Mutter Corsage
Enthüllungen einer Dessous-Verkäuferin
Heide Meyer hat über 50 Jahre in der Dessous-Branche gearbeitet und alle Modeentwicklungen hautnah miterlebt. Authentisch und unterhaltsam erzählt sie von ihren täglichen Erlebnissen z.B. von Männern, die für ihre Nichten...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Mutter Corsage “
Heide Meyer hat über 50 Jahre in der Dessous-Branche gearbeitet und alle Modeentwicklungen hautnah miterlebt. Authentisch und unterhaltsam erzählt sie von ihren täglichen Erlebnissen z.B. von Männern, die für ihre Nichten Reizwäsche kaufen, u.v.m.
Ein aufschlussreicher Blick in die Umkleidekabine.
Klappentext zu „Mutter Corsage “
Tanga, Push-up, Strapse: Heide Meyer weiß ganz genau, wie ihre Kundinnen eine gute Figur machen. Seit über fünfzig Jahren arbeitet sie als Dessous- Verkäuferin, und dabei hat sie einiges erlebt: Frauen, die jeden Preis zahlen, um den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen, und Männer, die Reizwäsche für ihre Nichten erstehen. Kaum jemand kommt seinen Kunden so nah wie eine Dessous- Verkäuferin. Authentisch, unterhaltsam und mit großer Leidenschaft für ihren Beruf erzählt Heide Meyer von ihren täglichen Erlebnissen und lädt ein zu einem höchst aufschlussreichen Blick in die Umkleidekabine.
Lese-Probe zu „Mutter Corsage “
Mutter Corsage von Heide Meyer mit Silke Kettelhake Vorwort
Mein Geschäft habe ich geliebt. 120000 Frauen mit ihren Wünschen und mit ihren Unsicherheiten sind durch meine Hände gegangen: Oberweite wie Unterlippe, dick, dünn, mollig, hängend, straff. Kaum eine wusste, dass sie bisher den falschen BH getragen hatte. Der einfach nicht saß. Zwickte. Da quoll was raus, was nicht raus sollte. Da rutschte was. Im Rücken Rötungen. Und unterm Arm schwitzen. Das geht doch nicht! Kaum eine hat diese 75 B oder C, entweder der Cup passt nicht, die Träger hängen oder der ganze BH sitzt plötzlich unterm Kinn. In den Siebzigern, in den Achtzigern trugen die meisten Frauen gar keinen. Bis sie zu mir kamen, zu Heide Meyer, zur »Lady M«, im Herzen von Berlin-Wilmersdorf. Und hier fanden sie sich wieder, als Frauen, als richtige Frauen, die stolz sind auf sich und ihren Körper. In der Kabine mit den dezent beleuchteten Spiegeln gibt es keine Lügen. Wenn ich so sachte hinter den Vorhang gehe, dann sehe ich sofort, an der Körperhaltung, an den Augen, wo das Problem liegt: Die Frau findet sich nicht schön. Wie kann ich ihr helfen? Ich will ja helfen, und ich kann es. Haben Sie einen Wunsch, meine Liebe, wissen Sie Ihre Größe? Ich will Sie ja nicht entmündigen, zu Anfang sollen Sie schon diese selbstbestimmte Kundin bleiben, als die sie gekommen sind ... vielleicht fühlen Sie sich nicht so gut in Ihrem ersten Set, dann bringe ich Ihnen schnell etwas anderes, das zu Ihrem Typ passt. Ich merke doch sofort, ob Sie drauf anspringen!
... mehr
Wenn Sie mir sagen, wir sind schon so lange verheiratet, seufze ich einmal tief in meine Oberweite. Das alte Eheleben retten? Oftmals ist es dann schon zu spät. Warum auch musste immer diese hautfarbene Funktionswäsche reichen? In der Kabine kommt schon mal die Frage, schüchtern oft, vielleicht ein Paar Strapse? Ich zeige Ihnen was, natürlich nicht gleich die ganz harte Nummer - die haben wir sowieso nicht vorrätig - schwarz und rot unterlegt, mit ein wenig Spitze. Dann gucken wir mal, wie Sie sich fühlen. Sie müssen sich gut fühlen, denn genau dann bringen Sie auch was rüber! Ich merke gleich, ob die Frauen damit zurechtkommen, aber oft wissen sie gar nicht, wie sie sich fühlen wollen. Sie merken es erst, wenn sie es anhaben: Dass sie toll aussehen! Dann komme ich und habe noch etwas Neues für sie. Das sind so Gespräche, die fangen ganz langsam an.
Heiraten wollte ich nicht, ich war ja viel zu sehr auf Job aus! Heiraten, das hat doch Zeit! Es war für mich nicht wichtig. Ich werde dir nicht die Knöppe annähen, und ich werde dir nicht jeden Morgen die Eier im Glas liefern - das bin ich einfach nicht. Sicherlich hat ihn das gereizt. Wir haben darüber nie gesprochen, dass ich eigentlich nicht heiraten wollte. Dennoch weiß ich endlich: Ich bin dort oben auch schon längst angekommen! Ich war immer diejenige, die das Geld zu vergeben hatte. Nicht umgekehrt! Ich war die Geschäftsfrau. Heute weiß ich ja, der Mann ist nicht der Starke, aber der Schein muss gewahrt bleiben. Da kommt mir die Wut. Auf das, was sich die Frauen selbst auferlegen.
Mein Lebenselixier ist: Ich will die Frauen schöner machen. Das ist meine Leidenschaft. Ich kann gar nicht anders. Ein Büstenhalter ist Magie. Besinnen Sie sich in einer schwierigen Diskussion mit einem Geschäftspartner einmal auf Ihren neuen Büstenhalter. Wie der sitzt. Wie der Sie hebt. Wie Sie sich fühlen. Halten Sie kurz inne. Und Sie haben das Match gewonnen. Ich möchte das Beste für Ihren Körper. Sie haben nur einen. Gehen Sie sorgsam mit ihm um.
Mit diesem Buch erzähle ich meine Lebensgeschichte, die Geschichte einer Frau, die in einer Zeit Karriere machte, als für sie ein Leben zwischen Küche und Kindern vorgesehen war. Gleichzeitig beschreibt der Wandel von einschnürenden Miederwaren zur modernen Des-sous-Welt einen gesellschaftlichen Bogen von über fünfzig Jahren. An dieser Stelle ein Hoch auf die Pariser Korsettmacherin Hermine Cadolle, die 1889 die Schere ans Korsett ansetzte, dieses in zwei Teile teilte und damit ihr »Büstenkorsettchen« patentieren ließ. Die Geschichte der Miederwaren ist eben auch Emanzipationsgeschichte!
Endlich leben Endlich leben Die Straße, in der wir wieder wohnen sollten, hatte keinen Namen mehr. Jeder Mensch braucht seine Straße. Wo er groß geworden ist, von der er sich entfernt. Es war Ende Juli 1945, die Ruinen klafften wie schwarze offene Münder in den verrußten Straßen, Schlünde, aus denen Menschen krabbelten und ungläubig in die Frühlingssonne blinzelten. Ein Hügelland aus Backstein, darunter die Verschütteten, darüber nur die Sterne. Was sich noch rührte, waren die Ratten. Der Krieg war aus, und wir konnten wieder zurück nach Berlin, in die Stadt, die es nicht mehr gab. Überall an den Häuserwänden mit Kreide gekritzelte, verzweifelte Suchmeldungen an Überlebende, mit der Mitteilung des neuen Zufluchtsortes vor den Bomben. Wir waren zurück in Reinickendorf und konnten im Haus meines Urgroßvaters, der während der Inflation Ende der Zwanziger viel zu billig verkaufen musste, in der Brienzer Straße zur Miete unterkommen. Zwei Zimmer zu ebener Erde, darüber drei Stockwerke, die schwere Eingangstür in der zerschossenen Gründerzeitfassade schloss nicht mehr. Die Mutter meiner Mutter hatte hier den Krieg überlebt. Mein Vater war tot, gefallen, ich kenne ihn nur vom Foto. Ein ganz junger Mann in Uniform, den Blick in eine nationalsozialistische Zukunft gerichtet. Die knallblauen Augen habe ich von ihm. 1945 war ich zwei Jahre alt, meine Schwester Karin wurde sechs. Meine Mutter, die Irmgard, hat alles geschafft. Immer. »Geht nicht, gibt's nicht«, sagte sie oft, warf dabei den Kopf in den Nacken und lachte ihr kleines, kurzes Lachen, das immer so siegesgewiss klang. Meine Mutter, Irmgard Globig, verheiratete Gerber, verheiratete Bruse, habe ich sehr geliebt. Sie war immer schick angezogen, immer auf Stil bedacht. Auf den Bildern von damals trägt sie Kostüm und passenden Hut, mit einem Wonneproppen auf dem Arm, der Segelohren hat und ein schiefes Grinsen und aussieht wie ein kleiner Junge. Das bin ich. Ein Familienfoto gibt es nicht.
