Mogelpackung
Roman
Fredo ist gerade mehr als frustriert. Job weg, Frau weg. Da braucht er dringend Ablenkung. Trifft sich gut, das ihm sein Bruder anbietet, für drei Monate seine Villa samt Limousine, pubertierender Kinder und dementer Oma zu hüten. Könnte für Fredo eine Riesensache werden.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mogelpackung “
Fredo ist gerade mehr als frustriert. Job weg, Frau weg. Da braucht er dringend Ablenkung. Trifft sich gut, das ihm sein Bruder anbietet, für drei Monate seine Villa samt Limousine, pubertierender Kinder und dementer Oma zu hüten. Könnte für Fredo eine Riesensache werden.
Klappentext zu „Mogelpackung “
Im Job die Kündigung kassiert, die Freundin mit dem Chef im Bett erwischt - Fredo Fried (34) ist völlig planlos und braucht dringend eine Erleuchtung. In dieser Krise kommt ihm das Angebot seines Bruders gerade recht: Fredo soll für ein Vierteljahr als Haus- und Kinderhüter in die Bresche springen, da Markus beruflich ins Ausland muss. Eine Luxusvilla inklusive Weinkeller und Limousine - genau die richtige Wellness-Oase für einen Mann in der Sinnkrise, findet Fredo. Allerdings stecken die beiden Teenies Tim und Karla mitten in der Pubertät und Oma Gesche rutscht zunehmend in die Demenz ab. Egal! Getreu seinem Motto "blenden, bluffen, abtauchen" stürzt sich Fredo mit Volldampf in seine Mission ...
Lese-Probe zu „Mogelpackung “
Mogelpackung von Jan Schröter1.
»Ich liebe dich.«
So, wie es da auf seinem Monitor stand, sah es armselig aus.
Nach gar nichts. Fredo Fried drückte entschlossen die »Löschen«-Taste und sah zu, wie der rasende Curser die letzten drei Worte und den ganzen Dialog davor auffraß, bis nur noch die nackte Storyline-Vorgabe für diese Szene übrig blieb. Lies es noch mal, sagte sich Fredo.
Bild 22, Innen, Nacht, trendiger Club: Lara sitzt mit ihrer Kollegin Tina und deren Freund Fabian in der Chillout- Zone. Während Tina zur Toilette verschwindet, gesteht Lara Fabian ihre Liebe. Der kann der Versuchung nicht widerstehen. Tina kehrt zurück und sieht Kollegin und Freund wild miteinander knutschen (Episodenende).
... mehr
Okay, überlegte Fredo, Tina geht zur Toilette. Sie ist ein einfaches, geradliniges Mädel und verabschiedet sich bestimmt mit einem Spruch wie: »Ich geh mal eben ins Recycling- Center!« Oder so ähnlich. Lara, die junge Wilde vom Lande, die seit nunmehr 128 Folgen Telenovela »Lara - eine Unschuld in Berlin« in emotionaler Achterbahnfahrt alle Höhen und Tiefen des Großstadtlebens auslotet, wendet sich dem coolen Fabian zu und sagt ... und sagt ...
Was sagt sie wohl?
»Ich liebe dich.«
Abgeschmackt. Klischee. Fade. Im Prinzip zwar die Aussage, die man braucht, aber so was von langweilig, da zappt jeder sofort aufs nächste Programm. Vor allem die Teenager, die Hauptzielgruppe. Für die wurde »Lara« produziert. Lara war neugierig, lebensbejahend, risikofreudig bis an den Rand des Wahnsinns und probierte gerne etwas aus. Möglichst in jeder Folge etwas Neues. Die sagte nicht einfach: »Ich liebe dich«, wenn sie sich den Kerl schnappen will und weiß, sie hat nur fünf Minuten, bis dessen Freundin vom Klo zurückkommt. Warum eigentlich nicht, sinnierte Fredo - eigentlich will man in so einer Situation doch ein ehrliches Gefühl zum Ausdruck bringen. Im richtigen Leben jedenfalls, nicht bloß in einer Fernsehserie. Doch kaum findet man jemanden toll und will das auch sagen, geht es gleich wieder nur um die Selbstinszenierung. Kaum schlägt die Liebe ein, beginnt der Schaulauf. Nicht ehrlich sein, sondern originell wirken - das macht attraktiv. Verlogen und öde. Dabei könnte man alles in drei einfachen Worten sagen. Aber auf dem Monitor sah das einfach nicht gut aus. Vielleicht, wenn man es ausspricht ... Sag es, Fredo, sag es einmal laut und deutlich.
»Ich liebe dich!«
»Ich dich ja auch, Schatzi. Aber die Folge 129 muss trotzdem heute noch fertig werden!«
Fredo hatte einen Moment lang vergessen, dass er sich sein Büro bei der SIGMA TV PRODUKTIONS GmbH mit Bert Schmidtbauer teilte - ein kleines Kabuff mit Blick auf die triste Industrielandschaft zwischen Tempelhof und Teltowkanal. Diese trübe Aussicht genoss man allerdings nur vom schmalen Fenster aus, und dort stand Berts Schreibtisch. Fredos Tisch stand an der Wand, was dem firmeninternen Stellenwert des Dialogautors entsprach. Als solcher befand man sich bei der SIGMA am unteren Ende der Nahrungskette, was Fredo nicht besonders störte. Bert, zuständig für die Storylines der Telenovela, grinste seinen verwirrt aufschauenden Kollegen an.
