Nineteen Moons - Eine ewige Liebe
Ist der Tod das Ende...oder nur der Anfang?
Um die Welt zu retten, hat Ethan sich geopfert und ist am Mittsommerabend von einem Wasserturm in den Tod gesprungen. Doch seine Liebe zu Lena ist so überwältigend, dass er selbst in...
Um die Welt zu retten, hat Ethan sich geopfert und ist am Mittsommerabend von einem Wasserturm in den Tod gesprungen. Doch seine Liebe zu Lena ist so überwältigend, dass er selbst in...
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Produktinformationen zu „Nineteen Moons - Eine ewige Liebe “
Ist der Tod das Ende...oder nur der Anfang?
Um die Welt zu retten, hat Ethan sich geopfert und ist am Mittsommerabend von einem Wasserturm in den Tod gesprungen. Doch seine Liebe zu Lena ist so überwältigend, dass er selbst in der Totenwelt nicht von ihr lassen kann. Können die beiden je wieder zusammenfinden?
Um die Welt zu retten, hat Ethan sich geopfert und ist am Mittsommerabend von einem Wasserturm in den Tod gesprungen. Doch seine Liebe zu Lena ist so überwältigend, dass er selbst in der Totenwelt nicht von ihr lassen kann. Können die beiden je wieder zusammenfinden?
Klappentext zu „Nineteen Moons - Eine ewige Liebe “
Ist der Tod das Ende oder nur der Anfang?Um die Welt zu retten, hat Ethan Wate sich geopfert und ist am Mittsommerabend von einem Wasserturm in den Tod gesprungen. Doch seine Liebe zu Lena Duchannes ist so überwältigend groß, dass er selbst in der Totenwelt nicht von ihr lassen kann. Als er einen Weg findet, wie er seinen Tod ungeschehen machen und zu Lena zurückkehren kann, setzt er alles dafür aufs Spiel. Auch Lena will nichts mehr, als ihren geliebten Ethan zurückzubekommen, und muss sich dafür einem ihrer mächtigsten Feinde stellen. Ob Ethan und Lena je wieder zusammenfinden können, steht jedoch in den Sternen
Das heiß ersehnte Finale schicksalhaft und einfach überirdisch schön!
Lese-Probe zu „Nineteen Moons - Eine ewige Liebe “
Nineteen Moons von Kami Garcia und Margaret StohlAus dem Amerikanischen von Petra Koob-Pawis
Lena
Alles beginnt von Neuem
Andere Menschen hatten Träume vom Fliegen. Ich hatte Albträume vom Fallen. Ich konnte nicht darüber sprechen, aber ich konnte auch an nichts anderes denken.
An nichts, nur an ihn.
An Ethan, wie er in die Tiefe stürzt.
An seinen Schuh, der Sekunden vor ihm aufschlägt.
Er musste ihm im Fallen vom Fuß gerutscht sein.
Ich fragte mich, ob er es wusste.
Ob er es gewusst hatte.
Immer wenn ich die Augen schloss, sah ich den schmutzigen schwarzen Sneaker vom Wasserturm in die Tiefe trudeln. Manchmal hoffte ich, dass alles nur ein Traum wäre. Dass ich aufwachen und Ethan in der Einfahrt von Ravenwood auf mich warten würde, um mich zur Schule abzuholen.
Wach auf, Schlafmütze. Ich bin gleich da. Das würde er kelten.
Links schräge Gitarrenakkorde würden mir schon durchs offene Fenster entgegenwehen, bevor ich Ethan hinter dem Lenkrad sehen würde.
So stellte ich es mir vor.
Ich hatte schon in so vielen Albträumen Angst um ihn gehabt. Noch bevor ich ihn kannte - bevor ich überhaupt ahnte, dass sie von Ethan handelten. Aber das jetzt war anders als alles, was ich in meinen schlimmsten Träumen je erlebt hatte.
Es hätte nicht passieren dürfen. Sein Leben hätte nie so enden sollen. Und auch mein Leben hätte anders verlaufen sollen.
Dieser schmutzige schwarze Turnschuh hätte nie fallen dürfen.
Ein Leben ohne Ethan war schlimmer als jeder Albtraum.
Denn es war Wirklichkeit.
Es war so schonungslos wirklich, dass ich mich weigerte, es zu akzeptieren.
... mehr
2. Februar
Albträume enden.
Daran erkennt man, dass es Träume sind.
Doch das hier - Ethan, alles - endet nicht,
will einfach nicht aufhören.
Ich fühlte mich - fühle mich - gefangen.
Mein Leben ist zersplittert,
als er und alles ein Ende fand,
es ist in tausend kleine Scherben zersprungen.
als er am Boden aufschlug.
Ich konnte mein Notizbuch nicht mehr ansehen. Ich konnte keine
Gedichte mehr schreiben. Es tat zu weh, sie zu lesen.
Alles war viel zu wahr.
Der wichtigste Mensch in meinem Leben war vom Summerville- Wasserturm in den Tod gesprungen. Ich wusste, warum er es getan hatte. Aber das machte es nicht leichter.
Beim Gedanken daran, dass er es für mich getan hatte, fühlte ich mich nur noch elender.
Manchmal dachte ich, dass die Welt es nicht wert war.
Nicht wert, von ihm gerettet zu werden.
Manchmal dachte ich, dass auch ich es nicht wert gewesen war.
Ethan hatte geglaubt, das Richtige zu tun. Er hatte gewusst, wie absurd und wahnsinnig es war. Er hatte nicht gehen wollen, aber er hatte es trotzdem getan.
So war Ethan eben.
Selbst im Tod.
Er hatte die Welt gerettet, aber meine Welt lag in Trümmern.
Was jetzt?
Buch I
Ethan
1. Kapitel
Zu Hause
Über mir ein verschwommener blauer Himmel.
Wolkenlos.
Makellos.
Beinahe wie der Himmel im richtigen Leben - nur ein bisschen blauer und nicht ganz so sonnig grell.
Den echten Himmel hatte ich nie makellos, nie so perfekt gesehen. Vielleicht ist er gerade deshalb so perfekt.
War.
Ich kniff die Augen wieder zu.
Um Zeit zu schinden.
Ich war mir nicht sicher, ob ich schon bereit dafür war - ob ich wirklich sehen wollte, was ich gleich sehen würde.
Natürlich war der Himmel hier blauer und klarer - es hieß ja nicht umsonst Himmel. Das Jenseits und so weiter.
Nicht dass ich damit gerechnet hatte, dort zu landen. Okay, ich war ganz anständig gewesen, soweit ich das beurteilen konnte. Aber inzwischen hatte ich oft genug erlebt, dass mich das, was ich fest zu wissen glaubte, in die Irre geführt hatte.
Ich war eigentlich ziemlich aufgeschlossen, zumindest für Gatliner Verhältnisse. Das heißt, ich kannte all die Theorien. Ich hatte mehr als genug Stunden in der Sonntagsschule abgesessen. Und nach dem Tod meiner Mutter hatte Marian mir von ihrem Buddhismus-Kurs an der Duke Universität erzählt. Der Leiter war ein Typ namens Buddha Bob gewesen, der das Paradies für eine Träne in einer Träne in einer Träne hielt - oder so ähnlich. Ein Jahr vorher hatte Mom mir Dantes Inferno als Lesestoff in die Hand gedrückt. Link hatte behauptet, es ginge darin um ein Bürogebäude, das in Flammen aufgeht - tatsächlich aber handelte es von einem Kerl, der die neun Kreise der Hölle bereist. Ich kann mich noch dunkel daran erinnern, wie begeistert Mom von Ungeheuern oder Teufeln in einer Eisgrube erzählt hatte. Wenn ich mich nicht täusche, war das der neunte Kreis der Hölle, aber dort unten schien es so viele Kreise zu geben, dass sie in meinem Kopf zu einem einzigen Wirrwarr verschmolzen.
Nach allem, was ich über Unterwelten, Anderwelten und Nebenwelten gelernt hatte - und in Anbetracht der vielen Überraschungen, die diese dreistöckige Sahnetorte namens Caster-Universum immer wieder bereithielt -, konnte ich mit meinem momentanen Ausblick hier ganz zufrieden sein. Es gab sicher Schlimmeres als ein Jenseits, das aussah wie eine Kitschpostkarte. Auf goldene Pforten oder kleine nackte Engelchen konnte ich verzichten. Aber ein blauer Himmel, das war schon mal nicht schlecht.
Ich öffnete die Augen wieder. Noch immer blau.
Carolina-Blau.
Eine dicke Biene summte über meinen Kopf und schwirrte in den Himmel ab - bis sie plötzlich zurückprallte und nach unten taumelte, wie ich es schon unzählige Male zuvor gesehen hatte.
Denn über mir war kein Himmel.
Sondern die Zimmerdecke.
Und das hier war kein Jenseits.
Ich lag in meinem alten Mahagonibett in meinem noch älteren Zimmer in Wates Landing.
Ich war zu Hause.
Was unmöglich war.
Ich blinzelte.
Immer noch zu Hause.
Hatte ich etwa alles nur geträumt? Ich spürte, wie verzweifelte Hoffnung in mir aufkeimte. Vielleicht verschwammen beim Aufwachen Traum und Wirklichkeit vor meinen Augen - so wie jeden Morgen in den ersten sechs Monaten nach Moms Tod.
Bitte lass es einen Traum gewesen sein.
Ich beugte mich über die Kante und tastete durch die Staubschicht unter meinem Bett. Da war er, der Bücherstapel. Vorsichtig zog ich einen Band hervor.
Die Odyssee. Eine meiner bevorzugten Graphic Novels - obwohl mich beim Lesen jedes Mal der Verdacht beschlich, dass der Autor ziemlich frei mit Homers Originalversion umgegangen war.
Ich zögerte, bevor ich ein weiteres Buch aus dem Stapel zog. On the Road. Jack Kerouac. Das beseitigte meinen letzten Zweifel und ich rollte mich zur Seite. Mein Blick fiel auf das blasse Rechteck an der Wand, wo bis vor ein paar Tagen - waren es wirklich nicht mehr? - die ramponierte Karte hing, auf der ich mit grünem Leuchtstift alle Orte aus meinen Lieblingsbüchern umkringelt hatte, an die ich später einmal reisen wollte.
Es war tatsächlich mein Zimmer.
Die alte Uhr auf dem Tisch neben meinem Bett schien den Geist aufgegeben zu haben, aber alles andere sah aus wie immer. Es war vielleicht ein bisschen zu warm für einen Januartag. Und das Licht, das durchs Fenster fiel, wirkte irgendwie unnatürlich - beinahe wie die Beleuchtung in einem von Links kruden Storyboards für die Musikvideos der Holy Rollers. Aber abgesehen von der seltsamen Filmbeleuchtung hatte sich nichts verändert. Die Bücher stapelten sich noch immer unter meinem Bett, die Schuhschachteln mit meiner Lebensgeschichte zogen sich noch immer an der Wand entlang. Alles war, wo es sein sollte. Nichts fehlte.
Bis auf Lena.
L? Bist du da?
Ich spürte sie nicht. Genau genommen spürte ich gar nichts.
Ich begutachtete meine Hände. Sie sahen okay aus - nicht der kleinste Kratzer. Mein Blick fiel auf mein weißes T-Shirt. Kein einziger Blutfleck.
Keine Löcher in meiner Jeans, keine Löcher in meinem Körper.
Ich ging ins Bad und betrachtete mich im Spiegel über dem Waschbecken.
Da war ich - derselbe alte Ethan Wate.
Gedankenverloren starrte ich mein Spiegelbild an, als ich ein Geräusch von unten hörte.
