Nicht ohne meine Mutter
Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung. Originalausgabe
Als Meral Al-Mer ein Jahr alt war, wurde sie von ihrem Vater entführt. Sie litt unter seiner Gewalttätigkeit und grausamen Demütigungen, bis sie sich befreien konnte. Dann fand sie wieder, was sie so lange entbehrte: ihre Mutter, die sie mehr als 25 Jahre nicht sehen durfte.
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Produktinformationen zu „Nicht ohne meine Mutter “
Als Meral Al-Mer ein Jahr alt war, wurde sie von ihrem Vater entführt. Sie litt unter seiner Gewalttätigkeit und grausamen Demütigungen, bis sie sich befreien konnte. Dann fand sie wieder, was sie so lange entbehrte: ihre Mutter, die sie mehr als 25 Jahre nicht sehen durfte.
Klappentext zu „Nicht ohne meine Mutter “
Wo Merals Familie herkommt, da herrschen die Männer: stolze, auch kluge Männer, manchmal. Aber häufig brutal, ohne Respekt vor dem Körper einer Frau. Und ohne Angst davor, dass sie sich wehren könnte. Meral hat sich befreit, von ihrem Vater, der sie entführte, als sie ein Jahr alt war. Den sie anzeigte wegen seiner Gewalttätigkeit und grausamen Demütigungen, unter denen sie litt, solange sie bei ihm leben musste. Und sie hat wiedergefunden, was sie so lange entbehrte: ihre Mutter, die sie mehr als 25 Jahre nicht sehen durfte.
Lese-Probe zu „Nicht ohne meine Mutter “
Nicht ohne meine Mutter von Meral Al-MerPROLOG
Licht und Schatten
Meral!«
Ich stehe vor einer Lehmhütte im tiefsten Anatolien, nicht weit von der syrisch-türkischen Grenze entfernt. Dies ist die Heimat meiner Eltern. Ich bin zwölf Jahre alt und schaue zu meinem Vater Hamid hinüber, so wie ich es immer tue, so wie ich es gelernt habe, denn keine Entscheidung in meinem Leben darf ich ohne seine Erlaubnis treffen.
»Meral! Komm he rein, Meral!«
In den Augen meines Vaters entdecke ich Angst, und das ist höchst ungewöhnlich. Ich sehe ihm an, dass er mir gerne verbieten würde, diese Hütte zu betreten. Aber er wagt es nicht. Schon allein das ist eine kleine Sensation. Was soll ich tun? Seinem unausgesprochenen Wunsch gehorchen oder die magische Schwelle übertreten?
»Mädchen! Wo rauf wartest du?«
Ich drücke die Tür auf und gehe hin ein. Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Dann erkenne ich eine unfassbar dicke Frau, die wie eine riesige Kugel auf ihrem Sitzfleisch ruht. Ihr Haar leuchtet hennarot. Sie winkt mich zu sich he ran und lächelt mit golden blinkenden Zähnen. Diese Frau, die aussieht wie eine orientalische Hexe, ist die Schwester meiner Großmutter, eine der vielen Tanten meines Vaters. Ich habe meine Oma Halima sehr geliebt, erst vor Kurzem ist sie gestorben.
»Komm her«, sagt die rothaarige Großtante mit den goldenen Zähnen. »Lass dich anschauen.«
Sie mustert mich mit ihren lebhaften schwarzen Augen. Ich halte ihrem Blick stand und lächle zurück.
... mehr
»Ich hab etwas für dich«, sagt sie, »etwas, das schon lange in unserer Familie von Mädchen zu Mädchen weitergegeben wird. Deine Oma wollte, dass du das jetzt bekommst.«
Sie streckt den Arm aus und greift nach einem kleinen Stoffbeutel. Zwei Steine schüttelt sie he raus; einer ist orange, der andere grün.
»Hier«, sagt sie und legt mir die Steine in die Hand. »Die gehören jetzt dir. Trag sie bei dir. Und wenn du einmal eine Tochter hast, dann gib sie an sie weiter.«
Diese Steine trug ich immer bei mir, bis mir eines Abends während eines Auftritts der orangefarbene, den ich besonders liebte, aus der Manteltasche hüpfte und unter der Bühne des Berliner Clubs verschwand. Ich suchte verzweifelt und kehrte am nächsten Tag noch einmal zurück - vergebens. Der Stein hatte beschlossen, mich zu verlassen. Da begriff ich, dass meine Geschichte noch nicht zu Ende ist. Ich verstand, dass mein Leben eine Art Reise ist oder besser gesagt, auf eine bestimmte Reise hinsteuert: auf die Reise hin zu meiner Mutter.
Denn fast dreißig Jahre meines Lebens musste ich ohne meine Mutter zurechtkommen. Die Hälfte dieser Zeit war bestimmt durch die immer übermächtiger werdende Gegenwart meines Vaters und die Abwesenheit meiner leiblichen Mutter. Nicht etwa, weil sie tot war, sondern weil ich ihr entrissen wurde, im Alter von sechzehn Monaten.
Seit dem Tag, an dem ich meinen orangefarbenen Glücksstein verlor, schrieb ich Szenen meines Lebens nieder, wie einzelne Perlen, die noch nicht auf eine Schnur gereiht worden sind. Zunächst einfach für mich selbst, um meine Geschichte besser zu verstehen. Denn ich wollte he rausfinden, was zwischen mir und meinem Vater geschah, den ich über alles liebte, so sehr, dass ich es fast nicht geschafft hätte, mich vor ihm in Sicherheit zu bringen. Das Aufschreiben half mir, klarer zu sehen und zu erkennen, wie in diesen Geschichten, in denen es um die Selbstbestimmung von Frauen mit türkischem oder arabischem Hintergrund geht, und die sich alle im Kern sehr ähneln, ein Ereignis zum anderen fügt, bis am Ende eine Katastrophe unausweichlich scheint.
Als ich einen meiner Onkel fragte, ob er mir mehr über die rothaarige Großtante mit den goldenen Zähnen erzählen könnte, sagte er: »Bist du verrückt? Steine von dieser Hexe? Wirf sie weg! Verbrenn sie! Sie sind der Grund, dass dein Leben so ist, wie es ist.«
Aber das glaube ich nicht. Ich glaube ganz fest da ran, dass die wirklich Guten in dieser Geschichte die Frauen sind. Sie sind es, die Liebe verschenken, auch wenn sie immer das meiste Leid ertragen müssen: Schläge, Misshandlungen, Ungerechtigkeit und viel zu oft den Verlust ihrer Kinder.
Manchmal sehe ich sie vor mir, die lange Reihe meiner Ahninnen, die aus Syrien stammen und Töchter eines stolzen Nomadenstammes sind. Lebenskluge und starke Frauen, und doch konnte sich keine davor schützen, geschlagen und gedemütigt zu werden. So wie meine Oma Halima, die Schwester jener »Hexe« mit den Steinen, die kurz nach ihrer Heirat von meinem Großvater kopfüber an der Decke aufgehängt und ausgepeitscht wurde. Sie hatte eine große Narbe im Gesicht, und wenn ich sie fragte: »Oma, wo hast du die her?«, dann antwortete sie: »Da hat mich ein Esel getreten.« Nur dass der Esel mein Großvater war, der einen Aschenbecher nach ihr geworfen hatte.
Wie konnten diese Frauen, ohne die ich nicht hier wäre und deren Gene ich in mir trage, dieses Leid ertragen, ohne dagegen aufzubegehren? Ich kenne die Antwort nicht. Ich weiß nur eines: Dass ich diesen Kreislauf durchbrechen muss, ja, schon lange durchbrochen habe, und damit auch das Tabu der Unantastbarkeit väterlicher Gewalt. Dagegen stand ich auf und zog vor Gericht. Ich bekam Recht - und bezahlte einen hohen Preis dafür. Jahrelang fürchtete ich um mein Leben. Noch heute werde ich von meiner Familie mehr oder weniger geächtet. Und doch weiß ich, dass es richtig war, es zu tun. Aus einer muslimischen Familie stammend führe ich heute das Leben einer unabhängigen, selbstbestimmten, modernen Frau.
Es war einmal eine andere Frau, die dies versuchte: Hatun Sürücü, die sich Aynur nannte - Mondlicht. Sie wollte nichts anderes, als so zu leben, wie sie es sich wünschte. Frei sein. Selbst über sich entscheiden. Glücklich sein, so wie sie sich Glück vorstellte. Ihre Familie ließ es nicht zu. Drei Kugeln in ihrem Kopf bereiteten ihrem Leben im Alter von dreiundzwanzig Jahren ein Ende. Das war 2005, und wenn die Schüsse auch von einem ihrer Brüder abgefeuert wurden, so war es doch ihre gesamte Familie, die hinter dieser Tat stand. Es war der erste Ehrenmord in Deutschland, der so genannt wurde, doch Hatun war beileibe nicht die erste Frau, die ihn erlitt. Wie viele Frauen sind vor Ha- tun Aynur von ihren Familien hingerichtet worden? Tausende? Abertausende?
Hatun war ungefähr so alt wie ich. Als ich mich mit ihrem Schicksal befasste, war ich von den Parallelen zwischen ihrem und meinem Leben so betroffen, dass ich tagelang nur noch weinen konnte. Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich auch nur an sie denke.
Hatun musste sterben. Dass ich noch lebe, ist alles andere als selbstverständlich. Ich wurde so schwer misshandelt, dass ein Schlag mehr, ein etwas stärkerer Würgegriff, einer der vielen Treppenstürze mich leicht hätte töten können. Wie oft fühlte ich den kalten Lauf einer geladenen Pistole an meiner Schläfe und hörte die Frage: »Willst du sterben?«
Ja, damals habe ich ihn mir oft gewünscht, meinen Tod. Ich wollte lieber aufrecht sterben als auf Knien leben. Es gab Zeiten, da war das Leben eine Strafe. Heute lebe ich gern, und ich bin froh, dass ich, im Gegensatz zu Hatun, berichten kann, dass es auch für eine türkisch-arabische Frau ein Leben nach der Familie gibt.
