Mörderküste
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Nach bereits vier erfolgreichen Krimis rund um Reiseleiterin Elena Martell lernen wir hier nun die Anfänge der Hobbydetektivin kennen, auf die in den anderen Büchern bereits des Öfteren Bezug genommen wurde.
Mörderisches Sizilien: Die Wiener Reiseleiterin Elena Martell führt ihre Reisegruppe im verschlafenen Fischerdorf Selinunte durch die Ruinen eines antiken Tempels - und stolpert just über eine Leiche. Der Tote ist leider nicht nur tot, sondern auch noch Mitglied der Reisegruppe, nämlich der allseits unbeliebte Sigismund Eck - und es wird schnell klar, dass er kein Opfer eines natürlichen Todes war. Plötzlich taucht obendrein ein mysteriöses Porträt auf, das irgendwie im Zusammenhang mit dem Mord zu stehen scheint. Darauf zu sehen ist die Contessa Maddalena, Ahnherrin eines Grafen aus Syrakus. Was wohl das geheimnisvolle Lächeln der Maddalena auf dem Gemälde zu bedeuten hat?
Während Elena sich verzweifelt darum bemüht, ihre Reisegruppe trotz des tragischen Zwischenfalls einigermaßen bei Laune zu halten, übernimmt der charmante Commissario Giorgio Valentino, Chef der Mordkommission in Trapani, die Ermittlungen im Mordfall von Sigismund Eck. Elenas Neugier ist nicht zu bremsen: Schon bei der Beweisaufnahme kann sie es nicht lassen, ihre hübsche Nase in Dinge zu stecken, die sie eigentlich nichts angehen. Der Commissario ist zunächst nur bedingt begeistert - aber dann doch recht bald sehr angetan, und das nicht nur von Elenas Scharfsinn. Gemeinsam machen die beiden sich auf die Suche nach dem Mörder und geraten in ein Netz aus Lügen und Betrug, Kunstraub und Fälschung, List und Tücken - und es geht um eine ganze Menge Geld.
Gänsehautfeeling im Urlaubsparadies, Krimispannung vor der wunderschönen Kulisse Siziliens: Eva Gründel ist als Verfasserin mehrerer Reiseführer die Spezialistin für fremde Länder. Land und Leute präsentiert sie authentisch, sympathisch - und mörderisch gut. Ihr neuer Sizilien-Krimi ist Pflichtlektüre fürs Reisegepäck genauso wie für das Bücherregal daheim! Ein absolutes Muss für Sizilien-Fans: Mit diesem Krimi taucht man tief in die sizilianische Seele ein und spürt den ganz besonderen Flair dieser idyllischen Insel. Elena und Giorgio sind unglaublich liebenswert - mit den beiden möchte man am liebsten sofort auf einen Espresso gehen!
Weitere Reisekrimis mit Elena Martell:
Mörderbescherung. Ein Weihnachtskrimi aus Neapel (E-Book)
Mörderdünen. Ein Libyen-Krimi (E-Book)
Mörderwetter. Ein England-Krimi
Mörderhitze. Ein Kroatien-Krimi
"... gehört in den Reisekoffer. Locker zu lesen und doch mit Fakten, die zu denken geben."
DER STANDARD, Ingeborg Sperl(Aus den Pressestimmen zu "Mörderhitze")
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Prolog
Bei Kerzenschein war der Effekt umwerfend, aber
würde sein Werk auch bei Sonnenlicht einer kritischen
Prüfung standhalten? Während sich der beißende
Geruch von Firnis in seinem Atelier ausbreitete,
bearbeitete er die Oberfläche der mit Ölfarben bemalten
Holztafel sorgsam mit einem weichen Pinsel. Eine
Tätigkeit, die seinen empfindlichen Augen Qualen bereitete
und die er dennoch keinem seiner Schüler übertragen
wollte. Eine letzte sanfte Berührung zum Abschied,
meine Schöne, dachte er, wie konnte ich darauf verzichten?