»Amma?«
Mein Herz schlug schneller. Was angesichts der Tatsache, dass ich mir beim Aufwachen nicht einmal sicher gewesen war, ob es überhaupt noch schlug, recht bemerkenswert war. Aber hier stand ich und lauschte den vertrauten heimischen Geräuschen, die aus der Küche heraufdrangen. Bodendielen knarzten, als jemand zwischen den Küchenschränken, dem Herd und dem alten Küchentisch hin und her ging. Die gleichen Schritte und Handgriffe wie jeden Morgen .
Falls es überhaupt Morgen war.
Ein Duft, der nur aus unserer alten Bratpfanne kommen konnte, waberte die Treppe herauf.
»Amma? Sag bloß, es gibt Schinken zum Frühstück?«
Die Stimme von unten drang klar und ruhig zu mir. »Liebling, frag doch nicht erst. Es gibt nur ein einziges Gericht, das ich einigermaßen unfallfrei kochen kann - wobei selbst das noch eine Übertreibung ist.«
Diese Stimme.
Sie war so vertraut.
»Ethan? Wie lange willst du mich noch zappeln lassen, bis ich dich endlich in den Arm nehmen kann? Ich warte schon eine ganze Weile auf dich.«
Ich verstand nicht, was die Worte bedeuteten. Ich hörte nichts außer dem Klang ihrer Stimme. Ich hatte sie schon einmal gehört, vor gar nicht so langer Zeit, aber nicht auf diese Art. Nicht so laut und klar und voller Leben, als wäre die Sprecherin einfach unten im Haus.
Wo sie auch war.
Die Worte waren wie Musik und verjagten alle nagenden Gedanken, alle bohrenden Fragen.
»Mom? Mom!«
Ich wartete ihre Antwort nicht ab, sondern raste die Treppe drei Stufen auf einmal nehmend hinunter.
2. Kapitel
Grüne Schmortomaten
Da stand sie, mitten in der Küche, barfuß wie immer, und auch ihre Haare waren genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte - zur Hälfte nach oben geschlungen, während der Rest offen herabfiel. Tintenflecken und Farbtupfer von ihrem letzten Projekt sprenkelten das weiße Herrenhemd, das Dad immer als ihre »Uniform« bezeichnet hatte. Die Jeans war bis zu den Knöcheln hochgekrempelt. Seit ich denken konnte, hatte sie sie so getragen, egal ob das gerade angesagt war oder nicht. Um solche Sachen hatte meine Mutter sich nie groß gekümmert. In der einen Hand hielt sie unsere alte schwarze Eisenpfanne mit den grünen Tomaten, in der anderen ein aufgeschlagenes Buch. Wahrscheinlich hatte sie beim Kochen gelesen oder beim Lesen gekocht und dabei gedankenverloren einen Song vor sich hin gesummt, ohne dass sie sich dessen bewusst gewesen wäre.
So war Mom eben.
Sie war genau wie früher. Vielleicht war ich derjenige, der sich verändert hatte.
Ich betrat die Küche. Sie drehte sich um und legte das Buch beiseite. »Da bist du ja, mein süßer Junge.«
Mein Herz stülpte sich um. Niemand sonst nannte mich so - niemand würde mich so nennen wollen, und ich würde mich von niemand so nennen lassen. Nur von Mom. Sie schlang die Arme um mich, und die Welt hüllte uns ein, während ich mein Gesicht in ihrer Umarmung vergrub. Ich atmete den warmen Duft und das warme Gefühl und das warme Leben ein, das nur sie für mich war.
»Mom. Du bist wieder da.«
»Das stimmt nicht ganz.« Sie seufzte.
Im selben Moment ging mir ein Licht auf. Mom stand in unserer Küche, und ich stand neben ihr, was nur zwei Schlussfolgerungen zuließ: Entweder sie war zurückgekehrt oder ich ...
War nicht zurückgekehrt.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, Liebe, Mitgefühl - und schon lag ich wieder in ihren Armen.
Mom verstand mich immer.
»Ich weiß, mein Süßer. Ich weiß.«
Ich schmiegte das Gesicht in die vertraute Mulde an ihrer Schulter, wo ich mich schon so oft vor der Welt versteckt hatte.
Sie küsste meine Stirn. »Was ist passiert? Es hätte nicht so weit kommen dürfen.« Sie löste sich aus unserer Umarmung und sah mich fragend an. »Es hätte nicht so enden sollen.«
»Ich weiß.«
»Andererseits gibt es am Ende des Lebens wohl kaum noch richtig und falsch, oder?« Sie kniff mir ins Kinn und lächelte mich an. Erinnerungen stiegen in mir auf. Ihr Lächeln, ihr Gesicht. Alles. Alles , was ich so vermisst hatte.
Ich hatte immer gewusst, dass sie lebte - irgendwo, irgendwie. Sie hatte Macon gerettet und mir Songs gesandt, die mich durch die verschlungenen Pfade meines Lebens mit den Castern gelenkt hatten . Sie war die ganze Zeit bei mir gewesen, sie hatte mich nie verlassen.
Es war nur ein kurzer Moment, aber ich wollte ihn nicht hergeben.
Ich könnte nicht mehr sagen, wie wir bis zum Küchentisch gekommen waren. Ich kann mich an nichts mehr erinnern außer an die tröstliche Wärme ihrer Arme. Aber da saß ich, auf demselben Stuhl wie immer, als wären die letzten Jahre nur ein flüchtiger Traum gewesen. Überall türmten sich Bücher, von denen Mom wie üblich jedes angefangen und keines ausgelesen hatte. Eine einzelne Socke, frisch aus der Wäsche, steckte als Lesezeichen zwischen den Buchdeckeln der Göttlichen Komödie. Eine Serviette lugte aus der Ilias hervor und gleich darüber blitzte eine Gabel in einem dicken Band griechischer Mythologie. Der Küchentisch bog sich förmlich unter ihren Lieblingsbüchern, ein Stapel überragte den nächsten. Ich fühlte mich, als wäre ich plötzlich wieder bei Marian zwischen den Bücherregalen der Bibliothek.
Die Tomaten brutzelten in der Pfanne, und ich atmete den Duft meiner Mutter ein - vergilbtes Papier und heißes Bratöl, frische Tomaten und alte Kartons, dazu ein Hauch von Cayennepfeffer.
Kein Wunder, dass Bibliotheken mich immer so hungrig machten.
Mom stellte den alten blau-weißen Drachenteller zwischen uns auf den Tisch. Ich musste lächeln, weil das schon immer ihr Lieblingsstück aus unserem Geschirrschrank gewesen war. Sie ließ die heißen Tomaten auf den Teller gleiten und streute Pfeffer darüber.
»Bitte schön. Lass es dir schmecken.«
Ich spießte mit der Gabel eine Tomatenscheibe auf. »Das habe ich nicht mehr gegessen, seit du - seit dem Unfall.« Die Tomate war so dampfend heiß, dass ich mir die Zunge daran verbrannte. Ich sah Mom an. »Sind wir ... ist das ...«
Sie blickte mich verständnislos an.
Ich versuchte es wieder. »Du weißt schon, sind wir im Himmel?«
Sie lachte und goss süßen Tee in zwei hohe Gläser - Tee war das Einzige, was Mom außer Schmortomaten gerade noch hinbekam. »Nein, wir sind nicht im Himmel, EW. Nicht ganz.«
Bestimmt sah ich ziemlich belämmert aus, vor lauter Angst, wir könnten womöglich am anderen Ende der Skala gelandet sein. Aber das war undenkbar, denn - so kitschig es auch klingt - wo Mom war, konnte für mich nur der Himmel sein, selbst wenn das Universum anders darüber dachte. Allerdings waren das Universum und ich uns in letzter Zeit selten einig gewesen.
Mom legte ihre Hand an meine Wange und schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir sind hier noch nicht an unserer Endstation, falls du das meinst.«
»Warum sind wir dann überhaupt hier?«
»Ich bin mir nicht sicher. Leider bekommt man hier beim Einchecken keine Bedienungsanleitung in die Hand gedrückt.« Sie umfasste meine Finger. »Ich wusste von Anfang an, dass ich deinetwegen hier bin. Dass ich noch eine unerledigte Aufgabe vor mir habe. Dass ich dir bestimmte Dinge beibringen oder zeigen muss. Deshalb habe ich dir die Songs geschickt.«
»Die Shadowing Songs.«
»Genau. Du hast mich ganz schön auf Trab gehalten. Aber jetzt, wo du hier bist, fühlt es sich an, als wären wir nie getrennt gewesen. « Ein Schatten huschte über ihr Gesicht und ihre Augen wurden ernster. »Ich habe immer gehofft, dass ich dich wiedersehen würde. Aber ich hätte mir gewünscht, noch viel länger warten zu müssen. Es tut mir so leid für dich. Ich weiß, wie bitter es sich anfühlt, Amma und deinen Vater zurücklassen zu müssen. Und Lena.«
Ich nickte. »Es ist total scheiße.«
»Ich weiß. Ich habe mich genauso gefühlt«, sagte sie.
»Wegen Macon?« Die Worte waren heraus, bevor ich sie hinunterschlucken konnte.
Ihre Wangen färbten sich rot. »Ich schätze, das habe ich verdient. Aber eine Mutter muss nicht alles in ihrem Leben mit ihrem siebzehnjährigen Sohn besprechen.«
»Tut mir leid.«
Sie drückte meine Hand. »Dich wollte ich am allerwenigsten verlassen. Und um dich habe ich mir auch die allergrößten Sorgen gemacht. Um dich und deinen Vater. Zum Glück ist er jetzt bei den Ravenwoods in guten Händen. Lena und Macon haben ihn mit starken Caster-Sprüchen belegt und Amma denkt sich immer neue Geschichten für ihn aus. Mitchell hat keinen blassen Schimmer davon, dass dir etwas zugestoßen ist.«
»Wirklich nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Amma hat ihm gesagt, dass du bei deiner Tante in Savannah bist, und er nimmt es ihr ab.« Ihr Lächeln erlosch und sie blickte gedankenversunken ins Leere. Sie sorgte sich um Dad, egal welche Caster-Sprüche ihn von der Wahrheit abschirmten. Wahrscheinlich war mein plötzlicher Abgang für sie nicht weniger schmerzlich gewesen als für mich, besonders weil sie nur hilflos am Rand stehen und zuschauen konnte.
»Aber auf Dauer ist das keine Lösung, Ethan. Im Moment versuchen alle einfach nur, sich irgendwie aufrecht zu halten. Anders geht das in der ersten Zeit danach gar nicht.«
»Ja.« Ich wusste genau, wovon sie sprach - ich hatte es schließlich selbst erlebt.
Wir wussten beide, wann.
Sie verstummte und griff nach ihrer Gabel. Schweigend aßen wir die Tomaten und dann saßen wir für den restlichen Nachmittag zusammen am Tisch - oder vielleicht nur einen flüchtigen Augenblick lang. Ich konnte es nicht genau sagen, und ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt noch einen Unterschied machte.
Wir setzten uns auf die hintere Veranda, pickten glänzend nasse Kirschen aus dem Küchensieb und beobachteten, wie die Sterne allmählich aus der Dunkelheit hervortraten. Der Himmel hatte sich nachtblau gefärbt und die Sterne leuchteten in grellen, bizarren Mustern. Ich entdeckte die Sternbilder des Caster-Himmels direkt neben denen der Sterblichen. Der gespaltene Mond schwebte auf halber Höhe zwischen Polarstern und Morgenstern. Wie konnte ich zwei Himmel in einem, zwei unterschiedliche Sternkonstellationen an einem Firmament sehen? Aber ich tat es, ich sah alles zusammen; es war, als steckten zwei verschiedene Menschen in mir. Wenigstens hatte die Sache mit der zerbrochenen Seele jetzt endlich ein Ende - zumindest ein Gutes am Sterben.