Und so begann ich, mich mehr und mehr meinen Erinnerungen zu stellen, so schmerzhaft sie auch sind. Wo ran ich mich nicht mehr erinnerte, versuchte ich zu rekonstruieren. Ich begann, Kontakte zu knüpfen und Fragen zu stellen. Und nachdem ich all die traumatischen Erlebnisse noch einmal durchlitten hatte, wagte ich es, mich auch an die schönen Dinge zu erinnern. Denn dies soll kein Buch der Abrechnung werden, keine Geschichte in Schwarz und Weiß, denn kein Mensch hat nur böse Seiten. Wo Schatten sind, da ist auch ganz viel Licht. So wie bei meinem Vater, den ich als Kind mehr liebte als alles andere auf der Welt. Auch wenn er für seine Familie immer mehr zum Monster wurde, so war er doch auch der hilfsbereite, weltgewandte, schillernd charmante und inspirierende Vater, um den mich alle Freundinnen beneideten.
Ich möchte verstehen, wie es dazu kommt, dass Männer wie mein Vater es für nötig halten, wehrlose Kinder und Frauen zu misshandeln. Nur das, was wir verstehen, können wir versuchen zu verändern.
Und schließlich begann ich, eine Reise vorzubereiten, auf die ich mich freue und vor der ich mich gleichzeitig mehr fürchte als vor allem anderen: die Reise zu Saliha, der Frau, die mich geboren hat.
Hamids Träume
Als ich Anfang der achtziger Jahre in Mönchengladbach-Rheydt zur Welt kam, war die Ehe meiner Eltern bereits die reinste Katastrophe. Eine Fotografie zeigt meine Mutter im Krankenhausbett, eine Schönheit im orientalischen Prinzessinnennachthemd, ihr wunderschönes Gesicht von dunklem Haar in weichen Wellen umrahmt. Es nützte ihr nichts. Mein Vater wollte keine Kinder, doch Saliha, die hoffte, dass Nachwuchs ihn sanfter stimmen würde, hatte die Pille heimlich abgesetzt. Statt eines Sohnes kam ich, doch mein Vater wurde alles andere als sanfter. Kaum war sie wieder zu Hause, prügelte er Saliha die Treppe zu ihrer gemeinsamen Wohnung unter dem Dach im Haus des Familienclans hinauf und wieder hinunter, weil sie es nicht einmal geschafft hatte, einen Sohn zu gebären - so erzählten es später die Nachbarn.
Oder stimmt das gar nicht? Hat mich Hamid vom ersten Moment an geliebt und in seine Arme geschlossen, tagelang herumgetragen und allen stolz gezeigt? Warum sonst hätte er darauf bestanden, dass ich bei ihm blieb? In dieser Geschichte gibt es so viele Wahrheiten, dass es schwer ist he rauszufinden, was tatsächlich geschah.
Mein Vater Hamid Al-Mer und mindestens sechs seiner Geschwister wurden in der Türkei geboren, in einem Dorf in der Nähe von Antakya, nicht weit von der türkisch-syrischen Grenze entfernt. Dieses Gebiet gehörte ursprünglich zu Syrien, und erst in den Sechzigerjahren ging es per Volksentscheid an die Türkei.
Da rum sprechen die Älteren in meiner Familie sowohl Arabisch als auch Türkisch.
Mein Großvater Abit Al-Mer stammte aus Syrien, aus der Nähe von Aleppo. Als seine Eltern starben, nahm ihn die Familie meiner Großmutter auf, die auf der heute türkischen Seite wohnte. Mit sechzehn heiratete er Halima, seine dreizehnjährige Großcousine, mit der er aufgewachsen war, und Halima gebar ihm Kind um Kind. Die Gegend um Antakya war in den Sechziger- und Siebzigerjahren bitterarm, und da rum entschloss sich mein Großvater, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen.
Nach einigen Zwischenstationen landete er in Hückelhoven bei Mönchengladbach, wo er Arbeit im Steinkohlebergbau fand. Später holte er seine Familie nach, und damit die Söhne gleich mitarbeiten konnten, wurden sie für älter ausgegeben, als sie tatsächlich waren. Während meine Oma Halima noch weiteren Kindern das Leben schenkte - insgesamt neun -, verfolgte mein Großvater den Plan, so schnell wie möglich viel Geld zu verdienen, um dann mit diesem Startkapital wieder zurück in die Heimat zu gehen.
Mein Vater Hamid war der älteste Sohn des Al-Mer-Clans, und oft erzählte er mir, wie froh er gewesen war, dem armseligen Leben in Anatolien zu entfliehen. Seit ich denken kann, hing bei uns im Wohnzimmer die Reproduktion eines Gemäldes, das zwei zerlumpte Betteljungen zeigt, die sich gemeinsam am Boden sitzend über eine Melone hermachen.
»Die beiden erinnern mich an meinen Bruder und mich«, sagte er oft, »als wir einmal eine Melone fanden.«
Von diesem Bild hat er sich bis heute nicht getrennt, so als müsste er sich stets rückversichern, woher er eigentlich kommt, und welchem Schicksal er entronnen ist.
Das Schicksal, das ihn in Hückelhoven erwartete, war allerdings alles andere als das, was er sich für sein Leben erträumt hatte. Was genau das war, da rüber sprach er nie. Mein Vater Hamid war äußerst intelligent, und mit einer entsprechenden Schulbildung hätte er viel mehr aus seinem Leben machen können. Er lernte rasch akzentfrei Deutsch, und alles, was neu und unbekannt für ihn war, sog er in sich auf wie ein Schwamm. Mit seinem tiefschwarz glänzenden, kleingelockten Haar, das ihm wie eine Gloriole um den Kopf stand, seinem athletischen Körper und den markanten Augenbrauen, die mit seiner Nase ein entschiedenes Y zu bilden schienen, war er ein attraktiver junger Mann, eine Mischung aus Bob Marley und Tom Selleck. Er besaß einen umwerfenden Charme, sprühte nur so vor Ideen und originellen Einfällen, und die Frauen fühlten sich zu ihm hingezogen. Ja, zu dem Leben, das er sich wohl erträumte, gehörten auch Frauen, am liebsten deutsche, blonde, und stets hatte er mindestens eine solche Freundin. Und das, obwohl er seit seiner Kindheit mit Saliha verlobt war, seiner Großcousine im fernen Dorf in der Nähe von Antakya.
Was er sich mit Sicherheit nicht erträumt hatte, das war sein überaus strenger und gewalttätiger Vater, zu dem er ein schwieriges Verhältnis hatte und der mit eiserner Hand versuchte, sein Leben zu reglementieren. Opa Abit hielt nicht nur seine Töchter unter Kontrolle, er entschied auch, mit wem seine Söhne Umgang haben durften. Nach Hause konnten sie die Freunde ohnehin nicht mitbringen, und Ausgehen war nicht erlaubt. Über jeden seiner Schritte musste mein Vater Rechenschaft ablegen. Alle fürchteten sich vor Opa Abit; er hing über den Geschwistern wie eine dunkle Wolke.
Bei Zuwiderhandeln - und mein Vater fügte sich diesem strengen Regiment mit Sicherheit nicht - misshandelte Opa Abit seine Kinder. Einmal verprügelte er meinen Vater mit dem Schürhaken dermaßen, dass er heute noch Narben am Kopf davon hat, eine besonders dicke hinter dem Ohr. Um der Tortur zu entgehen, sprang Hamid sogar aus dem Fenster im zweiten Stock in den Garten, so groß war seine Angst. Wie seine Brüder musste er seinen Lohn am Monatsende abgeben und konnte froh sein, wenn er ein Taschengeld erhielt.
Heute glaube ich, dass Hamid nie die Anerkennung von seinem Vater erhielt, die ein junger Mann braucht, um ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Mein Großvater war ein eigenartig kühler und ernster Mensch, und als ich ein einziges Mal für ein Familienfoto auf seinem Schoß sitzen musste, fühlte ich mich unbehaglich - so als säße ich auf einem schrecklich unbequemen Stuhl. Mein Opa war dünn, fast knöchern, trug stets Jeans, karierte Hemden und eine Schiebermütze.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Großvater auch nur ein einziges Mal das Wort an mich richtete, und doch beobachtete ich ihn bei meinen Besuchen oft stundenlang. Wie alle Männer in meiner Familie achtete auch Abit Al-Mer stets auf sein Äußeres. Er saß auf dem Sofa und feilte sich die Nägel, schnitt sich mit der Nagelschere den Schnurrbart zurecht oder entfernte sich die Haare, die ihm aus der Nase und den Ohren wuchsen. Oft sah ich ihm zu, wie er sich mit einem Zigarettenstopfer aus orangefarbenem Kunststoff Zigaretten machte, manchmal durfte ich dabei sogar helfen. Wenn er auf dem Sofa lag und ein Schläfchen machte, mussten wir alle mucksmäuschenstill sein, damit er ja nicht gestört wurde.
Nein, mein Opa Abit war nicht der Vater, der Sinn für die Träume und Wünsche seines Ältesten hatte, zu denen auch eigenes Geld und natürlich coole Autos gehörten. Dennoch schaffte es Hamid, gemeinsam mit seinem Schwager, Onkel Youssef, den ich immer im Stillen »Mickey Mouse« nannte, weil er einen tätowierten großen Punkt auf der Nasenspitze hatte, einen neuen, lukrativeren Nebenerwerb aufzutun: die Überführung von gebrauchten deutschen Autos nach Saudi-Arabien.
In coolen Autos quer durch Europa, durch die gesamte Türkei, vorbei an Antakya und den staubigen Dörfern, in denen die arme Verwandtschaft nach wie vor Ziegen hielt, Tabak anbaute und in Lehmhütten wohnte, durch Syrien und den Libanon hinunter auf die arabische Halbinsel - das war ganz nach Hamids Geschmack.