Am 23. Juni 1943 hat meine Mutter mich geboren. Die Stadt brannte. Überall Rauch, überall schwarze Wolken, die Sirenen hörten nicht auf, Alarm zu geben. Detonationen, kurz wie ein Augenblinzeln, die schwarzen Dunstmassen, die Häuser, die mit einem rollenden Ruck zusammenfallen. Ein Wumms, den keiner je vergisst. Irmgard schaffte es irgendwie inmitten des Infernos in die Räume der Weddinger Heilsarmee. Nichts war geschützt, nicht ihr Leben, nicht meins, nicht das meiner Schwester Karin. Irmgard lag in den letzten Presswehen, an diesem Morgen, der kein richtiger Morgen war, weil es wegen des Feuers und der Rußwolken nicht mehr hell werden wollte. Es gab keinen Arzt, keinen Kinderarzt, keinen Gynäkologen. Nur die warmen wissenden Hände der Hebamme. Ich hätte gut und gerne auch im Bunker oder im Hauskeller zur Welt kommen können. Noch heute ist bei mir dieses Gefühl da, an Silvester, wenn die Feuerwerkskörper im Hof knallen. Die reine Angst. Überall brannte es, und mit dem Löschen kam niemand mehr hinterher. Nach dem Debakel von Stalingrad glaubte kaum einer noch an den Endsieg, und da half es meiner Mutter auch nicht, dass Goebbels in seiner Rede vom 18. Februar 1943 im Sportpalast sagte, dass aus der Bedrängtheit der Situation die nötigen Folgerungen zu ziehen seien. Goebbels war sich zu der Zeit sicher, dass wir Deutschen gewappnet seien gegen Schwäche und Anfälligkeit. Im September 1943, als kaum noch Züge gingen, sich die Massen der Flüchtenden in Richtung der Bahnhöfe in den dicken Wintermänteln schoben und nur noch Frauen mit Kindern die Stadt verlassen durften, ist meine Mutter mit ihren zwei kleinen Mädchen nach Ilmenau gefl üchtet, nach Thüringen, schon fast in Bayern. Ein furchtbares Gedränge am Bahnhof, wen nimmt der Zug noch mit? Wohin fährt er überhaupt? Weg, nur weg von den gespenstischen Fackeln der brennenden Häuser, der vielen, vielen verlorenen Zuhause. Ich selbst kann mich daran gar nicht erinnern, mit meinen paar Monaten, die ich auf der Welt war.
Wie sie uns da durchbrachte? Wir kamen auf der Silberfuchsfarm des Mannes meiner Tante Betti aus Eberswalde bei Berlin unter. Karin, die sich ja gerne schmückte, konnte später keinen Pelz tragen, weil sie sich so vor dem Fiepen und Scharren der eingesperrten Tiere fürchtete und ekelte. Mit dem Winteranfang, nur vier Monate nach meiner Geburt, erkrankte ich an einer Gehirnhautentzündung. Ich bekam hohes Fieber und lag apathisch in meinem improvisierten Bettchen. Meine Mutter hatte schreckliche Angst um mein Leben. Es war unmöglich, einen Arzt zu bekommen. Alle Ärzte waren im Städtischen Krankenhaus in vollem Einsatz, das als Reservelazarett diente und längst völlig überfüllt mit Soldaten war, die auf den Gängen lagen und denen keiner helfen konnte. Schon wenn Mutter nur die Tür öffnete, um nach mir zu sehen, begann ich zu schreien, so wie nur die Kleinen schreien können, wenn sie diese durch Mark und Bein gellende Angst um ihr Leben haben und am Schreien zu ersticken drohen. Nach einem Telefonanruf kam endlich ein Arzt, der sich um ihr Kind kümmern konnte, um ihr Kleinstes, ihren Sonnenschein, wie die Hebamme mich inmitten des Infernos taufte. Im Dezember dann erreichte Irmgard mit wochenlanger Verspätung die Nachricht, dass ihr Mann, unser Vater, gefallen ist. Überhaupt, es war wie ein Wunder, dass wir gleich im Juni 1945 zurück nach Berlin konnten. Meine Mutter, Kriegswitwe mit zwei kleinen Kindern, hockte mit uns im Inneren eines Güterwaggons. Wir konnten nicht hinaussehen und mussten in den Ewigkeiten des Wartens verharren, bis die Lokomotive nach unzählbaren, unvorhersehbaren Stationen wieder anruckte. Wie viele sind elendig verreckt auf den Flüchtlingstrecks, an der Front, in den KZs, es war ja die Zeit des großen Sterbens, in die ich hineingeboren wurde. In Angst, Hunger und Verzweiflung hatte uns das »Tausendjährige Reich« gestürzt. Ganz Deutschland war eine Ruinenlandschaft, zerstörte Hoffnungen, zerstörte Träume, zerstörte Seelen. Alle standen doch vor dem Nichts, den Trümmern ihrer Existenzen und mussten, jeder für sich, neu beginnen. Zurück in Berlin kam der Sommer. Und mit ihm die Lebenslust. So viel Elend, so viel verpasst, so viel Jugend, die gelebt werden wollte. Meine Mutter ging tanzen, wir blieben bei Oma. Irmgard zog allein los, ins »Kastanienwäldchen « in der zerbombten Residenzstraße, in Reinickendorf. Die Straße war wieder freigeräumt und halbwegs passierbar. Straßenbahnschienen ragten wie wirres Gedärm in der Mitte zwischen den Fahrdämmen auf. Zwischen den Trümmerhaufen duckte sich das kleine Haus ebenerdig unter seinem zusammengeflickten Dach. Von außen erschien das »Café Kastanienwäldchen« eher als eine typische Berliner Eckkneipe. Später ging ich abends dorthin mit dem Syphon zum Bier holen. Im »Kastanienwäldchen« wurde im Innenhof und im Saal getanzt, und zwar nonstop! Deshalb ging meine Mutter dorthin, jedes Wochenende meist schon nachmittags wegen der Ausgangssperre, die die Besatzungsmächte ab 18 Uhr verhängten. Die Kapelle spielte Jazz und Swing, als wenn nichts geschehen wäre und niemals mehr etwas Schlimmes geschehen könnte. Die Luft war elektrisch geladen. »Summertime« von Ira und George Gershwin war der Sommerhit, den meine Mutter immer summte, manchmal sang sie ihn auch, obwohl sie kein Englisch konnte. Sie hatte eine wunderbare Stimme: »Summertime and the livin' is easy; Fish are jumpin' and the cotton is high«.
Im Sommer darauf kam Karl-Heinz aus dem Krieg, der Zug spuckte ihn aus am Bahnhof Zoo, er kam aus Russland, hatte die Zehen und die Finger erfroren, kein Gefühl war mehr darin. Er irrte durch die Stadt, ließ sich treiben, vielleicht war er, mit sechs Jahren Krieg in den Knochen, ein wenig auf der Suche nach Warmherzigkeit, nach Obdach. Abenteuer und Irrsinn hatte er genug erlebt. Gerade fünfundzwanzig Jahre war er alt, als der Krieg endlich aus war, wie meine Mutter. Karl-Heinz war Flieger, wurde abgeschossen, er war kein Held mehr. Vielleicht gefiel genau das meiner Mutter, und aus Karl-Heinz wurde Peter. Ihr Peter, weil sie das so wollte. Den Namen Karl-Heinz mochte sie nicht. Geheiratet haben sie anstandsweise nach einem guten Vierteljahr am Samstag, dem 21. Dezember 1946. Meine Mutter wollte keine »Onkelehe«, wie es sie so viele in diesen Jahren gab. Wir hatten keinen Onkel Peter. Wir hatten einen Papa. Das war damals eine Zeit, in der die Menschen ganz andere Probleme als heute hatten. Viele kehrten aus dem Krieg mit seelischen und gesundheitlichen Leiden zurück, die sie ein Leben lang quälten. Dann kam das Weihnachten im ersten Nachkriegswinter, eine Weihnachtsgans kostete 1400 Reichsmark. Ein Stück Seife 40 Mark. Ein Paar Schuhe kosteten 1000 Mark. Das war das Weihnachten, vor dem meine Mutter verhaftet wurde wegen Walddiebstahls. Sie fuhr raus mit einer Säge in der Handtasche, um für uns ein Bäumchen zu fällen. Zu meinen ersten Erinnerungen gehören Abende, an denen bei uns zu Hause, in dem kleinen Wohnzimmer, getanzt wurde und getrunken. Das Leben stand auf Neustart. In den Westen zu gehen und Berlin zu verlassen, das kam für das junge Ehepaar Gerber nicht in Frage. Obwohl wir drei Straßen weiter Wasser holen mussten, die Eimer herschleppten, in denen das Wasser über Nacht eingefroren war, der Strom wurde uns auch regelmäßig gesperrt. Und uns Kindern wurden nachts eben die Wintermützen aufgesetzt, vom Kopf her kühlt der Körper am meisten aus. Heute, fast sechzig Jahre später, gehe ich im Winter ganz bewusst und ganz unvernünftig sehr leicht angezogen nach draußen. Ich will die Kälte wieder spüren, die sich bis ins Mark frisst.
