Morgen bist du noch da
Roman. Originalausgabe
Weil man erst verstehen muss, bevor man verzeihen kann
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Taschenbuch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Morgen bist du noch da “
Weil man erst verstehen muss, bevor man verzeihen kann
Klappentext zu „Morgen bist du noch da “
Als Lio und ihre Mutter sich nach einer längeren Funkstille in Berlin wiedersehen, bricht die Tochter das größte Tabu. Sie fragt, wer ihr Vater ist. Die Mutter antwortet nicht und geht zurück ins Hotel, wo sie nachts einen Schlaganfall erleidet. Lio erkennt: Sie muss wissen, wer ihre Mutter wirklich ist. Die Suche nach ihrer Familiengeschichte beginnt und führt sie über Köln zurück nach Berlin. Und als sie Antworten findet, ist nichts mehr, wie es einmal war.
Lese-Probe zu „Morgen bist du noch da “
Morgen bist du noch da von Mila Lippkexxxxxx
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Sonnenlicht dringt warm durch den Spalt zwischen den Holzbrettern vor den Fenstern. Als das Mädchen die Finger danach ausstreckt, fühlt die Haut sich golden an. Hinter den Brettern kann sie den Himmel sehen, der zu einem wässrigen Grau wird mit einer Spur Gelb darin. Wenn sie ein Auge zukneift und das andere an den Spalt presst, vermag sie auch die Äste des Baumes zu erkennen, in dessen sattgrünen Blättern sich Vögel versteckt halten. So wie sie hier unter dem Dach.
Doch die Vögel dürfen singen und streiten. Das Mädchen muss schweigen.
Abrupt dreht sie sich um, als hätte ihr Rücken gespürt, dass Mama sie zu sich winkt. Sie blinzelt, da sie sich an die Dunkelheit erst wieder gewöhnen muss.
In der Stille hört sie das Atmen der Menschen, die sich auf dem Dachboden befinden, drei Frauen, zwei Männer; sie ist das einzige Kind. Es riecht säuerlich und nach Staub, als das Mädchen die Decken zur Seite schlägt, die an Balken hängen, um die Betten abzutrennen. In einem dieser Deckenräume schläft sie mit Mama.
Wenn es draußen vor dem Spalt ganz schwarz geworden sein wird, werden sie sich dicht an dicht auf die Matratze legen. Dann wird sie Mamas Herzschlag spüren, als wäre es ihr eigener, und ihre Nase in Mamas Haar vergraben, das den Geruch der Wolldecke angenommen hat, unter der das Mädchen schläft, und den von Milch, die zu lange im Warmen steht. Mama wird ihr Wörter zuflüstern, geheimnisvolle Namen von Farben, Zauberworte wie Lichtblau und Indigo, Mauve und Purpur, Orange und Ocker, Grünspan und Kupferrot.
Das Mädchen blickt in den Schatten, der es umgibt, und stellt sich vor, wie die Farben zu den Namen aussehen. In der Dämmerung erkennt sie die Umrisse des Koffers, darüber eine Spitzendecke, deren Muster sie mit den Fingern unzählige Male nachgefahren ist, und darauf zwei Tassen. Das Porzellan hebt sich hell ab. Obwohl es fast zu dunkel dafür ist, sieht das Mädchen das Blumenmuster deutlich vor sich, das auf die Tassen gemalt ist. Sacht streicht sie darüber, darum bemüht, nichts zu zerbrechen und keinen Lärm zu machen. Ihre Fingerkuppen spüren die sanften Erhebungen der Blumen und Blätter. Dort, wo der Pinsel mehr Farbe aufgetragen hat, fühlt es sich an wie eine Borke, die über einer aufgeschürften Stelle am Knie gewachsen ist. Lange hat das Mädchen keine Borken mehr gehabt, weil es nicht umherlaufen und springen darf.
Die Dunkelheit verschluckt die Farben des Blumenmusters, aber das Mädchen kennt ihre Namen. Sie weiß, dass die Kornblumen darauf von einem Blau sind, das Mama Königsblau nennt. Der Mohn ist zinnoberrot, die kleineren Butterblumen sind goldgelb. Geschwungene Linien aus Oliv, Schwarz und Lindgrün bilden die Stängel der Blüten, die nie verwelken. Das Mädchen denkt sich die Farben dazu, während es das Muster erfühlt. Sie liebt den Übergang von dem glatten Porzellan zu der stumpferen Farbschicht.
Mama spricht nicht, als sie den Teekessel nimmt und mit einem leisen Geräusch kaltes Wasser in die Tassen gießt. Das Mädchen fühlt, wie Mama lächelt. Sie sieht ihre halb geschlossenen Augen vor sich, die leicht gekräuselte Nase und die nach oben gebogenen Mundwinkel. Mama lächelt immer, wenn sie das Spiel mit den Tassen spielen.