»Hast du die 129 schon angefangen?«
Fredo schüttelte den Kopf. »Bin beim letzten Bild der 128.« »Oha. Dann wird's wohl wieder eine lange Nacht für dich.« »Sieht so aus.« Fredo seufzte. »Wie sagst du: Ich liebe dich?« »Brauche ich nie.«
»Niemals?«
»Ich liebe nur mich. Und das ohne Worte.«
Bert blickte selbstzufrieden drein wie ein in sich ruhender Buddha. Ein Bonsai-Buddha, dachte Fredo. So wirkte Bert Schmidtbauer immer. Möglicherweise lag das an seinen Klamotten - immer zwei Nummern zu groß und chronisch ungebügelt. Berts Camouflage-Trick Nummer eins, um seine lächerlichen gut eineinhalb Meter Lebendgröße zu kaschieren. Trick zwei war seine vorlaute Klappe. Doch bevor Fredo einen Verbaldämpfer abfeuern konnte, platzte jemand ins Büro ohne anzuklopfen.
»Wie weit seid ihr, Jungs?« Plöger, Schweißperlen auf der Stirn, verbreitete Hektik, wie üblich. Wahrscheinlich glaubte er, in seiner Position als Chefautor müsste das einfach so sein. »Wir brauchen die 128! Schon seit einer Stunde! Und die 129 spätestens morgen früh!«
»Die Storylines sind fertig«, rapportierte Bert eilfertig. Plöger wandte sich Fredo zu. »Und die Dialoge?«
Fredo zuckte lässig mit den Achseln. »Morgen früh, kein Problem. Bleibe ich eben noch ein paar Stunden hier. Schreibt sich eh besser, wenn hier endlich mal Ruhe ist.«
Fredo hatte mit einem Wutanfall des Chefautors gerechnet. Doch da hatte er sich getäuscht. Plöger hob nur kurz skeptisch die Brauen und legte dann sein in zahllosen Kreuzberger Nächten verlebtes Gesicht in sorgenvolle Falten.
»Fertig werden ist das Eine. Es muss aber auch gut werden. In der Chefetage ist die Hölle los, sage ich euch! Die Zuschauerquote ist schon wieder um 0,2 Prozent gesunken. Wir müssen viel mehr Kracher abliefern ... «
Fredo wandte sich wieder seinem Monitor zu und schaltete die Ohren auf Durchzug, während Bert Schmidtbauer seine Knittergarderobe durchschwitzte und ebenso bemüht wie hilflos versuchte, Plöger mit pseudokreativen Vorschlägen zu beeindrucken, wie man ihre Hauptfigur Lara durch die Achterbahn der ganz großen Gefühle jagen könnte. Als Dialogautor fühlte sich Fredo für Problemlösungen nicht zuständig. Nicht im richtigen Leben, und im Fall der schmalspurigen Telenovela »Lara - eine Unschuld in Berlin« schon mal gar nicht. Das sollten sich die anderen hübsch alleine überlegen, wie man der schwächelnden Quote auf die Sprünge helfen könnte ...
Gleich fragen sie mich, ahnte Fredo. Zeit für den Notausstieg. Bevor er seine interne Liste probater Ausreden zum vorzeitigen Verlassen brotloser Palaver nach der geeigneten Abgangsfloskel durchforsten konnte, vibrierte sein Mobiltelefon in der Hosentasche. Er zog es diskret heraus und sah aufs Display: eine SMS von seinem Bruder mit der Bitte um Rückruf. Mit Markus hatte Fredo zuletzt zu Weihnachten telefoniert, vor gut drei Monaten. Seitdem herrschte Funkstille. Nicht, weil sie sich gestritten hätten. Sie stritten nie miteinander, sie hatten sich bloß nichts zu sagen. Jetzt jedoch schien irgendetwas anzuliegen. Geburtstag vergessen? Fredo rekapitulierte angestrengt sämtliche Geburtsdaten von Markus, dessen Frau und Kindern - die lagen alle erst in der zweiten Jahreshälfte. Möglicherweise war etwas mit Oma Gesche, die ging immerhin schon hart auf die neunzig zu ... Plötzlich registrierte er, dass Plöger und Bert ihre Debatte eingestellt hatten und ihn schweigend anstarrten.
»Vielleicht legt Herr Fried wenigstens das Handy weg, wenn er sonst schon nichts zum Thema beiträgt!«
»Mein Bruder«, Fredo wedelte entschuldigend mit dem Mobiltelefon. »Ich soll ihn anrufen. Dringende Familienangelegenheit.«
Plöger zeigte sich ungewohnt nachsichtig. »Okay, ich mach Schluss für heute! Aber die 129 steht morgen früh, ich verlasse mich auf dich, Fredo! «
Zusammen mit Plöger verließ Fredo das Büro. Während der Chefautor eiligst zum Fahrstuhl strebte, suchte sich Fredo auf dem langen Flur eine ruhige Ecke zum Telefonieren. Zu viel Stress würde er sich heute Nacht mit dem Drehbuch nicht mehr machen, allen Plöger'schen Appellen zum Trotz. Während der letzten acht Jahre hatte Fredo für etliche Produktionen geschrieben, auch für weitaus ambitioniertere Formate als »Lara - eine Unschuld in Berlin«, und dabei vor allem eines gelernt: Fernsehautoren dichteten meist für die Tonne und im Erfolgsfall für flüchtige Flimmerkistenmomente. Wozu also als TV-Schreiber Herzblut investieren? Bei einer Dünnbrett-Novela wie »Lara« kam man in dieser Hinsicht gar nicht erst in Versuchung - höchstens kurzfristig, wenn man sich wie Fredo vorhin damit abmühte, an feinsinnigen Formulierungen für komplexe Gefühle zu feilen. »Ich liebe dich«, das musste reichen. Keine Ambitionen - kein Frust. Kein Problem für Fredo.
Markus sah so etwas naturgemäß ganz anders. Sein großer Bruder unternahm nie einen Handschlag ohne peinlichste Kosten-Nutzen-Kalkulation. Null Ambitionen, null Frust, da stünde für Markus unterm Strich ein klares Ergebnis: Nullsummenspiel, Finger davonlassen. Fredo erinnerte sich dumpf, dass sie sich über dieses Thema während des weihnachtlichen Telefonats sogar doch ein wenig gestritten hatten.