Meine Mutter war eine wunderbare Frau. Sie stand immer schon auf eigenen Füßen und verdiente ihr eigenes Geld. Sie hatte Kontoristin gelernt, im Rechnen war sie unschlagbar, und sie führte mir jahrelang in meinem Geschäft, der »Lady M«, die Bücher. In der Familie hatte sie stets das Sagen. Sie hat alle Entscheidungen getroffen, und sie hat alle Probleme gelöst. Ich liebte sie, sie war mir ein wirkliches Vorbild, das natürlich nicht exemplarisch daherkam. Sie war einfach eine starke Frau, und das wusste auch ihr neuer Mann, der sie deshalb liebte und verehrte. Das war ungewöhnlich für diese Zeit, in der Frauen, nachdem sie die Kriegszeit allein überstanden und die Männer in den Fabriken und den Büros ersetzt hatten, plötzlich wieder wie Minderjährige behandelt wurden. Manchmal aber standen doch die Wände des Schweigens zwischen ihnen, zu unterschiedlich waren die Erfahrungen, die die Männer und Frauen auf der Flucht und im Krieg hatten machen müssen. Vielleicht waren auch die Erwartungen an das andere Geschlecht recht hoch. Es gab ja kaum noch Familien, Männer und Frauen lebten durch den Krieg jahrelang in grundverschiedenen Welten. Irmchen, wie Peter sie nannte, ließ sich trotz der Koseform nicht verniedlichen, sie war sachlich, pragmatisch, sie war anders. Sie hat gearbeitet und sie hat gelebt: Die Kerzen angezündet, es gibt ja wieder welche, das Grammophon aufgezogen, das letzte Stück Holz, die letzten Kohlen in den Ofen geworfen und losgetanzt! Meine Eltern haben das Leben gefeiert. Wir leben noch, wir leben wieder. Die heimkehrenden Soldaten, die von den Massakern im Osten wussten, schwiegen. Daran, dass die Nachbarn mit dem gelben Kennzeichen am Mantelrevers aus ihren Häusern getrieben wurden und in die Züge gepfercht durch das ganze Reich rollten, wollte sich niemand mehr erinnern. Es war wie ein Triumph, wir können lachen, wir sind zusammen, wir haben uns gefunden und wollen vergessen, auch wenn einem im Monat gerade mal sechs Zigaretten zustanden und die immerwährende Unterernährung einen schwindeln ließ. Eine deutsche Fluppe kostete damals auf dem Schwarzen Markt drei Reichsmark, eine »Ami-Zigarette « sieben Reichsmark. Ein Pfund Butter hatte den Gegenwert von 200 Zigaretten. 20 Grad Minus, am Fenster Eisblumen und die Schlafdecke steif vor Frost von unseren Atemwolken. Das alles konnte ihren Optimismus nicht erschüttern. Wie lange hielt die Euphorie des Neuanfangs?
Für Peter war es ein Nachhausekommen. Nach den Erlebnissen des Krieges wollte er endlich Ordnung und Orientierung. Mit einem Mal hatte er Familie und eine neue Heimat gefunden, in der Stadt, die von allen Seiten verschlossen war, die zum Spielball der Weltmächte wurde. Nur ein Schienenstrang verband sie noch mit dem Westen. Peter Gerber war mein Vater, Stiefvater sage ich nicht gern. Er war für uns da, hat mit uns gespielt, ging mit uns Schlittschuhlaufen auf dem Schäfersee, brachte mir das Schwimmen bei im von Mutter selbstgestrickten, juckenden Badeanzug, der entsetzlich hing, wenn ich aus dem Wasser kam. Er rodelte mit uns die für uns so riesigen Hügel der Rehberge hinunter und brachte uns nach Hause, blau gefroren bis auf die Knochen, zog uns die nassen Strickhosen aus, wenn wir wie ums Überleben ringend den großen Kachelofen mit beiden Armen, um ein wenig Wärme bibbernd, umfassten. Peter war liebevoll und manchmal versuchsweise dominant in seiner Vaterrolle. Und wir waren so fies und sagten Dinge wie: »Du bist nicht unser Vater, du hast uns gar nichts zu sagen.« Meine Mutter ging arbeiten und kam abends erst um sieben Uhr heim. Noch weitere Kinder bekommen, das wollte sie nicht, und ihr gelang es immer, genau ihre fruchtbaren, gefährlichen Tage auszurechnen. Irmgard war eine der wenigen Frauen, die selbständig waren und handelten, die nicht ihr Dasein der schützenden Hand eines Mannes zu verdanken hatten. Sie wurde niemals krank, legte jeden Morgen Make-up auf, trug Schuhe mit schmalen Absätzen und nicht diese Keilabsätze wie die Trümmerfrauen mit den Haarknoten und den schmutzigen Kitteln. Die Brennschere meiner Mutter, mit der sie ihre schulterlangen Haare in Wellen auf Kinnhöhe verkürzte, höre ich heute noch. Jeden Morgen ließ sie sie vor dem Spiegel im Schlafzimmer klappern, wenn sie die Schere wieder in die Emailschüssel mit der Spiritustablette versenkte. Spiritustabletten machten einfach alles sauber. Meine Mutter brachte immer Geld ins Haus, und sie hat die Familie geführt. Einmal im Jahr etwa versuchte Peter zu rebellieren, als müsste er sich beweisen, dass doch er der Mann ist. Sein Irmchen lächelte und zerwuschelte ihm die Haare. In meinen Augen schrumpfte das Mannsein auf nützliche Dinge zusammen: Steckdosen reparieren, mit einem Stab in verstopften Abflussrohren stochern, die Kohlen, wenn welche da waren, aus dem Keller nach oben schleppen ...
Vielleicht holte Peter mit uns ein Stück Kindheit nach. 1937, da war er siebzehn, als er entschied, Soldat zu werden. Eigentlich wollte er Bäcker werden, die Lehre musste er aber aufgrund einer Mehlallergie abbrechen. Das Mehl ließ ihn husten, der Mehlstaub fraß Geschwüre in seine Hände und Unterarme. Für Volk und Vaterland sich aufzuopfern, das schien ihm normal, und er sprach den Eid auf Adolf Hitler, den Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, um »jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen«. Er wollte etwas werden in der Wehrmacht. Die Fliegeruniform galt als die schickste. Trotz Plakaten, die die Straßen säumten, mit den Aufrufen: »26 Millionen Tote klagen an! In Nürnberg wird abgerechnet!«, interessierten sich die Deutschen vor allem für ihr eigenes Fortkommen. Der Krieg schien so weit weg. Die unvorstellbaren Verbrechen verloren sich außerhalb der eigenen Sichtweisen. Die ersten Urteile über die Nazigrößen und ihre Schuld am Tod von Millionen von Menschen wurden am 1. Oktober 1946 gesprochen. Mein Vater besprach dieses Thema nie mit uns, auch verfolgte er es nicht weiter. Das war tabu bei uns zu Hause, obwohl meine Schwester diese Gespräche immer wieder anfing. Darüber redete man nicht. Dieses Abblocken meines Vaters und die immer bohrenden, stichelnden Fragen meiner Schwester gaben mir in der Heftigkeit ihres Zusammenpralls zu denken.
Nur dieses Lied blieb bei Peter: »Flieger, grüß' mir die Sonne! Grüß' mir die Sterne und grüß' mir den Mond! Dein Leben, das ist ein Schweben durch die Ferne, die keiner bewohnt!« Das war unser Kinderlied, immer lauter werdend und im holterdiepolter Sprechgesang: »Schneller und immer schneller rast der Propeller, wie dir's grad gefällt! « Im normalen Arbeitsleben konnte Peter nur schwer wieder Fuß fassen. Also hatte er ein paar »Elternjahre« für uns! Später, nach der Anstellung bei Telefunken, ging er zum Suchdienst des Roten Kreuzes und kümmerte sich um die Vermissten und die Spätheimkehrer. Er selbst war über ein Jahr in Gefangenschaft. Die Erinnerung an den Krieg ließ ihn durch seine Arbeit ein Leben lang nicht mehr los.
