Nebra
Thriller
Nach "Medusa" und "Magma" ein neuer Hochspannungsthriller von Thomas Thiemeyer!
Walpurgisnacht im Harz - Schneestürme verwüsten die Frühlingslandschaft. Tief im Berg will eine archaische Kraft...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Nebra “
Nach "Medusa" und "Magma" ein neuer Hochspannungsthriller von Thomas Thiemeyer!
Walpurgisnacht im Harz - Schneestürme verwüsten die Frühlingslandschaft. Tief im Berg will eine archaische Kraft entfesselt werden. Ein dunkler Kult braucht dazu aber die Sternenscheibe von Nebra. Archäologin Hannah Peters, die sie erforscht, ist in tödlicher Gefahr.
Klappentext zu „Nebra “
Walpurgisnacht. Schneestürme verwüsten das frühlingsgrüne Land. In den Tiefen des Berges will eine archaische Kraft entfesselt werden. Doch noch fehlt das entscheidende Element Rund um den Brocken im Harz bereiten sich Hotels und Gemeinden auf den Touristenrummel zu Walpurgis vor. Auch die Archäologin Hannah Peters ist dort unterwegs; sie soll im Auftrag des Landesmuseums die geheimnisumwitterte Himmelsscheibe von Nebra erforschen, einen sensationellen bronzezeitlichen Fund aus der Gegend und kommt keinen Schritt weiter. Was sie nicht wissen kann: Die Scheibe ist das Objekt der Begierde eines dunklen Kultes, der in den Höhlen des Harzgebirges seit langem darauf lauert, einen alles vernichtenden Ritus zu zelebrieren.
Als Hannah einen Mann kennenlernt, der das Gebirge wie seine Westentasche zu kennen scheint, kommt endlich Bewegung in ihre Forschungen. Doch dann ist die Scheibe plötzlich verschwunden. Unwiderruflich wird Hannah hineingezogen in die Machenschaften jener uralten Sekte, und schon bald kündigen seltsame Himmelserscheinungen eine Walpurgisnacht an, die nie wieder enden wird
Lese-Probe zu „Nebra “
Nebra von Thomas Thiemeyer 1
Samstag, 30. April 1988
Ein seltsames Geräusch drang durch die Dunkelheit zu ihm herauf.
Erst von fern, dann stetig näher kommend. Ein dumpfes Schlagen, das durch die Gänge hallte, sich an den Felsen brach und den Boden unter seinen Füßen erzittern ließ. Kein natürliches Geräusch, dafür war es zu rhythmisch. Trommeln vielleicht oder Pauken, begleitet von einem Pfeifen, das wie das Heulen des Windes klang. Waren das Hörner? Aber welches Horn war in der Lage, solche Misstöne zu erzeugen?
Was immer sich da in den Eingeweiden der Welt regte, es kam näher. Trotz seines Alters – er war immerhin schon siebzehn – weigerte sich der Junge, die Augen zu öffnen. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, doch das war nicht möglich. Die ledernen Riemen, mit denen seine Hände hinter dem Rücken an einem Pflock festgebunden waren, schnitten ihm ins Fleisch. Alle Bemühungen, sie mit seinen tauben Fingern zu öffnen, hatte er längst aufgegeben. Er saß da, vornübergebeugt, das Kinn auf die Brust gesenkt und mühsam nach Luft ringend.
... mehr
Hier unten war es mörderisch heiß. Der Schweiß rann ihm in Strömen vom Gesicht. Durch seine geschlossenen Lider hindurch drang das Flackern eines Feuers. Brandig riechende Luft strich über sein schweißgebadetes Gesicht. Zu schwach, um sich aufzurichten, zu verängstigt, um sich dem Anblick seiner Entführer zu stellen, saß er da, hielt die Augenlider fest zusammengepresst und erwartete das Unheil, das da aus den Tiefen des Berges zu ihm emporstieg. Der Lärm war mittlerweile zu einem ohrenbetäubenden Crescendo angeschwollen. Stimmen mischten sich in das Heulen und Trommeln, Stimmen, denen etwas Fremdartiges innewohnte. Sie sangen in einer Sprache, die er nicht verstand. Die Silben wehten durcheinander, während aus dem Klangteppich eine einzelne klare Stimme emporstieg. Wie ein Vogel schwebte sie über dem atonalen Chor und sang in einer Schwermut, die überirdisch schön war.