Zumindest fast, mit leicht erhobener Stimmlage. Mehr Funkenschlag lag bei Markus nicht drin. Vermutlich rechnete sich ein Streit unter Brüdern für ihn einfach nicht. Was er wohl jetzt von Fredo wollte?
Gibt nur einen Weg, es herauszufinden, dachte Fredo und griff seufzend zum Handy. Markus meldete sich so schnell, als hätte er sein Telefon seit Versendung der SMS gar nicht beiseitegelegt.
»Fredo? Hey - schneller Rückruf, Respekt.«
»Hättest du mich sofort angerufen, wär's noch schneller gegangen.«
»Ich wollte sichergehen, dass du ein paar Minuten Zeit hast, wenn wir reden. Hast du doch jetzt hoffentlich?«
»Klar. Was gibt's?«
»Was macht dein Job?«
Oh Mann, dachte Fredo, was soll das Herumeiern? »Läuft.« »Und deine Freundin? Wie heißt das Mädel noch ...« »Sandra.«
»Genau. Die hat doch auch nichts Festes ...?«
»Was heißt hier ›auch nicht‹? Ich stehe noch für knapp ein halbes Jahr unter Vertrag bei der SIGMA. Und Sandra modelt. Wenn sie gebucht wird.« Das klang selbst in Fredos Ohren ziemlich bescheuert. Himmel, ärgerte er sich, als ob ich mich rechtfertigen müsste. Was will der bloß?
»Na ja, die ist ja auch noch jung.«
Fredo hörte genau hin, konnte aber keinen ironischen Unterton aus Markus' letzter Bemerkung herausfiltern. »Genau, Sandra ist vierundzwanzig, zehn Jahre jünger als ich, und ich weiß immer noch nicht, womit ich nächstes Jahr mein Geld verdiene. Das haben wir also durch, Markus. Reden wir doch zur Abwechslung über deinen Job! Immer noch bei der Bank?«
»Gut, dass du das ansprichst«, konterte Markus gelassen. »Deswegen habe ich dich angerufen.«
Fredo verstand gar nichts mehr. »Haben sie dich gefeuert oder so?«
»Oder so. Die befördern mich.«
Na klar, dachte Fredo, Markus feuert man nicht. »Und ich soll dich jetzt feiern?«
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Fredo. Ich muss für ein paar Monate nach China, wir steigen ganz groß in den asiatischen Markt ein ... «
»Von asiatischen Märkten habe ich keine Ahnung. Ich könnte da höchstens Texte für Glückskekse verfassen.«
»Ich brauche dich nicht in China. Ich brauche dich hier. In Bornstedt.«
Fredo überlegte kurz. »Im Mai haben wir zwei Wochen Drehpause, da könnte ich vielleicht mal ein, zwei Tage ... «
»Ich rede nicht von ein paar Tagen. Es geht um ein Vierteljahr.«
Fredo schwieg fassungslos, während Markus endlich zur Sache kam: Er müsste also nach Shanghai, und Nicole wollte unbedingt mit. China sei schon immer der Lebenstraum seiner Frau gewesen, und darüber hinaus, nun ja, sie wären bald zwanzig Jahre miteinander verheiratet, in den letzten Jahren sei die Glut ein bisschen erkaltet, als Mann mit Phantasie könne sich Fredo da vielleicht hineindenken, auch ohne jemals verheiratet gewesen zu sein - jedenfalls brächten ein paar Monate in exotischer Kulisse bestimmt wieder Pfeffer ins Eheleben, außerdem zahle die Firma alles, sei wahrscheinlich besser und garantiert billiger als eine Therapie beim Psycho-Beziehungsklempner.
»Und eure Kinder?«, fiel Fredo ein, als Markus zwischendurch mal Luft holen musste.
»Genau, die Kinder. Du denkst mit. Das gefällt mir, Bruder. Du bist genau der Richtige!«
»Der Richtige wofür?«
»Du ziehst für ein Vierteljahr zu uns nach Bornstedt. Kannst mein Arbeitszimmer benutzen, die Sauna, Garten, Grillhütte, Auto - alles deins. Die Kinder sind total selbständig, die stressen dich nicht. Hauptsache, sie haben eine Vertrauensperson an Bord.«
»Und was ist mit meiner Arbeit? Und mit Sandra?«
»Du kannst deinen Kram doch per E-Mail in die Firma schicken! Und was Sandra betrifft, das Haus ist groß genug. Bring sie mit! «
Sandra, die Weltstadtpflanze, in Bornstedt, dem Enddarm der Provinz. »Du hast echt einen Knall!« Fredo konnte es nicht fassen, mit welcher Selbstverständlichkeit sein Bruder davon ausging, er und Sandra könnten mal ganz locker ihren Alltag für ein Vierteljahr unterbrechen. Für Markus war Fredo ja auch bloß ein verkrachter Lebenskünstler, und lebenskünsteln könne man schließlich jederzeit überall. Ein wichtiger Manager eines börsennotierten Finanzunternehmens unterlag natürlich ganz anderen Sachzwängen, und daran sollten sich gefälligst alle anderen Familienmitglieder ausrichten. Sogar der kleine Bruder, mit dem man sonst nur sporadisch telefonierte. »Wir produzieren jede Woche fünf Bücher! Ich kann hier nicht einfach weg. « Und ich will auch gar nicht, fügte Fredo gedanklich hinzu. Kinder hüten in Bornstedt. Dann lieber den ganzen Tag Krisenkonferenzen mit Plöger und Bert.