Tja, echt toll.
Jetzt, wo alles vorbei war - vielleicht sogar gerade deswegen -, hatten sich die Scherben meines Lebens wieder zusammengefügt. Wahrscheinlich war das der Witz des Lebens. Von hier aus sah alles so einfach, so leicht aus. So unglaublich hell und freundlich.
Warum ist das hier der einzige Ausweg gewesen? Warum hat es so enden müssen?
Ich ließ den Kopf gegen die Schulter meiner Mutter sinken. »Mom?«
»Ja, Liebling?«
»Ich muss mit Lena sprechen.« Jetzt war es raus. Ich hatte es endlich gesagt. Das Einzige, was mich den ganzen Tag daran gehindert hatte, endlich aufatmen zu können. Die drängende Frage, die mich nicht zur Ruhe kommen ließ und mir das Gefühl gab, ständig auf dem Sprung zu sein - obwohl ich nicht so genau wusste, wohin.
Amma hatte schon recht, das Gute an der Wahrheit ist, dass sie wahr ist, und über die Wahrheit kann man nicht streiten. Vielleicht hört man sie nicht gerne, aber das macht sie nicht weniger wahr. Die Wahrheit war alles, was ich im Moment noch hatte.
»Du kannst nicht mit ihr sprechen.« Mom runzelte die Stirn. »Jedenfalls nicht so leicht.«
»Ich muss sie wissen lassen, dass ich okay bin. Ich kenne Lena, sie wartet auf ein Zeichen von mir. Genau wie ich auf ein Zeichen von dir gewartet habe.«
»Hier gibt es keinen Carlton Eaton, dem du eine Postkarte für sie mitgeben könntest, Ethan. Du kannst ihr keinen Brief aus dieser Welt schicken und du kannst auch nicht schnell mal in ihrer Welt vorbeischauen. Und selbst wenn, dann könntest du dort immer noch keinen Brief schreiben. Du ahnst ja nicht, wie oft ich mir genau das gewünscht habe.«
Irgendeinen Weg musste es geben. »Ich weiß. Wenn es so leicht wäre, dann hätte ich öfter von dir gehört.«
Sie blickte in den Nachthimmel. Als sie sprach, glitzerte das Licht der Sterne in ihren Augen. »Das hättest du. Und zwar jeden Tag, mein süßer Junge. Jeden einzelnen Tag.«
»Aber du hast es geschafft, mir Botschaften zu senden - mithilfe der Bücher im Arbeitszimmer und der Songs. Und zweimal bist du mir sogar erschienen, einmal auf dem Bonaventura-Friedhof und einmal in meinem Zimmer.«
»Die Songs waren eine Idee der Ahnen. Wahrscheinlich klappte es, weil ich dir schon vorgesungen habe, als du noch ein Baby warst. Aber jeder Mensch ist anders. Ich glaube nicht, dass du Lena einen Shadowing Song schicken kannst.«
»Dazu müsste ich erst einmal einen Song schreiben können.« Meine Fähigkeiten als Songwriter ließen Link wie einen der Beatles aussehen.
»Mir ist es auch nicht leichtgefallen. Und ich bin schon eine Weile länger hier als du. Außerdem hatte ich Hilfe von Amma, Twyla und Arelia.« Sie blickte in den Zwillingshimmel. »Amma und ihre Ahnen haben Kräfte, von denen ich nur träumen kann.«
»Aber du warst eine Hüterin.« Bestimmt wusste sie Dinge, von denen nicht einmal die Ahnen wussten.
»Genau. Ich war eine Hüterin. Ich habe das getan, was die Hohe Wacht von mir wollte, und ich habe das gelassen, was sie mir verbot. Mit ihr legt man sich nicht an und mit ihren Aufzeichnungen pfuscht man nicht herum.«
»Meinst du die Caster-Chroniken?«
Sie nahm eine Kirsche aus dem Sieb und suchte sie nach faulen Stellen ab. Mit der Antwort ließ sie sich so lange Zeit, dass ich schon dachte, sie hätte mich nicht gehört. »Was weißt du über die Caster- Chroniken?«
»Vor Tante Marians Prozess kamen die Abgesandten der Hohen Wacht mit dem Buch in die Bibliothek.«
Mom stellte das alte Metallsieb auf die Verandastufe unter uns. »Vergiss die Caster-Chroniken. Diese Dinge gehen uns nichts mehr an.«
»Warum nicht?«
»Ich meine es ernst, Ethan. Wir sind längst nicht außer Gefahr, du und ich.«
»Gefahr? Wovon redest du? Wir sind doch - du weißt schon.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind noch nicht am Ende unseres Wegs. Wir müssen herausfinden, was uns hier zurückhält, um dann den nächsten Schritt zu gehen.«
»Und was ist, wenn ich das nicht will?« So schnell würde ich nicht aufgeben. Nicht, solange Lena noch auf mich wartete.
Wieder zögerte sie mit ihrer Antwort. Als sie sprach, klang sie ernster und düsterer, als ich sie je gehört hatte.
»Ich glaube nicht, dass du eine Wahl hast.«
»Aber du hattest doch auch eine.«
»Ich konnte es mir nicht aussuchen. Du hast mich gebraucht, deshalb bin ich noch hier - für dich. Aber ich kann die Dinge nicht rückgängig machen.«
»Wirklich nicht? Du könntest es zumindest versuchen.« Ich zerdrückte eine Kirsche zwischen den Fingern. Der Fruchtsaft rann dunkelrot über meine Hand.
»Es gibt nichts, was wir noch versuchen könnten, Ethan. Es ist vorbei. Es ist zu spät.« Sie flüsterte die Worte, aber sie trafen mich mit solcher Wucht, als hätte sie sie mir ins Gesicht geschrien.
Das brachte mich in Rage. Ich schleuderte eine Kirsche in den Garten, dann noch eine - schließlich den ganzen Rest. »Lena und Amma und Dad brauchen mich noch. So schnell gebe ich nicht auf. Ich gehöre nicht hierher. Das ist alles ein riesiges Missverständnis.« Ratlos blickte ich in das leere Sieb. »Außerdem ist noch lange nicht Kirschenzeit. Es ist Winter.« Ich blickte auf und blinzelte gegen die Tränen an, die mir in die Augen gestiegen waren, obwohl ich nichts als Wut verspürte. »Zumindest müsste jetzt Winter sein.«
Mom legte ihre Hand auf meine. »Ethan.«
Ich zog meine Hand weg. »Versuch nicht, mich zu trösten. Ich habe dich vermisst, Mom. Das habe ich wirklich. Mehr als du dir vorstellen kannst. Aber so schön es ist, dich wiederzusehen, so schön wäre es, aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein Traum war. Ich verstehe, warum es so kommen musste. Ich hab's kapiert. Aber ich will nicht für immer hier festsitzen.«
»Was hast du denn erwartet?«
»Keine Ahnung. Das jedenfalls nicht.« Stimmte das? Hatte ich wirklich gedacht, dass ich mein Leben opfern und die Welt retten könnte, um dann durch die Hintertür zurückzukehren? Hatte ich den ganzen Wirbel um den Einen, der Zwei ist, für einen Witz gehalten?
Es war einfach, den selbstlosen Helden zu spielen. Aber jetzt, wo die Sache ernst wurde, jetzt, wo der Verlust für alle Ewigkeit über mich hereinbrach - sah alles plötzlich ganz anders aus.
Mom kämpfte noch mehr mit den Tränen als ich. »Es tut mir so leid, EW. Ich würde alles tun, um die Dinge ändern zu können. Aber es gibt keinen Ausweg.« Sie klang so elend, wie ich mich fühlte.
»Was, wenn doch?«
»Ich kann nicht alles ändern.« Mom starrte auf ihre nackten Füße. »Ich kann gar nichts ändern.«
»Ich habe keine Lust auf eine blöde Wolke, und ich will auch keine bescheuerten Flügel, wenn irgendeine dämliche Glocke ertönt. « Ich schleuderte das Metallsieb weg. Es schlug scheppernd auf die Stufen und rollte über den Rasen. »Ich will da sein, wo Lena ist. Ich will leben und im Kino Popcorn essen, bis mir schlecht wird. Zu schnell fahren und einen Strafzettel kassieren. Ich will mich jeden Tag Hals über Kopf in meine Freundin verlieben und mich für den Rest meines Lebens für sie zum Affen machen.«
»Ich weiß.«
»Das bezweifle ich«, sagte ich lauter als beabsichtigt. »Du hattest ein Leben. Du hast dich verliebt - sogar zweimal. Du hattest eine Familie. Ich bin erst siebzehn. Das kann es nicht gewesen sein. Ich will nicht jeden Tag beim Aufwachen daran denken müssen, dass ich Lena nie wieder sehen werde. Ich kann das nicht.«
Seufzend legte Mom ihren Arm um meine Schultern und zog mich an sich.
Weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte, wiederholte ich es. »Ich kann das nicht.«
Sie strich mir über die Haare, als wäre ich ein trauriger, verängstigter kleiner Junge. »Natürlich kannst du sie sehen. Das ist noch der einfache Teil. Ich kann dir nicht versprechen, dass du ihr etwas mitteilen kannst - und sie wird dich leider nicht sehen -, aber du kannst sie anschauen.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich verblüfft.
»Du existiert immer noch. Wir sind hier, während Lena und Link und dein Vater und Amma in Gatlin sind. Es ist nicht so, als wäre die eine Form des Daseins weniger real als die andere. Wir existieren einfach auf unterschiedlichen Ebenen - du bist hier und Lena ist dort. Du wirst in ihrer Welt nie ganz du selbst sein. Jedenfalls nicht so wie früher. Und sie wird in unserer Welt nie wie wir sein. Aber das heißt nicht, dass du sie nicht sehen kannst.«
»Wie?« Im Moment zählte für mich nur das eine.
»Ganz einfach. Du musst auf die andere Seite.«
»Wie meinst du das, auf die andere Seite?« Aus ihrem Mund klang es wie die simpelste Sache der Welt, aber irgendwie konnte ich das nicht so recht glauben.
»Stell dir vor, wohin du gehen möchtest, und konzentriere dich darauf - das ist alles.«
Es klang zu schön, um wahr zu sein. Andererseits würde Mom mich nie anlügen. »Also kann ich mich einfach nach Ravenwood wünschen und schon bin ich dort?«
»Na ja, nicht von unserer Veranda aus. Du musst Wates Landing verlassen, bevor du dich auf die andere Seite begeben kannst. Ich nehme an, unser Haus ist mit einer Art Bannspruch an die Anderwelt gebunden.
Bei ihren Worten lief mir ein Schauer über den Nacken. »Die Anderwelt? Da sind wir jetzt? So heißt dieser Ort?«
Sie nickte und wischte sich die kirschroten Hände an ihrer Jeans ab.
Dieser Ort war anders als alles, was ich kannte. Es war nicht Gatlin und es war nicht der Himmel. Aber das Wort allein bewirkte, dass ich mich weiter weg von zu Hause fühlte als je zuvor. Weiter weg als im Tod. Daran änderte auch der staubige Geruch unserer Veranda nichts und der vertraute Duft frisch gemähten Rasens. Ich spürte die Moskitostiche auf meiner Haut und den Wind in meinem Gesicht und das splittrige, raue Holz der Stufen unter mir. Aber es fühlte sich wie Einsamkeit an. Wir waren ganz allein. Meine Mutter und ich und unser Garten voller Kirschen. Insgeheim hatte ich seit ihrem Unfall auf diesen Moment gewartet. Doch erst jetzt wurde mir klar, was ich tief in mir schon die ganze Zeit gewusst hatte - dass das hier nie genug sein würde.