Wie viele schlaflose Nächte haben wir miteinander
verbracht! Wie viele Stunden, um den richtigen
Ausdruck in dein Gesicht zu zaubern, damit alle
Welt endlich begreift, wer du wirklich bist!
Zärtlich betrachtete der Meister das anmutige Frauenantlitz
unter der ungebändigten Haarpracht, die in
tiefschwarzen Locken auf die mit rotem Samt verhüllten
Schultern herabfiel. Viel mehr als den mit Perlen
bestickten Stoffrand über den kleinen, festen Brüsten
gab das Porträt nicht preis, doch konnte man sich die
Eleganz der gesamten Erscheinung unschwer vorstellen.
Vom Scheitel bis zur Sohle jeder Zoll eine Dame
von Stand, das verriet der lange, schlanke Hals ebenso
wie die leichte Drehung des Kopfes oder das kaum
merkbar emporgereckte Kinn.
Kein Bauernmädchen konnte das Vorbild für dieses
Gemälde gewesen sein, so viel stand fest. Doch
der wahre Skandal lag nicht allein in der Identität
des Modells, sondern in der Darstellung. So sollte die
große Sünderin Maria Magdalena ausgesehen haben?
Wie diese selbstbewusste Frau, die nicht als tränen6
überströmte Büßerin, sondern mit einem leisen, spöttischen
Lächeln der Welt gegenübertrat?
Welch eine Provokation der Kirche, die eine solche
Interpretation der
von Magdala niemals dulden würde! Stattdessen hieß
es nach einem ungeschriebenen Kirchengesetz: auf
die Knie mit ihr, der Gestrauchelten, die nur dank der
unendlichen Gnade Christi der ewigen Verdammnis
entgangen war. Lediglich die hüftlangen Haare durften
die Blößen der Ehebrecherin bedecken, nackt und
erniedrigt sollte sie um Gnade flehen. Zur höheren
Ehre Gottes - und zum Ergötzen der klerikalen Herren,
die solche Malereien gerne in Auftrag gaben, um
für ein wenig Abwechslung zu den sonst eher langweiligen
Darstellungen des späten Mittelalters zu sorgen.
In dem Kunstwerk steckte zweifellos Sprengstoff
von enormer Brisanz. Denn löckte erst einmal einer
erfolgreich wider den klerikalen Stachel, dann waren
andere Ketzer im Malerkittel, die sich nicht länger
dem Diktat Roms beugen wollten, nicht mehr weit. Ein
Skandal war jedenfalls vorprogrammiert, und wie er
ausgehen mochte, konnte keiner absehen. Vielleicht ist
es doch klüger, dieses Bildnis vorerst einmal vor den
Augen der Welt zu verbergen, überlegte sein Schöpfer
in dieser Nacht nicht zum ersten Mal. Zu ihrer beider
Sicherheit.
In einem Aufflackern der letzten Kerze blickte
Maria Magdalena mit ihren großen, dunklen Augen
ernst und nachdenklich von der Staffelei herab. Doch
noch während das Licht erlosch, durchzuckte den
Künstler ein Gedankenblitz von verblüffender Klarheit.
Mit einem Mal wusste er ganz genau, was er zu
tun hatte.
1. Kapitel
Die milden Sonnenstrahlen des verdämmernden Tages
strichen wie eine zärtliche Berührung über den Toten,
der mit weit aufgerissenen Augen in eine jenseitige
Welt starrte.
„Sogar das macht er mir noch zu Fleiß", war Elenas
erster Gedanke, als sie Sigismund Eck in verkrümmter
Haltung zwischen den geborstenen Steinen entdeckte.
Auch wenn kein Blut mehr floss, bot der Leichnam keinen
schönen Anblick. Seine Schädeldecke war nicht
nur gespalten, sondern wie ein makabres Puzzle von
unzähligen Sprüngen überzogen.