»Ich frag dich ja auch nicht gerne, Kleiner«, gestand Markus. Wenigstens gibst du's zu, dachte Fredo. »Warum fragst du mich dann überhaupt?«
»Weil ich hoffte, du bist flexibel genug, bis übermorgen hier zu sein.«
»Übermorgen? Die schicken dich von heute auf übermorgen für ein Vierteljahr nach China?«
»So plötzlich kommt das nicht ... Eigentlich war alles anders geplant ...«, druckste Markus herum. »Ursprünglich sollte Nicoles Schwester einspringen. War längst abgemacht. Aber nun liegt meine Schwiegermutter flach. Rücken-OP, langwierige Sache, Nicoles Schwester muss sie pflegen. Mensch, Fredo, meine Firma zahlt sogar was für Familienbetreuung! Freie Kost und Logis, kriegst noch Geld dazu ... «
»Danke schön. Nehmt euch eine professionelle Haushaltshilfe. Wo ist das Problem? Und was ist eigentlich mit Oma Gesche? Die könnte das doch auch - und wohnt sowieso bei euch.«
»Wann hast du Oma zuletzt gesehen? Vor zwei Jahren?« Stimmt, rekapitulierte Fredo verblüfft, tatsächlich schon so lange her. »Da war sie jedenfalls noch ganz gut drauf.« »Damals. Jetzt ist sie, wie soll ich sagen ... Teil des Problems.« »Deines Problems. Hör mal, Markus, ich bin für diesen Anruf aus einer Konferenz weggegangen. Du findest schon eine Lösung. Aber ohne mich, okay?«
»Schade. Wie du meinst.«
»Schick mir mal ne Ansichtskarte.«
Sie wechselten noch ein paar Floskeln, dann legten sie auf. Erstaunlich, wie wenig sie sich zu sagen hatten, dachte Fredo. In einer Telenovela würden zwei Brüder grundsätzlich anderen Umgang miteinander pflegen: Entweder sie stünden in allen Lebenslagen in Treue fest Seite an Seite oder würden sich in dramatischen Rivalitätskämpfen zerfleischen. So ein Verhältnis wie zwischen ihm und Markus war lau. Reizlos. Langweilig. Der Quotenkiller für jedes Drehbuch. Dieser Gedanke brachte Fredo wieder zurück ins Hier und Jetzt. Er hatte noch ein Drehbuch fertig zu schreiben. Verglichen mit einem Leben in Bornstedt erschien ihm diese Aufgabe plötzlich als gar nicht mehr so übel.
Irgendetwas stimmte nicht. Das bemerkte Fredo sofort, als er wieder das Büro betrat. Bert Schmidtbauer saß geduckt auf seinem Schreibtischstuhl, hielt das Kinn in den Abgründen des Übergrößenkragens verborgen und erinnerte damit stark an eine verschreckte Schildkröte. »Die Chefin war eben hier«, verkündete er mit Grabesstimme. »Wir haben jetzt fünf Wochen in Folge an Quote verloren. Sie hatte heute Morgen eine Telefonkonferenz mit den Verantwortlichen beim Sender. Es gibt Konsequenzen ...«
Fredo ahnte, was kommen musste - glaubte es allerdings noch nicht.
»Die neuen Dialogautoren kommen morgen um elf Uhr.« Bert Schmidtbauer sah Fredo nicht an. »Zwei Frauen, frisch von der Filmhochschule. Die bringen den nötigen Teen Spirit in unsere Novela, sagt die Chefin. Tut mir leid, Fredo. Du bist raus ...«
»Was machst du jetzt?«
Das war die Frage, die Bert Schmidtbauer bereits seit einer Stunde auf den Lippen lag und um die sich Fredo bis jetzt herumgedrückt hatte. Sie saßen in einer Sportbar in der Nähe des Kollwitzplatzes - einer Gegend mit scheinbar typisch Berliner Ambiente, deren Bewohner allerdings von überall her stammten, bloß nicht aus Berlin. Fredo wusste das, weil er auch hier wohnte. Und ebenfalls kein geborener Berliner war. Deshalb versammelten sich in der Sportbar vor den zahlreichen Flatscreens an Bundesligaspieltagen jede Menge Zugezogene und grölten bei Buletten und Berliner Weißer für Hamburg, Köln oder München. Heute hatte die Bundesliga jedoch spielfrei. Auf den Bildschirmen flimmerten Eurosport-Reportagen aus der englischen Premier League. Fredo wartete die Zeitlupenwiederholung einer - auch nach britischen Maßstäben - rustikalen Blutgrätsche ab und wandte sich Bert zu, der immer noch auf eine Antwort wartete.
»Ich geh pinkeln.«
»Bis zur Rente?«
Fredo schenkte dem Kollegen ein müdes Lächeln. Mehr war der Witz nicht wert, befand er, während er in die Kneipenkatakomben strebte, wo neckische, geschlechtsbetonte Piktogramme willigen WC-Pilgern den Weg wiesen. Wahrscheinlich waren seine eigenen Witze meist auch nicht besser. Jedenfalls die, mit denen er die Telenovela-Dialoge fütterte. Das war ja auch keine Arbeit, an die man sein Bestes verschwendete. Keine Arbeit, der man nachtrauern sollte. Also kein Grund, sich jetzt beschissen zu fühlen. Was leider der Fall war.
In den Pissoirs simulierten eingelegte, grasgrüne Plastikgeflechte echte mit Fußballfeldmarkierungen gediegene Stadionatmosphäre. In jeder Schüssel gab es sogar kleine Fußballtore, die sich per Urinstrahl anvisieren ließen. Fredo legte an und verwandelte souverän oben rechts in den Winkel. Unhaltbar. Reif für die Premier-Power-Pisser-League. Wäre live auf Eurosport bestimmt der Heuler. Fredo schüttelte die letzten Tropfen ins Abseits, verpackte seinen Torjäger und zog energisch den Reißverschluss der Jeans hoch. Vorm Waschbecken war der kurzfristige Energieschub allerdings schon wieder verpufft. Fredo ließ Wasser über die Hände rinnen und starrte sich im stockfleckigen Spiegel an. Fredo Fried, vor vierunddreißig Jahren als Landei im Nirgendwo der norddeutschen Tiefebene - sprich: Bornstedt - gestartet. Nach dem Abi ab in die Großstadt, erst Köln, später Berlin, nie wieder Provinz. Diverse angefangene und abgebrochene Studiengänge. Es hatte ihm nicht am Stehvermögen gemangelt, um ein Studium zu Ende zu führen. Es hatte bloß immer wieder etwas gegeben, was Fredo interessanter fand als das, womit er sich gerade beschäftigte. Bei den Jobs lief es lange genauso, bis er bei der Fernsehschreiberei hängen geblieben war. Aber diesmal war es entschieden anders als früher: Es gab nichts, was er gerade interessanter gefunden hätte - und das, obwohl er seinen Job bei der SIGMA schon lange hasste. Irgendwie war ihm die Begeisterungsfähigkeit abhanden gekommen. Lag das etwa am Alter?