»Mom?«
»Ja, mein süßer Junge?«
»Glaubst du, dass Lena mich drüben bei den Sterblichen immer noch liebt?«
Schmunzelnd zerzauste sie meine Haare. »Was ist denn das für alberne Frage?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Gegenfrage. Hast du mich noch geliebt, nachdem ich euch verlassen hatte?«
Ich sparte mir die Antwort darauf.
»Ich weiß nicht, wie es dir geht, EW. Aber ich habe keinen Tag daran gezweifelt, dass du mich noch liebst. Selbst als ich noch nichts über diesen Ort wusste und den Grund nicht kannte, warum ich hier bin, warst du mein Lotse. Alles hat mich immer wieder zurück zu dir geführt. Alles.« Mit einer sanften Bewegung strich sie mir die Haare aus dem Gesicht. »Glaubst du wirklich, Lena ergeht es anders?«
Sie hatte recht.
Es war eine alberne Frage.
Lächelnd ergriff ich ihre ausgestreckte Hand und folgte ihr ins Haus. Ich hatte einiges vor und musste mir über vieles klar werden. Und doch waren manche Dinge gleich geblieben, denn manche Dinge würden sich nie ändern.
Nur für mich selbst galt das nicht. Ich war von einem Moment zum nächsten ein anderer geworden, und jetzt würde ich alles dafür geben, diesen Augenblick rückgängig machen zu können.
3. Kapitel
Auf dieser oder der anderen Seite
»Komm schon, Ethan, sieh es dir an.«
Ich drehte mich nicht nach Mom um, als ich nach dem Türknauf griff.
Obwohl sie mich dazu ermutigt hatte, war ich noch immer nicht ganz überzeugt. Ich fragte mich, was mich hinter der Tür erwartete. Ich sah das lackierte Holz, fühlte den glatten Eisenknauf unter meinen Fingern, aber ich hatte keine Ahnung, ob auf der anderen Seite immer noch unsere Straße lag.
Lena. Denk an Lena. An Ravenwood. Es gibt keinen anderen Weg zu ihr.
Trotzdem ...
Ich war nicht mehr in Gatlin. Weiß der Himmel, was sich hinter der Tür befand. Es konnte alles und nichts sein.
Ich starrte auf den Türknauf und dachte an das, was ich in den Caster-Tunneln über Türen und Schwellen gelernt hatte.
Und über Portale.
Und Schranken.
Die Tür sah vielleicht harmlos aus - so wie jeder Zugang auf den ersten Blick ziemlich unspektakulär wirkte -, aber das hieß noch lange nicht, dass sie auch harmlos war. Die Temporis Porta zum Beispiel war eine völlig unscheinbare Tür. Aber man konnte nie sicher sein, auf welche Zeit oder Welt man dahinter traf. Das hatte ich am eigenen Leib erfahren.
Hör auf, hier rumzueiern, Wate.
Mach schon.
Stell dich nicht so an, Feigling. Was hast du jetzt noch zu verlieren?
Ich schloss die Augen und drehte den Knauf. Als ich die Augen wieder aufmachte, stand ich nicht an unserer Straße, ganz im Gegenteil.
Ich befand mich zwar am Treppenabsatz unseres Hauses, allerdings mitten im Garten des Immerwährenden Friedens - Gatlins Friedhof. Genauer gesagt stand ich direkt über der Grabstätte meiner Mutter.
Vor meinen Augen erstreckten sich die gepflegten Rasenflächen, aber anstelle von Grabsteinen und Mausoleen mit Plastikengeln und Rehkitzen reihte sich Wohnhaus an Wohnhaus. Ich musste ein zweites Mal hinschauen, bis ich es kapierte. Dort, wo normalerweise die Gräber lagen, standen die Häuser der Menschen, die an dieser Stelle beerdigt waren. Der Friedhof - falls man ihn überhaupt noch so nennen konnte - war kaum wiederzuerkennen.
Da war zum Beispiel die viktorianische Villa der alten Agnes Pritchard mit ihren gelben Fensterläden und den wuchernden Rosenbüschen, die wie immer über den Zaun auf den Gehweg hingen. Ihr Haus stand eigentlich gar nicht an der Cotton Bend, aber die kleine Rasenfläche ihres Grabes lag im Garten des Immerwährenden Friedens direkt gegenüber von Moms Grab, wo sich jetzt Wates Landing, unser Haus, befand.
Agnes' Haus sah dem in Gatlin zum Verwechseln ähnlich - nur die rote Haustür fehlte. An ihrer Stelle markierte ein verwitterter Grabstein den Eingang.
AGNES WILSON PRITCHARD
GELIEBTE EHEFRAU, MUTTER UND GROSSMUTTER
MÖGE SIE BEI DEN ENGELN RUHEN
Die Worte waren in den dunklen Stein graviert, der nun passgenau auf den weiß gestrichenen Türrahmen zugeschnitten war. Ich ließ den Blick über die benachbarten Häuser wandern - überall das gleiche Bild, von Darla Eatons restauriertem Haus im Federal Style bis zum abgeblätterten Putz an Clayton Weathertons Zuhause. Überall ersetzten die Grabsteine der Verstorbenen die Eingangstüren.
Mit angehaltenem Atem drehte ich mich langsam um - in der Hoffnung, hinter mir unsere weiße Haustür mit dem himmelblau gestrichenen Türrahmen zu sehen. Stattdessen starrte ich auf den Grabstein meiner Mutter.
LILA EVERS WATE
GELIEBTE FRAU UND MUTTER
SCIENTIAE CUSTOS
Über ihrem Namen war das keltische Symbol des Awen - drei dünne Linien, die wie Lichtstrahlen zu einem Punkt zusammenliefen - in den Stein gemeißelt. Bis auf die Tatsache, dass der Grabstein jetzt haustürgroß war, sah er aus wie immer. Dieselben rauen Kanten, dieselben blassen Risse. Ich fuhr mit der Hand über den Stein und ertastete die Buchstaben.
Moms Grabstein.
Er war da, weil sie tot war. Genau wie ich. Und wenn mich nicht alles täuschte, dann war ich gerade aus ihrem Grab gestiegen.
Das war der Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, durchzu drehen. Aber konnte man mir das verübeln? Die Situation war einigermaßen überwältigend. Auf einen solchen Anblick konnte man sich schlecht irgendwie vorbereiten.
Ich stemmte mich gegen den Grabstein und trommelte gegen die Inschrift, bis der Stein unter meinen Händen nachgab und ich zurück ins Haus taumelte.
Ich schlug die Tür hinter mir zu und lehnte mich schwer atmend dagegen. Die Diele sah genauso aus wie vorher.
Meine Mutter saß auf der Treppe und blickte auf, als ich hereinplatzte. Sie hatte soeben erst die Göttliche Komödie aufgeschlagen, denn sie hielt die Lesezeichen-Socke noch in der Hand. Sie schien fast auf mich gewartet zu haben.
»Ethan? Hast du es dir anders überlegt?«
»Mom. Da draußen. Vor unserem Haus ist der Friedhof.«
»Ja, das ist er.«
»Und wir sind ...« Das Gegenteil von lebendig. Ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen.
»Ja, das sind wir.« Sie lächelte mich an, weil es nicht wirklich etwas hinzuzufügen gab. »Nimm dir die Zeit, die du brauchst.« Sie blickte wieder in ihr Buch. »Dante ist da ganz meiner Meinung. Lass dir Zeit. Es ist nur«, sie blätterte um, »la notte che le cose ci nasconde.«
»Wie bitte?«
»Die Nacht, die die Dinge vor unserem Blick verschleiert.«
Ich starrte sie immer noch an, als sie sich längst wieder in ihr Buch vertieft hatte.
Aber weil ich keine andere Wahl hatte, machte ich die Tür wieder auf und ging ein zweites Mal nach draußen.
Es dauerte eine Zeit, bis ich die vielen neuen Eindrücke aufgenommen hatte, so wie es eine Weile dauert, bis sich die Augen an helles Sonnenlicht gewöhnen, wenn man aus der Dunkelheit tritt. Wie sich herausstellte, war die Anderwelt genau das, eine »andere Welt«, ein Gatlin mitten auf dem Friedhof, wo die Toten der Stadt ihre eigene Version von Allerseelen hatten. Allerdings schien es sehr viel länger als nur einen Tag zu dauern.
Ich stieg die Stufen unserer Veranda hinunter und betrat den Rasen vor dem Haus, nur um sicherzugehen, dass er auch wirklich da war. Ammas Rosenbüsche blühten frisch und üppig, als hätten sie die mörderische Hitzewelle, die in Gatlin für wochenlange Dürre gesorgt hatte, nie zu spüren bekommen. Ich fragte mich, ob sie im richtigen Gatlin auch blühten.
Ich hoffte es.
Wenn die Lilum Wort gehalten hatte, dann würden die Blüten längst wieder austreiben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Lilum ein Versprechen nicht einhielt. Sie war weder Licht noch Dunkel, weder gut noch böse. Sie war nichts als Wahrheit, in ihr hielt sich alles die Waage. Wahrscheinlich konnte sie gar nicht lügen - sonst hätte sie mir damals die schonungslose Wahrheit ein wenig sanfter beigebracht. Was vielleicht nicht unbedingt das Schlechteste gewesen wäre.
Ich wanderte über die frisch gemähten Rasenflächen und um die vertrauten Häuser, die so kreuz und quer auf dem Friedhof verstreut waren, als hätte sie ein Tornado aus Gatlin fortgerissen und hierhergetragen. Aber es waren nicht nur die Häuser - auch Gatlins Bewohner schienen hierhergeweht worden zu sein.
Ich suchte nach der Main Street und hielt instinktiv Ausschau nach der Route 9. Wahrscheinlich zog es mich ganz automatisch zur Kreuzung, wo ich links in Richtung Ravenwood abbiegen konnte. Aber die Anderwelt tickte eben anders - und jedes Mal, wenn ich am Ende einer Reihe von Grabsteinen angelangt war, befand ich mich wieder am Anfang. Der Friedhof bildete eine endlose Spirale, aus der ich nicht mehr herausfand.
Ich musste aufhören, nach Gatlins Straßenzügen zu suchen, und anfangen, in Rastern von Grabsteinen, Mausoleen und Gruften zu denken.
Wenn ich nach Gatlin wollte, dann würde ich bestimmt nicht zu Fuß dorthin gelangen. Die Route 9 nützte mir also nichts, so viel war klar.
Was hatte Mom noch mal gesagt? Stell dir vor, wohin du gehen möchtest, und konzentriere dich darauf - das ist alles. War das tatsächlich das einzige Hindernis zwischen mir und Lena? Kam es wirklich nur auf meine Vorstellungskraft an?
Ich schloss die Augen.
L -
»Was treibst du denn da, Junge?« Miss Winifred blickte von dem Besen auf, mit dem sie ein paar Häuser weiter ihre Veranda fegte. Sie trug das rosa geblümte Kittelkleid, das sie schon zu ihren Lebzeiten Tag für Tag getragen hatte. Zu unseren Lebzeiten.
Ich starrte sie an. »Nichts, Ma'am.«
Hinter ihr ragte ihr Grabstein auf. Über ihrem Namen und unter dem Wort Geheiligt war ein Magnolienbaum in den Stein gemeißelt. Überhaupt gab es hier jede Menge Magnolien. Wahrscheinlich waren sie vergleichbar mit den rot gestrichenen Haustüren Gatlins. Wer sie nicht hatte, war ein Nichts.