Ein warmer Strom erfüllt das Mädchen. Sie hakt ihren Zeigefinger im Henkel fest. Das Porzellan drückt sich hart in den Finger. Den Daumen presst sie von oben dagegen, wie sie es bei Mama beobachtet hat. Als sie die Tasse anhebt, ertönt ein Schaben, ein leichtes Kratzen auf dem Unterteller. Das Mädchen nimmt die andere Hand zur Hilfe. Mit Herzklopfen umgreift sie die Tasse, die schwer wiegt. Ihre Handinnenflächen beginnen zu schwitzen. Immer fester klammert sie sich an das Porzellan. Das Mädchen atmet tief, als es die Tasse an die Lippen führt. Sie sieht sie schon zu Boden fallen, sieht sie in unendlich viele Stücke zerbrechen, sieht Mamas Hand auf ihr Gesicht zufliegen, wo sie einen kurzen Schmerz und ein langes Brennen auf der Wange hinterlässt.
Zitternd stellt das Mädchen die Tasse auf dem Unterteller ab. Es ist nichts passiert.
xxxxxx
1.
Die Nadel stach von unten durch den Stoff und zerteilte das zarte Gewebe. Ich zog sie hervor, bis der Faden gestrafft war, dann durchbrach ich mit der Spitze den Stoff an einer anderen Stelle. Ein roter Stich blieb auf dem weißen Untergrund im Stickrahmen zurück. Ich wusste noch nicht, was daraus werden sollte; am wahrscheinlichsten war es, dass ich die Stickerei am Ende wieder auftrennen würde. Ich stickte einfach drauflos, weil es half, meine Gedanken zu verlangsamen, die von einer inneren Unruhe mal hierhin, mal dorthin gezogen wurden.
Wann immer ich mit der Nadel arbeitete, war ich ganz bei mir, ganz in mir. Ich saß im Licht der frühen Märzsonne auf dem Boden meines Ateliers, ein buntes Kissen als Unterlage, und nahm meine Umwelt kaum wahr, hörte den Baustellenlärm nur mehr gedämpft, so sehr konzentrierte ich mich auf die winzigen Stiche. Es war eine Handarbeit, in die nicht nur meine Finger involviert waren, sondern mein ganzer Körper, und aus der ich aufschreckte, als Tetra unvermittelt vor mir stand. Sie klimperte mit dem Schlüssel zu meinem Wohnatelier, den ich ihr vor Jahren anvertraut hatte. Es gab mir wie sonst auch ein warmes Gefühl, wenn sie ihn benutzte. Ich wusste, dass Tetra sich immer um mich sorgen würde.
Obwohl sie die Lippen bewegte, verstand ich kein Wort. »Was hast du gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf und stellte die Musikanlage aus.
»Du hast nicht aufs Klingeln reagiert.« Meine Freundin beugte sich zu mir hinunter und küsste mich auf die Wangen. Ihr vertrauter Duft nach Vanille mit einem Hauch Salbei streifte mich.
»Schön, dass du da bist. Ich bin so froh, nicht allein zur Ausstellungseröffnung zu müssen«, gestand ich.
Tetra winkte ab, als wolle sie sagen, das sei doch eine Selbstverständlichkeit. Das war es in unserer Freundschaft sicher auch, dennoch fühlte ich mich erleichtert. Ich zog ein weiteres Sitzkissen heran, ein tibetisches mit naiven rosafarbenen Stickereien. Die Kissen waren die einzigen Farbtupfer, die ich in meinem spärlich möblierten, ganz in Weiß, Holz und Stahl gehaltenen Wohnatelier duldete. Sie waren verrückbar und damit jederzeit transportierbar wie die Materialinseln, die ich auf dem Boden aufschichtete, wenn ich an einem Kunstprojekt arbeitete.
Ich sammelte alles, was mich inspirierte: Puppenköpfe, Stoffe, sogar alte Teppiche. Durch diese Inseln war meist ein großes Sammelsurium um mich, deshalb ertrug ich wenig andere Dinge. Tapeten, Vorhänge oder Regalwände, all das lenkte meinen Blick ab, also verzichtete ich lieber darauf. Meine Bücher stapelte ich aus diesem Grund neben meiner Matratze. Wenn der Stapel zu hoch wurde, sortierte ich aus. Einen Kleiderschrank brauchte ich auch nicht. Meine Sachen hingen auf einem Ständer mit Rollen, das genügte.
»Pass auf, ich habe uns Chai mitgebracht. Ich koche den Tee auf, während du das Kleid anprobierst, okay?« Tetra holte besagtes Kleid aus einer der mitgebrachten Stofftaschen, auf die ihr Name aufgedruckt war: Tetra von Hannover. Ihr Modelabel hieß genauso. »Wann triffst du dich noch mal mit der Journalistin vom ArtMag?«, wollte sie wissen.
»Um sechs. In der Galerie.«
Mit einer chinesischen Isolierkanne, rote Blumen auf türkisfarbenem Grund, ging sie in die Küche, die bloß aus einer schmalen Zeile in meinem weitläufigen Atelier bestand. Sie schüttete den Tee in einen Topf, den sie auf die Gasflamme stellte. Ich hatte nur eine kleine Kochstelle, keinen richtigen Herd. Vor allem keinen Backofen.
»Dann müssen wir uns wohl beeilen«, sagte sie.
Ich legte den Stickrahmen zur Seite und zog mich aus.
Von den Nägeln, die ich in die Wand über der Spüle geschlagen hatte, nahm Tetra zwei Porzellantassen vom Flohmarkt, deren Blumenmuster ich so wunderbar kitschig fand. Mit dem Wasserdampf atmete ich kurz darauf die Gerüche von Zimt, Nelken und Kardamom ein und fühlte mich trotz aller Aufregung beruhigt und geborgen. Ich werde ihr jetzt sagen, dass ich schwanger bin, dachte ich.