Ich sehe die beiden vor mir in - sagen wir - einem hellgrünen Opel-Rekord, dem Alltag, dem Bergbau und vor allem dem strengen Opa Abit entflohen: Youssef am Steuer fährt viel zu schnell eine Landstraße entlang, irgendwo zwischen der türkischen Grenze und der syrischen Stadt Aleppo. Der heiße Asphalt schimmert, als sei er flüssig geworden. Pinkfarbener Oleander am Straßenrand rauscht an ihnen vorüber. Hamid schält Orangen und wirft die Schalen aus dem Autofenster. Aus den Boxen schallt laute Musik.
Hamid zündet einen Joint an und zieht an ihm, reicht ihn seinem Schwager. Er blinzelt in die Sonne und zieht aus der Brusttasche seines Hemds ein Foto hervor. Es zeigt eine hübsche Blondine, Hamids aktuelle Freundin. Youssef schaut kurz darauf, seufzt und sagt: »Alter, mit dir würde ich gerne tauschen!«
Hamid grinst breit und versteht seinen Schwager absichtlich falsch. »Tauschen? Aber gerne. Fahr rechts ran, Kumpel, dann fahr ich eine Weile.«
Youssef schnappt sich das Foto. Etwas flattert aus dem Fenster davon.
»Ey, du Arschloch«, schreit mein Vater in jähem Zorn und boxt seinen Schwager hart gegen die Schulter. »Halt sofort an! Hol das Foto zurück, du verfickte Strafe Gottes!«
Youssef fährt rechts ran und bringt den Wagen zum Stehen. Er lacht gutmütig über Hamids Zorn. Wie ein Zauberer zieht Youssef das Foto wieder hervor. Er hat etwas anderes aus dem Fenster flattern lassen, und der smarte Hamid ist da rauf hereingefallen. Der schnappt sich das Foto, lacht grimmig und versetzt seinem Schwager mit der flachen Hand einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.
Sie tauschen die Plätze, jetzt sitzt Hamid am Steuer. Es wird Abend, und die beiden nähern sich einer Kleinstadt. Da sind Händler am Straßenrand, die ihre Obst- und Gemüsestände zusammenpacken, auf Karren laden und in Richtung Stadt schieben. Hamid legt eine neue Musikkassette ein, die wehmütige Stimme der arabischen Sängerin Feyruz erfüllt den Wagen.
Plötzlich ein dumpfer Knall. Holzkarrenteile spritzen rechts und links am Wagen vorbei. Melonen zerplatzen auf der Windschutzscheibe. Hamid hält fluchend an. Als sie aussteigen, werden sie von wütenden Menschen angegriffen. Während aus dem Wagen immer noch die Stimme von Feyruz ertönt, bricht draußen ein wahrer Tumult los: Hamid hat nicht nur einen Händlerkarren geschrottet und eine Wagenladung Früchte verdorben. Der Junge, der den Karren schob, liegt bewusstlos in seinem Blut zwischen dem Obst. Hamid ist ihm über beide Beine gefahren. Sie sehen nicht besser aus als die zermatschten Früchte ringsum.
Dem Jungen müssen beide Beine amputiert werden. Hamids coole Reise endet im Gefängnis. Dort lässt er sich zwei Buchstaben und einen deutschen Adler auf den Arm tätowieren: H für Hamid und S für Saliha. Opa Abit bezahlt eine hohe Kautionsgebühr, damit Hamid vorzeitig entlassen wird. Und dann? Wieder gibt es zwei Versionen da rüber, wie die Geschichte weitergeht, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Salihas Familie erzählt sie folgendermaßen: Kaum aus dem Gefängnis entlassen, lungerte Hamid Tag und Nacht vor Salihas Haus he rum. Ihr Vater hat ihm gesagt, er solle sich eine andere Braut suchen, seine Tochter sei ihm für einen Verbrecher wie ihn, den man aus dem Gefängnis holen müsse, zu schade. Das wollte Hamid aber nicht hinnehmen. Lauthals forderte er Tag für Tag, man solle Saliha he rausgeben. Sind sie nicht verlobt? Hat er sich nicht ihre beiden Anfangsbuchstaben auf den Arm tätowieren lassen? Zeigt der deutsche Adler nicht klar und deutlich, dass er gedenkt, Saliha mit nach Deutschland zu nehmen und ihr dort ein schönes Leben zu bieten?
Schließlich, so mein Großvater, Salihas Vater, gab er nach. Die ganze Sache wurde einfach zu peinlich, da fügte er sich lieber. Und bewies Hamid mit seinem Verhalten nicht, wie ernst es ihm mit Saliha war? Also gut, die Hochzeit wurde gefeiert. Ein ganzes Kilo Goldschmuck musste Hamid Saliha zum Brautgeschenk machen. Das ist dort, wo meine Familie herkommt, so üblich und als Absicherung der jungen Frau gedacht, für den Fall, dass etwas schieflaufen sollte mit der Ehe. Die beiden wurden Mann und Frau, und Saliha packte ihre Sachen und kam mit nach Mönchengladbach.
»Nein, nein, nein«, beteuerte Hamid später und mit ihm der gesamte Al-Mer-Clan. »Die Sache war vollkommen anders!« Sein Vater habe ihn erpresst, damals, als er im Gefängnis saß. S stand keinesfalls für Saliha, sondern für Sabine, seine damalige deutsche Freundin. Doch Opa Abit sei zu ihm gekommen und habe ihm angeboten, die Kaution zu bezahlen. Dazu sei er bereit, aber nur unter der Bedingung, dass er endlich sein Versprechen einlöse, Saliha zu heiraten und mit nach Deutschland zu nehmen, so wie es seit Langem ausgemacht war.
»Was hätte ich tun sollen«, fragte Hamid und warf theatralisch die Arme in die Luft. »Wollte ich etwa im Gefängnis verfaulen? « Und so heiratete er Saliha, auch wenn er, wie er behauptete, dazu nicht die geringste Lust hatte. »Sie war ein Mädchen vom Dorf. Sie konnte weder schreiben noch lesen. Was in aller Welt sollte ich mit einer solchen Frau anfangen?«
Großvater Abit war es gelungen, in der Hermann-Löns-Straße in Mönchengladbach-Rheydt zwei Etagen in einem großen Haus zu mieten, in dem die gesamte Familie Al-Mer »Platz« hatte. Das ist natürlich übertrieben, denn wirklich richtig Platz hatte man dort nicht: Es gab ein Schlafzimmer für die Eltern und ein Kinderzimmer, das sich sechs der Kinder bis zu ihrem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr teilten. Mittelpunkt der Wohnung war die Küche, in der sich auch die einzige Dusche befand, sodass man alle anderen erst rausscheuchen musste, wollte man sich in Ruhe waschen. Ganz oben unter dem Dach war stets eine kleine Wohnung für frisch verheiratete Paare reserviert, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatten. Und hier zogen Hamid und Saliha nach ihrer Hochzeit ein.
Ob sie je eine Phase hatten, in der sie miteinander glücklich waren? Ich weiß es nicht. Saliha war temperamentvoll und hatte ihren eigenen Kopf; sie widersprach Hamid, und das konnte er auf den Tod nicht leiden. Sie weigerte sich, ihr Kopftuch abzulegen und moderne, westliche Kleider anzuziehen. Sie lernte nur das Nötigste auf Deutsch, konnte beim Bäcker »fünf Mohnbrötchen, bitte« sagen, weil Hamid Mohnbrötchen für sein Leben gern aß, und »lecker« oder »schön«. Ansonsten saß sie vor dem Fernseher und sah romantische Schnulzen im türkischen Satellitenfernsehen. Das erzählt jedenfalls Hamid, und dass sie, wenn er abends müde von der Arbeit kam, sich nicht zu ihm ins Bett legen wollte, sondern in Tränen aufgelöst diese schrecklichen Filme anschaute.
Und dann, wie gesagt, kam ich auf die Welt. Doch statt besser, wie Saliha es sich erhofft hatte, wurde alles nur noch schlimmer. Tante Suheila schlug vor, mich Meral zu nennen, das heißt Rehkitz. Sie erzählte mir später, dass ich unglaublich schnell laufen lernte, vielleicht weil meine Eltern unaufhörlich miteinander stritten. Dann machte ich mich davon, kletterte Stufe um Stufe hi nun ter zu Oma Halima, wo immer jemand war, der mich auf den Schoß nahm und mir etwas Süßes in den Mund stopfte: Trost und Liebesersatz in zuckriger Form. Und so wurde ich zu einem dicken Kind. Statt wie ein Rehkitz sah ich damals eher aus wie ein kleiner Bär.
Hamid hatte nie aufgehört, deutsche Freundinnen zu haben.
Um den Zeitpunkt meiner Geburt lernte er Kornelia kennen, die schräg gegenüber wohnte, einen Sohn in meinem Alter hatte und sich gerade von ihrem Ehemann getrennt hatte, weil er sie ständig schlug. Hamid besuchte sie oft. Mich nahm er mit, und während die beiden zusammen waren, spielte ich mit Mark, ihrem Sohn.
Ob Saliha davon wusste? Eine Frau weiß genau, wann ihr Mann fremdgeht, davon bin ich fest überzeugt. Außerdem glaube ich kaum, dass Hamid sich die Mühe machte, seine Affäre geheim zu halten. Machte sie ihm Szenen? Oder strafte sie ihn mit Nichtbeachtung, mit der ganzen Wucht ihrer Verachtung?
Eines Morgens, nachdem sie Hamid Mohnbrötchen geholt und das typische türkisch-arabische Frühstück aus Oliven, Schafskäse, Joghurt, Gurkenscheiben und Tomatenstücken serviert hatte, gerieten Hamid und Saliha aus irgendeinem Grund wieder derart in Streit, dass er ihr die Gabel, mit der er gerade eine Olive aufspießen wollte, in die Schulter rammte. Oder war das vor meiner Geburt? Mal wurde es so erzählt, dann wieder anders. Sicher scheint nur, dass die Gabel tief in Salihas Schulter landete.