Irmchen fing in einer Lebensmittelverteilerstelle an und brachte wahre Schätze nach Hause: Persipan, einen Marzipanersatzstoff, den sie immer gut versteckte. Ich war es, die das Persipan doch immer fand. Heimlich, schnell - da war es, die Verheißung der Glückseligkeit, in knisterndes Butterbrotpapier gewickelt, unter der Kochnische, im Dunkel des Mantels an der übervollen Garderobe, die als Kleiderschrank dienen musste. Hastig schob ich mir das Päckchen in den Ärmel. Dann der erste Bissen, als ob die Sonne aufginge, die Süße breitete sich wie eine sanfte rosafarbene Wolke im Mund aus, schnell noch zwei Bissen, und alle. Weg. Heiß vor Scham und in Angst vor meiner Schwester Karin, der Petze, in Angst vor der Entdeckung der unumstößlichen Wahrheit, so stand ich da. Meine Mutter wollte doch Schnecken mit Persipan-Füllung für uns alle backen. Und ich habe es wieder und wieder getan. Gesucht. Gegessen. Und immer wieder diese Scham. Vor dem Weihnachtsmann, der mit seiner Rute kommt und die mich vertrimmt, wie alle, die nicht artig waren und zu viel naschten, vor ihm fürchtete ich mich wahnsinnig. Das war wirkliche, grundlegende, nicht abzuschüttelnde, panische Angst. Was der wusste! Was ich gegessen hatte! Dann kam er, er musste ja kommen, wir warteten ja auf ihn, ich zitternd, dann klingelte er an der Tür, stand bei uns zu Hause im Wohnraum. Er war es, der Mann mit der Maske, darunter ein weißer Bart und in der Hand die große Rute aus abgestorbenen Zweigen, die er drohend auf und nieder schwang. Irgendwann kam er nicht mehr, und das entspannte die Familie sehr, dass Weihnachten ohne meine Schreikrämpfe ablaufen konnte. Weihnachten war unser großes Fest. Es gab Bratäpfel und all die guten Sachen - wie meine Mutter die bloß organisieren konnte! Die ganze Familie kam zusammen, das heißt: Die Frauen kamen zusammen. Mein Vater war natürlich auch dabei. Einmal im Jahr durfte er sich groß aufplustern, unser Hahn im Korb! Meine Großmutter, meine Urgroßmutter aus Pankow kamen und meine Großtante, die wir Tante Betti nannten, reiste an mit einer großzügigen Kuchenauswahl im Gepäck aus Eberswalde. Die blieb 'ne Nummer für sich, ein richtiger Drachen mit gewaltigem Vorbau. Zu uns Kindern war sie immer lieb. Vor dem Krieg führte sie ein Konditorei unternehmen mit Ausschank und Gartenwirtschaft. Sie hatte so sechzig, siebzig Angestellte. Tante Betti war Geschäftsfrau, Unternehmerin - dass sie einmal einen Mann hatte, der auf seiner Silberfuchsfarm geblieben war, erwähnte sie nie. Nach dem Krieg eröffnete sie neu und verkaufte an die russischen Soldaten, die ihre Mädchen ausführten. Das Leben geht weiter! Das war ihr Motto. Die Tante Betti imponierte mir. Sie rauchte, und trinken konnte sie auch. Damals wurde einfach auch mehr getrunken, wenn es einen Anlass gab, als heute, in diesen verweichlichten und gesundheitsliebenden Zeiten. Weihnachten, da drifteten wir vom Mittagessen mit einem schönen Schnaps ins Kaffeetrinken, danach ein Spaziergang um den Schäfersee, die Nachbarn grüßten freundlich, man kannte sich untereinander, man half sich aus, und dann schon wieder Abendbrot. Essen, das war für mich der Himmel. Schlecht wurde mir nie. Auch nicht, als ich einmal den Frankfurter Kranz aufaß. Der Kuchen war ja schon angeschnitten, also nahm ich mir den Rest. So etwas gab es eben nur einmal im Jahr.
Wir Kinder hatten kein eigenes Zimmer und wurden deshalb im Zimmer der Eltern schlafen gelegt; wenn die Eltern ins Bett wollten, trugen sie uns schlafend hinüber auf die Couch. Noch heute höre ich das mächtige, irgendwie beruhigend-vertraute Brummen der Versorgerflugzeuge der Luftbrücke, die die rasch auf zweieinhalb Kilometer ausgebaute Landebahn in Tempelhof anflogen, um Berlins Versorgung aus der Luft aufrechtzuerhalten. Manchmal brachte Mutter ein CARE-Paket mit nach Hause. In den Lebensmittelpaketen fanden wir gepresstes Fleisch in komischen Dosen, darauf stand »Corned Beef«. Wir wunderten uns über die Konsistenz, und es schmeckte auch etwas zäh. Aber natürlich war es besser als die übliche Pampe. Immer wieder hörten wir die Eltern diskutieren. »Es ist zwecklos zu bleiben. Alle packen ihre Koffer«, sagte Peter immer wieder. Von meiner Mutter kam nur ihr schlichtes: »Nein, wir bleiben.« Meistens gingen wir früh zu Bett, um den Hunger nicht mehr so zu spüren. Meine Freundin Bettina, die mit mir zur Schule ging, kam aus reichem Hause und musste ihre Eltern siezen. Niemals hätte ich mit ihr tauschen wollen. Meine Eltern waren meine Eltern, so! Sie waren da, und sie liebten uns. Sie blieben sie selbst. Sie nahmen sich ernst und uns Kinder nicht allzu ernst. Meine Kindheit war glücklich; ich lege mich nicht auf die Couch und erzähle dem Psycho-Onkel, dass ich ein Schlüsselkind war und keinen Gute Nacht-Kuss bekam.
»Dicke Tonne, fette Qualle, Fettmops, wie siehst du denn aus!« Frühmorgens, mittags nach der Schule. Jeden Tag. Kinder sind grausam. Die Wut wuchs in mir. Ich aß eben gern! Ich war ein dralles kleines Mädchen mit vielen sperrigen blonden Haaren, die sich nur schwer in etwas abstehende Zöpfe flechten ließen, wie bei Pippi Langstrumpf. Meine Schwester dagegen wollte wirken mit ihren langen schwarzen Haaren - und sie war zierlich wie eine Ballerina, darauf bildete sie sich gehörig etwas ein. Stibitzte unserer Mutter mit elf Jahren ihren einzigen Lippenstift. Hinter ihr waren schon früh die Jungs her. Die interessierten mich aber nicht. Mich interessierte nur, wie ich ihnen mit meinen Holzlatschen so gegen das Schienbein treten konnte, dass die Hänseleien aufhörten. Blaue Flecken bekamen sie, und sie hörten auf. Unser Peter sagte nur: »Wenn du noch mal von der Schule kommst und heulst, kriegst du von mir noch eine hinterher!« Und wenn der Vater dich nicht mehr schlägt, dann schlägt dich das Leben. Mutter musste in die Schule kommen. Sie kam nicht nur deshalb. Dann war da noch die Geschichte mit der Lehrerin, die mich drängte, beim Ausflug nicht hintenan zu spazieren, der ich sagte, eine alte Frau sei doch kein D-Zug. Wir durften niemals frech sein, wer über die Stränge schlug, bekam einen Klaps. Mit der rechten, der linken Hand, manchmal ins Gesicht. Wenn Mutter in die Schule kam, dann wollte sie die Wahrheit wissen. Für mich aber gab es nur eins: die oder ich. Wenn man ein bisschen rundlich ist und nicht der Norm entspricht - ich konnte, ich musste mich wehren und mir Respekt verschaffen, aber getroffen haben mich die Hänseleien doch. Später arbeitete meine Mutter bei der AEG in Reinickendorf. Meine Haare machte sie mir jeden Tag, frühmorgens, dafür nahm sie sich immer die Zeit. Nach der Schule ging ich mit meiner Blechdose in die AEG-Kantine und konnte mir mein Mittagessen abholen. Dann kam ich zurück in die stille Wohnung, machte das Radio an. Das hatten wir, weil Peter bei Telefunken arbeitete, und ich setzte mich an den Tisch. Nur weil die Mutter arbeitet, werden die Kinder doch nicht zwangsläufig vernachlässigt. Ich und Karin gehörten zu den vielen Schlüsselkindern zu der Zeit. Das war ganz normal, und wir waren stolz auf den Schlüssel um den Hals. Hauptsache, einer in der Familie hatte Arbeit. Das war eben erst mal unsere Mutter. Kurze Zeit nach mir kam meine große Schwester, die immer diese spitzen Kusslippen übte, nach Hause. Ich aß das Kantinenessen, sie die Reste von gestern. Dann stand sie wieder auf, ein Buch auf dem Kopf, und übte gehen. Dass das Buch nicht hinunterfällt. Und der Busen mit der Haltung eben schöner wird. Sie tat so geheimnisvoll.