© 2012 Knaur Taschenbuch
Okay, überlegte Fredo, Tina geht zur Toilette. Sie ist ein einfaches, geradliniges Mädel und verabschiedet sich bestimmt mit einem Spruch wie: »Ich geh mal eben ins Recycling- Center!« Oder so ähnlich. Lara, die junge Wilde vom Lande, die seit nunmehr 128 Folgen Telenovela »Lara - eine Unschuld in Berlin« in emotionaler Achterbahnfahrt alle Höhen und Tiefen des Großstadtlebens auslotet, wendet sich dem coolen Fabian zu und sagt ... und sagt ...
Was sagt sie wohl?
»Ich liebe dich.«
Abgeschmackt. Klischee. Fade. Im Prinzip zwar die Aussage, die man braucht, aber so was von langweilig, da zappt jeder sofort aufs nächste Programm. Vor allem die Teenager, die Hauptzielgruppe. Für die wurde »Lara« produziert. Lara war neugierig, lebensbejahend, risikofreudig bis an den Rand des Wahnsinns und probierte gerne etwas aus. Möglichst in jeder Folge etwas Neues. Die sagte nicht einfach: »Ich liebe dich«, wenn sie sich den Kerl schnappen will und weiß, sie hat nur fünf Minuten, bis dessen Freundin vom Klo zurückkommt. Warum eigentlich nicht, sinnierte Fredo - eigentlich will man in so einer Situation doch ein ehrliches Gefühl zum Ausdruck bringen. Im richtigen Leben jedenfalls, nicht bloß in einer Fernsehserie. Doch kaum findet man jemanden toll und will das auch sagen, geht es gleich wieder nur um die Selbstinszenierung. Kaum schlägt die Liebe ein, beginnt der Schaulauf. Nicht ehrlich sein, sondern originell wirken - das macht attraktiv. Verlogen und öde. Dabei könnte man alles in drei einfachen Worten sagen. Aber auf dem Monitor sah das einfach nicht gut aus. Vielleicht, wenn man es ausspricht ... Sag es, Fredo, sag es einmal laut und deutlich.
»Ich liebe dich!«
»Ich dich ja auch, Schatzi. Aber die Folge 129 muss trotzdem heute noch fertig werden!«
Fredo hatte einen Moment lang vergessen, dass er sich sein Büro bei der SIGMA TV PRODUKTIONS GmbH mit Bert Schmidtbauer teilte - ein kleines Kabuff mit Blick auf die triste Industrielandschaft zwischen Tempelhof und Teltowkanal. Diese trübe Aussicht genoss man allerdings nur vom schmalen Fenster aus, und dort stand Berts Schreibtisch. Fredos Tisch stand an der Wand, was dem firmeninternen Stellenwert des Dialogautors entsprach. Als solcher befand man sich bei der SIGMA am unteren Ende der Nahrungskette, was Fredo nicht besonders störte. Bert, zuständig für die Storylines der Telenovela, grinste seinen verwirrt aufschauenden Kollegen an.
»Hast du die 129 schon angefangen?«
Fredo schüttelte den Kopf. »Bin beim letzten Bild der 128.« »Oha. Dann wird's wohl wieder eine lange Nacht für dich.« »Sieht so aus.« Fredo seufzte. »Wie sagst du: Ich liebe dich?« »Brauche ich nie.«
»Niemals?«
»Ich liebe nur mich. Und das ohne Worte.«
Bert blickte selbstzufrieden drein wie ein in sich ruhender Buddha. Ein Bonsai-Buddha, dachte Fredo. So wirkte Bert Schmidtbauer immer. Möglicherweise lag das an seinen Klamotten - immer zwei Nummern zu groß und chronisch ungebügelt. Berts Camouflage-Trick Nummer eins, um seine lächerlichen gut eineinhalb Meter Lebendgröße zu kaschieren. Trick zwei war seine vorlaute Klappe. Doch bevor Fredo einen Verbaldämpfer abfeuern konnte, platzte jemand ins Büro ohne anzuklopfen.
»Wie weit seid ihr, Jungs?« Plöger, Schweißperlen auf der Stirn, verbreitete Hektik, wie üblich. Wahrscheinlich glaubte er, in seiner Position als Chefautor müsste das einfach so sein. »Wir brauchen die 128! Schon seit einer Stunde! Und die 129 spätestens morgen früh!«
»Die Storylines sind fertig«, rapportierte Bert eilfertig. Plöger wandte sich Fredo zu. »Und die Dialoge?«
Fredo zuckte lässig mit den Achseln. »Morgen früh, kein Problem. Bleibe ich eben noch ein paar Stunden hier. Schreibt sich eh besser, wenn hier endlich mal Ruhe ist.«
Fredo hatte mit einem Wutanfall des Chefautors gerechnet. Doch da hatte er sich getäuscht. Plöger hob nur kurz skeptisch die Brauen und legte dann sein in zahllosen Kreuzberger Nächten verlebtes Gesicht in sorgenvolle Falten.