»Nun zieh es endlich an.« Tetra stellte meine Tasse auf den aus alten Dielen gezimmerten Tisch, der mitten im Raum stand und die Küchenzeile vom Bett trennte.
Wände empfand ich als einengend, genau wie Mauern, die mich einsperrten. Die Weite gab mir Freiraum. Je nach den Lichtverhältnissen arbeitete ich überall im Atelier, und ich liebte und brauchte diese Wahlmöglichkeiten.
Ich schlüpfte in das Kleid. Auf den ersten Blick wirkte es wie Hippie-Patchwork mit den vielen gemusterten Stoffen, aber die blassen Farben und der an die vierziger Jahre angelehnte Schnitt glichen den Eindruck aus. Die meisten der verwendeten Stoffe waren im Ton kaum zu unterscheiden, grau mit einem etwas dunkleren graphischen Muster darin. Der Kragen, die kurzen Ärmel und der gerüschte Saum waren von einem verwaschenen Rosa.
Obwohl ich es mir längst hätte leisten können, bestand Tetra darauf, mir das Kleid für die Ausstellungseröffnung zu schenken. Im Austausch dafür sollte ich bei ihrer nächsten Modenschau mitlaufen, ein Wunsch, dem ich nur zögernd entsprochen hatte. Auch wenn sie nie professionelle Models auf den Laufsteg ließ, sondern ausschließlich befreundete Frauen, egal wie groß und mit welcher Figur, war mir der Gedanke unangenehm. Ich stand nicht gerne ohne meine Kunst im Licht der Öffentlichkeit. Ohne meine Werke fühlte ich mich nackt.
Im Vorfeld hatte Tetra Maß genommen und mich bei Farben und Mustern zu meiner Ansicht befragt, ansonsten hatte sie sich absolute kreative Freiheit ausgebeten. Ich war gespannt auf das Endprodukt. Ihre Entwürfe waren immer einzigartig, immer besonders, weil sie gelernt hatte, Vertrautes aus dem Kontext zu lösen und es mit ungewöhnlichen Details zu etwas Einmaligem zusammenzufügen. Sie hatte mit Sachen vom Flohmarkt und aus Altkleidertüten begonnen, die sie zu neuen Kleidungsstücken aneinandergenäht hatte.
Damals hatten wir uns gerade kennengelernt. Mittlerweile war sie gut im Geschäft. Den Stoff ihrer Modelle ließ sie nun in einer kleinen Weberei in Indien zu fairen Preisen anfertigen. Genäht wurde ausschließlich in Berlin von Frauen in Tetras Werkstatt. Frauen, die keine Berufsausbildung und keine Lebensperspektive hatten und die sie selbst mit viel Verständnis anlernte. Bevor sich meine Kunst allmählich zu rentieren begonnen hatte, hatte auch ich zwischen den diversen Künstlerstipendien, mit denen ich mich vornehmlich finanziert hatte, bei ihr gearbeitet.
Um mich im Ganzen sehen zu können, musste ich auf einen Stuhl steigen, denn mein einziger Spiegel hing neben der Eingangstür. Das Kleid war hochgeschlossen, am Oberkörper eng anliegend, und ab der Hüfte warf der Rock leichte Falten. Ich wirkte wie eine Internatsschülerin, Gouvernante und Hure zugleich. Die Stoffknöpfe wanderten so über den Busen, dass sie wie Brustwarzen aussahen.
»Es ist perfekt!«, gestand ich und fühlte mich auf eine seltsame Art schön, begehrenswert und besonders. Tetras Kleider hatten diesen Effekt auf ihre Trägerinnen.
Doch der Blick meiner Freundin blieb kritisch. »Hast du zugenommen?«
Ich leckte mir mit der Zunge über die spröden Lippen und suchte nach Worten, um meinen Zustand zu beschreiben, die nicht ganz so fatalistisch klangen wie der Satz »Ich bin schwanger«, der mir als einziger einfiel.
»Zieh's noch mal aus. Das spannt hier so.« Tetra griff nach der mitgebrachten Schere, mit der sie eine Naht auftrennte, während ich in BH und Unterhose vor ihr stand.
Ich blickte wieder in den Spiegel, diesmal mitten in mein Gesicht. Die Falten auf der Stirn hatten sich eingegraben, und meine Augen waren rot geädert und verquollen. Mit Make-up und guter Laune konnte ich gerade noch als Mitte dreißig durchgehen. Allerdings nicht an diesem Tag. Vor Aufregung hatte ich in der Nacht schlecht geschlafen. Nicht nur wegen der Ausstellungseröffnung, sondern weil mir der Gedanke gekommen war, dass das Ausbleiben meiner Menstruation womöglich nicht mit einem verfrühten Einsetzen der Menopause zu tun haben könnte. Und am Morgen hatte ich mir dann einen Schwangerschaftstest in der Drogerie besorgt.
Ich blickte tiefer. Mein Spiegelbild hatte die Hand auf den Bauch gelegt. Ich nahm sie sofort weg.
Der Gedanke, dass da ein Lebewesen in mir heranwuchs, war unerträglich für mich. Ich wollte kein Kind.
