Nachts
«Der Leser ist Stephen King gnadenlos ausgeliefert.» FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
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«Der Leser ist Stephen King gnadenlos ausgeliefert.» FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
"Der Leser ist Stephen King gnadenlos ausgeliefert." FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
LESEPROBE
Eine Vorbemerkung
Nun, sieh einer an - wir sind alle da. Wir haben es wieder einmalgeschafft. Ich hoffe, Sie freuen sich nur halb so sehr darüber, wieder hier zusein, wie ich. Allein das zu sagen, erinnert mich an eine Geschichte, und daich Geschichten erzähle, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen (und nicht denVerstand zu verlieren), möchte ich sie weitergeben.
Anfang dieses Jahres - ich schreibe dies Ende Juli 1989- saß ich vor der Glotze und sah das Spiel der Boston Red Sox gegen dieMilwaukee Brewers. Robin Yunt von den Brewers trat aufs Schlagmal, und dieBerichterstatter aus Boston fingen an, über die Tatsache zu staunen, daß Younterst Anfang Dreißig ist. »Manchmal scheint es, als hätte Yount schon AbnerDoubleday geholfen, die allerersten Foul-Linien zu ziehen«, sagte Ned Martin,während Yount in die Box trat und sich Roger Clemens stellte.
»Jawoll«, stimmte Joe Castiglione zu. »Ich glaube, er kamgleich nach der Schule zu den Brewers - er spielt seit 1974 für sie.«
Ich richtete mich so schnell auf, daß ich fast eine Dose Pepsi-Colaverschüttete. Moment mal! dachte ich. Einen verdammten Moment mal! 1974habe ich mein erstes Buch veröffentlicht! So lange ist das noch nicht her! Wassoll der Mist von wegen Abner Doubleday helfen, die ersten Foul-Linien zu ziehen?
Dann fiel mir auf, daß die Wahrnehmung, wie die Zeit verrinnt- ein Thema, das in den nachfolgenden Geschichten immer wieder auftaucht -, einehöchst individuelle Angelegenheit ist. Es stimmt, die Veröffentlichung von Carrie imFrühjahr 1974 (das Buch wurde tatsächlich zwei Tage vor Beginn derBaseball-Spielzeit veröffentlicht, als ein Teenager namens Robin Yount seinerstes Spiel für die Milwaukee Brewers ausfocht) scheint mir selbst noch nichtlange her zu sein - kaum mehr als ein rascher Blick zurück über die Schulter -,aber es gibt andere
1974 war Gerald Ford Präsident, und der Schah hatte im Irannoch das Sagen. John Lennon lebte noch, ebenso Elvis Presley. Donny Osmond sangmit hoher Säuselstimme mit seinen Brüdern und Schwestern. Videorecorder warenbereits erfunden, aber nur in einigen wenigen Geschäften erhältlich. Fachleutesagten voraus, daß Sonys Beta-Maschinen binnen kürzester Zeit das als VHS bekannteKonkurrenzsystem in Grund und Boden stampfen würden. Es war noch unvorstellbar,daß die Leute einmal Filme ausleihen könnten, wie sie früher Romane in öffentlichenBibliotheken ausgeliehen hatten. Die Benzinpreise waren geklettert: elf Centpro Liter Normalbenzin, dreizehn für bleifreien Sprit.
Die ersten weißen Haare auf meinem Kopf und in meinem Bartwaren noch nicht da. Meine Tochter, die mittlerweile das College besucht, warvier. Mein ältester Sohn, der inzwischen größer ist als ich, Blues-Harp spieltund wallende, schulterlange Sammy-Hagar-Locken trägt, war gerade von Windeln zunormalen Höschen übergewechselt. Und mein jüngster Sohn, der heute als Werferund erster Schläger für eine Jugendliga-Mannschaft spielt, sollte erst dreiJahre später geboren werden. Die Zeit hat so eine seltsame Plastikeigenschaft,und alles, was geht, kommt wieder. Wenn man in den Bus steigt, denkt man, daßer einen nicht weit bringt - vielleicht quer durch die Stadt, nicht weiter-,und auf einmal ist man schon auf dem nächsten Kontinent. Finden Sie diesenVergleich ein wenig naiv? Ich auch, aber der Knaller ist: Das spielt gar keineRolle. Das grundlegende Rätsel der Zeit ist so perfekt, daß selbst trivialeBeobachtungen wie die, die ich gerade angestellt habe, eine seltsam schallendeResonanz bekommen.
Eines hat sich im Lauf dieser Jahre nicht geändert - was meinesErachtens der Hauptgrund dafür ist, daß es mir (und Robin Yount wahrscheinlichauch) manchmal so vorkommt, als wäre überhaupt keine Zeit verstrichen. Ich macheimmer noch dasselbe: Geschichten schreiben. Und das ist für mich immer nochmehr als nur das, was ich kann; es ist das, was ich liebe. Oh, verstehen Siemich nicht falsch - ich liebe meine Frau, und ich liebe meine Kinder, aber esist immer noch ein Vergnügen, diese speziellen Nebenstraßen zu suchen, sie zubefahren und festzustellen, wer dort lebt, was sie machen, mit wem sie esmachen und vielleicht sogar warum sie es machen. Ich finde immer noch Gefallendaran, wie seltsam das alles ist - und an den überwältigenden Augenblicken,wenn das Bild klar wird und Ereignisse sich zu einem Muster zusammenfügen. UndGeschichten haben immer einen langen Schwanz. Das Tier ist schnell, undmanchmal bekomme ich es nicht zu fassen, aber wenn ich es zu fassen bekomme, klammere ich mich daranfest ... und das Gefühl ist großartig.
Wenn dieses Buch 1990 veröffentlicht wird, binich sechzehn Jahre im Geschäft des schönen Scheins. Auf halbem Weg durch dieseJahre, als ich durch einen Prozeß, den ich immer noch nicht völlig verstehe,zum literarischen Schreckgespenst Amerikas geworden war, veröffentlichte ichein Buch mit dem Titel Frühling,Sommer, Herbst und Tod. Es handelte sich um eine Sammlung von vier bis dahinunveröffentlichten Kurzromanen, von denen drei keine Horror-Stories waren. DerVerleger hat das Buch frohen Herzens akzeptiert, aber ich glaube, auch mit einigengeistigen Vorbehalten. Ich hatte auf jeden Fall welche. Wie sich herausstellte,hatten wir beide keinen Grund zur Sorge. Manchmal veröffentlicht einSchriftsteller ein Buch, das einfach von Natur aus Glück hat, und ich glaube,mit Frühling, Sommer,Herbst und Tod war es bei mir
so.
...
Übersetzung: Joachim Körber
© Wilhem Heyne Verlag
- Autor: Stephen King
- 1999, 512 Seiten, Maße: 12,2 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Joachim Körber
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453092201
- ISBN-13: 9783453092204
4.5 von 5 Sternen
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