In der griechischen Tempelanlage von Selinunte
beugte sich Elena Martell über die leblose Gestalt. Auch
wenn sie noch nie zuvor einen dermaßen schlimm
zugerichteten Menschen gesehen hatte, war ihr rasch
klar, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Während sie überlegte,
ob sie ihre Jacke über das Gesicht des Toten breiten
sollte, bemerkte sie, dass unmittelbar neben dem
Leichnam ein verwittertes Säulenstück lag. Offenbar
war es aus einigen Metern Höhe herabgestürzt und
hatte dem Ahnungslosen den Kopf zertrümmert.
Ihre Uhr zeigte 19. 40. Aber wann hatte sie Sigismund
Eck zum letzten Mal lebend gesehen? Sie erinnerte
sich daran, dass er den ersten Tempel des Besichtigungsprogramms
gemeinsam mit seiner Frau verlassen
hatte. Nun galt es, keine Fehler zu begehen.
Den Toten konnte und wollte sie nicht allein lassen.
Also musste sie Hilfe herbeitelefonieren. Mario! Die
Nummer des Bus-Chauffeurs war in ihrem Mobiltelefon
gespeichert. Wenn er sich beeilte, würde er keine
fünf Minuten bis zur Eingangshalle brauchen, wo der
diensthabende Aufseher vermutlich schon sehnsüchtig
auf die späten Besucher wartete.
Sie drückte die Kurzwahltaste, doch es schien eine
Ewigkeit zu dauern, bis sich ihr Fahrer meldete.
„Mario, ich brauche dich dringend!"
„Immer mit der Ruhe, Elena. Ich komme eben aus
der Dusche. Ich habe doch jetzt frei, oder irre ich mich?"
„Ja. Nein. Oder doch, ja, aber du musst sofort kommen.
Hierher, zur Eingangshalle am Osthügel. Zieh
dir was an und komm her."
„Was um alles in der Welt ist denn passiert?"
„Der Eck liegt tot zu meinen Füßen. Das ist passiert.
Bisher weiß das noch keiner. Auch die Ehefrau nicht.
Aber die wird jeden Moment ihren toten Mann vorfinden.
Verständige den Aufseher. Der soll die Polizei
rufen und anschließend sofort zum Tempel kommen.
Meine Gruppe soll auf mich warten. Ich erkläre
ihnen dann alles."
„In Ordnung, ich bin bei dir, so schnell ich kann."
Vor Erleichterung bekam Elena mit einem Mal weiche
Knie. Bald würde sie in dieser schrecklichen Situation
nicht mehr allein sein. Allein mit einem Toten.
Noch aber war der Alptraum nicht vorbei.
„Sigi, wo steckst du? Es wird Zeit, dass du dich losreißt.
Wir müssen zurück!" Fröhlich tauchte Marianne
Eck aus dem nahen Olivenhain auf, wo sie einen
Strauß wilder Margeriten gepflückt hatte. Sie hielt
Elena, die ihr ein paar Schritte entgegengegangen war,
die Blumen hin. „Hübsch, nicht wahr? Ich werde sie
in unser Zimmer stellen, auch wenn Sigismund das
kindisch findet."
Erst jetzt bemerkte sie Elenas kalkweißes Gesicht.
„Was ist mit Ihnen? Ist Ihnen nicht gut? Setzen Sie sich
doch, Sie sehen aus, als würden Sie jeden Moment
umkippen." Besorgt griff sie nach dem Arm ihrer Reiseleiterin.
„Es geht schon, Frau Eck", antwortete Elena, bevor
sie tief Luft holte. „Ich muss Ihnen leider etwas
Schreckliches mitteilen. Ihr Mann ist verunglückt."
„Was soll das heißen? Was ist passiert?"
„Offenbar hat ihn ein herabfallender Mauerteil
direkt am Kopf getroffen. Er muss sofort tot gewesen
sein."
„Sie irren sich! Vor kurzem sind wir noch gemeinsam
zwischen den Trümmern herumgelaufen. Wo ist
er? Ich will sofort zu ihm."