Miss Winifred bemerkte meinen Blick und stützte sich auf den Besenstiel. Sie rümpfte die Nase. »Lass dich nicht aufhalten, Junge.«
»Ja, Ma'am.« Ich spürte, wie ich rot wurde. Nie und nimmer würde ich mich unter dem kritischen Blick dieser scharfen alten Augen irgendwohindenken können.
Gatlin war eindeutig kein Ort für Fantasie - nicht einmal in den Straßen der Anderwelt.
»Und bleib ja von meinem Rasen weg, Ethan Wate. Sonst zertrampelst du meine Begonien«, fügte sie hinzu. Dabei hätte ich es bereits bei den Lebenden nie gewagt, auch nur einen Fuß in ihren Vorgarten zu setzen.
»Ja, Ma'am.«
Miss Winifred nickte und fuhr fort, ihre Veranda zu fegen, als wäre es ein ganz gewöhnlicher sonniger Tag in der Old Oak Road, wo ihr Haus in Gatlin stand.
Aber ich durfte mich von Miss Winifred nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen. Ich versuchte es auf der alten Betonbank am Ende unserer Grabreihe. Ich versuchte es an dem schattigen Fleck zwischen den Hecken, die den Garten des Immerwährenden Friedens umzäunten. Ich versuchte es, indem ich mich mit dem Rücken gegen die Umgrenzung unserer eigenen Grabstätte lehnte.
Aber was ich auch machte, ich kam meinem Ziel, mich nach Gatlin zurückzudenken, keinen Millimeter näher. Ich hätte mich ebenso gut zurück ins Grab wünschen können.
Sobald ich die Augen schloss, packte mich die niederschmetternde, erdrückende Angst, für immer tot unter der Erde zu liegen. Die Angst, dass der Wasserturm von Summerville das Letzte war, was ich von der Welt gesehen hatte. Dass ich für immer gegangen war und nie wieder zurückkehren würde.
Nicht zurück nach Hause.
Nicht zu Lena.
Frustriert gab ich auf. Es musste einen anderen Weg geben.
Und tatsächlich fiel mir jemand ein, der mir vielleicht weiterhelfen konnte.
Jemand, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, über alles und jeden Bescheid zu wissen. Was der betreffenden Person in den letzten hundert Jahren ausnahmslos gelungen war.
Ich folgte dem Pfad zum ältesten Teil des Friedhofs und befürchtete fast, ein rußschwarzes Loch im Dach zu sehen, wo die Flammen aus Tante Prues Schlafzimmer geschlagen waren. Aber meine Sorgen waren unbegründet, das Haus sah aus, wie ich es aus meiner Kindheit kannte. Die Hollywoodschaukel bewegte sich mit leisem Quietschen in der sanften Brise, auf dem Tisch daneben stand ein Glas Limonade. Genau wie ich es in Erinnerung hatte.
Die Tür war aus gutem blauem Südstaaten-Granit geschliffen. Amma hatte Stunden damit verbracht, den richtigen Grabstein auszusuchen. »Eine anständige Frau wie deine Tante verdient einen anständigen Grabstein«, hatte sie mir erklärt. »Und überhaupt - wenn sie nicht zufrieden ist, wird sie mir bis zu meinem Lebensende keine Ruhe lassen.« Wahrscheinlich hatte sie mit beidem recht. Auf dem Grabstein saß ein fein gearbeiteter Engel, der dem Besucher einen Kompass entgegenhielt. Ich hätte wetten können, dass es im Garten des Immerwährenden Friedens - und wahrscheinlich auf sämtlichen Südstaatenfriedhöfen - keinen zweiten Engel mit Kompass gab. Die steinernen Engel von Gatlin hielten allerlei Blumen in der Hand, manche klammerten sich an Grabsteine wie an einen Rettungsanker aus Granit - aber einen Kompass? Kein einziger. Doch für eine Frau, die ihr Leben damit verbracht hatte, die unterirdischen Caster-Tunnel von Gatlin zu kartieren, passte er perfekt.
Unter dem Engel war eine Inschrift in den Stein gemeißelt:
PRUDENCE JANE STATHAM
BELLE OF THE BALL
Tante Prue, die Ballkönigin. In ihrem Testament hatte sie ausdrücklich ein weiteres »e« hinter »Ball« gewünscht. Balle war kein richtiges Wort, klang aber nach Tante Prues Meinung mit einem e französischer als ohne. Dad hingegen hatte argumentiert, dass Tante Prue als überzeugte Patriotin sicher dafür gewesen wäre, ihre letzten Worte im guten alten Südstaaten-Amerikanisch zu schreiben. Ich war mir da nicht so sicher, deshalb hatte ich mich aus der Diskussion lieber herausgehalten. Abgesehen davon war die Grabsteininschrift nur eine von Dutzenden Anweisungen gewesen, die Tante Prue in dem ausführlichen Katalog für ihre eigene Beerdigung zusammengestellt hatte - neben der Gästeliste, die unter anderem einen Türsteher für die Kirche vorsah.
Trotzdem musste ich beim Anblick ihres Grabsteins schmunzeln.
Noch bevor ich anklopfen konnte, hörte ich hinter der Tür Hunde jaulen, und im nächsten Augenblick schwang der Grabstein zur Seite. Im Türrahmen stand Tante Prue mit rosafarbenen Lockenwicklern in den Haaren, eine Hand in die Hüfte gestützt. Drei Yorkshire- Terrier wuselten um ihre Beine - Harlon James eins bis drei.
»Wurde aber auch langsam Zeit.« Mit einer blitzschnellen Bewegung, die ich ihr zu Lebzeiten niemals zugetraut hätte, packte sie mich am Ohr und zog mich ins Haus. »Du warst schon immer ein Sturkopf, Ethan. Aber was du diesmal angerichtet hast, das schlägt dem Fass den Boden aus. Weiß der Herr im Himmel, was dich da geritten hat - aber ich hätte gute Lust, dich rauszuschicken und eine Rute holen zu lassen.« Es war ein reizender Brauch aus Tante Prues Tagen, ein Kind zuerst die Rute aussuchen zu lassen, mit der man ihm dann den Hintern versohlte. Dabei wusste ich ebenso gut wie Tante Prue, dass sie mich niemals schlagen würde. Wenn sie das gewollt hätte, hätte sie schon vor Jahren damit anfangen können.
Sie hielt mein Ohr zwischen ihren Schraubstockfingern, und weil sie mir nur ungefähr bis zur Brust ging, zwang sie mich damit fast in die Knie. Sämtliche Harlon Jameses folgten uns jaulend und hechelnd dicht auf den Fersen, als sie mich in die Küche schleifte.
»Ich hatte keine Wahl, Tante Prue. Ich musste die Menschen retten, die mir wichtig waren.«
»Spar dir den Atem. Ich habe alles mit eigenen Augen gesehen - und ich hatte meine gute Brille auf.« Sie schniefte. »Und da sagen die Leute immer, dass ich die mello-dramatische Ader hätte.«
Ich unterdrückte ein Lachen. »Du brauchst deine Brille hier immer noch?«
»Reine Gewohnheit. Inzwischen fühle ich mich ohne sie ganz nackt. Wer rechnet denn auch mit so was?« Sie fuchtelte mit ihrem knochigen Finger drohend vor meinem Gesicht herum. »Aber versuch nicht, das Thema zu wechseln. Diesmal hast du einen größeren Schlamassel veranstaltet als ein blinder Anstreicher.«
»Prudence Jane, warum lässt du den Jungen nicht einfach in Ruhe?«, hörte ich die Stimme eines alten Mannes aus dem Nebenraum. »Was geschehen ist, ist nun mal geschehen.«
Tante Prue zog mich wieder in die Diele, ohne den Griff um mein Ohr zu lockern. »Schreib du mir nicht vor, was ich zu tun habe, Harlon Turner!«
»Turner? War das nicht ...«
Sie zog mich mit einem Ruck ins Wohnzimmer, wo nicht nur einer, sondern alle ihre fünf verflossenen Ehemänner saßen.
Drei Jüngere saßen in hochgekrempelten weißen Hemden um den Kartentisch und knabberten Maissnacks. Der vierte saß auf einem Sofa und las Zeitung. Er blickte auf, nickte mir zu und schob eine kleine weiße Porzellanschüssel in meine Richtung. »Auch welche? «
Ich schüttelte den Kopf.
An Prues fünften Ehemann, Harlon - denjenigen, nach dem sie ihre Hunde benannt hatte -, konnte ich mich sogar noch erinnern. Als ich klein war, hatte er in seinen Westentaschen immer Zitronenbonbons dabei, von denen er mir in der Kirche hin und wieder eines zugesteckt hatte. Ich hatte sie alle gegessen, egal wie viele Fussel daran klebten. Wenn man sich in der Kirchenbank zu Tode langweilte, durfte man nicht wählerisch sein. Einmal hatte Link während des Bußgottesdienstes ein ganzes Fläschchen Atemspray getrunken - was sich nicht wirklich gelohnt hatte, denn danach hatte er den ganzen Nachmittag und den halben Abend dafür büßen müssen.
Harlon sah genau so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. In einer Geste der Resignation warf er die Arme hoch. »Prudence, du bist die störrischste Frau, die ich in meinem ganzen Leben getroffen habe!«
Mit dieser Einschätzung hatte er zweifellos recht - und jeder im Raum wusste das. Die übrigen vier Ehemänner blickten uns mit einer Mischung aus Mitleid und Belustigung an.
Tante Prue ließ mein Ohr los und baute sich vor ihrem letzten Ehemann auf. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich dich gebeten hätte, mich zu heiraten, Harlon James Turner. Daraus folgt, dass du ganz offensichtlich der törichtste Mann bist, dem ich in meinem ganzen Leben begegnet bin.« Alle drei Hunde spitzten beim Klang ihres Namens erwartungsvoll die Ohren.
Der Mann auf dem Sofa legte seine Zeitung beiseite, stand auf und gab dem armen alten Harlon einen Klaps auf die Schulter. »Vielleicht solltest du unseren kleinen Feuerspeier lieber in Ruhe lassen.« Er senkte verschwörerisch die Stimme. »Sonst bist du schneller weg vom Fenster als im ersten Leben.«
Sichtlich zufrieden marschierte Tante Prue zurück in die Küche - die drei vierbeinigen Harlons und ich folgten ihr auf dem Fuß. Sie zeigte auf einen Stuhl am Küchentisch, während sie süßen Tee in zwei Gläser goss. »Wenn ich geahnt hätte, dass ich jetzt alle fünf Mannsbilder aushalten muss, hätte ich mir zweimal überlegt, ob ich auch nur einen von ihnen heirate.«
Und jetzt waren sie alle hier versammelt. Ich überlegte, was der Grund dafür sein mochte, gab es aber bald auf. Ich wollte gar nicht so genau wissen, welche Rechnungen meine Tante mit ihren fünf Ehemännern und fast genauso vielen Hunden noch offen hatte.
»Trink nur, Junge«, sagte Harlon.
Ich warf einen Blick auf den Tee, der verlockend aussah, obwohl ich überhaupt keinen Durst hatte. Bei Moms Schmortomaten hatte ich nicht lange überlegen müssen. Ich würde alles essen, was sie für mich kochte. Aber jetzt, wo ich bei meiner toten Großtante am anderen Ende des Friedhofs zu Besuch war, dämmerte mir langsam, dass ich die Spielregeln hier - wo immer hier war - noch nicht einmal ansatzweise kannte.