Unter den geschlossenen Lidern spürte der Junge Tränen hervorquellen. Wie in Trance bewegte er seinen Oberkörper vor und zurück, während er die Melodie aufgriff und mitzusummen begann. Die Musik trug seine Gedanken an einen weit entfernten Ort. Einen Ort, wo ihm der Schrecken und die Verzweiflung nichts anhaben konnten. Monoton sang er mit, immer dieselbe Strophe, immer dasselbe Lied. »Wach auf!« Eine Stimme drang zu ihm durch, flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Jetzt mach schon. Ich glaub, ich hab es geschafft. Die Fesseln lockern sich.« Die Stimme war jetzt merklich lauter. Sie drängte, forderte, zischte. »Verdammt noch mal, wach endlich auf!« Es hatte keinen Sinn. Er konnte die Stimme nicht länger ignorieren. Widerstrebend schlug er die Augen auf.
Zunächst erkannte er nur Farbschleier, doch dann begann sich ein Bild zu formen. Er wandte den Kopf zur Seite und blickte in das Antlitz eines Mädchens. Ihr hübsches Gesicht war schweißüberströmt. An ihrer Schläfe klaffte eine Wunde, ihr pechschwarzes Haar war blutverkrustet. »Ich glaub, ich krieg die Fesseln los«, flüsterte sie, sichtlich erleichtert darüber, dass er endlich wieder bei Bewusstsein war. Der Junge schüttelte den Kopf. Er fühlte sich, als würde etwas mit seinem Gleichgewichtsorgan nicht stimmen. »Alles dreht sich in mir«, stammelte er. »Außerdem habe ich einen Riesendurst. Mir klebt die Zunge am Gaumen.« Er versuchte etwas Speichel zu sammeln, aber es ging nicht, sein Mund war völlig ausgetrocknet.
»Das ist das Zeug, das sie uns gegeben haben«, erwiderte das Mädchen. »Ich habe nur einen kleinen Schluck von dem Gesöff genommen und den Rest ausgespuckt, als sie nicht hingesehen haben. Du scheinst eine ordentliche Ladung abbekommen zu haben, so wie du umgekippt bist. Genau wie die beiden anderen. « Das Mädchen machte eine Bewegung mit dem Kopf und deutete auf die rechte Seite. Dort waren zwei weitere Pflöcke, an denen die ohnmächtigen Gestalten eines Mädchens und eines Jungen hingen. Beide aus ihrer Jahrgangsstufe. Er nickte. Langsam fi el ihm alles wieder ein. Die Klassenfahrt – das Hexenfest in Thale – die nachmittägliche Wanderung. Hatten sie nicht eine Höhle gefunden? Doch, so war es gewesen. Sie wollten sie noch schnell erkunden, ehe der Bus losfuhr. Hatten sie nicht gewartet, bis der Rest der Klasse samt Lehrern lärmend und palavernd im Wald verschwunden war? Und hatten sie dann nicht kehrtgemacht und waren in die Finsternis des Berges eingetaucht? Zwei Jungen und zwei Mädchen – die beste Kombination für eine Mutprobe. Nun ja, manche Fehler machte man nur einmal im Leben. Etwa fünfzig Meter weit waren sie in die Höhle eingedrungen, ehe sie das Ende erreicht hatten. Die Blonde hatte zum Aufbruch gedrängt. Was, wenn der Bus ohne sie losfahren würde? Die werden schon auf uns warten, hatte er erwidert, während er dem anderen Mädchen – dem mit den schwarzen Haaren – aufmunternde Blicke zugeworfen hatte. Wenn wir uns beeilen, haben wir sie eingeholt, noch ehe sie unsere Abwesenheit bemerken. Zum krönenden Abschluss und zum Beweis seiner Unerschrockenheit hatte er seine Taschenlampe ausgemacht. Er erinnerte sich, wie vollkommene Dunkelheit sie einhüllte – eine so allumfassende Dunkelheit, dass sie buchstäblich die Hand vor Augen nicht sehen konnten. Und dann hatte die Schwarzhaarige seine Finger