„Bitte warten Sie noch einen Moment. Sie müssen
sich erst ein wenig beruhigen. Der Anblick ist nicht
gerade schön."
„Ich möchte ihn sehen. Sofort. Gehen Sie aus dem
Weg!"
Resignierend trat Elena zur Seite und gab damit
den Blick auf die Leiche frei. Unwillkürlich vermied
sie es, den Toten nochmals anzuschauen, und beobachtete
fasziniert, was sich in Frau Ecks sonst eher farblosen
Gesichtszügen abspielte. Erstaunlicherweise wich
das erste Entsetzen aber rasch einer fast gleichgültigen
Miene. Ganz so, als ginge sie die Sache nichts an. So viel
Beherrschung hatte Elena ihr nicht zugetraut. Eigentlich
hatte sie eine heftige Reaktion erwartet, doch Frau
Eck stand minutenlang reglos und schweigend wie eine
militärische Totenwache vor der Leiche ihres Mannes.
„Was geschieht jetzt?" Völlig ruhig stellte Marianne
Eck die naheliegende Frage. Bevor Elena antworten
konnte, erschien ein atemloser Mario mit zwei Dorfpolizisten
im Schlepptau.
„Wir haben die Polizia Statale in Trapani verständigt.
Die ist für solche Fälle zuständig. Bis der Com10
missario eintrifft, übernehmen diese beiden hier die
Aufsicht. Es kann allerdings einige Zeit dauern. Heute
ist Sonntag. Jetzt sollten wir uns aber um unsere Gäste
kümmern. Die haben schon gemerkt, dass etwas nicht
stimmt, als ich mit den Uniformierten an ihnen vorbeigelaufen
bin."
Als er jedoch Marianne Eck behutsam am Arm
nehmen wollte, verweigerte diese zu seiner Überraschung
jeglichen Beistand. „Ich kann allein gehen,
danke vielmals!" Ohne noch einmal auf ihren toten
Mann zurückzublicken, verließ die frischgebackene
Witwe mit ausgreifenden Schritten den Schauplatz der
Tragödie. Elena und Mario sahen einander verblüfft
an. Es blieb gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Als die drei aus dem Schatten der Tempelruine traten,
bot sich ihnen ein seltsames Bild. Wie eine aufgeregte
Hühnerschar liefen die Mitglieder der Reisegruppe
auf dem freien Feld zwischen Pforte und Tempelanlage
durcheinander. Während die einen dem Ausgang
zustrebten, wollten die anderen Richtung Trümmerfeld.
Doch als sie ihre Reiseleiterin erblickten, blieben
alle schlagartig stehen.
Wie ein Standbild aus einem Film, den man angehalten
hat, dachte Elena. Ganz vorne erkannte sie Adele
Bernhardt und Ludwig Jakubowski, gleich daneben
das junge Pärchen und ein Stück dahinter die Ehepaare
Brehm und Strasser. Christine Baumgart hatte offenbar
so wie Marianne Eck einen Blumenstrauß gepflückt.
Nur Wilhelm Schwabl und Martina Reich fehlten.
Als sich die Personen aus ihrer Erstarrung gelöst
hatten und der Film weiterlief, konnte Elena die
schlanke Gestalt Schwabls zwischen den Säulen des
ersten Tempels ausmachen. Zuletzt erschien auch Frau
Reich auf der Bildfläche. Wie stets ein wenig atemlos
und mit aufgelöster Frisur stand sie nun unter all den
anderen. Elena hätte beim besten Willen nicht sagen
können, aus welcher Richtung sie herbeigeeilt war,
doch es erschien ihr auch nicht weiter wichtig.
Sie winkte ihre Gruppe mit weit ausholenden Armbewegungen
zu sich. Während die kleine Schar zögernd
auf sie zukam, flüsterte sie Mario zu: „Du bringst Frau
Eck erst einmal ins Hotel. Lass sie bloß nicht allein.