Ich sah zu Tetra hinüber. Die kinnlangen, pechschwarz gefärbten Haare fielen ihr ins Gesicht, während sie die Naht versetzte. Wir hatten in den vergangenen Wochen oft gemeinsam gearbeitet, meist in ihrer Wohnarbeitsküche. Sie hatte genäht und neue Entwürfe gezeichnet, und ich hatte meine Ausstellungsstücke bestickt, die nun zum ersten Mal in der Galerie Zazewitz präsentiert werden sollten. Dabei brauchten wir nicht viel zu reden, um unsere Vertrautheit und Intimität wachsen zu lassen, falls dies überhaupt noch möglich war.
»Ich bin schwanger«, sagte ich endlich.
»Was?« Es war nicht ganz klar, ob Tetra mich wirklich nicht verstanden hatte oder ob sie noch Zeit brauchte, um das Gesagte zu verdauen.
»Ich bin schwanger«, wiederholte ich und dachte an ihren nicht erfüllten Kinderwunsch.
Meine Freundin blickte auf. Ihr Gesicht zeigte keinen deutbaren Ausdruck, blieb seltsam leer. »Seit wann?«
»Fünf, sechs Wochen vielleicht ... « Mit einer Handbewegung wischte ich den Satz beiseite.
Tetra schrie auf, steckte den Zeigefinger in den Mund und lutschte daran. Die unzähligen Silberringe an ihren Ohrmuscheln klirrten, als sie den Kopf schüttelte. Langsam atmete sie aus, dabei legte sie das Kleid zur Seite. Mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln klopfte sie auf das Holz meines Tisches.
»Mensch, Lio, wie konnte das passieren? Warum hast du nicht aufgepasst?«
Ich fühlte Ärger und Enttäuschung in mir aufsteigen, weil sie bedenkenlos davon ausging, dass ich das Kind nicht wollte. Nun war ich erst recht verwirrt. Wie konnte ich darüber sauer sein? Ich hatte nie ein Kind gewollt, das wusste Tetra. Niemals wollte ich einem anderen Menschen antun, was mir in der Kindheit widerfahren war. Niemanden konnte ich diesem Grau ausliefern, in dem ich früher gelebt hatte.
Meine Freundin trennte den Faden mit den Zähnen ab. »Und was sagt er dazu?«
»Er weiß es noch gar nicht.« Er war Dominic, mein Lover. Mein verheirateter Liebhaber. Wir hatten uns damit eingerichtet, und ich mochte nichts daran verändern. »Wozu auch?«
Ich merkte, dass die Schwangerschaft sich zwischen mich und Tetra schob und fühlte den Druck, sie mir selbst zu erklären. »Ich kann nicht sagen, wie es passiert ist. Irgendwann werden wir nicht verhütet haben, was weiß ich. Ich bin jetzt zweiundvierzig, ich habe nicht im Traum an ein Kind gedacht.«
»Du willst es doch nicht, oder?«
Eigentlich kannte ich Tetra so gut wie sonst keinen Menschen, dennoch konnte ich in diesem Moment nicht feststellen, welchen Unterton ihre Frage hatte.
Schon damals, zu unserer Zeit als Hausbesetzerinnen, war sie meine beste Freundin gewesen. Sie hatte mich in ihrem Bauwagen an der Mauer wohnen lassen, als ich zum ersten Mal in Berlin gestrandet war. Wir hatten nicht nur die auf dem Campingkocher gegarten Spaghetti und ihren Schlafsack, sondern auch die Krätze miteinander geteilt. Gemeinsam hatten wir mit neunzehn Jahren die Kali-Sisters gegründet, eine kleine Gruppe von Anarcha-Syndikalistinnen, die sich den Gebärstreik zur Aufgabe gemacht hatten.
Unter den modebewussten Berlinerinnen war es seit einigen Jahren ausgesprochen angesagt, in einer Kreation von Tetra von Hannover, die sie in ihrem Laden verkaufte, Johannisbeerschorle trinken zu gehen.
Keine der Frauen ahnte, wie sich der Name der Designerin eigentlich zusammensetzte. Er war ein Relikt aus unseren frühen Zwanzigern, abgeleitet von den Tetra Paks, aus denen wir damals Wein mit so romantischen Bezeichnungen wie »Fortune du Clochard« kippten. Er war ebenso ein Überbleibsel aus jenen Jahren wie die tätowierten Fäuste auf Tetras Rücken. Dass sie den Namen nicht abgelegt hatte, machte sie so authentisch, obwohl sie Wein, selbstverständlich biologisch dynamisch angebaut, längst nur noch aus Flaschen trank. Hannover wiederum war der Ort, an dem Tetra grandiose Chaostage verlebt hatte, bevor sie sich entschloss, ihrem Leben noch einen anderen Inhalt als regelmäßige Vollräusche zu geben.
Ich wusste alles von ihr und sie von mir. Dennoch wusste ich nicht, welche Gedanken ihr durch den Kopf gingen, während sie in meinem Atelier saß und schwieg. Ich befürchtete, dass ich sie an ihre Fehlgeburt erinnert hatte.
Um frische Luft hereinzulassen und die Zeit der drückenden Stille zu überbrücken, öffnete ich eines der Fenster in der breiten Front. Gegenüber wurde gerade ein Haus abgerissen. Ein Teil des Dachstücks war bereits abgedeckt, die Balken wurden zersägt. Das Geheul der Motorsägen drang bedrohlich herüber. »Was denkst du?«, fragte ich, weil ich es nicht länger aushielt, zu warten.