berührt. Lächelnd hatte er sie zu sich herangezogen und sie geküsst. Und sie hatte seinen Kuss erwidert. Ein schöner Zustand, den er gern länger ausgekostet hätte. Doch in diesem Moment war ihm ein schmaler Lichtstreifen aufgefallen, der aus einer Öffnung knapp über dem Boden schimmerte. Er hatte seine Taschenlampe wieder eingeschaltet und tatsächlich, da war ein Spalt, gerade breit genug, dass man sich auf dem Bauch liegend hindurchzwängen konnte. Lass uns nachsehen, hatte er vorgeschlagen. Wo mag wohl das Licht herkommen? Nur noch ein kurzer Blick, dann gehen wir zurück. Die anderen hatten zugestimmt. Hätten sie ihn doch zurückgehalten. Der Spalt war verdammt eng. Sie waren weitergekrochen, bis sich die Decke so weit hob, dass sie auf allen vieren weiterrobben konnten. Dann endlich hatten sie es geschafft. Ihre krummen Rücken aufrichtend, hatten sie sich umgesehen. Niemals würde er diesen Anblick vergessen. Er erinnerte sich, wie sie mit offenen Mündern dagestanden hatten und nicht fassen konnten, was sie da entdeckt hatten. Es war, als hätten sie Ali Babas Höhle betreten. Stäbe, Schwerter, Kelche, selbst ein schimmernder Wagen war zu sehen gewesen, gezogen von einem goldenen Pferd. Ein Schiff hatte dort gestanden, mit gebogenem Rumpf und goldenen Segeln. Beleuchtet wurde die Höhle von Fackeln, die ihr Licht verschwenderisch auf die unermesslichen Reichtümer ergossen. Und dann dieser riesige Stein. Ein Monolith, in dessen feuchter Schwärze sich das Licht der Flammen auf wider natürliche Art spiegelte. An seinen Seiten befanden sich Vertiefungen, in die wertvoll aussehende Scheiben eingelassen waren. Eine Art Kultstein oder Altar? So geblendet waren die Jugendlichen von der Pracht und dem Glanz, dass sie die beiden merkwürdigen schmutzigen Haufen in der Ecke des Raumes gar nicht bemerkt hatten. Bis zu dem Augenblick, als diese sich bewegten … »Wach auf!«
Sein Kopf ruckte aus dem Halbschlaf hoch. Wie es schien, pulsierte immer noch genug von dem Schlafmittel durch seine Venen, um damit eine Herde Elefanten zu betäuben. Verwundert blickte er sich um. Der hintere Teil der Höhle hatte sich während seiner Ohnmacht mit Menschen gefüllt. Sie waren in seltsame Kostüme gehüllt. Wie heidnische Priester sahen sie aus, wie Relikte einer längst vergangenen Zeit. Sein Blick blieb an einer halbnackten Frau hängen, die vor die Menge getreten war und langsam zu tanzen begann. Die Haare hochgesteckt und die Augen schwarz geschminkt, sah sie aus wie eine Hexe. Die Menge wiegte sich im Takt der Musik, während der Tanz sich langsam steigerte. Die Bewegungen der Frau hatten eine beinahe hypnotische Wirkung. Der Junge spürte, wie ihm die Augen wieder zufielen. »Verdammt, reiß dich zusammen!«, flüsterte das Mädchen. »Untersteh dich, wieder einzuschlafen.« Den Protest seines schlaftrunkenen Körpers ignorierend, schlug er die Augen auf. Diesmal, so schwor er sich, würde er nicht mehr einschlafen. »Schau dir das an.« Das Mädchen lenkte seinen Blick auf ihre zusammengebundenen Hände – ihre ehemals zusammengebundenen Hände. Im Schatten des Pfostens sah der Junge einen etwa einen Meter langen Lederstreifen liegen. Das Mädchen bewegte die Arme, um ihm zu zeigen, dass sie sich befreit hatte. Er runzelte die Stirn. Wie war ihr das nur gelungen? Beim zweiten Hinsehen bemerkte er, wie etwas in ihren Händen aufblitzte.