»Dein Großvater ist schlimm«, vertraute mir Oma Halima einmal an. »Aber glaube mir eines: Dein Vater ist noch viel, viel schlimmer.« Ich protestierte, denn ich liebte meinen Vater abgöttisch.
Familienurlaub der besonderen Art
Zieh nicht so die Mundwinkel nach unten«, herrschte mich Jahre später mein Vater oft an, »glotz mich nicht so an, so vorwurfsvoll. Mein Gott, wenn du so schaust, dann siehst du aus wie deine Mutter. Sooo ...« Und er zog eine fürchterliche Grimasse, die Mundwinkel wie ein Hufeisen nach unten gezogen. »Grässlich!«
Welche Träume hatte Saliha? Was wünschte sie sich vom Leben? Weinte sie deshalb so viel vor dem Fernsehapparat, weil sie ihre eigenen Wünsche und Träume dort widergespiegelt sah? Oder weinte sie einfach so, aus Rührung, und machte sich über ihre eigenen Wünsche gar keine Gedanken?
Ich war gerade acht Monate alt, als Saliha erneut schwanger wurde. Auch dieses Mal stimmte diese Neuigkeit meinen Vater nicht gnädig, ganz im Gegenteil. Und dann, im Mai 1982, kam er auf eine Idee, wie nur er sie haben konnte. Er beschloss, dass wir »alle zusammen« in die Heimat reisen würden, um mich, sein erstes Kind, der Verwandtschaft vorzustellen. Saliha, im siebten Monat schwanger, war begeistert. Zum ersten Mal seit ihrer Heirat würde sie ihre Familie wiedersehen. Bis sie erfuhr, was Hamid mit »alle zusammen« tatsächlich meinte: seine Geliebte Kornelia würde bei diesem Familienurlaub mit von der Partie sein.
Füge ich die Bruchstücke, die mir später erzählt wurden, zusammen, dann stelle ich mir diese Reise so vor: Meine Mutter, die mich noch stillte, und ich saßen im Heck des Wagens, Hamid am Steuer und Kornelia auf dem Beifahrersitz. »Während der gesamten Fahrt«, beschwerte sich Kornelia später, »hat diese Frau versucht, mich umzubringen.«
Saliha spuckte ihrer Nebenbuhlerin Wasser ins Genick, zog sie am wasserstoffblonden, dauergewellten Haar, fuhr ihr mit den Fingernägeln ins Gesicht. Die ganze lange Fahrt über, die uns durch Österreich, Italien, das damalige Jugoslawien und Bulgarien und schließlich quer durch die Türkei bis an die türkisch- syrische Grenze führte, fast viertausend Kilometer und rund fünfzig Stunden lang, herrschte Krieg in Hamids PKW. Wie viele Male hielt er an und zerrte Saliha aus dem Wagen, um sie grün und blau zu schlagen? Wie oft ließ er sie dort einfach am staubigen Straßenrand liegen, fuhr los, im Schritttempo, um im Rückspiegel zu beobachten, wie sie sich aufrappelte, hinter dem Wagen herlief, ihn fast erreichte, um dann erneut Gas zu geben und ein paar Meter weiterzufahren, es zu genießen, wie sie sich mühsam voranschleppte, nach ihrem Kind rief: »Meral! Meral! Du Hundesohn, gib mir mein Kind!« Dieses Spiel setzte er so lange fort, bis sie nicht mehr konnte, um dann gnädig zu warten, bis sie mit letzter Kraft die Autotür erreichte. Die riss sie auf und kletterte zu ihrem kleinen Mädchen auf die Rückbank, zu mir, die ich schreiend und weinend auf dem Kunstleder gekniet hatte und mit angstvoll aufgerissenen Augen, den Schnuller im Mund, durch die Heckscheibe zusehen musste, wie meine Mutter immer wieder im Niemandsland der Landstraßen zurückgelassen wurde, in den Schmutz fiel, sich aufrappelte, und unter Blut und Tränen nach mir rief.
»Es war die Hölle«, sagte Kornelia später.
Warum um alles in der Welt war sie mitgefahren?
Was genau geschieht, als sie Salihas Heimatdorf erreichen? Wieder gehen die Erzählungen auseinander. Stellt Hamid völlig ohne Skrupel Kornelia als seine Zweitfrau vor? Auch Salihas Vater hatte mehrere Frauen, warum also nicht? Es war typisch für meinen Vater, dass man ihm so ziemlich alles abkaufte, einfach weil er so überzeugend charmant und unschuldig auftreten konnte.
»Ach so, das ist also Kornelia? Willkommen.« Gastfreundschaft ist ein hohes Gut dort, wo wir alle herkommen.
Und irgendwann, früher oder später, sagt Hamid zu Saliha: »Ich geh mal eben meine Verwandten besuchen, sie wollen unsere Tochter sehen. Wir sind bald wieder zurück.«
Saliha nickt. Warum auch nicht? Meine Kleider, auch meine Puppe, alles bleibt bei ihr. Mein Vater will mich ja ein paar Stunden später wieder zurückbringen. Schließlich werde ich noch gestillt.
Hamid nimmt mich meiner Mutter vom Arm. Gemeinsam mit Kornelia besuchen wir tatsächlich irgendwelche Verwandten; noch heute habe ich Fotos davon, die in einer Art Garage oder Stall aufgenommen wurden. Auf ihnen sieht man Kornelia, mit verschwollenen Augen scheint sie sich hinter Onkel Momo verstecken zu wollen. Man sieht auch das Heck von Hamids Wagen und mich, wie ich mich auf dem Schoß dieser fremden Verwandten winde. Wann fahren wir zurück zur Mama?
Aber Saliha wird umsonst auf mich warten. Die nächsten dreißig Jahre wird sie warten. Denn ihr Mann fährt mit mir und seiner deutschen Geliebten einfach nach Hause, zurück nach Deutschland. Saliha lässt er im Haus ihrer Eltern hochschwanger zurück.
War für Kornelia die Reise in die Türkei die Hölle, so war es für mich die Heimfahrt. Ein Foto zeigt mich nur mit einer Windel bekleidet verloren am Straßenrand irgendwo zwischen Mutterland und Vaterland hocken, den gelben Schnuller fest zwischen den Zähnen. »Du hast die ganze Fahrt über nur gebrüllt«, erzählte mir mein Vater später, mit einem tiefen Vorwurf in der Stimme, so als wäre es normal, ein Stillkind seiner Mutter weg zunehmen und fünfzig Stunden lang mit ihm auf der klebrigen Kunstlederrückbank ohne Kindersitz durch die Gluthitze zu fahren. Meine Mutter fehlte mir - und ich schrie. Ich war hungrig nach ihrer Milch - und ich schrie. Sie gaben mir nicht genug zu trinken - und ich schrie. Irgendwo in Jugoslawien baute mein Vater einen Unfall - und ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Irgendwann hörte ich auf damit, hatte keine Kraft mehr dazu. Dehydriert, mit Tränen und Rotz verschmiert, landete ich schließlich auf Oma Halimas Schoß.
»Das arme Kind«, sagte sie. Das sollte sie noch oft wiederholen in den folgenden Jahren, und meine drei Tanten Amina, Suheila und Yildiz machten es ihr nach. »Das arme, arme Kind. Vermisst sie ihre Mutter nicht?«
Nein, ich vermisste sie nicht. Denn ich konnte mich an all das nicht mehr erinnern. Wie weggewischt sind die ersten Monate meines Lebens, und meine Mutter Saliha verschwand im dichten Nebel des Vergessens, bis es für mich so war, als hätte es sie nie gegeben. Nur in den wenigen abfälligen Bemerkungen meines Vaters tauchte ihr Zerrbild hin und wieder auf, selten genug. Ich fragte nicht nach ihr. Meine Mutter war dumm und aufsässig, klammerte sich an ihr Kopftuch und zog die Mundwinkel nach unten.
»Nein«, antwortete ich, wenn die Tanten wieder ihr Mitleidsgejammer begannen. »Meine deutsche Mama ist meine Mama.«
Von da an war ich »das arme, verlorene Kind«. Bis Oma Halima ihren Töchtern Schweigen befahl. Lange wusste ich nicht, was sie eigentlich meinten. Wieso sollte ich verloren sein? Bis ich verstand: Von einer deutschen Mutter erzogen, war ich für die Kultur, für das geistige und religiöse Erbe meiner Vorfahren verloren. »Sie spricht ja nicht mal richtig Türkisch.«
Nein, das tat ich nicht. Mein Vater wollte es so. Ich sollte genauso aufwachsen wie die deutschen Kinder in unserer Nachbarschaft, so wie auch er das staubige Dorf mit seinen Ziegen und Analphabeten und »Kopftuchweibern« ein für alle Mal hinter sich lassen wollte. Seine Träume sahen anders aus als die seines Vaters.
Der veranstaltete ein Riesentheater, als Hamid ohne Saliha aus dem Urlaub nach Hause kam. Die Familienehre stand auf dem Spiel, schließlich war man verwandt, wenn auch um einige Ecken. »Pass gut auf meine Tochter auf«, hatte sein Cousin bei der Hochzeit gesagt, und er, Abit Al-Mer, hatte sein Wort gegeben. Dafür, was Hamid Saliha angetan hatte, gab es keine Entschuldigung.
»Du holst sie zurück!«, schrie Großvater Abit meinen Vater an.
Doch der Alte hatte keine Macht mehr über seinen ältesten Sohn. Der weigerte sich einfach. Zog mit dieser deutschen Schlampe zusammen. Scherte sich einen Dreck um Familie und Tradition. Und der Gipfel war: Er weigerte sich, Saliha ihren Goldschmuck auszuhändigen. Ein ganzes Kilo in Gold, Salihas Brautgeld und Absicherung für den Fall, der jetzt eingetreten war. Sie hatte ihren Brautschatz in Deutschland zurückgelassen, ohne Argwohn zu schöpfen; so einen Reichtum nimmt man schließlich nicht mit auf eine Reise.
