Nacht über dem Yangtse
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Nacht über dem Yangtse von DavidBall
LESEPROBE
Prolog
SHAO LIN plagte die Erinnerung an jenen bitterkalten Winter,in dem sie ein flaches Grab für ihr Baby gegraben hatte. Eine Kaltfront, wie essie selten gab, war aus der Mongolei heruntergekommen und hatte dafür gesorgt,dass der Himmel an diesem Tag so kalt und bleiern war wie ihre Seele. Sie hatteden Schnee weggescharrt und die gefrorene Erde aufgekratzt, bis ihre Fingerblutig waren. Heiße Tränen mischten sich mit dem Blut. Das Loch war bald großgenug für das kleine Bündel.
Ein Mädchen war es. Xiao Xi. Ein kleines Glück.
Aber von Glück war nicht die Rede. Wenn man dieGenehmigung für nur ein Kind hatte, dann durfte dieses Kind kein Mädchen sein.Eine Frau kam auf die Welt, um Söhne zu gebären, nicht Töchter. Söhne, die denFamiliennamen weitertrugen. Söhne, die den Besitz der Familie erbten. Söhne,die ihre Eltern im Alter unterstützten und später ihre Gräber pflegten. Töchterwurden verheiratet und waren wertlos. Das war seit hundert Generationen so.
»Du bist also doch die Tochter deiner Mutter«, schimpfteihr Mann, als sie ihm zurief, dass sein Erstgeborenes ein Mädchen war. »Ihrseid verflucht!« Es stimmte. Ihre Mutter hatte vier Mädchen geboren und keinenJungen. Die Mutter ihrer Mutter hatte sechs Kinder bekommen - lauter Mädchen.Er hatte schon befürchtet, dass dieses Gebrechen in der Familie lag.
Mit düsterer Miene nahm ihre Schwiegermutter dasBaby. »Ich werde es tun«, sagte sie zu Shao Lin. Aber sie brauchte gar nichtszu tun. Das Baby machte es ihr leicht. Es hatte etwas in der Kehle, etwas, dasim Weg war - Schleim vielleicht -, und es atmete nicht richtig. Es würgte undbrauchte einen Klaps. Die Schwiegermutter legte es einfach hin und wandte sichab. Das Baby wurde blau und hörte auf zu zappeln.
Später stapfte Shao Lin über die gefrorenen Felderzu der Anhöhe, wo der Urgroßvater ihres Mannes unter einem Geröllhaufenbegraben war. Es war nicht mehr erlaubt, die Toten in der Erde zu bestatten.Land war zu wertvoll. Sie hätte den Leichnam in den Yangtse legen sollen, wo erins Meer getrieben wäre. Aber das kümmerte sie nicht. Sie hatte an diesem Taggenug für ihre Familie getan. Sie hatte an diesem Tag genug für China getan. Siehatte an diesem Tag genug für ein ganzes Leben getan.
Da war noch eine Erinnerung. Eine Genehmigung vonder Regierung, lang erwartet, als sie für eine Weile aufhörten, den Terminihrer Monatsblutung auf der Tafel im Dorf zu notieren. Für den Distrikt warnoch ein Baby genehmigt worden. Ihr Baby.Diesmal wollte ihr Mann es vorherwissen. Sie nahmen Ersparnisse aus dem Kasten unter dem Bett. Hinten auf einemKarren unternahmen sie die weite Reise nach Jiangyin zum Arzt. Er hatte einUltraschallgerät. Das benutzt jetzt jeder, sagten die alten Frauen im Dorf. DerUltraschall konnte ein Mädchen entdecken, bevor es geboren wurde, und dann wardie Sache einfach. Sie ließen sie Wasser trinken, bis sie zu platzen drohte,und dann halfen sie ihr auf einen kalten Stahltisch. Der Arzt rieb ihren Bauchmit einem kalten Gelee ein und drückte eine Art Stempel auf ihre Haut. Siereckte den Hals, um die graue Masse zu sehen, die sich auf dem kleinenSchwarzweißmonitor bewegte. Nach einer Weile nickte der Arzt und deutete aufetwas.
Shao Lin sah nur einen unscharfen Fleck. Der Arztsagte, der Fleck sei ein Mädchen.
Die Abtreibung wurde vorgenommen, während ihr Manndraußen im Flur wartete. Sie schloss die Augen vor dem kalten Stahl und denrauen Händen des Arztes und sagte sich, es sei am besten so.
Aber derUltraschall hatte den Arzt getäuscht. Das tote Kind war ein Junge. Ihr Mannwurde verrückt vor Schmerz und Zorn. Er ging ohne sie, ließ sie allein auf demTisch. Eine ganze Woche lang ließ ihre Schwiegermutter sie nicht ins Haus, undso schlief sie im Stroh draußen vor den sonnenwarmen Mauern, bei den Ziegen undSchafen.
Beim nächsten Mal verließ sie das Haus, um das Babyallein zur Welt zu bringen. Das Kind wurde in einem Orangenhain bei strahlendemSonnenschein geboren, und es schrie laut mit kräftiger Lunge. Als Shao Lin sah,dass es wieder ein Mädchen war, erwog sie, sich mit dem Messer, mit dem sie dieNabelschnur durchtrennt hatte, das Leben zu nehmen. Es schien keinen anderen Auswegzu geben. Sie konnte nicht zulassen, dass das Kind ihre Familie, ihr Lebenzerstörte. Sie konnte es nicht behalten, und sie konnte es nicht umbringen. Undwenn sie es aussetzte,würde sie vielleicht jahrelang im Gefängnis sitzen.