© 2012 Knaur Taschenbuch Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten
Wenn Sie mir sagen, wir sind schon so lange verheiratet, seufze ich einmal tief in meine Oberweite. Das alte Eheleben retten? Oftmals ist es dann schon zu spät. Warum auch musste immer diese hautfarbene Funktionswäsche reichen? In der Kabine kommt schon mal die Frage, schüchtern oft, vielleicht ein Paar Strapse? Ich zeige Ihnen was, natürlich nicht gleich die ganz harte Nummer - die haben wir sowieso nicht vorrätig - schwarz und rot unterlegt, mit ein wenig Spitze. Dann gucken wir mal, wie Sie sich fühlen. Sie müssen sich gut fühlen, denn genau dann bringen Sie auch was rüber! Ich merke gleich, ob die Frauen damit zurechtkommen, aber oft wissen sie gar nicht, wie sie sich fühlen wollen. Sie merken es erst, wenn sie es anhaben: Dass sie toll aussehen! Dann komme ich und habe noch etwas Neues für sie. Das sind so Gespräche, die fangen ganz langsam an.
Heiraten wollte ich nicht, ich war ja viel zu sehr auf Job aus! Heiraten, das hat doch Zeit! Es war für mich nicht wichtig. Ich werde dir nicht die Knöppe annähen, und ich werde dir nicht jeden Morgen die Eier im Glas liefern - das bin ich einfach nicht. Sicherlich hat ihn das gereizt. Wir haben darüber nie gesprochen, dass ich eigentlich nicht heiraten wollte. Dennoch weiß ich endlich: Ich bin dort oben auch schon längst angekommen! Ich war immer diejenige, die das Geld zu vergeben hatte. Nicht umgekehrt! Ich war die Geschäftsfrau. Heute weiß ich ja, der Mann ist nicht der Starke, aber der Schein muss gewahrt bleiben. Da kommt mir die Wut. Auf das, was sich die Frauen selbst auferlegen.
Mein Lebenselixier ist: Ich will die Frauen schöner machen. Das ist meine Leidenschaft. Ich kann gar nicht anders. Ein Büstenhalter ist Magie. Besinnen Sie sich in einer schwierigen Diskussion mit einem Geschäftspartner einmal auf Ihren neuen Büstenhalter. Wie der sitzt. Wie der Sie hebt. Wie Sie sich fühlen. Halten Sie kurz inne. Und Sie haben das Match gewonnen. Ich möchte das Beste für Ihren Körper. Sie haben nur einen. Gehen Sie sorgsam mit ihm um.
Mit diesem Buch erzähle ich meine Lebensgeschichte, die Geschichte einer Frau, die in einer Zeit Karriere machte, als für sie ein Leben zwischen Küche und Kindern vorgesehen war. Gleichzeitig beschreibt der Wandel von einschnürenden Miederwaren zur modernen Des-sous-Welt einen gesellschaftlichen Bogen von über fünfzig Jahren. An dieser Stelle ein Hoch auf die Pariser Korsettmacherin Hermine Cadolle, die 1889 die Schere ans Korsett ansetzte, dieses in zwei Teile teilte und damit ihr »Büstenkorsettchen« patentieren ließ. Die Geschichte der Miederwaren ist eben auch Emanzipationsgeschichte!
Endlich leben Endlich leben Die Straße, in der wir wieder wohnen sollten, hatte keinen Namen mehr. Jeder Mensch braucht seine Straße. Wo er groß geworden ist, von der er sich entfernt. Es war Ende Juli 1945, die Ruinen klafften wie schwarze offene Münder in den verrußten Straßen, Schlünde, aus denen Menschen krabbelten und ungläubig in die Frühlingssonne blinzelten. Ein Hügelland aus Backstein, darunter die Verschütteten, darüber nur die Sterne. Was sich noch rührte, waren die Ratten. Der Krieg war aus, und wir konnten wieder zurück nach Berlin, in die Stadt, die es nicht mehr gab. Überall an den Häuserwänden mit Kreide gekritzelte, verzweifelte Suchmeldungen an Überlebende, mit der Mitteilung des neuen Zufluchtsortes vor den Bomben. Wir waren zurück in Reinickendorf und konnten im Haus meines Urgroßvaters, der während der Inflation Ende der Zwanziger viel zu billig verkaufen musste, in der Brienzer Straße zur Miete unterkommen. Zwei Zimmer zu ebener Erde, darüber drei Stockwerke, die schwere Eingangstür in der zerschossenen Gründerzeitfassade schloss nicht mehr. Die Mutter meiner Mutter hatte hier den Krieg überlebt. Mein Vater war tot, gefallen, ich kenne ihn nur vom Foto. Ein ganz junger Mann in Uniform, den Blick in eine nationalsozialistische Zukunft gerichtet. Die knallblauen Augen habe ich von ihm. 1945 war ich zwei Jahre alt, meine Schwester Karin wurde sechs. Meine Mutter, die Irmgard, hat alles geschafft. Immer. »Geht nicht, gibt's nicht«, sagte sie oft, warf dabei den Kopf in den Nacken und lachte ihr kleines, kurzes Lachen, das immer so siegesgewiss klang. Meine Mutter, Irmgard Globig, verheiratete Gerber, verheiratete Bruse, habe ich sehr geliebt. Sie war immer schick angezogen, immer auf Stil bedacht. Auf den Bildern von damals trägt sie Kostüm und passenden Hut, mit einem Wonneproppen auf dem Arm, der Segelohren hat und ein schiefes Grinsen und aussieht wie ein kleiner Junge. Das bin ich. Ein Familienfoto gibt es nicht.
Am 23. Juni 1943 hat meine Mutter mich geboren. Die Stadt brannte. Überall Rauch, überall schwarze Wolken, die Sirenen hörten nicht auf, Alarm zu geben. Detonationen, kurz wie ein Augenblinzeln, die schwarzen Dunstmassen, die Häuser, die mit einem rollenden Ruck zusammenfallen. Ein Wumms, den keiner je vergisst. Irmgard schaffte es irgendwie inmitten des Infernos in die Räume der Weddinger Heilsarmee. Nichts war geschützt, nicht ihr Leben, nicht meins, nicht das meiner Schwester Karin. Irmgard lag in den letzten Presswehen, an diesem Morgen, der kein richtiger Morgen war, weil es wegen des Feuers und der Rußwolken nicht mehr hell werden wollte. Es gab keinen Arzt, keinen Kinderarzt, keinen Gynäkologen. Nur die warmen wissenden Hände der Hebamme. Ich hätte gut und gerne auch im Bunker oder im Hauskeller zur Welt kommen können. Noch heute ist bei mir dieses Gefühl da, an Silvester, wenn die Feuerwerkskörper im Hof knallen. Die reine Angst. Überall brannte es, und mit dem Löschen kam niemand mehr hinterher. Nach dem Debakel von Stalingrad glaubte kaum einer noch an den Endsieg, und da half es meiner Mutter auch nicht, dass Goebbels in seiner Rede vom 18. Februar 1943 im Sportpalast sagte, dass aus der Bedrängtheit der Situation die nötigen Folgerungen zu ziehen seien. Goebbels war sich zu der Zeit sicher, dass wir Deutschen gewappnet seien gegen Schwäche und Anfälligkeit. Im September 1943, als kaum noch Züge gingen, sich die Massen der Flüchtenden in Richtung der Bahnhöfe in den dicken Wintermänteln schoben und nur noch Frauen mit Kindern die Stadt verlassen durften, ist meine Mutter mit ihren zwei kleinen Mädchen nach Ilmenau gefl üchtet, nach Thüringen, schon fast in Bayern. Ein furchtbares Gedränge am Bahnhof, wen nimmt der Zug noch mit? Wohin fährt er überhaupt? Weg, nur weg von den gespenstischen Fackeln der brennenden Häuser, der vielen, vielen verlorenen Zuhause. Ich selbst kann mich daran gar nicht erinnern, mit meinen paar Monaten, die ich auf der Welt war.