»Fertig werden ist das Eine. Es muss aber auch gut werden. In der Chefetage ist die Hölle los, sage ich euch! Die Zuschauerquote ist schon wieder um 0,2 Prozent gesunken. Wir müssen viel mehr Kracher abliefern ... «
Fredo wandte sich wieder seinem Monitor zu und schaltete die Ohren auf Durchzug, während Bert Schmidtbauer seine Knittergarderobe durchschwitzte und ebenso bemüht wie hilflos versuchte, Plöger mit pseudokreativen Vorschlägen zu beeindrucken, wie man ihre Hauptfigur Lara durch die Achterbahn der ganz großen Gefühle jagen könnte. Als Dialogautor fühlte sich Fredo für Problemlösungen nicht zuständig. Nicht im richtigen Leben, und im Fall der schmalspurigen Telenovela »Lara - eine Unschuld in Berlin« schon mal gar nicht. Das sollten sich die anderen hübsch alleine überlegen, wie man der schwächelnden Quote auf die Sprünge helfen könnte ...
Gleich fragen sie mich, ahnte Fredo. Zeit für den Notausstieg. Bevor er seine interne Liste probater Ausreden zum vorzeitigen Verlassen brotloser Palaver nach der geeigneten Abgangsfloskel durchforsten konnte, vibrierte sein Mobiltelefon in der Hosentasche. Er zog es diskret heraus und sah aufs Display: eine SMS von seinem Bruder mit der Bitte um Rückruf. Mit Markus hatte Fredo zuletzt zu Weihnachten telefoniert, vor gut drei Monaten. Seitdem herrschte Funkstille. Nicht, weil sie sich gestritten hätten. Sie stritten nie miteinander, sie hatten sich bloß nichts zu sagen. Jetzt jedoch schien irgendetwas anzuliegen. Geburtstag vergessen? Fredo rekapitulierte angestrengt sämtliche Geburtsdaten von Markus, dessen Frau und Kindern - die lagen alle erst in der zweiten Jahreshälfte. Möglicherweise war etwas mit Oma Gesche, die ging immerhin schon hart auf die neunzig zu ... Plötzlich registrierte er, dass Plöger und Bert ihre Debatte eingestellt hatten und ihn schweigend anstarrten.
»Vielleicht legt Herr Fried wenigstens das Handy weg, wenn er sonst schon nichts zum Thema beiträgt!«
»Mein Bruder«, Fredo wedelte entschuldigend mit dem Mobiltelefon. »Ich soll ihn anrufen. Dringende Familienangelegenheit.«
Plöger zeigte sich ungewohnt nachsichtig. »Okay, ich mach Schluss für heute! Aber die 129 steht morgen früh, ich verlasse mich auf dich, Fredo! «
Zusammen mit Plöger verließ Fredo das Büro. Während der Chefautor eiligst zum Fahrstuhl strebte, suchte sich Fredo auf dem langen Flur eine ruhige Ecke zum Telefonieren. Zu viel Stress würde er sich heute Nacht mit dem Drehbuch nicht mehr machen, allen Plöger'schen Appellen zum Trotz. Während der letzten acht Jahre hatte Fredo für etliche Produktionen geschrieben, auch für weitaus ambitioniertere Formate als »Lara - eine Unschuld in Berlin«, und dabei vor allem eines gelernt: Fernsehautoren dichteten meist für die Tonne und im Erfolgsfall für flüchtige Flimmerkistenmomente. Wozu also als TV-Schreiber Herzblut investieren? Bei einer Dünnbrett-Novela wie »Lara« kam man in dieser Hinsicht gar nicht erst in Versuchung - höchstens kurzfristig, wenn man sich wie Fredo vorhin damit abmühte, an feinsinnigen Formulierungen für komplexe Gefühle zu feilen. »Ich liebe dich«, das musste reichen. Keine Ambitionen - kein Frust. Kein Problem für Fredo.
Markus sah so etwas naturgemäß ganz anders. Sein großer Bruder unternahm nie einen Handschlag ohne peinlichste Kosten-Nutzen-Kalkulation. Null Ambitionen, null Frust, da stünde für Markus unterm Strich ein klares Ergebnis: Nullsummenspiel, Finger davonlassen. Fredo erinnerte sich dumpf, dass sie sich über dieses Thema während des weihnachtlichen Telefonats sogar doch ein wenig gestritten hatten.
Zumindest fast, mit leicht erhobener Stimmlage. Mehr Funkenschlag lag bei Markus nicht drin. Vermutlich rechnete sich ein Streit unter Brüdern für ihn einfach nicht. Was er wohl jetzt von Fredo wollte?
Gibt nur einen Weg, es herauszufinden, dachte Fredo und griff seufzend zum Handy. Markus meldete sich so schnell, als hätte er sein Telefon seit Versendung der SMS gar nicht beiseitegelegt.
»Fredo? Hey - schneller Rückruf, Respekt.«
»Hättest du mich sofort angerufen, wär's noch schneller gegangen.«
»Ich wollte sichergehen, dass du ein paar Minuten Zeit hast, wenn wir reden. Hast du doch jetzt hoffentlich?«
»Klar. Was gibt's?«
»Was macht dein Job?«
Oh Mann, dachte Fredo, was soll das Herumeiern? »Läuft.« »Und deine Freundin? Wie heißt das Mädel noch ...« »Sandra.«
»Genau. Die hat doch auch nichts Festes ...?«
»Was heißt hier ›auch nicht‹? Ich stehe noch für knapp ein halbes Jahr unter Vertrag bei der SIGMA. Und Sandra modelt. Wenn sie gebucht wird.« Das klang selbst in Fredos Ohren ziemlich bescheuert. Himmel, ärgerte er sich, als ob ich mich rechtfertigen müsste. Was will der bloß?