Ein Taschenmesser. Er hob den Kopf und nickte. Respekt blitzte in seinen Augen. In diesem Moment endete der Tanz der seltsamen Frau. Ein großer hagerer Mann betrat die Höhle. In Tierfelle gehüllt und mit den Hörnern eines Rehbocks auf der Stirn, sah er aus wie der leibhaftige Teufel. Sein Körper, sein Gesicht, ja selbst seine Haare und sein Bart waren mit roter und schwarzer Farbe bemalt. Die darunterliegende Haut wirkte, als wäre sie mit einer Schicht Lehm bedeckt. Seine Erscheinung glich eher einem Tier als einem Menschen. An seiner Seite krochen zwei große grauschwarze Gestalten. Mit ihrem zotteligen Fell, ihren vorgereckten Schnauzen und den langen dreckverkrusteten Klauen erinnerten sie an Wölfe. Doch es waren keine Wölfe, dessen war er sich sicher. Ein Raunen ging durch die Höhle, während die Anwesenden respektvoll vor den Neuankömmlingen zurückwichen. In vielen Gesichtern stand Furcht. Der Junge hielt den Atem an. Er kannte diese Wesen. Es handelte sich um dieselben widerwärtigen Kreaturen, die er beim Betreten der Höhle für schmutzige Haufen gehalten hatte. Er konnte sich noch erinnern, wie schnell sie sich bewegt hatten, welch ungeheure Kraft sie befähigt hatte, aus dem Stand mehrere Meter weit zu springen. Und er erinnerte sich an ihren Geruch. Auch jetzt meinte er wieder diesen modrigen Gestank nach Walderde und Pilzen wahrzunehmen. Der Teufelsmensch durchschritt die Höhle und trat auf die Hexe zu. In einer Art ritueller Geste berührte er sie an den Brüsten und zwischen den Beinen. Dann ging er zum Feuer hinüber und zog einen Metallstab aus den Flammen. Er hob ihn hoch und warf einen Blick auf dessen glühende Spitze. Der Junge hatte kaum Zeit zum Nachdenken, da wurde er von der schmutzigen Hand des Mannes am Genick gepackt und nach vorn gebeugt. Ein widerwärtiges Zischen war zu hören, verbunden mit einem kurzen, heftigen Stechen in der Wirbelsäule. Der Gestank von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase. Ebenso schnell, wie er gepackt wurde, ließ man ihn wieder frei. Der Junge rang nach Atem, als der Schmerz einsetzte. Er war vor Angst so gelähmt, dass er kaum mitbekam, wie der Teufel das Mädchen packte und ihr den Stab ins Genick drückte.
© Knaur Verlag
Unter den geschlossenen Lidern spürte der Junge Tränen hervorquellen. Wie in Trance bewegte er seinen Oberkörper vor und zurück, während er die Melodie aufgriff und mitzusummen begann. Die Musik trug seine Gedanken an einen weit entfernten Ort. Einen Ort, wo ihm der Schrecken und die Verzweiflung nichts anhaben konnten. Monoton sang er mit, immer dieselbe Strophe, immer dasselbe Lied. »Wach auf!« Eine Stimme drang zu ihm durch, flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Jetzt mach schon. Ich glaub, ich hab es geschafft. Die Fesseln lockern sich.« Die Stimme war jetzt merklich lauter. Sie drängte, forderte, zischte. »Verdammt noch mal, wach endlich auf!« Es hatte keinen Sinn. Er konnte die Stimme nicht länger ignorieren. Widerstrebend schlug er die Augen auf.