»Nö, wieso«, sagte Hamid. »Hab ich das nicht alles selbst bezahlt? « Und dabei blieb es.
Oder war es anders? War es meine geliebte Oma Halima, die auf dem Gold saß wie der leibhaftige Drache aus dem Märchen, wie es Salihas Familie später behaupten sollte? Tatsache ist, Saliha war das schlimmste Schicksal zugestoßen, das einer arabischen Frau überhaupt passieren kann: Hochschwanger saß sie wieder bei ihrer Familie, ohne ihren Goldschmuck, ohne ihre Tochter, verlassen von ihrem Mann. Es gab andere Fälle, da wurde eine solche Tochter von der eigenen Familie verstoßen. Saliha blieb dieses Schicksal erspart, denn sie hatte einen gütigen Vater, der auch zu ihr stand, als die Hyänen in der Familie forderten, das Kind in ihrem Bauch abzutreiben. Der ihr half und seine schützende Hand über sie hielt. Der sie zurücknahm und für sie sorgte, für sie und ihren Sohn, den sie zwei Monate später gebar. Sie wollte ihn Baris nennen, das heißt »Frieden«. Doch ihr Vater sagte: »Für Frieden ist es noch zu früh.«
Und so erhielt der Kleine den Namen Mourad, »Wunsch«. Welchen brennenden Wunsch meine Mutter in ihrem Herzen hegte, welcher Wunsch sie mitunter bis an den Rand des Wahnsinns trieb, davon ahnte ich lange nichts.
»Sie könnte ja nach mir suchen«, dachte ich, als ich älter wurde. »Aber wahrscheinlich hat sie mich längst vergessen.«
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
»Ich hab etwas für dich«, sagt sie, »etwas, das schon lange in unserer Familie von Mädchen zu Mädchen weitergegeben wird. Deine Oma wollte, dass du das jetzt bekommst.«
Sie streckt den Arm aus und greift nach einem kleinen Stoffbeutel. Zwei Steine schüttelt sie he raus; einer ist orange, der andere grün.
»Hier«, sagt sie und legt mir die Steine in die Hand. »Die gehören jetzt dir. Trag sie bei dir. Und wenn du einmal eine Tochter hast, dann gib sie an sie weiter.«
Diese Steine trug ich immer bei mir, bis mir eines Abends während eines Auftritts der orangefarbene, den ich besonders liebte, aus der Manteltasche hüpfte und unter der Bühne des Berliner Clubs verschwand. Ich suchte verzweifelt und kehrte am nächsten Tag noch einmal zurück - vergebens. Der Stein hatte beschlossen, mich zu verlassen. Da begriff ich, dass meine Geschichte noch nicht zu Ende ist. Ich verstand, dass mein Leben eine Art Reise ist oder besser gesagt, auf eine bestimmte Reise hinsteuert: auf die Reise hin zu meiner Mutter.
Denn fast dreißig Jahre meines Lebens musste ich ohne meine Mutter zurechtkommen. Die Hälfte dieser Zeit war bestimmt durch die immer übermächtiger werdende Gegenwart meines Vaters und die Abwesenheit meiner leiblichen Mutter. Nicht etwa, weil sie tot war, sondern weil ich ihr entrissen wurde, im Alter von sechzehn Monaten.
Seit dem Tag, an dem ich meinen orangefarbenen Glücksstein verlor, schrieb ich Szenen meines Lebens nieder, wie einzelne Perlen, die noch nicht auf eine Schnur gereiht worden sind. Zunächst einfach für mich selbst, um meine Geschichte besser zu verstehen. Denn ich wollte he rausfinden, was zwischen mir und meinem Vater geschah, den ich über alles liebte, so sehr, dass ich es fast nicht geschafft hätte, mich vor ihm in Sicherheit zu bringen. Das Aufschreiben half mir, klarer zu sehen und zu erkennen, wie in diesen Geschichten, in denen es um die Selbstbestimmung von Frauen mit türkischem oder arabischem Hintergrund geht, und die sich alle im Kern sehr ähneln, ein Ereignis zum anderen fügt, bis am Ende eine Katastrophe unausweichlich scheint.
Als ich einen meiner Onkel fragte, ob er mir mehr über die rothaarige Großtante mit den goldenen Zähnen erzählen könnte, sagte er: »Bist du verrückt? Steine von dieser Hexe? Wirf sie weg! Verbrenn sie! Sie sind der Grund, dass dein Leben so ist, wie es ist.«
Aber das glaube ich nicht. Ich glaube ganz fest da ran, dass die wirklich Guten in dieser Geschichte die Frauen sind. Sie sind es, die Liebe verschenken, auch wenn sie immer das meiste Leid ertragen müssen: Schläge, Misshandlungen, Ungerechtigkeit und viel zu oft den Verlust ihrer Kinder.
Manchmal sehe ich sie vor mir, die lange Reihe meiner Ahninnen, die aus Syrien stammen und Töchter eines stolzen Nomadenstammes sind. Lebenskluge und starke Frauen, und doch konnte sich keine davor schützen, geschlagen und gedemütigt zu werden. So wie meine Oma Halima, die Schwester jener »Hexe« mit den Steinen, die kurz nach ihrer Heirat von meinem Großvater kopfüber an der Decke aufgehängt und ausgepeitscht wurde. Sie hatte eine große Narbe im Gesicht, und wenn ich sie fragte: »Oma, wo hast du die her?«, dann antwortete sie: »Da hat mich ein Esel getreten.« Nur dass der Esel mein Großvater war, der einen Aschenbecher nach ihr geworfen hatte.
Wie konnten diese Frauen, ohne die ich nicht hier wäre und deren Gene ich in mir trage, dieses Leid ertragen, ohne dagegen aufzubegehren? Ich kenne die Antwort nicht. Ich weiß nur eines: Dass ich diesen Kreislauf durchbrechen muss, ja, schon lange durchbrochen habe, und damit auch das Tabu der Unantastbarkeit väterlicher Gewalt. Dagegen stand ich auf und zog vor Gericht. Ich bekam Recht - und bezahlte einen hohen Preis dafür. Jahrelang fürchtete ich um mein Leben. Noch heute werde ich von meiner Familie mehr oder weniger geächtet. Und doch weiß ich, dass es richtig war, es zu tun. Aus einer muslimischen Familie stammend führe ich heute das Leben einer unabhängigen, selbstbestimmten, modernen Frau.
Es war einmal eine andere Frau, die dies versuchte: Hatun Sürücü, die sich Aynur nannte - Mondlicht. Sie wollte nichts anderes, als so zu leben, wie sie es sich wünschte. Frei sein. Selbst über sich entscheiden. Glücklich sein, so wie sie sich Glück vorstellte. Ihre Familie ließ es nicht zu. Drei Kugeln in ihrem Kopf bereiteten ihrem Leben im Alter von dreiundzwanzig Jahren ein Ende. Das war 2005, und wenn die Schüsse auch von einem ihrer Brüder abgefeuert wurden, so war es doch ihre gesamte Familie, die hinter dieser Tat stand. Es war der erste Ehrenmord in Deutschland, der so genannt wurde, doch Hatun war beileibe nicht die erste Frau, die ihn erlitt. Wie viele Frauen sind vor Ha- tun Aynur von ihren Familien hingerichtet worden? Tausende? Abertausende?
Hatun war ungefähr so alt wie ich. Als ich mich mit ihrem Schicksal befasste, war ich von den Parallelen zwischen ihrem und meinem Leben so betroffen, dass ich tagelang nur noch weinen konnte. Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich auch nur an sie denke.
Hatun musste sterben. Dass ich noch lebe, ist alles andere als selbstverständlich. Ich wurde so schwer misshandelt, dass ein Schlag mehr, ein etwas stärkerer Würgegriff, einer der vielen Treppenstürze mich leicht hätte töten können. Wie oft fühlte ich den kalten Lauf einer geladenen Pistole an meiner Schläfe und hörte die Frage: »Willst du sterben?«
Ja, damals habe ich ihn mir oft gewünscht, meinen Tod. Ich wollte lieber aufrecht sterben als auf Knien leben. Es gab Zeiten, da war das Leben eine Strafe. Heute lebe ich gern, und ich bin froh, dass ich, im Gegensatz zu Hatun, berichten kann, dass es auch für eine türkisch-arabische Frau ein Leben nach der Familie gibt.
Und so begann ich, mich mehr und mehr meinen Erinnerungen zu stellen, so schmerzhaft sie auch sind. Wo ran ich mich nicht mehr erinnerte, versuchte ich zu rekonstruieren. Ich begann, Kontakte zu knüpfen und Fragen zu stellen. Und nachdem ich all die traumatischen Erlebnisse noch einmal durchlitten hatte, wagte ich es, mich auch an die schönen Dinge zu erinnern. Denn dies soll kein Buch der Abrechnung werden, keine Geschichte in Schwarz und Weiß, denn kein Mensch hat nur böse Seiten. Wo Schatten sind, da ist auch ganz viel Licht. So wie bei meinem Vater, den ich als Kind mehr liebte als alles andere auf der Welt. Auch wenn er für seine Familie immer mehr zum Monster wurde, so war er doch auch der hilfsbereite, weltgewandte, schillernd charmante und inspirierende Vater, um den mich alle Freundinnen beneideten.
Ich möchte verstehen, wie es dazu kommt, dass Männer wie mein Vater es für nötig halten, wehrlose Kinder und Frauen zu misshandeln. Nur das, was wir verstehen, können wir versuchen zu verändern.
Und schließlich begann ich, eine Reise vorzubereiten, auf die ich mich freue und vor der ich mich gleichzeitig mehr fürchte als vor allem anderen: die Reise zu Saliha, der Frau, die mich geboren hat.