Wie sie uns da durchbrachte? Wir kamen auf der Silberfuchsfarm des Mannes meiner Tante Betti aus Eberswalde bei Berlin unter. Karin, die sich ja gerne schmückte, konnte später keinen Pelz tragen, weil sie sich so vor dem Fiepen und Scharren der eingesperrten Tiere fürchtete und ekelte. Mit dem Winteranfang, nur vier Monate nach meiner Geburt, erkrankte ich an einer Gehirnhautentzündung. Ich bekam hohes Fieber und lag apathisch in meinem improvisierten Bettchen. Meine Mutter hatte schreckliche Angst um mein Leben. Es war unmöglich, einen Arzt zu bekommen. Alle Ärzte waren im Städtischen Krankenhaus in vollem Einsatz, das als Reservelazarett diente und längst völlig überfüllt mit Soldaten war, die auf den Gängen lagen und denen keiner helfen konnte. Schon wenn Mutter nur die Tür öffnete, um nach mir zu sehen, begann ich zu schreien, so wie nur die Kleinen schreien können, wenn sie diese durch Mark und Bein gellende Angst um ihr Leben haben und am Schreien zu ersticken drohen. Nach einem Telefonanruf kam endlich ein Arzt, der sich um ihr Kind kümmern konnte, um ihr Kleinstes, ihren Sonnenschein, wie die Hebamme mich inmitten des Infernos taufte. Im Dezember dann erreichte Irmgard mit wochenlanger Verspätung die Nachricht, dass ihr Mann, unser Vater, gefallen ist. Überhaupt, es war wie ein Wunder, dass wir gleich im Juni 1945 zurück nach Berlin konnten. Meine Mutter, Kriegswitwe mit zwei kleinen Kindern, hockte mit uns im Inneren eines Güterwaggons. Wir konnten nicht hinaussehen und mussten in den Ewigkeiten des Wartens verharren, bis die Lokomotive nach unzählbaren, unvorhersehbaren Stationen wieder anruckte. Wie viele sind elendig verreckt auf den Flüchtlingstrecks, an der Front, in den KZs, es war ja die Zeit des großen Sterbens, in die ich hineingeboren wurde. In Angst, Hunger und Verzweiflung hatte uns das »Tausendjährige Reich« gestürzt. Ganz Deutschland war eine Ruinenlandschaft, zerstörte Hoffnungen, zerstörte Träume, zerstörte Seelen. Alle standen doch vor dem Nichts, den Trümmern ihrer Existenzen und mussten, jeder für sich, neu beginnen. Zurück in Berlin kam der Sommer. Und mit ihm die Lebenslust. So viel Elend, so viel verpasst, so viel Jugend, die gelebt werden wollte. Meine Mutter ging tanzen, wir blieben bei Oma. Irmgard zog allein los, ins »Kastanienwäldchen « in der zerbombten Residenzstraße, in Reinickendorf. Die Straße war wieder freigeräumt und halbwegs passierbar. Straßenbahnschienen ragten wie wirres Gedärm in der Mitte zwischen den Fahrdämmen auf. Zwischen den Trümmerhaufen duckte sich das kleine Haus ebenerdig unter seinem zusammengeflickten Dach. Von außen erschien das »Café Kastanienwäldchen« eher als eine typische Berliner Eckkneipe. Später ging ich abends dorthin mit dem Syphon zum Bier holen. Im »Kastanienwäldchen« wurde im Innenhof und im Saal getanzt, und zwar nonstop! Deshalb ging meine Mutter dorthin, jedes Wochenende meist schon nachmittags wegen der Ausgangssperre, die die Besatzungsmächte ab 18 Uhr verhängten. Die Kapelle spielte Jazz und Swing, als wenn nichts geschehen wäre und niemals mehr etwas Schlimmes geschehen könnte. Die Luft war elektrisch geladen. »Summertime« von Ira und George Gershwin war der Sommerhit, den meine Mutter immer summte, manchmal sang sie ihn auch, obwohl sie kein Englisch konnte. Sie hatte eine wunderbare Stimme: »Summertime and the livin' is easy; Fish are jumpin' and the cotton is high«.
Im Sommer darauf kam Karl-Heinz aus dem Krieg, der Zug spuckte ihn aus am Bahnhof Zoo, er kam aus Russland, hatte die Zehen und die Finger erfroren, kein Gefühl war mehr darin. Er irrte durch die Stadt, ließ sich treiben, vielleicht war er, mit sechs Jahren Krieg in den Knochen, ein wenig auf der Suche nach Warmherzigkeit, nach Obdach. Abenteuer und Irrsinn hatte er genug erlebt. Gerade fünfundzwanzig Jahre war er alt, als der Krieg endlich aus war, wie meine Mutter. Karl-Heinz war Flieger, wurde abgeschossen, er war kein Held mehr. Vielleicht gefiel genau das meiner Mutter, und aus Karl-Heinz wurde Peter. Ihr Peter, weil sie das so wollte. Den Namen Karl-Heinz mochte sie nicht. Geheiratet haben sie anstandsweise nach einem guten Vierteljahr am Samstag, dem 21. Dezember 1946. Meine Mutter wollte keine »Onkelehe«, wie es sie so viele in diesen Jahren gab. Wir hatten keinen Onkel Peter. Wir hatten einen Papa. Das war damals eine Zeit, in der die Menschen ganz andere Probleme als heute hatten. Viele kehrten aus dem Krieg mit seelischen und gesundheitlichen Leiden zurück, die sie ein Leben lang quälten. Dann kam das Weihnachten im ersten Nachkriegswinter, eine Weihnachtsgans kostete 1400 Reichsmark. Ein Stück Seife 40 Mark. Ein Paar Schuhe kosteten 1000 Mark. Das war das Weihnachten, vor dem meine Mutter verhaftet wurde wegen Walddiebstahls. Sie fuhr raus mit einer Säge in der Handtasche, um für uns ein Bäumchen zu fällen. Zu meinen ersten Erinnerungen gehören Abende, an denen bei uns zu Hause, in dem kleinen Wohnzimmer, getanzt wurde und getrunken. Das Leben stand auf Neustart. In den Westen zu gehen und Berlin zu verlassen, das kam für das junge Ehepaar Gerber nicht in Frage. Obwohl wir drei Straßen weiter Wasser holen mussten, die Eimer herschleppten, in denen das Wasser über Nacht eingefroren war, der Strom wurde uns auch regelmäßig gesperrt. Und uns Kindern wurden nachts eben die Wintermützen aufgesetzt, vom Kopf her kühlt der Körper am meisten aus. Heute, fast sechzig Jahre später, gehe ich im Winter ganz bewusst und ganz unvernünftig sehr leicht angezogen nach draußen. Ich will die Kälte wieder spüren, die sich bis ins Mark frisst.
Meine Mutter war eine wunderbare Frau. Sie stand immer schon auf eigenen Füßen und verdiente ihr eigenes Geld. Sie hatte Kontoristin gelernt, im Rechnen war sie unschlagbar, und sie führte mir jahrelang in meinem Geschäft, der »Lady M«, die Bücher. In der Familie hatte sie stets das Sagen. Sie hat alle Entscheidungen getroffen, und sie hat alle Probleme gelöst. Ich liebte sie, sie war mir ein wirkliches Vorbild, das natürlich nicht exemplarisch daherkam. Sie war einfach eine starke Frau, und das wusste auch ihr neuer Mann, der sie deshalb liebte und verehrte. Das war ungewöhnlich für diese Zeit, in der Frauen, nachdem sie die Kriegszeit allein überstanden und die Männer in den Fabriken und den Büros ersetzt hatten, plötzlich wieder wie Minderjährige behandelt wurden. Manchmal aber standen doch die Wände des Schweigens zwischen ihnen, zu unterschiedlich waren die Erfahrungen, die die Männer und Frauen auf der Flucht und im Krieg hatten machen müssen. Vielleicht waren auch die Erwartungen an das andere Geschlecht recht hoch. Es gab ja kaum noch Familien, Männer und Frauen lebten durch den Krieg jahrelang in grundverschiedenen Welten. Irmchen, wie Peter sie nannte, ließ sich trotz der Koseform nicht verniedlichen, sie war sachlich, pragmatisch, sie war anders. Sie hat gearbeitet und sie hat gelebt: Die Kerzen angezündet, es gibt ja wieder welche, das Grammophon aufgezogen, das letzte Stück Holz, die letzten Kohlen in den Ofen geworfen und losgetanzt! Meine Eltern haben das Leben gefeiert. Wir leben noch, wir leben wieder. Die heimkehrenden Soldaten, die von den Massakern im Osten wussten, schwiegen. Daran, dass die Nachbarn mit dem gelben Kennzeichen am Mantelrevers aus ihren Häusern getrieben wurden und in die Züge gepfercht durch das ganze Reich rollten, wollte sich niemand mehr erinnern. Es war wie ein Triumph, wir können lachen, wir sind zusammen, wir haben uns gefunden und wollen vergessen, auch wenn einem im Monat gerade mal sechs Zigaretten zustanden und die immerwährende Unterernährung einen schwindeln ließ. Eine deutsche Fluppe kostete damals auf dem Schwarzen Markt drei Reichsmark, eine »Ami-Zigarette « sieben Reichsmark. Ein Pfund Butter hatte den Gegenwert von 200 Zigaretten. 20 Grad Minus, am Fenster Eisblumen und die Schlafdecke steif vor Frost von unseren Atemwolken. Das alles konnte ihren Optimismus nicht erschüttern. Wie lange hielt die Euphorie des Neuanfangs?