»Na ja, die ist ja auch noch jung.«
Fredo hörte genau hin, konnte aber keinen ironischen Unterton aus Markus' letzter Bemerkung herausfiltern. »Genau, Sandra ist vierundzwanzig, zehn Jahre jünger als ich, und ich weiß immer noch nicht, womit ich nächstes Jahr mein Geld verdiene. Das haben wir also durch, Markus. Reden wir doch zur Abwechslung über deinen Job! Immer noch bei der Bank?«
»Gut, dass du das ansprichst«, konterte Markus gelassen. »Deswegen habe ich dich angerufen.«
Fredo verstand gar nichts mehr. »Haben sie dich gefeuert oder so?«
»Oder so. Die befördern mich.«
Na klar, dachte Fredo, Markus feuert man nicht. »Und ich soll dich jetzt feiern?«
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Fredo. Ich muss für ein paar Monate nach China, wir steigen ganz groß in den asiatischen Markt ein ... «
»Von asiatischen Märkten habe ich keine Ahnung. Ich könnte da höchstens Texte für Glückskekse verfassen.«
»Ich brauche dich nicht in China. Ich brauche dich hier. In Bornstedt.«
Fredo überlegte kurz. »Im Mai haben wir zwei Wochen Drehpause, da könnte ich vielleicht mal ein, zwei Tage ... «
»Ich rede nicht von ein paar Tagen. Es geht um ein Vierteljahr.«
Fredo schwieg fassungslos, während Markus endlich zur Sache kam: Er müsste also nach Shanghai, und Nicole wollte unbedingt mit. China sei schon immer der Lebenstraum seiner Frau gewesen, und darüber hinaus, nun ja, sie wären bald zwanzig Jahre miteinander verheiratet, in den letzten Jahren sei die Glut ein bisschen erkaltet, als Mann mit Phantasie könne sich Fredo da vielleicht hineindenken, auch ohne jemals verheiratet gewesen zu sein - jedenfalls brächten ein paar Monate in exotischer Kulisse bestimmt wieder Pfeffer ins Eheleben, außerdem zahle die Firma alles, sei wahrscheinlich besser und garantiert billiger als eine Therapie beim Psycho-Beziehungsklempner.
»Und eure Kinder?«, fiel Fredo ein, als Markus zwischendurch mal Luft holen musste.
»Genau, die Kinder. Du denkst mit. Das gefällt mir, Bruder. Du bist genau der Richtige!«
»Der Richtige wofür?«
»Du ziehst für ein Vierteljahr zu uns nach Bornstedt. Kannst mein Arbeitszimmer benutzen, die Sauna, Garten, Grillhütte, Auto - alles deins. Die Kinder sind total selbständig, die stressen dich nicht. Hauptsache, sie haben eine Vertrauensperson an Bord.«
»Und was ist mit meiner Arbeit? Und mit Sandra?«
»Du kannst deinen Kram doch per E-Mail in die Firma schicken! Und was Sandra betrifft, das Haus ist groß genug. Bring sie mit! «
Sandra, die Weltstadtpflanze, in Bornstedt, dem Enddarm der Provinz. »Du hast echt einen Knall!« Fredo konnte es nicht fassen, mit welcher Selbstverständlichkeit sein Bruder davon ausging, er und Sandra könnten mal ganz locker ihren Alltag für ein Vierteljahr unterbrechen. Für Markus war Fredo ja auch bloß ein verkrachter Lebenskünstler, und lebenskünsteln könne man schließlich jederzeit überall. Ein wichtiger Manager eines börsennotierten Finanzunternehmens unterlag natürlich ganz anderen Sachzwängen, und daran sollten sich gefälligst alle anderen Familienmitglieder ausrichten. Sogar der kleine Bruder, mit dem man sonst nur sporadisch telefonierte. »Wir produzieren jede Woche fünf Bücher! Ich kann hier nicht einfach weg. « Und ich will auch gar nicht, fügte Fredo gedanklich hinzu. Kinder hüten in Bornstedt. Dann lieber den ganzen Tag Krisenkonferenzen mit Plöger und Bert.
»Ich frag dich ja auch nicht gerne, Kleiner«, gestand Markus. Wenigstens gibst du's zu, dachte Fredo. »Warum fragst du mich dann überhaupt?«
»Weil ich hoffte, du bist flexibel genug, bis übermorgen hier zu sein.«
»Übermorgen? Die schicken dich von heute auf übermorgen für ein Vierteljahr nach China?«
»So plötzlich kommt das nicht ... Eigentlich war alles anders geplant ...«, druckste Markus herum. »Ursprünglich sollte Nicoles Schwester einspringen. War längst abgemacht. Aber nun liegt meine Schwiegermutter flach. Rücken-OP, langwierige Sache, Nicoles Schwester muss sie pflegen. Mensch, Fredo, meine Firma zahlt sogar was für Familienbetreuung! Freie Kost und Logis, kriegst noch Geld dazu ... «
»Danke schön. Nehmt euch eine professionelle Haushaltshilfe. Wo ist das Problem? Und was ist eigentlich mit Oma Gesche? Die könnte das doch auch - und wohnt sowieso bei euch.«
»Wann hast du Oma zuletzt gesehen? Vor zwei Jahren?« Stimmt, rekapitulierte Fredo verblüfft, tatsächlich schon so lange her. »Da war sie jedenfalls noch ganz gut drauf.« »Damals. Jetzt ist sie, wie soll ich sagen ... Teil des Problems.« »Deines Problems. Hör mal, Markus, ich bin für diesen Anruf aus einer Konferenz weggegangen. Du findest schon eine Lösung. Aber ohne mich, okay?«
»Schade. Wie du meinst.«
»Schick mir mal ne Ansichtskarte.«
Sie wechselten noch ein paar Floskeln, dann legten sie auf. Erstaunlich, wie wenig sie sich zu sagen hatten, dachte Fredo. In einer Telenovela würden zwei Brüder grundsätzlich anderen Umgang miteinander pflegen: Entweder sie stünden in allen Lebenslagen in Treue fest Seite an Seite oder würden sich in dramatischen Rivalitätskämpfen zerfleischen. So ein Verhältnis wie zwischen ihm und Markus war lau. Reizlos. Langweilig. Der Quotenkiller für jedes Drehbuch. Dieser Gedanke brachte Fredo wieder zurück ins Hier und Jetzt. Er hatte noch ein Drehbuch fertig zu schreiben. Verglichen mit einem Leben in Bornstedt erschien ihm diese Aufgabe plötzlich als gar nicht mehr so übel.