Hamids Träume
Als ich Anfang der achtziger Jahre in Mönchengladbach-Rheydt zur Welt kam, war die Ehe meiner Eltern bereits die reinste Katastrophe. Eine Fotografie zeigt meine Mutter im Krankenhausbett, eine Schönheit im orientalischen Prinzessinnennachthemd, ihr wunderschönes Gesicht von dunklem Haar in weichen Wellen umrahmt. Es nützte ihr nichts. Mein Vater wollte keine Kinder, doch Saliha, die hoffte, dass Nachwuchs ihn sanfter stimmen würde, hatte die Pille heimlich abgesetzt. Statt eines Sohnes kam ich, doch mein Vater wurde alles andere als sanfter. Kaum war sie wieder zu Hause, prügelte er Saliha die Treppe zu ihrer gemeinsamen Wohnung unter dem Dach im Haus des Familienclans hinauf und wieder hinunter, weil sie es nicht einmal geschafft hatte, einen Sohn zu gebären - so erzählten es später die Nachbarn.
Oder stimmt das gar nicht? Hat mich Hamid vom ersten Moment an geliebt und in seine Arme geschlossen, tagelang herumgetragen und allen stolz gezeigt? Warum sonst hätte er darauf bestanden, dass ich bei ihm blieb? In dieser Geschichte gibt es so viele Wahrheiten, dass es schwer ist he rauszufinden, was tatsächlich geschah.
Mein Vater Hamid Al-Mer und mindestens sechs seiner Geschwister wurden in der Türkei geboren, in einem Dorf in der Nähe von Antakya, nicht weit von der türkisch-syrischen Grenze entfernt. Dieses Gebiet gehörte ursprünglich zu Syrien, und erst in den Sechzigerjahren ging es per Volksentscheid an die Türkei.
Da rum sprechen die Älteren in meiner Familie sowohl Arabisch als auch Türkisch.
Mein Großvater Abit Al-Mer stammte aus Syrien, aus der Nähe von Aleppo. Als seine Eltern starben, nahm ihn die Familie meiner Großmutter auf, die auf der heute türkischen Seite wohnte. Mit sechzehn heiratete er Halima, seine dreizehnjährige Großcousine, mit der er aufgewachsen war, und Halima gebar ihm Kind um Kind. Die Gegend um Antakya war in den Sechziger- und Siebzigerjahren bitterarm, und da rum entschloss sich mein Großvater, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen.
Nach einigen Zwischenstationen landete er in Hückelhoven bei Mönchengladbach, wo er Arbeit im Steinkohlebergbau fand. Später holte er seine Familie nach, und damit die Söhne gleich mitarbeiten konnten, wurden sie für älter ausgegeben, als sie tatsächlich waren. Während meine Oma Halima noch weiteren Kindern das Leben schenkte - insgesamt neun -, verfolgte mein Großvater den Plan, so schnell wie möglich viel Geld zu verdienen, um dann mit diesem Startkapital wieder zurück in die Heimat zu gehen.
Mein Vater Hamid war der älteste Sohn des Al-Mer-Clans, und oft erzählte er mir, wie froh er gewesen war, dem armseligen Leben in Anatolien zu entfliehen. Seit ich denken kann, hing bei uns im Wohnzimmer die Reproduktion eines Gemäldes, das zwei zerlumpte Betteljungen zeigt, die sich gemeinsam am Boden sitzend über eine Melone hermachen.
»Die beiden erinnern mich an meinen Bruder und mich«, sagte er oft, »als wir einmal eine Melone fanden.«
Von diesem Bild hat er sich bis heute nicht getrennt, so als müsste er sich stets rückversichern, woher er eigentlich kommt, und welchem Schicksal er entronnen ist.
Das Schicksal, das ihn in Hückelhoven erwartete, war allerdings alles andere als das, was er sich für sein Leben erträumt hatte. Was genau das war, da rüber sprach er nie. Mein Vater Hamid war äußerst intelligent, und mit einer entsprechenden Schulbildung hätte er viel mehr aus seinem Leben machen können. Er lernte rasch akzentfrei Deutsch, und alles, was neu und unbekannt für ihn war, sog er in sich auf wie ein Schwamm. Mit seinem tiefschwarz glänzenden, kleingelockten Haar, das ihm wie eine Gloriole um den Kopf stand, seinem athletischen Körper und den markanten Augenbrauen, die mit seiner Nase ein entschiedenes Y zu bilden schienen, war er ein attraktiver junger Mann, eine Mischung aus Bob Marley und Tom Selleck. Er besaß einen umwerfenden Charme, sprühte nur so vor Ideen und originellen Einfällen, und die Frauen fühlten sich zu ihm hingezogen. Ja, zu dem Leben, das er sich wohl erträumte, gehörten auch Frauen, am liebsten deutsche, blonde, und stets hatte er mindestens eine solche Freundin. Und das, obwohl er seit seiner Kindheit mit Saliha verlobt war, seiner Großcousine im fernen Dorf in der Nähe von Antakya.
Was er sich mit Sicherheit nicht erträumt hatte, das war sein überaus strenger und gewalttätiger Vater, zu dem er ein schwieriges Verhältnis hatte und der mit eiserner Hand versuchte, sein Leben zu reglementieren. Opa Abit hielt nicht nur seine Töchter unter Kontrolle, er entschied auch, mit wem seine Söhne Umgang haben durften. Nach Hause konnten sie die Freunde ohnehin nicht mitbringen, und Ausgehen war nicht erlaubt. Über jeden seiner Schritte musste mein Vater Rechenschaft ablegen. Alle fürchteten sich vor Opa Abit; er hing über den Geschwistern wie eine dunkle Wolke.
Bei Zuwiderhandeln - und mein Vater fügte sich diesem strengen Regiment mit Sicherheit nicht - misshandelte Opa Abit seine Kinder. Einmal verprügelte er meinen Vater mit dem Schürhaken dermaßen, dass er heute noch Narben am Kopf davon hat, eine besonders dicke hinter dem Ohr. Um der Tortur zu entgehen, sprang Hamid sogar aus dem Fenster im zweiten Stock in den Garten, so groß war seine Angst. Wie seine Brüder musste er seinen Lohn am Monatsende abgeben und konnte froh sein, wenn er ein Taschengeld erhielt.
Heute glaube ich, dass Hamid nie die Anerkennung von seinem Vater erhielt, die ein junger Mann braucht, um ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Mein Großvater war ein eigenartig kühler und ernster Mensch, und als ich ein einziges Mal für ein Familienfoto auf seinem Schoß sitzen musste, fühlte ich mich unbehaglich - so als säße ich auf einem schrecklich unbequemen Stuhl. Mein Opa war dünn, fast knöchern, trug stets Jeans, karierte Hemden und eine Schiebermütze.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Großvater auch nur ein einziges Mal das Wort an mich richtete, und doch beobachtete ich ihn bei meinen Besuchen oft stundenlang. Wie alle Männer in meiner Familie achtete auch Abit Al-Mer stets auf sein Äußeres. Er saß auf dem Sofa und feilte sich die Nägel, schnitt sich mit der Nagelschere den Schnurrbart zurecht oder entfernte sich die Haare, die ihm aus der Nase und den Ohren wuchsen. Oft sah ich ihm zu, wie er sich mit einem Zigarettenstopfer aus orangefarbenem Kunststoff Zigaretten machte, manchmal durfte ich dabei sogar helfen. Wenn er auf dem Sofa lag und ein Schläfchen machte, mussten wir alle mucksmäuschenstill sein, damit er ja nicht gestört wurde.
Nein, mein Opa Abit war nicht der Vater, der Sinn für die Träume und Wünsche seines Ältesten hatte, zu denen auch eigenes Geld und natürlich coole Autos gehörten. Dennoch schaffte es Hamid, gemeinsam mit seinem Schwager, Onkel Youssef, den ich immer im Stillen »Mickey Mouse« nannte, weil er einen tätowierten großen Punkt auf der Nasenspitze hatte, einen neuen, lukrativeren Nebenerwerb aufzutun: die Überführung von gebrauchten deutschen Autos nach Saudi-Arabien.
In coolen Autos quer durch Europa, durch die gesamte Türkei, vorbei an Antakya und den staubigen Dörfern, in denen die arme Verwandtschaft nach wie vor Ziegen hielt, Tabak anbaute und in Lehmhütten wohnte, durch Syrien und den Libanon hinunter auf die arabische Halbinsel - das war ganz nach Hamids Geschmack.
Ich sehe die beiden vor mir in - sagen wir - einem hellgrünen Opel-Rekord, dem Alltag, dem Bergbau und vor allem dem strengen Opa Abit entflohen: Youssef am Steuer fährt viel zu schnell eine Landstraße entlang, irgendwo zwischen der türkischen Grenze und der syrischen Stadt Aleppo. Der heiße Asphalt schimmert, als sei er flüssig geworden. Pinkfarbener Oleander am Straßenrand rauscht an ihnen vorüber. Hamid schält Orangen und wirft die Schalen aus dem Autofenster. Aus den Boxen schallt laute Musik.
Hamid zündet einen Joint an und zieht an ihm, reicht ihn seinem Schwager. Er blinzelt in die Sonne und zieht aus der Brusttasche seines Hemds ein Foto hervor. Es zeigt eine hübsche Blondine, Hamids aktuelle Freundin. Youssef schaut kurz darauf, seufzt und sagt: »Alter, mit dir würde ich gerne tauschen!«
Hamid grinst breit und versteht seinen Schwager absichtlich falsch. »Tauschen? Aber gerne. Fahr rechts ran, Kumpel, dann fahr ich eine Weile.«
Youssef schnappt sich das Foto. Etwas flattert aus dem Fenster davon.
»Ey, du Arschloch«, schreit mein Vater in jähem Zorn und boxt seinen Schwager hart gegen die Schulter. »Halt sofort an! Hol das Foto zurück, du verfickte Strafe Gottes!«
Youssef fährt rechts ran und bringt den Wagen zum Stehen. Er lacht gutmütig über Hamids Zorn. Wie ein Zauberer zieht Youssef das Foto wieder hervor. Er hat etwas anderes aus dem Fenster flattern lassen, und der smarte Hamid ist da rauf hereingefallen. Der schnappt sich das Foto, lacht grimmig und versetzt seinem Schwager mit der flachen Hand einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.
