mir selber. Künftig werde ich mich nur noch in leisenUmgebungen aufhalten dürfen. Das bedeutet, daß meinAlltag kompliziert werden wird. Wieder und wieder fällt mir das Bild meines imBodenschmutz eines elenden Lokals liegenden Ohres ein. Ein paar Schluchzerringen sich mir durch die Kehle. Ich beobachte eine Weile den Eingang desHauses, in dessen fünften Stock ich ein Ein-Zimmer-Apartment mit Bad und Küchebewohne. Nichts regt sich. Ein blauer Plastikhandschuh liegt zwischen zweigeparkten Autos. Einmal kommt eine junge Frau vorüber. In der linken Hand trägtsie einen Tierkäfig, in dem sich eine schreiende Katze befindet. Ich stehe aneiner Ecke und habe blöde Gedanken. Zum Beispiel finde ich es jetzt schonangemessen, daß einohrigeMenschen in Ein-Zimmer-Wohnungen leben. Dabei habe ich es nicht gern, wenn ichabschätzig auf mein eigenes Leben herabschaue. Die Leute sitzen vor ihrenFernsehgeräten, der Lärm der Zuschauer dringt aus den offenen Fenstern nachdraußen. Ich warte noch zwei Minuten, dann schließe ich die Haustür auf undbetrete den Fahrstuhl.
Es gelingtmir, ungesehen die Tür meines Apartments zu erreichen. Eine kleine Spinne istdurch das offene Fenster in meine Wohnung eingedrungen und läuft an der Deckeentlang. Ich setze mich auf das Bett und schalte kein Zimmerlicht an. Langsamkommt Bewegung in die Wohnungen und Treppenhäuser ringsum. Viele Bewohner gehennach dem Fernsehen noch einmal auf die Straße. Das laute Reden vonalkoholisierten Menschen macht mir schlechte Laune. Ich trete an mein Fensterund nehme die Tomate in die Hand, die dort seit ein paar Tagen liegt. Immer malwieder spiele ich mit dem Gedanken, die Tomate auf die Leute zu werfen, dielaut und polternd auf der Straße reden. Aber ich finde den Mut nicht. Ich legedie Tomate auf das Fensterbrett zurück und setze mich erneut auf das Bett. Inder langsam zunehmenden Stille höre ich jetzt nur noch das gelegentlicheStöhnen des Fahrstuhls. Mir wird deutlich, daß ich soallein bin wie wahrscheinlich nie zuvor in meinem Leben. Dabei will ich vonmeiner Einsamkeit kein Aufhebens machen. Ich binvergleichsweise gebildet und weiß seit langer Zeit, daßEinsamkeit unausweichlich ist. Ein wesentlicher Grund für die Einsamkeit derMenschen ist, daß viele Einsame ach nein, ich willdieses alte Zeug nicht denken. Im Radio läuft Figaros Hochzeit, eineÜbertragung aus irgendeinem Festspielort. Aus der Wohnung über mir dringenBeischlafgeräusche zu mir herunter. Zuerst höre ich eine Weile das Knatschen eines Bettgestells, dann das Stöhnen der Frau.Ich schalte das Radio aus, weil ich das Stöhnen deutlicher hören möchte. Erstvor kurzem habe ich eine Frau kennenlernen wollen.Sie sitzt dann und wann mit mir morgens in der Straßenbahn und schaut michempfänglich an. Aber wie spricht man eine fremde Frau an? Vielleicht habe iches verlernt. Als ich mir endlich ein paar Sätze zurechtgelegt hatte, fuhr dieFrau nicht mehr mit der Straßenbahn. Sie radelte elegant draußen an der Bahnvorbei. Jetzt muß ich warten, bis es Winter wird unddie Frau wieder mit der Straßenbahn fährt. Die Vergeblichkeit macht einenstarken Eindruck auf mich. Aber jetzt, mit einem fehlenden Ohr, werde ichvielleicht keine Chance mehr haben. Das Stöhnen der Frau in der Wohnung übermir und das Stöhnen des Fahrstuhls vermischen sich. Ich mußein bißchen lachen, allerdings nicht lange und nichtlaut. Nach einer Weile hört das Stöhnen des Fahrstuhls auf, das Stöhnen derFrau geht weiter. Das Quietschen des Bettgestells und das Stöhnen der Frauhaben sich rhythmisch aufeinander eingestellt. Das Stöhnen der Frau geht jetztin ein eigenartiges Rufen über. Wenn ich der Mann der Frau wäre, würde ich michfragen, was das Rufen bedeutet. Ich bin nicht der Mann der Frau und frage michtrotzdem, was das Rufen bedeutet. Nach einiger Zeit ertönt ein starker,ochsenartiger Laut, der vermutlich von dem Mann stammt. Danach ist derBeischlaf offenbar vorüber, alle Geräusche enden. Das heißt, ich ahme in meinemMundinnenraum das Stöhnen der Frau nach, natürlich nur leise, weil ich nichtmöchte, daß das Paar über mir denkt, jetzt geht eshier unten weiter. Es ist ganz seltsam, aus meinem Mund das Stöhnen der Frau zuhören. Es verstärkt sich dadurch das Gefühl der Verlassenheit. Um es zumildern, nehme ich ein Bad.