Irgendetwas stimmte nicht. Das bemerkte Fredo sofort, als er wieder das Büro betrat. Bert Schmidtbauer saß geduckt auf seinem Schreibtischstuhl, hielt das Kinn in den Abgründen des Übergrößenkragens verborgen und erinnerte damit stark an eine verschreckte Schildkröte. »Die Chefin war eben hier«, verkündete er mit Grabesstimme. »Wir haben jetzt fünf Wochen in Folge an Quote verloren. Sie hatte heute Morgen eine Telefonkonferenz mit den Verantwortlichen beim Sender. Es gibt Konsequenzen ...«
Fredo ahnte, was kommen musste - glaubte es allerdings noch nicht.
»Die neuen Dialogautoren kommen morgen um elf Uhr.« Bert Schmidtbauer sah Fredo nicht an. »Zwei Frauen, frisch von der Filmhochschule. Die bringen den nötigen Teen Spirit in unsere Novela, sagt die Chefin. Tut mir leid, Fredo. Du bist raus ...«
»Was machst du jetzt?«
Das war die Frage, die Bert Schmidtbauer bereits seit einer Stunde auf den Lippen lag und um die sich Fredo bis jetzt herumgedrückt hatte. Sie saßen in einer Sportbar in der Nähe des Kollwitzplatzes - einer Gegend mit scheinbar typisch Berliner Ambiente, deren Bewohner allerdings von überall her stammten, bloß nicht aus Berlin. Fredo wusste das, weil er auch hier wohnte. Und ebenfalls kein geborener Berliner war. Deshalb versammelten sich in der Sportbar vor den zahlreichen Flatscreens an Bundesligaspieltagen jede Menge Zugezogene und grölten bei Buletten und Berliner Weißer für Hamburg, Köln oder München. Heute hatte die Bundesliga jedoch spielfrei. Auf den Bildschirmen flimmerten Eurosport-Reportagen aus der englischen Premier League. Fredo wartete die Zeitlupenwiederholung einer - auch nach britischen Maßstäben - rustikalen Blutgrätsche ab und wandte sich Bert zu, der immer noch auf eine Antwort wartete.
»Ich geh pinkeln.«
»Bis zur Rente?«
Fredo schenkte dem Kollegen ein müdes Lächeln. Mehr war der Witz nicht wert, befand er, während er in die Kneipenkatakomben strebte, wo neckische, geschlechtsbetonte Piktogramme willigen WC-Pilgern den Weg wiesen. Wahrscheinlich waren seine eigenen Witze meist auch nicht besser. Jedenfalls die, mit denen er die Telenovela-Dialoge fütterte. Das war ja auch keine Arbeit, an die man sein Bestes verschwendete. Keine Arbeit, der man nachtrauern sollte. Also kein Grund, sich jetzt beschissen zu fühlen. Was leider der Fall war.
In den Pissoirs simulierten eingelegte, grasgrüne Plastikgeflechte echte mit Fußballfeldmarkierungen gediegene Stadionatmosphäre. In jeder Schüssel gab es sogar kleine Fußballtore, die sich per Urinstrahl anvisieren ließen. Fredo legte an und verwandelte souverän oben rechts in den Winkel. Unhaltbar. Reif für die Premier-Power-Pisser-League. Wäre live auf Eurosport bestimmt der Heuler. Fredo schüttelte die letzten Tropfen ins Abseits, verpackte seinen Torjäger und zog energisch den Reißverschluss der Jeans hoch. Vorm Waschbecken war der kurzfristige Energieschub allerdings schon wieder verpufft. Fredo ließ Wasser über die Hände rinnen und starrte sich im stockfleckigen Spiegel an. Fredo Fried, vor vierunddreißig Jahren als Landei im Nirgendwo der norddeutschen Tiefebene - sprich: Bornstedt - gestartet. Nach dem Abi ab in die Großstadt, erst Köln, später Berlin, nie wieder Provinz. Diverse angefangene und abgebrochene Studiengänge. Es hatte ihm nicht am Stehvermögen gemangelt, um ein Studium zu Ende zu führen. Es hatte bloß immer wieder etwas gegeben, was Fredo interessanter fand als das, womit er sich gerade beschäftigte. Bei den Jobs lief es lange genauso, bis er bei der Fernsehschreiberei hängen geblieben war. Aber diesmal war es entschieden anders als früher: Es gab nichts, was er gerade interessanter gefunden hätte - und das, obwohl er seinen Job bei der SIGMA schon lange hasste. Irgendwie war ihm die Begeisterungsfähigkeit abhanden gekommen. Lag das etwa am Alter?
© 2012 Knaur Taschenbuch
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Autoren-Porträt von Jan Schröter
Schröter, JanJan Schröter, geboren 1958 in Hamburg, studierte Sonderpädagogik und Germanistik und führte danach einige Jahre eine eigene Buchhandlung. Seit 1995 schreibt er Drehbücher für große Fernsehproduktionen ("Großstadtrevier", "Alphateam", "Traumschiff") sowie Reisebücher und Kriminalromane. "Rettungsringe" ist sein dritter Roman bei Knaur.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jan Schröter
- 2012, 2. Aufl., 295 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426509393
- ISBN-13: 9783426509395
- Erscheinungsdatum: 23.02.2012
Rezension zu „Mogelpackung “
"Schröter leuchtet die Abgründe seiner Figuren fein aus und stellt die großen Fragen des Lebens. Wo komme ich her? Wer will ich sein? Und was bleibt von mir, wenn ich vergess, wer ich war?" Brigitte 20120530
Pressezitat
"Schröter leuchtet die Abgründe seiner Figuren fein aus und stellt die großen Fragen des Lebens. Wo komme ich her? Wer will ich sein? Und was bleibt von mir, wenn ich vergess, wer ich war?" Brigitte 20120530
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