Tante Prue bemerkte meinen Blick. »Du kannst ruhig trinken, obwohl du es nicht mehr unbedingt musst. Auf der anderen Seite ist es allerdings nicht so leicht.«
»Was meinst du damit?« In meinem Kopf schwirrten so viele Fragen, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte.
»Drüben, im Reich der Sterblichen, kannst du weder essen noch trinken, höchstens Dinge bewegen. Erst gestern habe ich Grace' Gebiss versteckt. Hab es ganz zufällig in die Dose mit dem Malzkaffee fallen lassen.« Es sah Tante Prue wirklich ähnlich, ihre Schwestern noch aus dem Grab in den Wahnsinn zu treiben.
»Moment mal, du warst auf der anderen Seite? In Gatlin?« Wenn sie bei ihren Schwestern vorbeischauen konnte, dann würde ich das doch auch bei Lena schaffen, oder etwa nicht?
»Habe ich das gesagt?« Mir war klar, dass sie die Antwort auf meine Frage hatte. Aber ich wusste auch, dass sie nicht damit herausrücken würde, solange sie nicht wollte.
»Ja, das hast du.«
Sag mir einfach, wie ich zu Lena komme. Mehr will ich gar nicht wissen.
»Immer langsam mit den jungen Pferden - kein Grund, sich so aufzuregen. Ich war nur ganz kurz dort. Hab mich dann aus dem Staub gemacht, und schwupp, war ich wieder hier auf dem Friedhof. Schnell wie der Blitz.«
»Tante Prue, bitte ...« Sie schüttelte den Kopf und ich gab auf. Meine Tante war in diesem Leben genauso dickköpfig wie im letzten. Ich versuchte es mit einem Themawechsel. »Der Friedhof hier, ist das wirklich der Garten des Immerwährenden Friedens?«
»Und ob er das ist. Jedes Mal, wenn sie jemanden unter die Erde bringen, taucht ein neues Haus in unserem Viertel auf.« Sie rümpfte die Nase. »Sie fallen hier ein, man kann nichts dagegen tun, selbst wenn es keine Verwandtschaft ist.«
Ich dachte an die steinernen Türen und die Häuser über den Gräbern. Ich hatte schon immer gefunden, dass der Garten des Immerwährenden Friedens eine Art Gatlin in klein war - die guten Plätze reihten sich entlang des breiten Kieswegs, während sich die Gräber der fragwürdigen Gatliner dicht am Zaun drängten. Anscheinend war die Anderwelt doch nicht so anders.
»Warum habe ich dann keines, Tante Prue? Kein eigenes Haus, meine ich.«
»Die jungen Leute bekommen keine eigenen Häuser - außer natür lich ihre Eltern leben noch. Aber wenn ich mir dein Zimmer so anschaue, weiß ich ohnehin nicht, wie du ein ganzes Haus sauber halten willst.«
Ich hatte nicht wirklich etwas zu meiner Verteidigung vorzubringen. »Ist das auch der Grund, warum ich keinen Grabstein habe?«
Tante Prue wandte den Blick ab. Sie verschwieg mir etwas. »Vielleicht solltest du diese Frage lieber deiner Mutter stellen.«
»Ich frage aber dich.«
Sie seufzte schwer. »Du bist nicht im Garten des Immerwährenden Friedens beerdigt, Ethan Wate.«
© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe cbt/cbj Verlag, München.
2. Februar
Albträume enden.
Daran erkennt man, dass es Träume sind.
Doch das hier - Ethan, alles - endet nicht,
will einfach nicht aufhören.
Ich fühlte mich - fühle mich - gefangen.
Mein Leben ist zersplittert,
als er und alles ein Ende fand,
es ist in tausend kleine Scherben zersprungen.
als er am Boden aufschlug.
Ich konnte mein Notizbuch nicht mehr ansehen. Ich konnte keine
Gedichte mehr schreiben. Es tat zu weh, sie zu lesen.
Alles war viel zu wahr.
Der wichtigste Mensch in meinem Leben war vom Summerville- Wasserturm in den Tod gesprungen. Ich wusste, warum er es getan hatte. Aber das machte es nicht leichter.
Beim Gedanken daran, dass er es für mich getan hatte, fühlte ich mich nur noch elender.
Manchmal dachte ich, dass die Welt es nicht wert war.
Nicht wert, von ihm gerettet zu werden.
Manchmal dachte ich, dass auch ich es nicht wert gewesen war.
Ethan hatte geglaubt, das Richtige zu tun. Er hatte gewusst, wie absurd und wahnsinnig es war. Er hatte nicht gehen wollen, aber er hatte es trotzdem getan.
So war Ethan eben.
Selbst im Tod.
Er hatte die Welt gerettet, aber meine Welt lag in Trümmern.
Was jetzt?
Buch I
Ethan
1. Kapitel
Zu Hause
Über mir ein verschwommener blauer Himmel.
Wolkenlos.
Makellos.
Beinahe wie der Himmel im richtigen Leben - nur ein bisschen blauer und nicht ganz so sonnig grell.
Den echten Himmel hatte ich nie makellos, nie so perfekt gesehen. Vielleicht ist er gerade deshalb so perfekt.
War.
Ich kniff die Augen wieder zu.
Um Zeit zu schinden.
Ich war mir nicht sicher, ob ich schon bereit dafür war - ob ich wirklich sehen wollte, was ich gleich sehen würde.
Natürlich war der Himmel hier blauer und klarer - es hieß ja nicht umsonst Himmel. Das Jenseits und so weiter.
Nicht dass ich damit gerechnet hatte, dort zu landen. Okay, ich war ganz anständig gewesen, soweit ich das beurteilen konnte. Aber inzwischen hatte ich oft genug erlebt, dass mich das, was ich fest zu wissen glaubte, in die Irre geführt hatte.
Ich war eigentlich ziemlich aufgeschlossen, zumindest für Gatliner Verhältnisse. Das heißt, ich kannte all die Theorien. Ich hatte mehr als genug Stunden in der Sonntagsschule abgesessen. Und nach dem Tod meiner Mutter hatte Marian mir von ihrem Buddhismus-Kurs an der Duke Universität erzählt. Der Leiter war ein Typ namens Buddha Bob gewesen, der das Paradies für eine Träne in einer Träne in einer Träne hielt - oder so ähnlich. Ein Jahr vorher hatte Mom mir Dantes Inferno als Lesestoff in die Hand gedrückt. Link hatte behauptet, es ginge darin um ein Bürogebäude, das in Flammen aufgeht - tatsächlich aber handelte es von einem Kerl, der die neun Kreise der Hölle bereist. Ich kann mich noch dunkel daran erinnern, wie begeistert Mom von Ungeheuern oder Teufeln in einer Eisgrube erzählt hatte. Wenn ich mich nicht täusche, war das der neunte Kreis der Hölle, aber dort unten schien es so viele Kreise zu geben, dass sie in meinem Kopf zu einem einzigen Wirrwarr verschmolzen.
Nach allem, was ich über Unterwelten, Anderwelten und Nebenwelten gelernt hatte - und in Anbetracht der vielen Überraschungen, die diese dreistöckige Sahnetorte namens Caster-Universum immer wieder bereithielt -, konnte ich mit meinem momentanen Ausblick hier ganz zufrieden sein. Es gab sicher Schlimmeres als ein Jenseits, das aussah wie eine Kitschpostkarte. Auf goldene Pforten oder kleine nackte Engelchen konnte ich verzichten. Aber ein blauer Himmel, das war schon mal nicht schlecht.
Ich öffnete die Augen wieder. Noch immer blau.
Carolina-Blau.
Eine dicke Biene summte über meinen Kopf und schwirrte in den Himmel ab - bis sie plötzlich zurückprallte und nach unten taumelte, wie ich es schon unzählige Male zuvor gesehen hatte.
Denn über mir war kein Himmel.
Sondern die Zimmerdecke.
Und das hier war kein Jenseits.
Ich lag in meinem alten Mahagonibett in meinem noch älteren Zimmer in Wates Landing.
Ich war zu Hause.
Was unmöglich war.
Ich blinzelte.
Immer noch zu Hause.
Hatte ich etwa alles nur geträumt? Ich spürte, wie verzweifelte Hoffnung in mir aufkeimte. Vielleicht verschwammen beim Aufwachen Traum und Wirklichkeit vor meinen Augen - so wie jeden Morgen in den ersten sechs Monaten nach Moms Tod.
Bitte lass es einen Traum gewesen sein.
Ich beugte mich über die Kante und tastete durch die Staubschicht unter meinem Bett. Da war er, der Bücherstapel. Vorsichtig zog ich einen Band hervor.
Die Odyssee. Eine meiner bevorzugten Graphic Novels - obwohl mich beim Lesen jedes Mal der Verdacht beschlich, dass der Autor ziemlich frei mit Homers Originalversion umgegangen war.
Ich zögerte, bevor ich ein weiteres Buch aus dem Stapel zog. On the Road. Jack Kerouac. Das beseitigte meinen letzten Zweifel und ich rollte mich zur Seite. Mein Blick fiel auf das blasse Rechteck an der Wand, wo bis vor ein paar Tagen - waren es wirklich nicht mehr? - die ramponierte Karte hing, auf der ich mit grünem Leuchtstift alle Orte aus meinen Lieblingsbüchern umkringelt hatte, an die ich später einmal reisen wollte.
Es war tatsächlich mein Zimmer.
Die alte Uhr auf dem Tisch neben meinem Bett schien den Geist aufgegeben zu haben, aber alles andere sah aus wie immer. Es war vielleicht ein bisschen zu warm für einen Januartag. Und das Licht, das durchs Fenster fiel, wirkte irgendwie unnatürlich - beinahe wie die Beleuchtung in einem von Links kruden Storyboards für die Musikvideos der Holy Rollers. Aber abgesehen von der seltsamen Filmbeleuchtung hatte sich nichts verändert. Die Bücher stapelten sich noch immer unter meinem Bett, die Schuhschachteln mit meiner Lebensgeschichte zogen sich noch immer an der Wand entlang. Alles war, wo es sein sollte. Nichts fehlte.
Bis auf Lena.
L? Bist du da?
Ich spürte sie nicht. Genau genommen spürte ich gar nichts.
Ich begutachtete meine Hände. Sie sahen okay aus - nicht der kleinste Kratzer. Mein Blick fiel auf mein weißes T-Shirt. Kein einziger Blutfleck.
Keine Löcher in meiner Jeans, keine Löcher in meinem Körper.
Ich ging ins Bad und betrachtete mich im Spiegel über dem Waschbecken.
Da war ich - derselbe alte Ethan Wate.
Gedankenverloren starrte ich mein Spiegelbild an, als ich ein Geräusch von unten hörte.
»Amma?«
Mein Herz schlug schneller. Was angesichts der Tatsache, dass ich mir beim Aufwachen nicht einmal sicher gewesen war, ob es überhaupt noch schlug, recht bemerkenswert war. Aber hier stand ich und lauschte den vertrauten heimischen Geräuschen, die aus der Küche heraufdrangen. Bodendielen knarzten, als jemand zwischen den Küchenschränken, dem Herd und dem alten Küchentisch hin und her ging. Die gleichen Schritte und Handgriffe wie jeden Morgen .
Falls es überhaupt Morgen war.
Ein Duft, der nur aus unserer alten Bratpfanne kommen konnte, waberte die Treppe herauf.
»Amma? Sag bloß, es gibt Schinken zum Frühstück?«
Die Stimme von unten drang klar und ruhig zu mir. »Liebling, frag doch nicht erst. Es gibt nur ein einziges Gericht, das ich einigermaßen unfallfrei kochen kann - wobei selbst das noch eine Übertreibung ist.«
Diese Stimme.
Sie war so vertraut.