© Hanser Verlag
- Autor: Wilhelm Genazino
- 2007, 188 Seiten, Maße: 13,2 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446208186
- ISBN-13: 9783446208186
- Erscheinungsdatum: 03.02.2007
"Die Fähigkeit zu genauer Beobachtung alltäglicher Szenen, der Sinn für Situationskomik und die Neigung, aus dem Beiläufigsten die condition humaine zu deuten - all dies zeichnet Genazino zweifellos aus." Ulrich Greiner, Die Zeit, 08.02.07
"Die Deutung dieses Geschehens bleibt, wie bei Kafka, wie bei Borges, den Lesern überlassen. Klar ist aber: Wilhelm Genazino hat sich, nach einigen Jahrzehnten stetiger Ernte, doch noch vom Acker gemacht. Er hat sich ein neues Feld erschlossen." Martin Lüdke, Frankfurter Rundschau, 07.02.07
"Ganz auf der Höhe seiner Kunst. So gibt es hier auch inhaltlich wieder das volle Genazino-Programm: Humor und Melancholie, Ironie und Alltag." Gerrit Bartels, Der Tagespiegel, 06.02.07
"Zu Beginn des Romans lässt Genazino das Tragische auf ebenso selbstverständliche wie phantastische Weise indie Handlung einbrechen. Erstaunlich, dass es ihm gelingt, daraus einen hinreißenden Roman zu entwickeln. Wie ist das möglich?" Jan Bürger, Literaturen, 03/07
"Im Zeitalter der lauten und schrillen Selbstdarsteller hat Wilhelm Genazino einen Nomaden der Grossstadt geschaffen, der somnambul durchs Leben torkelt und dabei stets etwas weniger wird, der allmählich an Seele und Körper zerbrökelt und zerfasert und doch geflissentlich über seinen Zerfall hinwegsieht." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 03.02.07
"In der Nachfolge Kafkas hat Genazino seine Poesie der Übergenauigkeit von Roman zu Roman perfektioniert ... ein kleines Meisterwerk." Jan Bürger, Literaturen, 03/07
"Ein hervorragender Roman. Im besten Sinne irritierend, mit reichlich Gelegenheit, sich selbst im Buch zu sehen. Und er ist sogar lustig - ausgerechnet an den schmerzlichsten Stellen." Brigitte, 14.03.07
"Mit schwebender Leichtigkeit berichtet er von niedergeschlagenen Seelen und den Belastungen des Angestelltendaseins." Wolfgang
"Ein Genazino-Roman ist wie ein zartgraues, luftiges Netz, in dem man für eine Weile festhängt, doch zugleich auch schwebt, losgelöst von eigenen Malaisen durch das angenehme Gruseln angesichts der kleinen und mittelgroßen Malheurs des Protagonisten." Kristina Maidt-Zink, Süddeutsche Zeitung, 20.03.07
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