Wenn sie in ihr Zimmer will, dann schick ihr irgendein
Mädchen mit einem Tee hinauf. Oder mit einem
Schnaps. Dir wird schon was einfallen. Also los jetzt,
lauf ihr nach und kümmere dich um sie."
„Was wird das?", erkundigte sich Felix Strasser, der
als Erster bei Elena eingetroffen war. „Ist Frau Eck
schlecht geworden?"
„Ich erkläre es sofort. Wenn alle da sind", gab Elena
kurz zurück, während sie zu zählen begann. „Neun,
zehn, elf. Ja, es sind alle da."
„Alle bis auf unseren allseits geschätzten Oberstudienrat",
wurde sie von Christine Baumgart korrigiert.
„Um ihn geht es ja. Ich muss Ihnen leider mitteilen,
dass Herr Doktor Eck tödlich verunglückt ist. Wir
können nichts mehr für ihn tun, also gehen Sie bitte
zum Hotel zurück. Alles Weitere erfahren Sie, sobald
ich mehr weiß."
„Wo ist das passiert?", unterbrach Aldo Brehm. „Vielleicht
kann man ihm doch noch helfen. Ich bin zwar
Zahnarzt und kein Notarzt, aber natürlich Mediziner.
Ich will zu dem Verunglückten. Sofort!"
„Glauben Sie mir, Herr Doktor Brehm, für den armen
Oberstudienrat kommt jede Hilfe zu spät. Das habe
sogar ich als Laie gesehen. Aber bitte, wenn Sie darauf
bestehen, dann gehen Sie zu ihm. Von hier aus gesehen
liegt er hinter dem letzten Trümmerfeld ganz links.
Die beiden Polizisten, die dort Aufsicht haben, sprechen
aber sicher nicht Deutsch und werden Sie nicht
so ohne weiteres zu dem Toten lassen. Können Sie sich
als Arzt ausweisen?"
„Ja, das kann ich. Außerdem wird mein Küchenitalienisch
für eine Erklärung gerade noch ausreichen!"
Aldo Brehm eilte unverzüglich in die angegebene
Richtung.
„Finden Sie den Rückweg allein?", rief Elena ihm
nach. „Dann sehen wir einander später. Ich habe noch
kurz mit dem Aufseher etwas zu besprechen", wandte
sie sich wieder ihrer Gruppe zu.
Sie musste den armen Kerl beruhigen, denn der zitterte
vermutlich um seinen Job. Er hätte die Touristen
längst aus dem Areal weisen müssen. Vielleicht wäre
das alles dann nicht passiert. Aber es war nicht seine,
sondern Elenas Schuld.
„Kannst du mir sagen, was geschehen ist? Es gibt
einen Toten, so viel habe ich mitbekommen. Und dass
ich in größten Schwierigkeiten stecke, weil ich euch so
spät noch hereingelassen habe!" Verzweifelt verbarg
der Mann sein Gesicht zwischen den Händen.
„Du heißt Nino, wenn ich mich nicht irre." Als kein
Widerspruch kam, fuhr Elena fort. „Also, Nino, lass
uns die Sache besprechen, bevor der Commissario
eintrifft. Ich kann natürlich nicht lügen, aber die volle
Wahrheit muss ich auch nicht sagen. Niemand wird
von unserem Arrangement erfahren, wenn du und
deine Kollegen dichthalten. Dann kann ich nämlich
behaupten, ich hätte dich heute beschwatzt, uns
ausnahmsweise noch in die Zone zu lassen. Für eine
knappe halbe Stunde. Dass wir deine Gutmütigkeit
ausgenützt und die Zeit schamlos überschritten haben,
dafür kannst du nichts."
Mit einem hoffnungsvollen Lächeln blickte Nino
auf. „Das könnte klappen. Wichtig ist, dass ihr noch
vor 19 Uhr gekommen seid, also mehr als eine Stunde
vor Sonnenuntergang."