Zunächst erkannte er nur Farbschleier, doch dann begann sich ein Bild zu formen. Er wandte den Kopf zur Seite und blickte in das Antlitz eines Mädchens. Ihr hübsches Gesicht war schweißüberströmt. An ihrer Schläfe klaffte eine Wunde, ihr pechschwarzes Haar war blutverkrustet. »Ich glaub, ich krieg die Fesseln los«, flüsterte sie, sichtlich erleichtert darüber, dass er endlich wieder bei Bewusstsein war. Der Junge schüttelte den Kopf. Er fühlte sich, als würde etwas mit seinem Gleichgewichtsorgan nicht stimmen. »Alles dreht sich in mir«, stammelte er. »Außerdem habe ich einen Riesendurst. Mir klebt die Zunge am Gaumen.« Er versuchte etwas Speichel zu sammeln, aber es ging nicht, sein Mund war völlig ausgetrocknet.
»Das ist das Zeug, das sie uns gegeben haben«, erwiderte das Mädchen. »Ich habe nur einen kleinen Schluck von dem Gesöff genommen und den Rest ausgespuckt, als sie nicht hingesehen haben. Du scheinst eine ordentliche Ladung abbekommen zu haben, so wie du umgekippt bist. Genau wie die beiden anderen. « Das Mädchen machte eine Bewegung mit dem Kopf und deutete auf die rechte Seite. Dort waren zwei weitere Pflöcke, an denen die ohnmächtigen Gestalten eines Mädchens und eines Jungen hingen. Beide aus ihrer Jahrgangsstufe. Er nickte. Langsam fi el ihm alles wieder ein. Die Klassenfahrt – das Hexenfest in Thale – die nachmittägliche Wanderung. Hatten sie nicht eine Höhle gefunden? Doch, so war es gewesen. Sie wollten sie noch schnell erkunden, ehe der Bus losfuhr. Hatten sie nicht gewartet, bis der Rest der Klasse samt Lehrern lärmend und palavernd im Wald verschwunden war? Und hatten sie dann nicht kehrtgemacht und waren in die Finsternis des Berges eingetaucht? Zwei Jungen und zwei Mädchen – die beste Kombination für eine Mutprobe. Nun ja, manche Fehler machte man nur einmal im Leben. Etwa fünfzig Meter weit waren sie in die Höhle eingedrungen, ehe sie das Ende erreicht hatten. Die Blonde hatte zum Aufbruch gedrängt. Was, wenn der Bus ohne sie losfahren würde? Die werden schon auf uns warten, hatte er erwidert, während er dem anderen Mädchen – dem mit den schwarzen Haaren – aufmunternde Blicke zugeworfen hatte. Wenn wir uns beeilen, haben wir sie eingeholt, noch ehe sie unsere Abwesenheit bemerken. Zum krönenden Abschluss und zum Beweis seiner Unerschrockenheit hatte er seine Taschenlampe ausgemacht. Er erinnerte sich, wie vollkommene Dunkelheit sie einhüllte – eine so allumfassende Dunkelheit, dass sie buchstäblich die Hand vor Augen nicht sehen konnten. Und dann hatte die Schwarzhaarige seine Finger berührt. Lächelnd hatte er sie zu sich herangezogen und sie geküsst. Und sie hatte seinen Kuss erwidert. Ein schöner Zustand, den er gern länger ausgekostet hätte. Doch in diesem Moment war ihm ein schmaler Lichtstreifen aufgefallen, der aus einer Öffnung knapp über dem Boden schimmerte. Er hatte seine Taschenlampe wieder eingeschaltet und tatsächlich, da war ein Spalt, gerade breit genug, dass