Für Peter war es ein Nachhausekommen. Nach den Erlebnissen des Krieges wollte er endlich Ordnung und Orientierung. Mit einem Mal hatte er Familie und eine neue Heimat gefunden, in der Stadt, die von allen Seiten verschlossen war, die zum Spielball der Weltmächte wurde. Nur ein Schienenstrang verband sie noch mit dem Westen. Peter Gerber war mein Vater, Stiefvater sage ich nicht gern. Er war für uns da, hat mit uns gespielt, ging mit uns Schlittschuhlaufen auf dem Schäfersee, brachte mir das Schwimmen bei im von Mutter selbstgestrickten, juckenden Badeanzug, der entsetzlich hing, wenn ich aus dem Wasser kam. Er rodelte mit uns die für uns so riesigen Hügel der Rehberge hinunter und brachte uns nach Hause, blau gefroren bis auf die Knochen, zog uns die nassen Strickhosen aus, wenn wir wie ums Überleben ringend den großen Kachelofen mit beiden Armen, um ein wenig Wärme bibbernd, umfassten. Peter war liebevoll und manchmal versuchsweise dominant in seiner Vaterrolle. Und wir waren so fies und sagten Dinge wie: »Du bist nicht unser Vater, du hast uns gar nichts zu sagen.« Meine Mutter ging arbeiten und kam abends erst um sieben Uhr heim. Noch weitere Kinder bekommen, das wollte sie nicht, und ihr gelang es immer, genau ihre fruchtbaren, gefährlichen Tage auszurechnen. Irmgard war eine der wenigen Frauen, die selbständig waren und handelten, die nicht ihr Dasein der schützenden Hand eines Mannes zu verdanken hatten. Sie wurde niemals krank, legte jeden Morgen Make-up auf, trug Schuhe mit schmalen Absätzen und nicht diese Keilabsätze wie die Trümmerfrauen mit den Haarknoten und den schmutzigen Kitteln. Die Brennschere meiner Mutter, mit der sie ihre schulterlangen Haare in Wellen auf Kinnhöhe verkürzte, höre ich heute noch. Jeden Morgen ließ sie sie vor dem Spiegel im Schlafzimmer klappern, wenn sie die Schere wieder in die Emailschüssel mit der Spiritustablette versenkte. Spiritustabletten machten einfach alles sauber. Meine Mutter brachte immer Geld ins Haus, und sie hat die Familie geführt. Einmal im Jahr etwa versuchte Peter zu rebellieren, als müsste er sich beweisen, dass doch er der Mann ist. Sein Irmchen lächelte und zerwuschelte ihm die Haare. In meinen Augen schrumpfte das Mannsein auf nützliche Dinge zusammen: Steckdosen reparieren, mit einem Stab in verstopften Abflussrohren stochern, die Kohlen, wenn welche da waren, aus dem Keller nach oben schleppen ...
Vielleicht holte Peter mit uns ein Stück Kindheit nach. 1937, da war er siebzehn, als er entschied, Soldat zu werden. Eigentlich wollte er Bäcker werden, die Lehre musste er aber aufgrund einer Mehlallergie abbrechen. Das Mehl ließ ihn husten, der Mehlstaub fraß Geschwüre in seine Hände und Unterarme. Für Volk und Vaterland sich aufzuopfern, das schien ihm normal, und er sprach den Eid auf Adolf Hitler, den Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, um »jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen«. Er wollte etwas werden in der Wehrmacht. Die Fliegeruniform galt als die schickste. Trotz Plakaten, die die Straßen säumten, mit den Aufrufen: »26 Millionen Tote klagen an! In Nürnberg wird abgerechnet!«, interessierten sich die Deutschen vor allem für ihr eigenes Fortkommen. Der Krieg schien so weit weg. Die unvorstellbaren Verbrechen verloren sich außerhalb der eigenen Sichtweisen. Die ersten Urteile über die Nazigrößen und ihre Schuld am Tod von Millionen von Menschen wurden am 1. Oktober 1946 gesprochen. Mein Vater besprach dieses Thema nie mit uns, auch verfolgte er es nicht weiter. Das war tabu bei uns zu Hause, obwohl meine Schwester diese Gespräche immer wieder anfing. Darüber redete man nicht. Dieses Abblocken meines Vaters und die immer bohrenden, stichelnden Fragen meiner Schwester gaben mir in der Heftigkeit ihres Zusammenpralls zu denken.
Nur dieses Lied blieb bei Peter: »Flieger, grüß' mir die Sonne! Grüß' mir die Sterne und grüß' mir den Mond! Dein Leben, das ist ein Schweben durch die Ferne, die keiner bewohnt!« Das war unser Kinderlied, immer lauter werdend und im holterdiepolter Sprechgesang: »Schneller und immer schneller rast der Propeller, wie dir's grad gefällt! « Im normalen Arbeitsleben konnte Peter nur schwer wieder Fuß fassen. Also hatte er ein paar »Elternjahre« für uns! Später, nach der Anstellung bei Telefunken, ging er zum Suchdienst des Roten Kreuzes und kümmerte sich um die Vermissten und die Spätheimkehrer. Er selbst war über ein Jahr in Gefangenschaft. Die Erinnerung an den Krieg ließ ihn durch seine Arbeit ein Leben lang nicht mehr los.
Irmchen fing in einer Lebensmittelverteilerstelle an und brachte wahre Schätze nach Hause: Persipan, einen Marzipanersatzstoff, den sie immer gut versteckte. Ich war es, die das Persipan doch immer fand. Heimlich, schnell - da war es, die Verheißung der Glückseligkeit, in knisterndes Butterbrotpapier gewickelt, unter der Kochnische, im Dunkel des Mantels an der übervollen Garderobe, die als Kleiderschrank dienen musste. Hastig schob ich mir das Päckchen in den Ärmel. Dann der erste Bissen, als ob die Sonne aufginge, die Süße breitete sich wie eine sanfte rosafarbene Wolke im Mund aus, schnell noch zwei Bissen, und alle. Weg. Heiß vor Scham und in Angst vor meiner Schwester Karin, der Petze, in Angst vor der Entdeckung der unumstößlichen Wahrheit, so stand ich da. Meine Mutter wollte doch Schnecken mit Persipan-Füllung für uns alle backen. Und ich habe es wieder und wieder getan. Gesucht. Gegessen. Und immer wieder diese Scham. Vor dem Weihnachtsmann, der mit seiner Rute kommt und die mich vertrimmt, wie alle, die nicht artig waren und zu viel naschten, vor ihm fürchtete ich mich wahnsinnig. Das war wirkliche, grundlegende, nicht abzuschüttelnde, panische Angst. Was der wusste! Was ich gegessen hatte! Dann kam er, er musste ja kommen, wir warteten ja auf ihn, ich zitternd, dann klingelte er an der Tür, stand bei uns zu Hause im Wohnraum. Er war es, der Mann mit der Maske, darunter ein weißer Bart und in der Hand die große Rute aus abgestorbenen Zweigen, die er drohend auf und nieder schwang. Irgendwann kam er nicht mehr, und das entspannte die Familie sehr, dass Weihnachten ohne meine Schreikrämpfe ablaufen konnte. Weihnachten war unser großes Fest. Es gab Bratäpfel und all die guten Sachen - wie meine Mutter die bloß organisieren konnte! Die ganze Familie kam zusammen, das heißt: Die Frauen kamen zusammen. Mein Vater war natürlich auch dabei. Einmal im Jahr durfte er sich groß aufplustern, unser Hahn im Korb! Meine Großmutter, meine Urgroßmutter aus Pankow kamen und meine Großtante, die wir Tante Betti nannten, reiste an mit einer großzügigen Kuchenauswahl im Gepäck aus Eberswalde. Die blieb 'ne Nummer für sich, ein richtiger Drachen mit gewaltigem Vorbau. Zu uns Kindern war sie immer lieb. Vor dem Krieg führte sie ein Konditorei unternehmen mit Ausschank und Gartenwirtschaft. Sie hatte so sechzig, siebzig Angestellte. Tante Betti war Geschäftsfrau, Unternehmerin - dass sie einmal einen Mann hatte, der auf seiner Silberfuchsfarm geblieben war, erwähnte sie nie. Nach dem Krieg eröffnete sie neu und verkaufte an die russischen Soldaten, die ihre Mädchen ausführten. Das Leben geht weiter! Das war ihr Motto. Die Tante Betti imponierte mir. Sie rauchte, und trinken konnte sie auch. Damals wurde einfach auch mehr getrunken, wenn es einen Anlass gab, als heute, in diesen verweichlichten und gesundheitsliebenden Zeiten. Weihnachten, da drifteten wir vom Mittagessen mit einem schönen Schnaps ins Kaffeetrinken, danach ein Spaziergang um den Schäfersee, die Nachbarn grüßten freundlich, man kannte sich untereinander, man half sich aus, und dann schon wieder Abendbrot. Essen, das war für mich der Himmel. Schlecht wurde mir nie. Auch nicht, als ich einmal den Frankfurter Kranz aufaß. Der Kuchen war ja schon angeschnitten, also nahm ich mir den Rest. So etwas gab es eben nur einmal im Jahr.