...
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012
Sonnenlicht dringt warm durch den Spalt zwischen den Holzbrettern vor den Fenstern. Als das Mädchen die Finger danach ausstreckt, fühlt die Haut sich golden an. Hinter den Brettern kann sie den Himmel sehen, der zu einem wässrigen Grau wird mit einer Spur Gelb darin. Wenn sie ein Auge zukneift und das andere an den Spalt presst, vermag sie auch die Äste des Baumes zu erkennen, in dessen sattgrünen Blättern sich Vögel versteckt halten. So wie sie hier unter dem Dach.
Doch die Vögel dürfen singen und streiten. Das Mädchen muss schweigen.
Abrupt dreht sie sich um, als hätte ihr Rücken gespürt, dass Mama sie zu sich winkt. Sie blinzelt, da sie sich an die Dunkelheit erst wieder gewöhnen muss.
In der Stille hört sie das Atmen der Menschen, die sich auf dem Dachboden befinden, drei Frauen, zwei Männer; sie ist das einzige Kind. Es riecht säuerlich und nach Staub, als das Mädchen die Decken zur Seite schlägt, die an Balken hängen, um die Betten abzutrennen. In einem dieser Deckenräume schläft sie mit Mama.
Wenn es draußen vor dem Spalt ganz schwarz geworden sein wird, werden sie sich dicht an dicht auf die Matratze legen. Dann wird sie Mamas Herzschlag spüren, als wäre es ihr eigener, und ihre Nase in Mamas Haar vergraben, das den Geruch der Wolldecke angenommen hat, unter der das Mädchen schläft, und den von Milch, die zu lange im Warmen steht. Mama wird ihr Wörter zuflüstern, geheimnisvolle Namen von Farben, Zauberworte wie Lichtblau und Indigo, Mauve und Purpur, Orange und Ocker, Grünspan und Kupferrot.
Das Mädchen blickt in den Schatten, der es umgibt, und stellt sich vor, wie die Farben zu den Namen aussehen. In der Dämmerung erkennt sie die Umrisse des Koffers, darüber eine Spitzendecke, deren Muster sie mit den Fingern unzählige Male nachgefahren ist, und darauf zwei Tassen. Das Porzellan hebt sich hell ab. Obwohl es fast zu dunkel dafür ist, sieht das Mädchen das Blumenmuster deutlich vor sich, das auf die Tassen gemalt ist. Sacht streicht sie darüber, darum bemüht, nichts zu zerbrechen und keinen Lärm zu machen. Ihre Fingerkuppen spüren die sanften Erhebungen der Blumen und Blätter. Dort, wo der Pinsel mehr Farbe aufgetragen hat, fühlt es sich an wie eine Borke, die über einer aufgeschürften Stelle am Knie gewachsen ist. Lange hat das Mädchen keine Borken mehr gehabt, weil es nicht umherlaufen und springen darf.
Die Dunkelheit verschluckt die Farben des Blumenmusters, aber das Mädchen kennt ihre Namen. Sie weiß, dass die Kornblumen darauf von einem Blau sind, das Mama Königsblau nennt. Der Mohn ist zinnoberrot, die kleineren Butterblumen sind goldgelb. Geschwungene Linien aus Oliv, Schwarz und Lindgrün bilden die Stängel der Blüten, die nie verwelken. Das Mädchen denkt sich die Farben dazu, während es das Muster erfühlt. Sie liebt den Übergang von dem glatten Porzellan zu der stumpferen Farbschicht.
Mama spricht nicht, als sie den Teekessel nimmt und mit einem leisen Geräusch kaltes Wasser in die Tassen gießt. Das Mädchen fühlt, wie Mama lächelt. Sie sieht ihre halb geschlossenen Augen vor sich, die leicht gekräuselte Nase und die nach oben gebogenen Mundwinkel. Mama lächelt immer, wenn sie das Spiel mit den Tassen spielen.
Ein warmer Strom erfüllt das Mädchen. Sie hakt ihren Zeigefinger im Henkel fest. Das Porzellan drückt sich hart in den Finger. Den Daumen presst sie von oben dagegen, wie sie es bei Mama beobachtet hat. Als sie die Tasse anhebt, ertönt ein Schaben, ein leichtes Kratzen auf dem Unterteller. Das Mädchen nimmt die andere Hand zur Hilfe. Mit Herzklopfen umgreift sie die Tasse, die schwer wiegt. Ihre Handinnenflächen beginnen zu schwitzen. Immer fester klammert sie sich an das Porzellan. Das Mädchen atmet tief, als es die Tasse an die Lippen führt. Sie sieht sie schon zu Boden fallen, sieht sie in unendlich viele Stücke zerbrechen, sieht Mamas Hand auf ihr Gesicht zufliegen, wo sie einen kurzen Schmerz und ein langes Brennen auf der Wange hinterlässt.
Zitternd stellt das Mädchen die Tasse auf dem Unterteller ab. Es ist nichts passiert.
xxxxxx
1.