„Stimmt. Auch wenn es nur wenige Minuten vor
sieben waren. Aber die Aussage, dass wir vor 19 Uhr
da waren, ist keine Lüge. Denn du darfst nicht vergessen,
die Polizei wird jeden Einzelnen aus meiner
Gruppe nach den Details fragen. Also müssen wir bei
der Wahrheit bleiben. Wir können sie nur ein wenig
zurechtschminken."
„Va bene! Du hast mir felsenfest versprochen, um
Viertel nach sieben wieder weg zu sein. Eine Viertelstunde
kann ich überziehen. Da findet niemand etwas
dabei."
Elena nickte wissend. Sie hatte lange gebraucht,
um sich an die italienische Variante von Pünktlichkeit
zu gewöhnen.
„Also abgemacht! Ich habe von vornherein vorgehabt,
mein Versprechen dir gegenüber zu brechen. Das
ist wichtig, denn die Gruppe wird aussagen, dass ich
sie erst für 20 Uhr zum Ausgang bestellt habe. Nach
Sonnenuntergang also, denn genau den sollten sie hier
erleben."
„Ich erlebe dafür heute vermutlich den Sonnenaufgang.
Denn wie mir Mario gesagt hat, muss ich die Stellung
halten, bis der Commissario aus Trapani eintrifft.
Und das kann bei Sonntagsverkehr Stunden dauern."
„Das ist bedauerlich, Nino, aber nicht zu ändern.
Glaub mir, auch für mich ist heute noch lang nicht
Feierabend."
„Aber wenigstens kommst du dazu, etwas zu essen.
Ich werde hier verhungern. Dabei gibt es zu Hause
Lammkoteletts."
„Ich werde dir vom Hotel ein Panino heraufbringen
lassen." Elena rang sich ein Lächeln ab und verabschiedete
sich.
Wie komme ich eigentlich dazu, immer alle anderen
zu trösten? Mich tröstet auch keiner!, dachte Elena.
Was sie jetzt dringend gebraucht hätte, war eine starke
Schulter, an die sie sich lehnen konnte. Doch die hatte
sie nie gehabt. Bei aller Genialität war ihr verstorbener
Ehemann mit den Problemen des Alltags nur schwer
fertiggeworden. „Elena macht das schon" - wie oft
hatte sich Paul mit diesem Satz aus der Verantwortung
gestohlen. Ein erschlagener Oberstudienrat zwischen
antiken Ruinen! Das wäre eindeutig zu viel für
seine sensible Künstlerseele gewesen.
Bevor Elena weiter darüber nachdenken konnte,
wie sich Paul wohl in diesem Fall verhalten hätte, war
sie bereits beim Hotel angelangt. Es lag tatsächlich
wenig mehr als einen Steinwurf vom Archäologischen
Park in Selinunte entfernt.
Einen Steinwurf! Schlagartig wurde ihr die makabre
Bedeutung ihres Gedankens bewusst. Aber es hatte
doch niemand einen Stein nach Sigismund Eck geworfen.
Oder doch? War dieses kleine Säulenfragment,
das sie neben der Leiche gesehen hatte, gar nicht von
selbst heruntergestürzt? Irgendetwas stimmte nicht,
aber was?
Im Moment würde sie auf diese Frage jedoch mit
Sicherheit keine Antwort finden, weshalb es unsinnig
war, darüber nachzugrübeln. Das musste warten.
Elena stieß die Hoteltüre auf. Sie hatte jetzt wahrlich
Dringenderes zu tun, als wilden Spekulationen nachzuhängen.
2. Kapitel
Von Catania aus war sie mit der 13-köpfigen Reisegruppe
losgefahren. Schon am ersten Abend hatte
Elena mit ihren üblichen Vorbereitungen begonnen
und aus den Angaben über Geburtsort, Geburtsjahr,
Nationalität und den Passnummern die Liste erstellt,
mit der in Sizilien Reiseleiter eine Gruppe einchecken
können, um Zeit und Chaos zu sparen. So haftet der
Guide für die Richtigkeit der Angaben, darf allerdings
seinen eigenen Pass nicht vergessen. Was ihr allerdings
auch schon einmal passiert war.