Wir Kinder hatten kein eigenes Zimmer und wurden deshalb im Zimmer der Eltern schlafen gelegt; wenn die Eltern ins Bett wollten, trugen sie uns schlafend hinüber auf die Couch. Noch heute höre ich das mächtige, irgendwie beruhigend-vertraute Brummen der Versorgerflugzeuge der Luftbrücke, die die rasch auf zweieinhalb Kilometer ausgebaute Landebahn in Tempelhof anflogen, um Berlins Versorgung aus der Luft aufrechtzuerhalten. Manchmal brachte Mutter ein CARE-Paket mit nach Hause. In den Lebensmittelpaketen fanden wir gepresstes Fleisch in komischen Dosen, darauf stand »Corned Beef«. Wir wunderten uns über die Konsistenz, und es schmeckte auch etwas zäh. Aber natürlich war es besser als die übliche Pampe. Immer wieder hörten wir die Eltern diskutieren. »Es ist zwecklos zu bleiben. Alle packen ihre Koffer«, sagte Peter immer wieder. Von meiner Mutter kam nur ihr schlichtes: »Nein, wir bleiben.« Meistens gingen wir früh zu Bett, um den Hunger nicht mehr so zu spüren. Meine Freundin Bettina, die mit mir zur Schule ging, kam aus reichem Hause und musste ihre Eltern siezen. Niemals hätte ich mit ihr tauschen wollen. Meine Eltern waren meine Eltern, so! Sie waren da, und sie liebten uns. Sie blieben sie selbst. Sie nahmen sich ernst und uns Kinder nicht allzu ernst. Meine Kindheit war glücklich; ich lege mich nicht auf die Couch und erzähle dem Psycho-Onkel, dass ich ein Schlüsselkind war und keinen Gute Nacht-Kuss bekam.
»Dicke Tonne, fette Qualle, Fettmops, wie siehst du denn aus!« Frühmorgens, mittags nach der Schule. Jeden Tag. Kinder sind grausam. Die Wut wuchs in mir. Ich aß eben gern! Ich war ein dralles kleines Mädchen mit vielen sperrigen blonden Haaren, die sich nur schwer in etwas abstehende Zöpfe flechten ließen, wie bei Pippi Langstrumpf. Meine Schwester dagegen wollte wirken mit ihren langen schwarzen Haaren - und sie war zierlich wie eine Ballerina, darauf bildete sie sich gehörig etwas ein. Stibitzte unserer Mutter mit elf Jahren ihren einzigen Lippenstift. Hinter ihr waren schon früh die Jungs her. Die interessierten mich aber nicht. Mich interessierte nur, wie ich ihnen mit meinen Holzlatschen so gegen das Schienbein treten konnte, dass die Hänseleien aufhörten. Blaue Flecken bekamen sie, und sie hörten auf. Unser Peter sagte nur: »Wenn du noch mal von der Schule kommst und heulst, kriegst du von mir noch eine hinterher!« Und wenn der Vater dich nicht mehr schlägt, dann schlägt dich das Leben. Mutter musste in die Schule kommen. Sie kam nicht nur deshalb. Dann war da noch die Geschichte mit der Lehrerin, die mich drängte, beim Ausflug nicht hintenan zu spazieren, der ich sagte, eine alte Frau sei doch kein D-Zug. Wir durften niemals frech sein, wer über die Stränge schlug, bekam einen Klaps. Mit der rechten, der linken Hand, manchmal ins Gesicht. Wenn Mutter in die Schule kam, dann wollte sie die Wahrheit wissen. Für mich aber gab es nur eins: die oder ich. Wenn man ein bisschen rundlich ist und nicht der Norm entspricht - ich konnte, ich musste mich wehren und mir Respekt verschaffen, aber getroffen haben mich die Hänseleien doch. Später arbeitete meine Mutter bei der AEG in Reinickendorf. Meine Haare machte sie mir jeden Tag, frühmorgens, dafür nahm sie sich immer die Zeit. Nach der Schule ging ich mit meiner Blechdose in die AEG-Kantine und konnte mir mein Mittagessen abholen. Dann kam ich zurück in die stille Wohnung, machte das Radio an. Das hatten wir, weil Peter bei Telefunken arbeitete, und ich setzte mich an den Tisch. Nur weil die Mutter arbeitet, werden die Kinder doch nicht zwangsläufig vernachlässigt. Ich und Karin gehörten zu den vielen Schlüsselkindern zu der Zeit. Das war ganz normal, und wir waren stolz auf den Schlüssel um den Hals. Hauptsache, einer in der Familie hatte Arbeit. Das war eben erst mal unsere Mutter. Kurze Zeit nach mir kam meine große Schwester, die immer diese spitzen Kusslippen übte, nach Hause. Ich aß das Kantinenessen, sie die Reste von gestern. Dann stand sie wieder auf, ein Buch auf dem Kopf, und übte gehen. Dass das Buch nicht hinunterfällt. Und der Busen mit der Haltung eben schöner wird. Sie tat so geheimnisvoll.
© 2012 Knaur Taschenbuch Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten
... weniger
Autoren-Porträt von Heide Meyer
Meyer, HeideHeide Meyer, geboren 1943, begann im Alter von 15 Jahren eine Lehre als Einzelhandeslkauffrau im Bereich Miederwaren bei der Firma Horten. Über 50 Jahre hat sie in der Dessous-Branche gearbeitet und alle Entwicklungen hautnah miterlebt. Sie arbeitete unter anderem im KaDeWe und eröffnete schließlich ihr eigenes Geschäft Lady M. 2010 hat sie eine Firma gegründet, die Verkäuferinnen in der Dessousbranche schult. Heide Meyer lebt in Berlin. Kettelhake, Silke
Silke Kettelhake studierte Publizistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Sie ist freie Redakteurin und schreibt v.a. gesellschaftlichspolitische Reportagen für zahlreiche Zeitungen und Magazine. Für die Bundeszentrale für politische Bildung betreut sie seit 2003 die Bereiche »Film« und »Aktuell« bei fluter.de.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heide Meyer
- 2012, 264 Seiten, 22 farbige Abbildungen, 11 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426785161
- ISBN-13: 9783426785164
- Erscheinungsdatum: 28.11.2012
Rezension zu „Mutter Corsage “
"Wenn es um Wäsche geht, macht ihr keiner was vor: Seit 50 Jahren verkauft Heide Meyer Strapse und Stringtangas. Nun hat sie ein Buch geschrieben. (...) Heide Meyer ist (...) die Grande Dame der Dessous-Welt, mit Perlen an Hals und Handgelenken und mit einem Charme, der selbst die schüchternsten Kundinnen aus den schmerzendsten Büstenhaltern befreit. (...) Wenn Heide Meyer ein Mann wäre, hieße sie vielleicht Franz Beckenbauer. Denn was der Kaiser für den Fußball geschaffen hat, erreicht Meyer in der Welt der Wäsche. Beide sind früh gekommen und lange geblieben und haben in ihrer Branche viel bewegt - außer Brüste, denn die sitzen Dank Heide Meyers BHs felsenfest" Welt Kompakt, 03.12.2012
Pressezitat
"Wenn es um Wäsche geht, macht ihr keiner was vor: Seit 50 Jahren verkauft Heide Meyer Strapse und Stringtangas. Nun hat sie ein Buch geschrieben. (...) Heide Meyer ist (...) die Grande Dame der Dessous-Welt, mit Perlen an Hals und Handgelenken und mit einem Charme, der selbst die schüchternsten Kundinnen aus den schmerzendsten Büstenhaltern befreit. (...) Wenn Heide Meyer ein Mann wäre, hieße sie vielleicht Franz Beckenbauer. Denn was der Kaiser für den Fußball geschaffen hat, erreicht Meyer in der Welt der Wäsche. Beide sind früh gekommen und lange geblieben und haben in ihrer Branche viel bewegt - außer Brüste, denn die sitzen Dank Heide Meyers BHs felsenfest" Welt Kompakt, 03.12.2012
Kommentar zu "Mutter Corsage"
4 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Mutter Corsage".
Kommentar verfassen