Die Nadel stach von unten durch den Stoff und zerteilte das zarte Gewebe. Ich zog sie hervor, bis der Faden gestrafft war, dann durchbrach ich mit der Spitze den Stoff an einer anderen Stelle. Ein roter Stich blieb auf dem weißen Untergrund im Stickrahmen zurück. Ich wusste noch nicht, was daraus werden sollte; am wahrscheinlichsten war es, dass ich die Stickerei am Ende wieder auftrennen würde. Ich stickte einfach drauflos, weil es half, meine Gedanken zu verlangsamen, die von einer inneren Unruhe mal hierhin, mal dorthin gezogen wurden.
Wann immer ich mit der Nadel arbeitete, war ich ganz bei mir, ganz in mir. Ich saß im Licht der frühen Märzsonne auf dem Boden meines Ateliers, ein buntes Kissen als Unterlage, und nahm meine Umwelt kaum wahr, hörte den Baustellenlärm nur mehr gedämpft, so sehr konzentrierte ich mich auf die winzigen Stiche. Es war eine Handarbeit, in die nicht nur meine Finger involviert waren, sondern mein ganzer Körper, und aus der ich aufschreckte, als Tetra unvermittelt vor mir stand. Sie klimperte mit dem Schlüssel zu meinem Wohnatelier, den ich ihr vor Jahren anvertraut hatte. Es gab mir wie sonst auch ein warmes Gefühl, wenn sie ihn benutzte. Ich wusste, dass Tetra sich immer um mich sorgen würde.
Obwohl sie die Lippen bewegte, verstand ich kein Wort. »Was hast du gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf und stellte die Musikanlage aus.
»Du hast nicht aufs Klingeln reagiert.« Meine Freundin beugte sich zu mir hinunter und küsste mich auf die Wangen. Ihr vertrauter Duft nach Vanille mit einem Hauch Salbei streifte mich.
»Schön, dass du da bist. Ich bin so froh, nicht allein zur Ausstellungseröffnung zu müssen«, gestand ich.
Tetra winkte ab, als wolle sie sagen, das sei doch eine Selbstverständlichkeit. Das war es in unserer Freundschaft sicher auch, dennoch fühlte ich mich erleichtert. Ich zog ein weiteres Sitzkissen heran, ein tibetisches mit naiven rosafarbenen Stickereien. Die Kissen waren die einzigen Farbtupfer, die ich in meinem spärlich möblierten, ganz in Weiß, Holz und Stahl gehaltenen Wohnatelier duldete. Sie waren verrückbar und damit jederzeit transportierbar wie die Materialinseln, die ich auf dem Boden aufschichtete, wenn ich an einem Kunstprojekt arbeitete.
Ich sammelte alles, was mich inspirierte: Puppenköpfe, Stoffe, sogar alte Teppiche. Durch diese Inseln war meist ein großes Sammelsurium um mich, deshalb ertrug ich wenig andere Dinge. Tapeten, Vorhänge oder Regalwände, all das lenkte meinen Blick ab, also verzichtete ich lieber darauf. Meine Bücher stapelte ich aus diesem Grund neben meiner Matratze. Wenn der Stapel zu hoch wurde, sortierte ich aus. Einen Kleiderschrank brauchte ich auch nicht. Meine Sachen hingen auf einem Ständer mit Rollen, das genügte.
»Pass auf, ich habe uns Chai mitgebracht. Ich koche den Tee auf, während du das Kleid anprobierst, okay?« Tetra holte besagtes Kleid aus einer der mitgebrachten Stofftaschen, auf die ihr Name aufgedruckt war: Tetra von Hannover. Ihr Modelabel hieß genauso. »Wann triffst du dich noch mal mit der Journalistin vom ArtMag?«, wollte sie wissen.
»Um sechs. In der Galerie.«
Mit einer chinesischen Isolierkanne, rote Blumen auf türkisfarbenem Grund, ging sie in die Küche, die bloß aus einer schmalen Zeile in meinem weitläufigen Atelier bestand. Sie schüttete den Tee in einen Topf, den sie auf die Gasflamme stellte. Ich hatte nur eine kleine Kochstelle, keinen richtigen Herd. Vor allem keinen Backofen.
»Dann müssen wir uns wohl beeilen«, sagte sie.
Ich legte den Stickrahmen zur Seite und zog mich aus.
Von den Nägeln, die ich in die Wand über der Spüle geschlagen hatte, nahm Tetra zwei Porzellantassen vom Flohmarkt, deren Blumenmuster ich so wunderbar kitschig fand. Mit dem Wasserdampf atmete ich kurz darauf die Gerüche von Zimt, Nelken und Kardamom ein und fühlte mich trotz aller Aufregung beruhigt und geborgen. Ich werde ihr jetzt sagen, dass ich schwanger bin, dachte ich.
»Nun zieh es endlich an.« Tetra stellte meine Tasse auf den aus alten Dielen gezimmerten Tisch, der mitten im Raum stand und die Küchenzeile vom Bett trennte.
Wände empfand ich als einengend, genau wie Mauern, die mich einsperrten. Die Weite gab mir Freiraum. Je nach den Lichtverhältnissen arbeitete ich überall im Atelier, und ich liebte und brauchte diese Wahlmöglichkeiten.