man sich auf dem Bauch liegend hindurchzwängen konnte. Lass uns nachsehen, hatte er vorgeschlagen. Wo mag wohl das Licht herkommen? Nur noch ein kurzer Blick, dann gehen wir zurück. Die anderen hatten zugestimmt. Hätten sie ihn doch zurückgehalten. Der Spalt war verdammt eng. Sie waren weitergekrochen, bis sich die Decke so weit hob, dass sie auf allen vieren weiterrobben konnten. Dann endlich hatten sie es geschafft. Ihre krummen Rücken aufrichtend, hatten sie sich umgesehen. Niemals würde er diesen Anblick vergessen. Er erinnerte sich, wie sie mit offenen Mündern dagestanden hatten und nicht fassen konnten, was sie da entdeckt hatten. Es war, als hätten sie Ali Babas Höhle betreten. Stäbe, Schwerter, Kelche, selbst ein schimmernder Wagen war zu sehen gewesen, gezogen von einem goldenen Pferd. Ein Schiff hatte dort gestanden, mit gebogenem Rumpf und goldenen Segeln. Beleuchtet wurde die Höhle von Fackeln, die ihr Licht verschwenderisch auf die unermesslichen Reichtümer ergossen. Und dann dieser riesige Stein. Ein Monolith, in dessen feuchter Schwärze sich das Licht der Flammen auf wider natürliche Art spiegelte. An seinen Seiten befanden sich Vertiefungen, in die wertvoll aussehende Scheiben eingelassen waren. Eine Art Kultstein oder Altar? So geblendet waren die Jugendlichen von der Pracht und dem Glanz, dass sie die beiden merkwürdigen schmutzigen Haufen in der Ecke des Raumes gar nicht bemerkt hatten. Bis zu dem Augenblick, als diese sich bewegten … »Wach auf!«
Sein Kopf ruckte aus dem Halbschlaf hoch. Wie es schien, pulsierte immer noch genug von dem Schlafmittel durch seine Venen, um damit eine Herde Elefanten zu betäuben. Verwundert blickte er sich um. Der hintere Teil der Höhle hatte sich während seiner Ohnmacht mit Menschen gefüllt. Sie waren in seltsame Kostüme gehüllt. Wie heidnische Priester sahen sie aus, wie Relikte einer längst vergangenen Zeit. Sein Blick blieb an einer halbnackten Frau hängen, die vor die Menge getreten war und langsam zu tanzen begann. Die Haare hochgesteckt und die Augen schwarz geschminkt, sah sie aus wie eine Hexe. Die Menge wiegte sich im Takt der Musik, während der Tanz sich langsam steigerte. Die Bewegungen der Frau hatten eine beinahe hypnotische Wirkung. Der Junge spürte, wie ihm die Augen wieder zufielen. »Verdammt, reiß dich zusammen!«, flüsterte das Mädchen. »Untersteh dich, wieder einzuschlafen.« Den Protest seines schlaftrunkenen Körpers ignorierend, schlug er die Augen auf. Diesmal, so schwor er sich, würde er nicht mehr einschlafen. »Schau dir das an.« Das Mädchen lenkte seinen Blick auf ihre zusammengebundenen Hände – ihre ehemals zusammengebundenen Hände. Im Schatten des Pfostens sah der Junge einen etwa einen Meter langen Lederstreifen liegen. Das Mädchen bewegte die Arme, um ihm zu zeigen, dass sie sich befreit hatte. Er runzelte die Stirn. Wie war ihr das nur gelungen? Beim zweiten Hinsehen bemerkte er, wie etwas in ihren Händen aufblitzte.