»Ethan? Wie lange willst du mich noch zappeln lassen, bis ich dich endlich in den Arm nehmen kann? Ich warte schon eine ganze Weile auf dich.«
Ich verstand nicht, was die Worte bedeuteten. Ich hörte nichts außer dem Klang ihrer Stimme. Ich hatte sie schon einmal gehört, vor gar nicht so langer Zeit, aber nicht auf diese Art. Nicht so laut und klar und voller Leben, als wäre die Sprecherin einfach unten im Haus.
Wo sie auch war.
Die Worte waren wie Musik und verjagten alle nagenden Gedanken, alle bohrenden Fragen.
»Mom? Mom!«
Ich wartete ihre Antwort nicht ab, sondern raste die Treppe drei Stufen auf einmal nehmend hinunter.
2. Kapitel
Grüne Schmortomaten
Da stand sie, mitten in der Küche, barfuß wie immer, und auch ihre Haare waren genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte - zur Hälfte nach oben geschlungen, während der Rest offen herabfiel. Tintenflecken und Farbtupfer von ihrem letzten Projekt sprenkelten das weiße Herrenhemd, das Dad immer als ihre »Uniform« bezeichnet hatte. Die Jeans war bis zu den Knöcheln hochgekrempelt. Seit ich denken konnte, hatte sie sie so getragen, egal ob das gerade angesagt war oder nicht. Um solche Sachen hatte meine Mutter sich nie groß gekümmert. In der einen Hand hielt sie unsere alte schwarze Eisenpfanne mit den grünen Tomaten, in der anderen ein aufgeschlagenes Buch. Wahrscheinlich hatte sie beim Kochen gelesen oder beim Lesen gekocht und dabei gedankenverloren einen Song vor sich hin gesummt, ohne dass sie sich dessen bewusst gewesen wäre.
So war Mom eben.
Sie war genau wie früher. Vielleicht war ich derjenige, der sich verändert hatte.
Ich betrat die Küche. Sie drehte sich um und legte das Buch beiseite. »Da bist du ja, mein süßer Junge.«
Mein Herz stülpte sich um. Niemand sonst nannte mich so - niemand würde mich so nennen wollen, und ich würde mich von niemand so nennen lassen. Nur von Mom. Sie schlang die Arme um mich, und die Welt hüllte uns ein, während ich mein Gesicht in ihrer Umarmung vergrub. Ich atmete den warmen Duft und das warme Gefühl und das warme Leben ein, das nur sie für mich war.
»Mom. Du bist wieder da.«
»Das stimmt nicht ganz.« Sie seufzte.
Im selben Moment ging mir ein Licht auf. Mom stand in unserer Küche, und ich stand neben ihr, was nur zwei Schlussfolgerungen zuließ: Entweder sie war zurückgekehrt oder ich ...
War nicht zurückgekehrt.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, Liebe, Mitgefühl - und schon lag ich wieder in ihren Armen.
Mom verstand mich immer.
»Ich weiß, mein Süßer. Ich weiß.«
Ich schmiegte das Gesicht in die vertraute Mulde an ihrer Schulter, wo ich mich schon so oft vor der Welt versteckt hatte.
Sie küsste meine Stirn. »Was ist passiert? Es hätte nicht so weit kommen dürfen.« Sie löste sich aus unserer Umarmung und sah mich fragend an. »Es hätte nicht so enden sollen.«
»Ich weiß.«
»Andererseits gibt es am Ende des Lebens wohl kaum noch richtig und falsch, oder?« Sie kniff mir ins Kinn und lächelte mich an. Erinnerungen stiegen in mir auf. Ihr Lächeln, ihr Gesicht. Alles. Alles , was ich so vermisst hatte.
Ich hatte immer gewusst, dass sie lebte - irgendwo, irgendwie. Sie hatte Macon gerettet und mir Songs gesandt, die mich durch die verschlungenen Pfade meines Lebens mit den Castern gelenkt hatten . Sie war die ganze Zeit bei mir gewesen, sie hatte mich nie verlassen.
Es war nur ein kurzer Moment, aber ich wollte ihn nicht hergeben.
Ich könnte nicht mehr sagen, wie wir bis zum Küchentisch gekommen waren. Ich kann mich an nichts mehr erinnern außer an die tröstliche Wärme ihrer Arme. Aber da saß ich, auf demselben Stuhl wie immer, als wären die letzten Jahre nur ein flüchtiger Traum gewesen. Überall türmten sich Bücher, von denen Mom wie üblich jedes angefangen und keines ausgelesen hatte. Eine einzelne Socke, frisch aus der Wäsche, steckte als Lesezeichen zwischen den Buchdeckeln der Göttlichen Komödie. Eine Serviette lugte aus der Ilias hervor und gleich darüber blitzte eine Gabel in einem dicken Band griechischer Mythologie. Der Küchentisch bog sich förmlich unter ihren Lieblingsbüchern, ein Stapel überragte den nächsten. Ich fühlte mich, als wäre ich plötzlich wieder bei Marian zwischen den Bücherregalen der Bibliothek.
Die Tomaten brutzelten in der Pfanne, und ich atmete den Duft meiner Mutter ein - vergilbtes Papier und heißes Bratöl, frische Tomaten und alte Kartons, dazu ein Hauch von Cayennepfeffer.
Kein Wunder, dass Bibliotheken mich immer so hungrig machten.
Mom stellte den alten blau-weißen Drachenteller zwischen uns auf den Tisch. Ich musste lächeln, weil das schon immer ihr Lieblingsstück aus unserem Geschirrschrank gewesen war. Sie ließ die heißen Tomaten auf den Teller gleiten und streute Pfeffer darüber.
»Bitte schön. Lass es dir schmecken.«
Ich spießte mit der Gabel eine Tomatenscheibe auf. »Das habe ich nicht mehr gegessen, seit du - seit dem Unfall.« Die Tomate war so dampfend heiß, dass ich mir die Zunge daran verbrannte. Ich sah Mom an. »Sind wir ... ist das ...«
Sie blickte mich verständnislos an.
Ich versuchte es wieder. »Du weißt schon, sind wir im Himmel?«
Sie lachte und goss süßen Tee in zwei hohe Gläser - Tee war das Einzige, was Mom außer Schmortomaten gerade noch hinbekam. »Nein, wir sind nicht im Himmel, EW. Nicht ganz.«
Bestimmt sah ich ziemlich belämmert aus, vor lauter Angst, wir könnten womöglich am anderen Ende der Skala gelandet sein. Aber das war undenkbar, denn - so kitschig es auch klingt - wo Mom war, konnte für mich nur der Himmel sein, selbst wenn das Universum anders darüber dachte. Allerdings waren das Universum und ich uns in letzter Zeit selten einig gewesen.
Mom legte ihre Hand an meine Wange und schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir sind hier noch nicht an unserer Endstation, falls du das meinst.«
»Warum sind wir dann überhaupt hier?«
»Ich bin mir nicht sicher. Leider bekommt man hier beim Einchecken keine Bedienungsanleitung in die Hand gedrückt.« Sie umfasste meine Finger. »Ich wusste von Anfang an, dass ich deinetwegen hier bin. Dass ich noch eine unerledigte Aufgabe vor mir habe. Dass ich dir bestimmte Dinge beibringen oder zeigen muss. Deshalb habe ich dir die Songs geschickt.«
»Die Shadowing Songs.«
»Genau. Du hast mich ganz schön auf Trab gehalten. Aber jetzt, wo du hier bist, fühlt es sich an, als wären wir nie getrennt gewesen. « Ein Schatten huschte über ihr Gesicht und ihre Augen wurden ernster. »Ich habe immer gehofft, dass ich dich wiedersehen würde. Aber ich hätte mir gewünscht, noch viel länger warten zu müssen. Es tut mir so leid für dich. Ich weiß, wie bitter es sich anfühlt, Amma und deinen Vater zurücklassen zu müssen. Und Lena.«
Ich nickte. »Es ist total scheiße.«
»Ich weiß. Ich habe mich genauso gefühlt«, sagte sie.
»Wegen Macon?« Die Worte waren heraus, bevor ich sie hinunterschlucken konnte.
Ihre Wangen färbten sich rot. »Ich schätze, das habe ich verdient. Aber eine Mutter muss nicht alles in ihrem Leben mit ihrem siebzehnjährigen Sohn besprechen.«
»Tut mir leid.«
Sie drückte meine Hand. »Dich wollte ich am allerwenigsten verlassen. Und um dich habe ich mir auch die allergrößten Sorgen gemacht. Um dich und deinen Vater. Zum Glück ist er jetzt bei den Ravenwoods in guten Händen. Lena und Macon haben ihn mit starken Caster-Sprüchen belegt und Amma denkt sich immer neue Geschichten für ihn aus. Mitchell hat keinen blassen Schimmer davon, dass dir etwas zugestoßen ist.«
»Wirklich nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Amma hat ihm gesagt, dass du bei deiner Tante in Savannah bist, und er nimmt es ihr ab.« Ihr Lächeln erlosch und sie blickte gedankenversunken ins Leere. Sie sorgte sich um Dad, egal welche Caster-Sprüche ihn von der Wahrheit abschirmten. Wahrscheinlich war mein plötzlicher Abgang für sie nicht weniger schmerzlich gewesen als für mich, besonders weil sie nur hilflos am Rand stehen und zuschauen konnte.
»Aber auf Dauer ist das keine Lösung, Ethan. Im Moment versuchen alle einfach nur, sich irgendwie aufrecht zu halten. Anders geht das in der ersten Zeit danach gar nicht.«
»Ja.« Ich wusste genau, wovon sie sprach - ich hatte es schließlich selbst erlebt.
Wir wussten beide, wann.
Sie verstummte und griff nach ihrer Gabel. Schweigend aßen wir die Tomaten und dann saßen wir für den restlichen Nachmittag zusammen am Tisch - oder vielleicht nur einen flüchtigen Augenblick lang. Ich konnte es nicht genau sagen, und ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt noch einen Unterschied machte.
Wir setzten uns auf die hintere Veranda, pickten glänzend nasse Kirschen aus dem Küchensieb und beobachteten, wie die Sterne allmählich aus der Dunkelheit hervortraten. Der Himmel hatte sich nachtblau gefärbt und die Sterne leuchteten in grellen, bizarren Mustern. Ich entdeckte die Sternbilder des Caster-Himmels direkt neben denen der Sterblichen. Der gespaltene Mond schwebte auf halber Höhe zwischen Polarstern und Morgenstern. Wie konnte ich zwei Himmel in einem, zwei unterschiedliche Sternkonstellationen an einem Firmament sehen? Aber ich tat es, ich sah alles zusammen; es war, als steckten zwei verschiedene Menschen in mir. Wenigstens hatte die Sache mit der zerbrochenen Seele jetzt endlich ein Ende - zumindest ein Gutes am Sterben.
Tja, echt toll.
Jetzt, wo alles vorbei war - vielleicht sogar gerade deswegen -, hatten sich die Scherben meines Lebens wieder zusammengefügt. Wahrscheinlich war das der Witz des Lebens. Von hier aus sah alles so einfach, so leicht aus. So unglaublich hell und freundlich.
Warum ist das hier der einzige Ausweg gewesen? Warum hat es so enden müssen?
Ich ließ den Kopf gegen die Schulter meiner Mutter sinken. »Mom?«
»Ja, Liebling?«
»Ich muss mit Lena sprechen.« Jetzt war es raus. Ich hatte es endlich gesagt. Das Einzige, was mich den ganzen Tag daran gehindert hatte, endlich aufatmen zu können. Die drängende Frage, die mich nicht zur Ruhe kommen ließ und mir das Gefühl gab, ständig auf dem Sprung zu sein - obwohl ich nicht so genau wusste, wohin.