Ich schlüpfte in das Kleid. Auf den ersten Blick wirkte es wie Hippie-Patchwork mit den vielen gemusterten Stoffen, aber die blassen Farben und der an die vierziger Jahre angelehnte Schnitt glichen den Eindruck aus. Die meisten der verwendeten Stoffe waren im Ton kaum zu unterscheiden, grau mit einem etwas dunkleren graphischen Muster darin. Der Kragen, die kurzen Ärmel und der gerüschte Saum waren von einem verwaschenen Rosa.
Obwohl ich es mir längst hätte leisten können, bestand Tetra darauf, mir das Kleid für die Ausstellungseröffnung zu schenken. Im Austausch dafür sollte ich bei ihrer nächsten Modenschau mitlaufen, ein Wunsch, dem ich nur zögernd entsprochen hatte. Auch wenn sie nie professionelle Models auf den Laufsteg ließ, sondern ausschließlich befreundete Frauen, egal wie groß und mit welcher Figur, war mir der Gedanke unangenehm. Ich stand nicht gerne ohne meine Kunst im Licht der Öffentlichkeit. Ohne meine Werke fühlte ich mich nackt.
Im Vorfeld hatte Tetra Maß genommen und mich bei Farben und Mustern zu meiner Ansicht befragt, ansonsten hatte sie sich absolute kreative Freiheit ausgebeten. Ich war gespannt auf das Endprodukt. Ihre Entwürfe waren immer einzigartig, immer besonders, weil sie gelernt hatte, Vertrautes aus dem Kontext zu lösen und es mit ungewöhnlichen Details zu etwas Einmaligem zusammenzufügen. Sie hatte mit Sachen vom Flohmarkt und aus Altkleidertüten begonnen, die sie zu neuen Kleidungsstücken aneinandergenäht hatte.
Damals hatten wir uns gerade kennengelernt. Mittlerweile war sie gut im Geschäft. Den Stoff ihrer Modelle ließ sie nun in einer kleinen Weberei in Indien zu fairen Preisen anfertigen. Genäht wurde ausschließlich in Berlin von Frauen in Tetras Werkstatt. Frauen, die keine Berufsausbildung und keine Lebensperspektive hatten und die sie selbst mit viel Verständnis anlernte. Bevor sich meine Kunst allmählich zu rentieren begonnen hatte, hatte auch ich zwischen den diversen Künstlerstipendien, mit denen ich mich vornehmlich finanziert hatte, bei ihr gearbeitet.
Um mich im Ganzen sehen zu können, musste ich auf einen Stuhl steigen, denn mein einziger Spiegel hing neben der Eingangstür. Das Kleid war hochgeschlossen, am Oberkörper eng anliegend, und ab der Hüfte warf der Rock leichte Falten. Ich wirkte wie eine Internatsschülerin, Gouvernante und Hure zugleich. Die Stoffknöpfe wanderten so über den Busen, dass sie wie Brustwarzen aussahen.
»Es ist perfekt!«, gestand ich und fühlte mich auf eine seltsame Art schön, begehrenswert und besonders. Tetras Kleider hatten diesen Effekt auf ihre Trägerinnen.
Doch der Blick meiner Freundin blieb kritisch. »Hast du zugenommen?«
Ich leckte mir mit der Zunge über die spröden Lippen und suchte nach Worten, um meinen Zustand zu beschreiben, die nicht ganz so fatalistisch klangen wie der Satz »Ich bin schwanger«, der mir als einziger einfiel.
»Zieh's noch mal aus. Das spannt hier so.« Tetra griff nach der mitgebrachten Schere, mit der sie eine Naht auftrennte, während ich in BH und Unterhose vor ihr stand.
Ich blickte wieder in den Spiegel, diesmal mitten in mein Gesicht. Die Falten auf der Stirn hatten sich eingegraben, und meine Augen waren rot geädert und verquollen. Mit Make-up und guter Laune konnte ich gerade noch als Mitte dreißig durchgehen. Allerdings nicht an diesem Tag. Vor Aufregung hatte ich in der Nacht schlecht geschlafen. Nicht nur wegen der Ausstellungseröffnung, sondern weil mir der Gedanke gekommen war, dass das Ausbleiben meiner Menstruation womöglich nicht mit einem verfrühten Einsetzen der Menopause zu tun haben könnte. Und am Morgen hatte ich mir dann einen Schwangerschaftstest in der Drogerie besorgt.
Ich blickte tiefer. Mein Spiegelbild hatte die Hand auf den Bauch gelegt. Ich nahm sie sofort weg.
Der Gedanke, dass da ein Lebewesen in mir heranwuchs, war unerträglich für mich. Ich wollte kein Kind.
Ich sah zu Tetra hinüber. Die kinnlangen, pechschwarz gefärbten Haare fielen ihr ins Gesicht, während sie die Naht versetzte. Wir hatten in den vergangenen Wochen oft gemeinsam gearbeitet, meist in ihrer Wohnarbeitsküche. Sie hatte genäht und neue Entwürfe gezeichnet, und ich hatte meine Ausstellungsstücke bestickt, die nun zum ersten Mal in der Galerie Zazewitz präsentiert werden sollten. Dabei brauchten wir nicht viel zu reden, um unsere Vertrautheit und Intimität wachsen zu lassen, falls dies überhaupt noch möglich war.
»Ich bin schwanger«, sagte ich endlich.