Ein Taschenmesser. Er hob den Kopf und nickte. Respekt blitzte in seinen Augen. In diesem Moment endete der Tanz der seltsamen Frau. Ein großer hagerer Mann betrat die Höhle. In Tierfelle gehüllt und mit den Hörnern eines Rehbocks auf der Stirn, sah er aus wie der leibhaftige Teufel. Sein Körper, sein Gesicht, ja selbst seine Haare und sein Bart waren mit roter und schwarzer Farbe bemalt. Die darunterliegende Haut wirkte, als wäre sie mit einer Schicht Lehm bedeckt. Seine Erscheinung glich eher einem Tier als einem Menschen. An seiner Seite krochen zwei große grauschwarze Gestalten. Mit ihrem zotteligen Fell, ihren vorgereckten Schnauzen und den langen dreckverkrusteten Klauen erinnerten sie an Wölfe. Doch es waren keine Wölfe, dessen war er sich sicher. Ein Raunen ging durch die Höhle, während die Anwesenden respektvoll vor den Neuankömmlingen zurückwichen. In vielen Gesichtern stand Furcht. Der Junge hielt den Atem an. Er kannte diese Wesen. Es handelte sich um dieselben widerwärtigen Kreaturen, die er beim Betreten der Höhle für schmutzige Haufen gehalten hatte. Er konnte sich noch erinnern, wie schnell sie sich bewegt hatten, welch ungeheure Kraft sie befähigt hatte, aus dem Stand mehrere Meter weit zu springen. Und er erinnerte sich an ihren Geruch. Auch jetzt meinte er wieder diesen modrigen Gestank nach Walderde und Pilzen wahrzunehmen. Der Teufelsmensch durchschritt die Höhle und trat auf die Hexe zu. In einer Art ritueller Geste berührte er sie an den Brüsten und zwischen den Beinen. Dann ging er zum Feuer hinüber und zog einen Metallstab aus den Flammen. Er hob ihn hoch und warf einen Blick auf dessen glühende Spitze. Der Junge hatte kaum Zeit zum Nachdenken, da wurde er von der schmutzigen Hand des Mannes am Genick gepackt und nach vorn gebeugt. Ein widerwärtiges Zischen war zu hören, verbunden mit einem kurzen, heftigen Stechen in der Wirbelsäule. Der Gestank von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase. Ebenso schnell, wie er gepackt wurde, ließ man ihn wieder frei. Der Junge rang nach Atem, als der Schmerz einsetzte. Er war vor Angst so gelähmt, dass er kaum mitbekam, wie der Teufel das Mädchen packte und ihr den Stab ins Genick drückte.
© Knaur Verlag
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Autoren-Porträt von Thomas Thiemeyer
Thomas Thiemeyer studierte Kunst und Geologie in Köln und machte sich zunächst als Illustrator einen Namen. Als freier Künstler illustriert er Spiele, Jugendbücher, Buchumschläge und vieles mehr. Seine Arbeiten wurden mehrfach mit dem Kurd-Laßwitz-Preis und dem Deutschen Phantastik Preis ausgezeichnet. In den vergangenen Jahren wendete er sich mehr und mehr dem Schreiben zu. Viele seiner Romane wurden zu Bestsellern und in zahlreiche Sprachen übersetzt: Italienisch, Spanisch, Niederländisch, Tschechisch, Polnisch, Russisch, Koreanisch, Slowenisch, Türkisch, Portugiesisch und Chinesisch. Die Geschichten Thomas Thiemeyers stehen in der Tradition klassischer Abenteuerromane. Oft handeln sie von der Entdeckung versunkener Kulturen und der Bedrohung durch mysteriöse Mächte.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Thiemeyer
- 2009, 506 Seiten, Maße: 15 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426662906
- ISBN-13: 9783426662908
Rezension zu „Nebra “
"Man merkt schnell, dass hier ist Stoff wie für einen Hollywood-Streifen mit Indiana Jones als Held [...] Thiemeyer versteht sein Handwerk. Er treibt die Handlung voran, beherrscht Querverweise und Cliffhanger, kann Geheimnisse und Spannungen erschaffen. Zugleich spielt er auch mit den Krankheiten der modernen Zeit, in der Menschen an nichts mehr glauben und Mystik und Esoterik leichtes Spiel haben. [...] Spannung bis zum Schluss und darüber hinaus." -- MDR Figaro, 01.04.2009
Kommentar zu "Nebra"
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