Nach der Zimmerverteilung hatte sie wie immer
den Saalchef aufgesucht - ein diskret überreichtes
Kuvert mit vorbereitetem Trinkgeld garantierte bessere
Sitzplätze, einen prompteren Service und einen
Hauch von Flexibilität bei etwaigen Sonderwünschen.
Tatsächlich zählte die sizilianische Hotellerie zu
den schlechtesten Europas. Sternebewusst war man
nur bei den Preisen, nicht aber bei den Leistungen.
Elena würde nie begreifen, warum Selbstverständlichkeiten
wie ein funktionierender Kofferservice selbst in
Nobelherbergen nicht möglich waren oder weshalb das
Essen für Pauschaltouristen durch die Bank so ungenießbar
sein musste. Sie selbst - und natürlich auch
der Chauffeur - speisten meist hervorragend, wobei
es hier nicht nur auf ihr eigenes Renommee, sondern
auch auf das ihres Fahrers ankam. Je höher dieser in
der für sie undurchschaubaren Hierarchie der Busfahrer
rangierte, desto willfähriger zeigte sich das Personal,
seine kulinarischen Wünsche zu erfüllen.
Erstaunlicherweise beschwerte sich nur selten
jemand über das miese Essen, das man für verhältnismäßig
viel Geld vorgesetzt bekam. Nicht einmal damals
in Palermo, als Elena ihr klebriges, wässriges, nach
Pappe schmeckendes Risotto, das man den Touristen
zumutete, entrüstet zurückgeschickt und im Austausch
dafür in Windeseile eine durchaus akzeptable Pasta
con le Sarde auf dem Tisch hatte. Ob es wohl daran
lag, dass kein Österreicher dabei gewesen war? Ihren
Landsleuten war die kulinarische Seite des Urlaubs
nämlich durchaus wichtig. Doch selbst sie verziehen
so manche gastronomische Sünde, wenn nur die Qualität
des Weines nichts zu wünschen übrig ließ.
Dieses Mal aber waren sogar vier Österreicher mit
von der Partie, hatte sie beim zweiten Blick auf ihre
Gästeliste festgestellt. Die dreiköpfige Familie Strasser
kam aus Salzburg. Und Adele Bernhardt, wohnhaft in
München, war in Purkersdorf bei Wien geboren. Die
übrigen neun waren deutsche Staatsbürger.
Zwei Stunden und ein köstliches Abendessen später
sah die Welt von Catania für Elena eine Spur erfreulicher
aus. Genüsslich löffelte sie den letzten Rest Pistazieneis
aus ihrem Becher, den sie sich in ihrer Lieblingsbar
auf dem Nobelboulevard Via Etnea allen Diätvorsätzen
zum Trotz gegönnt hatte. Gewichtsprobleme
waren für sie wahrlich nichts Neues, doch als Neo-
Nichtraucherin erschien ihr der lebenslange Kampf
gegen überflüssige Kilos allmählich zu mühsam. Dank
einer schier übermenschlichen Disziplin, wie Elena
ihre periodisch auftretenden kulinarischen Verzichtserklärungen
selbstironisch nannte, konnte sie nach
mittlerweile dreizehn Monaten Nikotinabstinenz und
einer kurzfristigen Gewichtsexplosion wieder Kleidergröße
38 tragen.
Eine Schönheit im klassischen Sinn war Elena nie
gewesen, vor allem als junges Mädchen nicht, das so
gut wie alles an sich selbst als abscheulich empfand:
die Figur zu plump, die Oberarme zu dick, der Busen
zu klein, die Nase zu breit und die Augen zu schmal.
Lediglich mit ihren wohlgeformten Beinen und den
kleinen Füßen war sie zufrieden. „Alles andere lässt
sich kaschieren, nur hässliche Waden, spitze Knie und
unförmige Knöchel nicht", hatte ihre Mutter sie getröstet,
wenn sie ihrem Spiegelbild wieder einmal frustriert
die Zunge gezeigt hatte.