Shao Lin dachte an ihre Cousine in Suzhou. DieFamilie mied sie; es hieß, sie sei eine Frau, die sich in den nächtlichenStraßen auskannte. Shao Lin kümmerte das nicht; sie brauchte Hilfe, und es gabsonst niemanden, an den sie sich hätte wenden können.
Sie wickelte das Kind in eine warme Decke und gingden Pfad hinunter zur großen Straße, wo ein Bauer sie auf seinem Karren mitfahrenließ. Er lächelte breit, als er das Kind sah. »Ein Segen«, sagte er. Währendsie über die holprigen Landstraßen fuhren,trank das Kind an ihrer Brust undschlief dann. Shao Lin sah, dass es ein schönes Mädchen war, aber sie vermiedes, ihr ins Gesicht zu blicken, weil es ihr zu schwer fiel, dann wieder wegzusehen.Sie deckte das Kind zu und starrte dumpf auf die vorüberziehenden Kohlfelder.Die Nacht verbrachte sie in Shengang, und am nächsten Morgen nahm sie den Bus.
In Suzhou herrschte großes Gedränge, und alles warschnell und beängstigend. Sie hatte eine Adresse. Vornübergebeugt wanderte siedurch die Straßen und bemühte sich, ihr Baby - ihr Verbrechen - vor den Blickender Öffentlichkeit zu verbergen. Wenn sie einen Polizisten sah, wandte sie sichab, denn sie hatte schreckliche Angst, er könne irgendwie in ihr Herz blicken undihre Absichten erkennen. Aber niemand hielt sie auf. Niemand sprach sie an.Schließlich zeigte ihr ein Ladenbesitzer den Weg.
Ihre Cousine war eine erschöpfte, freundliche Frau,die überrascht und erfreut war, sie zu sehen. Wenn sie eine Hure war, konnteShao Lin es ihr nicht ansehen. Die Frau hörte mitfühlend zu, als Shao Lin ihrHerz erleichterte. »Ich kenne da einen Mann«, sagte sie. Er kam am Nachmittag.Sein Gesicht war fleischig und pockennarbig. Er trug einen ausgebeulten westlichenAnzug und roch nach Fisch. Shao Lin empfand instinktiv Abneigung gegen ihn.
Als er das Kind nackt auszog, um es zu untersuchen,geriet ihre Entschlossenheit ins Wanken. Sie streckte die Hände nach dem Kindaus, aber ihre Cousine hielt sie zurück. »Es gibt keine bessere Möglichkeit«,flüsterte sie.
Der Mann hob den Kopf. »Ich gehe, wenn du willst«,sagte er.»Aber wenn du sie auf die Krankenhaustreppe legst, kriegen wir sieauch. Auf diese Weise springt für dich noch etwas dabei heraus.«
»Was wird mit ihr geschehen?«
»Sie wird leben«, sagte er nur.
Der Mann war zufrieden mit dem Kind und wickelte eswieder in die Decke. Er tat es schnell und ohne Zärtlichkeit. Er zog ein BündelGeldscheine aus der Tasche, blätterte ein paar davon ab und hielt sie Shao Linentgegen. Ohne nachzudenken wollte sie danach greifen, aber dann stockte sieentsetzt und beschämt. Er warf ihr das Geld vor die Füße und verabschiedetesich grunzend von Shao Lins Cousine. Als er die Tür öffnete, drang einkraftvoller Schrei aus dem Bündel. Er kümmerte sich nicht darum.
Die Tür schloss sich hinter ihm. Shao Lin sankhemmungslos schluchzend zu Boden. Ihre Cousine sammelte die Geldscheine auf undlegte sie in eine Schublade.
Shao Lin blieb auf dem Boden sitzen, bis es dunkelwurde. Ein paarmal würgte sie, als müsse sie sich übergeben, aber es kam nichts.Sie lehnte ab, als ihre Cousine ihr etwas zu essen und ein Bett für die Nachtanbot.
Und als sie sich kräftig genug fühlte, stand sieauf. Sie flüchtete aus dem Haus und in die Nacht hinaus.
An diesem Abend klingelte in einem ummauertenAnwesen außerhalb von Suzhou ein Telefon.
»Wei?«
»Ich habe noch eine«, sagte der Mann mit dempockennarbigen Gesicht. »Nicht registriert.«
»Ja?«
»Sie ist tadellos. Nur zwei Tage alt. Gesund undgut ausgebildet. Ihre Mutter war vorzüglich.«
»Sehr gut.«
»Ich ich will mehr für sie.«
Es blieb lange still in der Leitung. »Wir werdensehen. Bring sie zu mir.«
Shao Lin belog ihren Mann und dieGeburtenkontrollbeamtin und erklärte, das Kind sei bei der Geburt gestorben.Ihr Mann ging auf seine Felder zurück, und die Beamtin stellte keine Fragen, weildie Antworten sie nicht interessierten. Kein Baby bedeutete, dass die Quotenicht in Gefahr war.
© DroemerKnaur
Übersetzung: Rainer Schmidt
- Autor: David Ball
- 2005, 541 Seiten, Maße: 15,2 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Rainer
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426197073
- ISBN-13: 9783426197073
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