»Was?« Es war nicht ganz klar, ob Tetra mich wirklich nicht verstanden hatte oder ob sie noch Zeit brauchte, um das Gesagte zu verdauen.
»Ich bin schwanger«, wiederholte ich und dachte an ihren nicht erfüllten Kinderwunsch.
Meine Freundin blickte auf. Ihr Gesicht zeigte keinen deutbaren Ausdruck, blieb seltsam leer. »Seit wann?«
»Fünf, sechs Wochen vielleicht ... « Mit einer Handbewegung wischte ich den Satz beiseite.
Tetra schrie auf, steckte den Zeigefinger in den Mund und lutschte daran. Die unzähligen Silberringe an ihren Ohrmuscheln klirrten, als sie den Kopf schüttelte. Langsam atmete sie aus, dabei legte sie das Kleid zur Seite. Mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln klopfte sie auf das Holz meines Tisches.
»Mensch, Lio, wie konnte das passieren? Warum hast du nicht aufgepasst?«
Ich fühlte Ärger und Enttäuschung in mir aufsteigen, weil sie bedenkenlos davon ausging, dass ich das Kind nicht wollte. Nun war ich erst recht verwirrt. Wie konnte ich darüber sauer sein? Ich hatte nie ein Kind gewollt, das wusste Tetra. Niemals wollte ich einem anderen Menschen antun, was mir in der Kindheit widerfahren war. Niemanden konnte ich diesem Grau ausliefern, in dem ich früher gelebt hatte.
Meine Freundin trennte den Faden mit den Zähnen ab. »Und was sagt er dazu?«
»Er weiß es noch gar nicht.« Er war Dominic, mein Lover. Mein verheirateter Liebhaber. Wir hatten uns damit eingerichtet, und ich mochte nichts daran verändern. »Wozu auch?«
Ich merkte, dass die Schwangerschaft sich zwischen mich und Tetra schob und fühlte den Druck, sie mir selbst zu erklären. »Ich kann nicht sagen, wie es passiert ist. Irgendwann werden wir nicht verhütet haben, was weiß ich. Ich bin jetzt zweiundvierzig, ich habe nicht im Traum an ein Kind gedacht.«
»Du willst es doch nicht, oder?«
Eigentlich kannte ich Tetra so gut wie sonst keinen Menschen, dennoch konnte ich in diesem Moment nicht feststellen, welchen Unterton ihre Frage hatte.
Schon damals, zu unserer Zeit als Hausbesetzerinnen, war sie meine beste Freundin gewesen. Sie hatte mich in ihrem Bauwagen an der Mauer wohnen lassen, als ich zum ersten Mal in Berlin gestrandet war. Wir hatten nicht nur die auf dem Campingkocher gegarten Spaghetti und ihren Schlafsack, sondern auch die Krätze miteinander geteilt. Gemeinsam hatten wir mit neunzehn Jahren die Kali-Sisters gegründet, eine kleine Gruppe von Anarcha-Syndikalistinnen, die sich den Gebärstreik zur Aufgabe gemacht hatten.
Unter den modebewussten Berlinerinnen war es seit einigen Jahren ausgesprochen angesagt, in einer Kreation von Tetra von Hannover, die sie in ihrem Laden verkaufte, Johannisbeerschorle trinken zu gehen.
Keine der Frauen ahnte, wie sich der Name der Designerin eigentlich zusammensetzte. Er war ein Relikt aus unseren frühen Zwanzigern, abgeleitet von den Tetra Paks, aus denen wir damals Wein mit so romantischen Bezeichnungen wie »Fortune du Clochard« kippten. Er war ebenso ein Überbleibsel aus jenen Jahren wie die tätowierten Fäuste auf Tetras Rücken. Dass sie den Namen nicht abgelegt hatte, machte sie so authentisch, obwohl sie Wein, selbstverständlich biologisch dynamisch angebaut, längst nur noch aus Flaschen trank. Hannover wiederum war der Ort, an dem Tetra grandiose Chaostage verlebt hatte, bevor sie sich entschloss, ihrem Leben noch einen anderen Inhalt als regelmäßige Vollräusche zu geben.
Ich wusste alles von ihr und sie von mir. Dennoch wusste ich nicht, welche Gedanken ihr durch den Kopf gingen, während sie in meinem Atelier saß und schwieg. Ich befürchtete, dass ich sie an ihre Fehlgeburt erinnert hatte.
Um frische Luft hereinzulassen und die Zeit der drückenden Stille zu überbrücken, öffnete ich eines der Fenster in der breiten Front. Gegenüber wurde gerade ein Haus abgerissen. Ein Teil des Dachstücks war bereits abgedeckt, die Balken wurden zersägt. Das Geheul der Motorsägen drang bedrohlich herüber. »Was denkst du?«, fragte ich, weil ich es nicht länger aushielt, zu warten.
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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012
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Autoren-Porträt von Mila Lippke
Lippke, MilaMila Lippke, Jahrgang 1972, studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Heute arbeitet sie als Fernsehautorin in Köln. Das Herzstück ihrer Wohnung ist der antike Schreibtisch an dem sie ihre erfolgreichen Unterhaltungsromane und ihre historischen Krimis schreibt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mila Lippke
- 2011, 344 Seiten, Maße: 12,1 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283497
- ISBN-13: 9783548283494
- Erscheinungsdatum: 09.12.2011
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