Sie tauschen die Plätze, jetzt sitzt Hamid am Steuer. Es wird Abend, und die beiden nähern sich einer Kleinstadt. Da sind Händler am Straßenrand, die ihre Obst- und Gemüsestände zusammenpacken, auf Karren laden und in Richtung Stadt schieben. Hamid legt eine neue Musikkassette ein, die wehmütige Stimme der arabischen Sängerin Feyruz erfüllt den Wagen.
Plötzlich ein dumpfer Knall. Holzkarrenteile spritzen rechts und links am Wagen vorbei. Melonen zerplatzen auf der Windschutzscheibe. Hamid hält fluchend an. Als sie aussteigen, werden sie von wütenden Menschen angegriffen. Während aus dem Wagen immer noch die Stimme von Feyruz ertönt, bricht draußen ein wahrer Tumult los: Hamid hat nicht nur einen Händlerkarren geschrottet und eine Wagenladung Früchte verdorben. Der Junge, der den Karren schob, liegt bewusstlos in seinem Blut zwischen dem Obst. Hamid ist ihm über beide Beine gefahren. Sie sehen nicht besser aus als die zermatschten Früchte ringsum.
Dem Jungen müssen beide Beine amputiert werden. Hamids coole Reise endet im Gefängnis. Dort lässt er sich zwei Buchstaben und einen deutschen Adler auf den Arm tätowieren: H für Hamid und S für Saliha. Opa Abit bezahlt eine hohe Kautionsgebühr, damit Hamid vorzeitig entlassen wird. Und dann? Wieder gibt es zwei Versionen da rüber, wie die Geschichte weitergeht, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Salihas Familie erzählt sie folgendermaßen: Kaum aus dem Gefängnis entlassen, lungerte Hamid Tag und Nacht vor Salihas Haus he rum. Ihr Vater hat ihm gesagt, er solle sich eine andere Braut suchen, seine Tochter sei ihm für einen Verbrecher wie ihn, den man aus dem Gefängnis holen müsse, zu schade. Das wollte Hamid aber nicht hinnehmen. Lauthals forderte er Tag für Tag, man solle Saliha he rausgeben. Sind sie nicht verlobt? Hat er sich nicht ihre beiden Anfangsbuchstaben auf den Arm tätowieren lassen? Zeigt der deutsche Adler nicht klar und deutlich, dass er gedenkt, Saliha mit nach Deutschland zu nehmen und ihr dort ein schönes Leben zu bieten?
Schließlich, so mein Großvater, Salihas Vater, gab er nach. Die ganze Sache wurde einfach zu peinlich, da fügte er sich lieber. Und bewies Hamid mit seinem Verhalten nicht, wie ernst es ihm mit Saliha war? Also gut, die Hochzeit wurde gefeiert. Ein ganzes Kilo Goldschmuck musste Hamid Saliha zum Brautgeschenk machen. Das ist dort, wo meine Familie herkommt, so üblich und als Absicherung der jungen Frau gedacht, für den Fall, dass etwas schieflaufen sollte mit der Ehe. Die beiden wurden Mann und Frau, und Saliha packte ihre Sachen und kam mit nach Mönchengladbach.
»Nein, nein, nein«, beteuerte Hamid später und mit ihm der gesamte Al-Mer-Clan. »Die Sache war vollkommen anders!« Sein Vater habe ihn erpresst, damals, als er im Gefängnis saß. S stand keinesfalls für Saliha, sondern für Sabine, seine damalige deutsche Freundin. Doch Opa Abit sei zu ihm gekommen und habe ihm angeboten, die Kaution zu bezahlen. Dazu sei er bereit, aber nur unter der Bedingung, dass er endlich sein Versprechen einlöse, Saliha zu heiraten und mit nach Deutschland zu nehmen, so wie es seit Langem ausgemacht war.
»Was hätte ich tun sollen«, fragte Hamid und warf theatralisch die Arme in die Luft. »Wollte ich etwa im Gefängnis verfaulen? « Und so heiratete er Saliha, auch wenn er, wie er behauptete, dazu nicht die geringste Lust hatte. »Sie war ein Mädchen vom Dorf. Sie konnte weder schreiben noch lesen. Was in aller Welt sollte ich mit einer solchen Frau anfangen?«
Großvater Abit war es gelungen, in der Hermann-Löns-Straße in Mönchengladbach-Rheydt zwei Etagen in einem großen Haus zu mieten, in dem die gesamte Familie Al-Mer »Platz« hatte. Das ist natürlich übertrieben, denn wirklich richtig Platz hatte man dort nicht: Es gab ein Schlafzimmer für die Eltern und ein Kinderzimmer, das sich sechs der Kinder bis zu ihrem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr teilten. Mittelpunkt der Wohnung war die Küche, in der sich auch die einzige Dusche befand, sodass man alle anderen erst rausscheuchen musste, wollte man sich in Ruhe waschen. Ganz oben unter dem Dach war stets eine kleine Wohnung für frisch verheiratete Paare reserviert, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatten. Und hier zogen Hamid und Saliha nach ihrer Hochzeit ein.
Ob sie je eine Phase hatten, in der sie miteinander glücklich waren? Ich weiß es nicht. Saliha war temperamentvoll und hatte ihren eigenen Kopf; sie widersprach Hamid, und das konnte er auf den Tod nicht leiden. Sie weigerte sich, ihr Kopftuch abzulegen und moderne, westliche Kleider anzuziehen. Sie lernte nur das Nötigste auf Deutsch, konnte beim Bäcker »fünf Mohnbrötchen, bitte« sagen, weil Hamid Mohnbrötchen für sein Leben gern aß, und »lecker« oder »schön«. Ansonsten saß sie vor dem Fernseher und sah romantische Schnulzen im türkischen Satellitenfernsehen. Das erzählt jedenfalls Hamid, und dass sie, wenn er abends müde von der Arbeit kam, sich nicht zu ihm ins Bett legen wollte, sondern in Tränen aufgelöst diese schrecklichen Filme anschaute.
Und dann, wie gesagt, kam ich auf die Welt. Doch statt besser, wie Saliha es sich erhofft hatte, wurde alles nur noch schlimmer. Tante Suheila schlug vor, mich Meral zu nennen, das heißt Rehkitz. Sie erzählte mir später, dass ich unglaublich schnell laufen lernte, vielleicht weil meine Eltern unaufhörlich miteinander stritten. Dann machte ich mich davon, kletterte Stufe um Stufe hi nun ter zu Oma Halima, wo immer jemand war, der mich auf den Schoß nahm und mir etwas Süßes in den Mund stopfte: Trost und Liebesersatz in zuckriger Form. Und so wurde ich zu einem dicken Kind. Statt wie ein Rehkitz sah ich damals eher aus wie ein kleiner Bär.
Hamid hatte nie aufgehört, deutsche Freundinnen zu haben.
Um den Zeitpunkt meiner Geburt lernte er Kornelia kennen, die schräg gegenüber wohnte, einen Sohn in meinem Alter hatte und sich gerade von ihrem Ehemann getrennt hatte, weil er sie ständig schlug. Hamid besuchte sie oft. Mich nahm er mit, und während die beiden zusammen waren, spielte ich mit Mark, ihrem Sohn.
Ob Saliha davon wusste? Eine Frau weiß genau, wann ihr Mann fremdgeht, davon bin ich fest überzeugt. Außerdem glaube ich kaum, dass Hamid sich die Mühe machte, seine Affäre geheim zu halten. Machte sie ihm Szenen? Oder strafte sie ihn mit Nichtbeachtung, mit der ganzen Wucht ihrer Verachtung?
Eines Morgens, nachdem sie Hamid Mohnbrötchen geholt und das typische türkisch-arabische Frühstück aus Oliven, Schafskäse, Joghurt, Gurkenscheiben und Tomatenstücken serviert hatte, gerieten Hamid und Saliha aus irgendeinem Grund wieder derart in Streit, dass er ihr die Gabel, mit der er gerade eine Olive aufspießen wollte, in die Schulter rammte. Oder war das vor meiner Geburt? Mal wurde es so erzählt, dann wieder anders. Sicher scheint nur, dass die Gabel tief in Salihas Schulter landete.
»Dein Großvater ist schlimm«, vertraute mir Oma Halima einmal an. »Aber glaube mir eines: Dein Vater ist noch viel, viel schlimmer.« Ich protestierte, denn ich liebte meinen Vater abgöttisch.
Familienurlaub der besonderen Art
Zieh nicht so die Mundwinkel nach unten«, herrschte mich Jahre später mein Vater oft an, »glotz mich nicht so an, so vorwurfsvoll. Mein Gott, wenn du so schaust, dann siehst du aus wie deine Mutter. Sooo ...« Und er zog eine fürchterliche Grimasse, die Mundwinkel wie ein Hufeisen nach unten gezogen. »Grässlich!«
Welche Träume hatte Saliha? Was wünschte sie sich vom Leben? Weinte sie deshalb so viel vor dem Fernsehapparat, weil sie ihre eigenen Wünsche und Träume dort widergespiegelt sah? Oder weinte sie einfach so, aus Rührung, und machte sich über ihre eigenen Wünsche gar keine Gedanken?
Ich war gerade acht Monate alt, als Saliha erneut schwanger wurde. Auch dieses Mal stimmte diese Neuigkeit meinen Vater nicht gnädig, ganz im Gegenteil. Und dann, im Mai 1982, kam er auf eine Idee, wie nur er sie haben konnte. Er beschloss, dass wir »alle zusammen« in die Heimat reisen würden, um mich, sein erstes Kind, der Verwandtschaft vorzustellen. Saliha, im siebten Monat schwanger, war begeistert. Zum ersten Mal seit ihrer Heirat würde sie ihre Familie wiedersehen. Bis sie erfuhr, was Hamid mit »alle zusammen« tatsächlich meinte: seine Geliebte Kornelia würde bei diesem Familienurlaub mit von der Partie sein.