Die wichtigste Erkenntnis aber verdankte Elena
ihrer Lieblingstante, die nach einem kurzen Blick auf
ihre pubertierende Nichte lakonisch erklärt hatte: „Wer
sich hässlich fühlt, wird auch von anderen so gesehen.
Merk dir das. Auf die Ausstrahlung kommt es an bei
einer Frau, das ist das ganze Geheimnis."
Elena lernte ihre Lektion rasch. Als sie Paul traf,
war sie längst daran gewöhnt, selbstbewusst aufzutreten.
Auch an ihrem Äußeren hatte sie weit weniger auszusetzen
als früher, doch wirklich zufrieden mit sich
selbst wurde sie erst nach ihrer Übersiedlung nach Rom.
„Du musst einen Kartoffelsack wie ein Modellkleid
tragen können!" Diesmal kam der Rat nicht von einer
alten Tante, sondern von einer jungen römischen Bildhauerin.
„Achte auf deine Bewegungen und auf deinen
Gang. Dann such dir die Farben, die zu dir passen,
und bleib dabei." Es war wirklich nicht allzu schwer
gewesen. Seither jedenfalls galt Elena in ihrem Wiener
Freundeskreis als Inbegriff von italienischem Schick.
Immer öfter fragte sie sich allerdings, für wen sie
sich eigentlich kasteite. Seit ihr Mann nur wenige
Wochen vor seinem 45. Geburtstag einem Gehirntumor
erlegen war, betrachtete Elena das Kapitel Männer als
endgültig abgeschlossen. Zu wild war der Schmerz über
den Verlust gewesen. Auch fünf.Jahre danach wurde
ihr die Kehle noch immer eng, wenn sie an Paul dachte.
Gemeinsam mit ihm sollte sie jetzt hier in Catania
sitzen und dem Strom der müßig vorbeischlendernden
Passanten zusehen. Wie gut erinnerte sie sich an ihre
erste Sizilienreise vor bald zwei Jahrzehnten, als die
Angst vor der Mafia die Insel noch fest im Würgegriff
gehabt und am Abend in den großen Städten Bunkerstimmung
geherrscht hatte.
Angesichts des bunten Treibens vor den bis auf den
letzten Platz besetzten Kaffeehaus-Tischen erschien es
Elena heute unvorstellbar, dass noch Mitte der achtziger
Jahre im Zentrum von Catania kein einziges Straßencafé
zu finden gewesen war. Doch damals hatte
die Angst regiert.
Elena hatte es noch klar vor Augen: Mit Einbruch
der Dunkelheit verschanzten sich die Einheimischen
in ihren vier Wänden. Und Touristen interessierten
sich erst recht nicht für die heruntergekommene Stadt,
in der zwar keine einzige Blume, dafür aber die Kriminalität
üppige Blüten trieb! Hinaufklappbare Bürgersteige
wie in Ostberlin oder Prag, Ostblockatmosphäre
pur, lediglich in den klassischen Ferienorten
wie Taormina oder Cefalù regte sich Leben.
Niemand hatte so recht daran geglaubt, dass sich
die einst so prächtige Barockstadt zu Füßen des höchsten
Vulkans Europas jemals erholen würde. Für immer
schien sie ein Teil jener Dritten Welt geworden zu sein,
die von Sizilien aus zum Greifen nahe lag, trennen doch
im Westen der Insel kaum 120 Kilometer den Alten
Kontinent von Afrika, wenig mehr als ein Katzensprung
übers Meer.
Damals, als am Abend in den großen Städten Bunkerstimmung
herrschte und sich lediglich in den klassischen
Ferienorten wie Taormina oder Cefalù Leben
regte.
© Haymon Taschenbuch
- Autor: Eva Gründel
- 2016, 2. Aufl., 376 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3709978459
- ISBN-13: 9783709978450
- Erscheinungsdatum: 17.03.2016
4.5 von 5 Sternen
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