Füge ich die Bruchstücke, die mir später erzählt wurden, zusammen, dann stelle ich mir diese Reise so vor: Meine Mutter, die mich noch stillte, und ich saßen im Heck des Wagens, Hamid am Steuer und Kornelia auf dem Beifahrersitz. »Während der gesamten Fahrt«, beschwerte sich Kornelia später, »hat diese Frau versucht, mich umzubringen.«
Saliha spuckte ihrer Nebenbuhlerin Wasser ins Genick, zog sie am wasserstoffblonden, dauergewellten Haar, fuhr ihr mit den Fingernägeln ins Gesicht. Die ganze lange Fahrt über, die uns durch Österreich, Italien, das damalige Jugoslawien und Bulgarien und schließlich quer durch die Türkei bis an die türkisch- syrische Grenze führte, fast viertausend Kilometer und rund fünfzig Stunden lang, herrschte Krieg in Hamids PKW. Wie viele Male hielt er an und zerrte Saliha aus dem Wagen, um sie grün und blau zu schlagen? Wie oft ließ er sie dort einfach am staubigen Straßenrand liegen, fuhr los, im Schritttempo, um im Rückspiegel zu beobachten, wie sie sich aufrappelte, hinter dem Wagen herlief, ihn fast erreichte, um dann erneut Gas zu geben und ein paar Meter weiterzufahren, es zu genießen, wie sie sich mühsam voranschleppte, nach ihrem Kind rief: »Meral! Meral! Du Hundesohn, gib mir mein Kind!« Dieses Spiel setzte er so lange fort, bis sie nicht mehr konnte, um dann gnädig zu warten, bis sie mit letzter Kraft die Autotür erreichte. Die riss sie auf und kletterte zu ihrem kleinen Mädchen auf die Rückbank, zu mir, die ich schreiend und weinend auf dem Kunstleder gekniet hatte und mit angstvoll aufgerissenen Augen, den Schnuller im Mund, durch die Heckscheibe zusehen musste, wie meine Mutter immer wieder im Niemandsland der Landstraßen zurückgelassen wurde, in den Schmutz fiel, sich aufrappelte, und unter Blut und Tränen nach mir rief.
»Es war die Hölle«, sagte Kornelia später.
Warum um alles in der Welt war sie mitgefahren?
Was genau geschieht, als sie Salihas Heimatdorf erreichen? Wieder gehen die Erzählungen auseinander. Stellt Hamid völlig ohne Skrupel Kornelia als seine Zweitfrau vor? Auch Salihas Vater hatte mehrere Frauen, warum also nicht? Es war typisch für meinen Vater, dass man ihm so ziemlich alles abkaufte, einfach weil er so überzeugend charmant und unschuldig auftreten konnte.
»Ach so, das ist also Kornelia? Willkommen.« Gastfreundschaft ist ein hohes Gut dort, wo wir alle herkommen.
Und irgendwann, früher oder später, sagt Hamid zu Saliha: »Ich geh mal eben meine Verwandten besuchen, sie wollen unsere Tochter sehen. Wir sind bald wieder zurück.«
Saliha nickt. Warum auch nicht? Meine Kleider, auch meine Puppe, alles bleibt bei ihr. Mein Vater will mich ja ein paar Stunden später wieder zurückbringen. Schließlich werde ich noch gestillt.
Hamid nimmt mich meiner Mutter vom Arm. Gemeinsam mit Kornelia besuchen wir tatsächlich irgendwelche Verwandten; noch heute habe ich Fotos davon, die in einer Art Garage oder Stall aufgenommen wurden. Auf ihnen sieht man Kornelia, mit verschwollenen Augen scheint sie sich hinter Onkel Momo verstecken zu wollen. Man sieht auch das Heck von Hamids Wagen und mich, wie ich mich auf dem Schoß dieser fremden Verwandten winde. Wann fahren wir zurück zur Mama?
Aber Saliha wird umsonst auf mich warten. Die nächsten dreißig Jahre wird sie warten. Denn ihr Mann fährt mit mir und seiner deutschen Geliebten einfach nach Hause, zurück nach Deutschland. Saliha lässt er im Haus ihrer Eltern hochschwanger zurück.
War für Kornelia die Reise in die Türkei die Hölle, so war es für mich die Heimfahrt. Ein Foto zeigt mich nur mit einer Windel bekleidet verloren am Straßenrand irgendwo zwischen Mutterland und Vaterland hocken, den gelben Schnuller fest zwischen den Zähnen. »Du hast die ganze Fahrt über nur gebrüllt«, erzählte mir mein Vater später, mit einem tiefen Vorwurf in der Stimme, so als wäre es normal, ein Stillkind seiner Mutter weg zunehmen und fünfzig Stunden lang mit ihm auf der klebrigen Kunstlederrückbank ohne Kindersitz durch die Gluthitze zu fahren. Meine Mutter fehlte mir - und ich schrie. Ich war hungrig nach ihrer Milch - und ich schrie. Sie gaben mir nicht genug zu trinken - und ich schrie. Irgendwo in Jugoslawien baute mein Vater einen Unfall - und ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Irgendwann hörte ich auf damit, hatte keine Kraft mehr dazu. Dehydriert, mit Tränen und Rotz verschmiert, landete ich schließlich auf Oma Halimas Schoß.
»Das arme Kind«, sagte sie. Das sollte sie noch oft wiederholen in den folgenden Jahren, und meine drei Tanten Amina, Suheila und Yildiz machten es ihr nach. »Das arme, arme Kind. Vermisst sie ihre Mutter nicht?«
Nein, ich vermisste sie nicht. Denn ich konnte mich an all das nicht mehr erinnern. Wie weggewischt sind die ersten Monate meines Lebens, und meine Mutter Saliha verschwand im dichten Nebel des Vergessens, bis es für mich so war, als hätte es sie nie gegeben. Nur in den wenigen abfälligen Bemerkungen meines Vaters tauchte ihr Zerrbild hin und wieder auf, selten genug. Ich fragte nicht nach ihr. Meine Mutter war dumm und aufsässig, klammerte sich an ihr Kopftuch und zog die Mundwinkel nach unten.
»Nein«, antwortete ich, wenn die Tanten wieder ihr Mitleidsgejammer begannen. »Meine deutsche Mama ist meine Mama.«
Von da an war ich »das arme, verlorene Kind«. Bis Oma Halima ihren Töchtern Schweigen befahl. Lange wusste ich nicht, was sie eigentlich meinten. Wieso sollte ich verloren sein? Bis ich verstand: Von einer deutschen Mutter erzogen, war ich für die Kultur, für das geistige und religiöse Erbe meiner Vorfahren verloren. »Sie spricht ja nicht mal richtig Türkisch.«
Nein, das tat ich nicht. Mein Vater wollte es so. Ich sollte genauso aufwachsen wie die deutschen Kinder in unserer Nachbarschaft, so wie auch er das staubige Dorf mit seinen Ziegen und Analphabeten und »Kopftuchweibern« ein für alle Mal hinter sich lassen wollte. Seine Träume sahen anders aus als die seines Vaters.
Der veranstaltete ein Riesentheater, als Hamid ohne Saliha aus dem Urlaub nach Hause kam. Die Familienehre stand auf dem Spiel, schließlich war man verwandt, wenn auch um einige Ecken. »Pass gut auf meine Tochter auf«, hatte sein Cousin bei der Hochzeit gesagt, und er, Abit Al-Mer, hatte sein Wort gegeben. Dafür, was Hamid Saliha angetan hatte, gab es keine Entschuldigung.
»Du holst sie zurück!«, schrie Großvater Abit meinen Vater an.
Doch der Alte hatte keine Macht mehr über seinen ältesten Sohn. Der weigerte sich einfach. Zog mit dieser deutschen Schlampe zusammen. Scherte sich einen Dreck um Familie und Tradition. Und der Gipfel war: Er weigerte sich, Saliha ihren Goldschmuck auszuhändigen. Ein ganzes Kilo in Gold, Salihas Brautgeld und Absicherung für den Fall, der jetzt eingetreten war. Sie hatte ihren Brautschatz in Deutschland zurückgelassen, ohne Argwohn zu schöpfen; so einen Reichtum nimmt man schließlich nicht mit auf eine Reise.
»Nö, wieso«, sagte Hamid. »Hab ich das nicht alles selbst bezahlt? « Und dabei blieb es.
Oder war es anders? War es meine geliebte Oma Halima, die auf dem Gold saß wie der leibhaftige Drache aus dem Märchen, wie es Salihas Familie später behaupten sollte? Tatsache ist, Saliha war das schlimmste Schicksal zugestoßen, das einer arabischen Frau überhaupt passieren kann: Hochschwanger saß sie wieder bei ihrer Familie, ohne ihren Goldschmuck, ohne ihre Tochter, verlassen von ihrem Mann. Es gab andere Fälle, da wurde eine solche Tochter von der eigenen Familie verstoßen. Saliha blieb dieses Schicksal erspart, denn sie hatte einen gütigen Vater, der auch zu ihr stand, als die Hyänen in der Familie forderten, das Kind in ihrem Bauch abzutreiben. Der ihr half und seine schützende Hand über sie hielt. Der sie zurücknahm und für sie sorgte, für sie und ihren Sohn, den sie zwei Monate später gebar. Sie wollte ihn Baris nennen, das heißt »Frieden«. Doch ihr Vater sagte: »Für Frieden ist es noch zu früh.«
Und so erhielt der Kleine den Namen Mourad, »Wunsch«. Welchen brennenden Wunsch meine Mutter in ihrem Herzen hegte, welcher Wunsch sie mitunter bis an den Rand des Wahnsinns trieb, davon ahnte ich lange nichts.
»Sie könnte ja nach mir suchen«, dachte ich, als ich älter wurde. »Aber wahrscheinlich hat sie mich längst vergessen.«
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Bibliographische Angaben
- Autor: Meral Al-mer
- 2013, 4. Aufl., 319 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404607066
- ISBN-13: 9783404607068
- Erscheinungsdatum: 17.04.2013
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