Amma hatte schon recht, das Gute an der Wahrheit ist, dass sie wahr ist, und über die Wahrheit kann man nicht streiten. Vielleicht hört man sie nicht gerne, aber das macht sie nicht weniger wahr. Die Wahrheit war alles, was ich im Moment noch hatte.
»Du kannst nicht mit ihr sprechen.« Mom runzelte die Stirn. »Jedenfalls nicht so leicht.«
»Ich muss sie wissen lassen, dass ich okay bin. Ich kenne Lena, sie wartet auf ein Zeichen von mir. Genau wie ich auf ein Zeichen von dir gewartet habe.«
»Hier gibt es keinen Carlton Eaton, dem du eine Postkarte für sie mitgeben könntest, Ethan. Du kannst ihr keinen Brief aus dieser Welt schicken und du kannst auch nicht schnell mal in ihrer Welt vorbeischauen. Und selbst wenn, dann könntest du dort immer noch keinen Brief schreiben. Du ahnst ja nicht, wie oft ich mir genau das gewünscht habe.«
Irgendeinen Weg musste es geben. »Ich weiß. Wenn es so leicht wäre, dann hätte ich öfter von dir gehört.«
Sie blickte in den Nachthimmel. Als sie sprach, glitzerte das Licht der Sterne in ihren Augen. »Das hättest du. Und zwar jeden Tag, mein süßer Junge. Jeden einzelnen Tag.«
»Aber du hast es geschafft, mir Botschaften zu senden - mithilfe der Bücher im Arbeitszimmer und der Songs. Und zweimal bist du mir sogar erschienen, einmal auf dem Bonaventura-Friedhof und einmal in meinem Zimmer.«
»Die Songs waren eine Idee der Ahnen. Wahrscheinlich klappte es, weil ich dir schon vorgesungen habe, als du noch ein Baby warst. Aber jeder Mensch ist anders. Ich glaube nicht, dass du Lena einen Shadowing Song schicken kannst.«
»Dazu müsste ich erst einmal einen Song schreiben können.« Meine Fähigkeiten als Songwriter ließen Link wie einen der Beatles aussehen.
»Mir ist es auch nicht leichtgefallen. Und ich bin schon eine Weile länger hier als du. Außerdem hatte ich Hilfe von Amma, Twyla und Arelia.« Sie blickte in den Zwillingshimmel. »Amma und ihre Ahnen haben Kräfte, von denen ich nur träumen kann.«
»Aber du warst eine Hüterin.« Bestimmt wusste sie Dinge, von denen nicht einmal die Ahnen wussten.
»Genau. Ich war eine Hüterin. Ich habe das getan, was die Hohe Wacht von mir wollte, und ich habe das gelassen, was sie mir verbot. Mit ihr legt man sich nicht an und mit ihren Aufzeichnungen pfuscht man nicht herum.«
»Meinst du die Caster-Chroniken?«
Sie nahm eine Kirsche aus dem Sieb und suchte sie nach faulen Stellen ab. Mit der Antwort ließ sie sich so lange Zeit, dass ich schon dachte, sie hätte mich nicht gehört. »Was weißt du über die Caster- Chroniken?«
»Vor Tante Marians Prozess kamen die Abgesandten der Hohen Wacht mit dem Buch in die Bibliothek.«
Mom stellte das alte Metallsieb auf die Verandastufe unter uns. »Vergiss die Caster-Chroniken. Diese Dinge gehen uns nichts mehr an.«
»Warum nicht?«
»Ich meine es ernst, Ethan. Wir sind längst nicht außer Gefahr, du und ich.«
»Gefahr? Wovon redest du? Wir sind doch - du weißt schon.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind noch nicht am Ende unseres Wegs. Wir müssen herausfinden, was uns hier zurückhält, um dann den nächsten Schritt zu gehen.«
»Und was ist, wenn ich das nicht will?« So schnell würde ich nicht aufgeben. Nicht, solange Lena noch auf mich wartete.
Wieder zögerte sie mit ihrer Antwort. Als sie sprach, klang sie ernster und düsterer, als ich sie je gehört hatte.
»Ich glaube nicht, dass du eine Wahl hast.«
»Aber du hattest doch auch eine.«
»Ich konnte es mir nicht aussuchen. Du hast mich gebraucht, deshalb bin ich noch hier - für dich. Aber ich kann die Dinge nicht rückgängig machen.«
»Wirklich nicht? Du könntest es zumindest versuchen.« Ich zerdrückte eine Kirsche zwischen den Fingern. Der Fruchtsaft rann dunkelrot über meine Hand.
»Es gibt nichts, was wir noch versuchen könnten, Ethan. Es ist vorbei. Es ist zu spät.« Sie flüsterte die Worte, aber sie trafen mich mit solcher Wucht, als hätte sie sie mir ins Gesicht geschrien.
Das brachte mich in Rage. Ich schleuderte eine Kirsche in den Garten, dann noch eine - schließlich den ganzen Rest. »Lena und Amma und Dad brauchen mich noch. So schnell gebe ich nicht auf. Ich gehöre nicht hierher. Das ist alles ein riesiges Missverständnis.« Ratlos blickte ich in das leere Sieb. »Außerdem ist noch lange nicht Kirschenzeit. Es ist Winter.« Ich blickte auf und blinzelte gegen die Tränen an, die mir in die Augen gestiegen waren, obwohl ich nichts als Wut verspürte. »Zumindest müsste jetzt Winter sein.«
Mom legte ihre Hand auf meine. »Ethan.«
Ich zog meine Hand weg. »Versuch nicht, mich zu trösten. Ich habe dich vermisst, Mom. Das habe ich wirklich. Mehr als du dir vorstellen kannst. Aber so schön es ist, dich wiederzusehen, so schön wäre es, aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein Traum war. Ich verstehe, warum es so kommen musste. Ich hab's kapiert. Aber ich will nicht für immer hier festsitzen.«
»Was hast du denn erwartet?«
»Keine Ahnung. Das jedenfalls nicht.« Stimmte das? Hatte ich wirklich gedacht, dass ich mein Leben opfern und die Welt retten könnte, um dann durch die Hintertür zurückzukehren? Hatte ich den ganzen Wirbel um den Einen, der Zwei ist, für einen Witz gehalten?
Es war einfach, den selbstlosen Helden zu spielen. Aber jetzt, wo die Sache ernst wurde, jetzt, wo der Verlust für alle Ewigkeit über mich hereinbrach - sah alles plötzlich ganz anders aus.
Mom kämpfte noch mehr mit den Tränen als ich. »Es tut mir so leid, EW. Ich würde alles tun, um die Dinge ändern zu können. Aber es gibt keinen Ausweg.« Sie klang so elend, wie ich mich fühlte.
»Was, wenn doch?«
»Ich kann nicht alles ändern.« Mom starrte auf ihre nackten Füße. »Ich kann gar nichts ändern.«
»Ich habe keine Lust auf eine blöde Wolke, und ich will auch keine bescheuerten Flügel, wenn irgendeine dämliche Glocke ertönt. « Ich schleuderte das Metallsieb weg. Es schlug scheppernd auf die Stufen und rollte über den Rasen. »Ich will da sein, wo Lena ist. Ich will leben und im Kino Popcorn essen, bis mir schlecht wird. Zu schnell fahren und einen Strafzettel kassieren. Ich will mich jeden Tag Hals über Kopf in meine Freundin verlieben und mich für den Rest meines Lebens für sie zum Affen machen.«
»Ich weiß.«
»Das bezweifle ich«, sagte ich lauter als beabsichtigt. »Du hattest ein Leben. Du hast dich verliebt - sogar zweimal. Du hattest eine Familie. Ich bin erst siebzehn. Das kann es nicht gewesen sein. Ich will nicht jeden Tag beim Aufwachen daran denken müssen, dass ich Lena nie wieder sehen werde. Ich kann das nicht.«
Seufzend legte Mom ihren Arm um meine Schultern und zog mich an sich.
Weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte, wiederholte ich es. »Ich kann das nicht.«
Sie strich mir über die Haare, als wäre ich ein trauriger, verängstigter kleiner Junge. »Natürlich kannst du sie sehen. Das ist noch der einfache Teil. Ich kann dir nicht versprechen, dass du ihr etwas mitteilen kannst - und sie wird dich leider nicht sehen -, aber du kannst sie anschauen.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich verblüfft.
»Du existiert immer noch. Wir sind hier, während Lena und Link und dein Vater und Amma in Gatlin sind. Es ist nicht so, als wäre die eine Form des Daseins weniger real als die andere. Wir existieren einfach auf unterschiedlichen Ebenen - du bist hier und Lena ist dort. Du wirst in ihrer Welt nie ganz du selbst sein. Jedenfalls nicht so wie früher. Und sie wird in unserer Welt nie wie wir sein. Aber das heißt nicht, dass du sie nicht sehen kannst.«
»Wie?« Im Moment zählte für mich nur das eine.
»Ganz einfach. Du musst auf die andere Seite.«
»Wie meinst du das, auf die andere Seite?« Aus ihrem Mund klang es wie die simpelste Sache der Welt, aber irgendwie konnte ich das nicht so recht glauben.
»Stell dir vor, wohin du gehen möchtest, und konzentriere dich darauf - das ist alles.«
Es klang zu schön, um wahr zu sein. Andererseits würde Mom mich nie anlügen. »Also kann ich mich einfach nach Ravenwood wünschen und schon bin ich dort?«
»Na ja, nicht von unserer Veranda aus. Du musst Wates Landing verlassen, bevor du dich auf die andere Seite begeben kannst. Ich nehme an, unser Haus ist mit einer Art Bannspruch an die Anderwelt gebunden.
Bei ihren Worten lief mir ein Schauer über den Nacken. »Die Anderwelt? Da sind wir jetzt? So heißt dieser Ort?«
Sie nickte und wischte sich die kirschroten Hände an ihrer Jeans ab.
Dieser Ort war anders als alles, was ich kannte. Es war nicht Gatlin und es war nicht der Himmel. Aber das Wort allein bewirkte, dass ich mich weiter weg von zu Hause fühlte als je zuvor. Weiter weg als im Tod. Daran änderte auch der staubige Geruch unserer Veranda nichts und der vertraute Duft frisch gemähten Rasens. Ich spürte die Moskitostiche auf meiner Haut und den Wind in meinem Gesicht und das splittrige, raue Holz der Stufen unter mir. Aber es fühlte sich wie Einsamkeit an. Wir waren ganz allein. Meine Mutter und ich und unser Garten voller Kirschen. Insgeheim hatte ich seit ihrem Unfall auf diesen Moment gewartet. Doch erst jetzt wurde mir klar, was ich tief in mir schon die ganze Zeit gewusst hatte - dass das hier nie genug sein würde.
»Mom?«
»Ja, mein süßer Junge?«
»Glaubst du, dass Lena mich drüben bei den Sterblichen immer noch liebt?«
Schmunzelnd zerzauste sie meine Haare. »Was ist denn das für alberne Frage?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Gegenfrage. Hast du mich noch geliebt, nachdem ich euch verlassen hatte?«
Ich sparte mir die Antwort darauf.
»Ich weiß nicht, wie es dir geht, EW. Aber ich habe keinen Tag daran gezweifelt, dass du mich noch liebst. Selbst als ich noch nichts über diesen Ort wusste und den Grund nicht kannte, warum ich hier bin, warst du mein Lotse. Alles hat mich immer wieder zurück zu dir geführt. Alles.« Mit einer sanften Bewegung strich sie mir die Haare aus dem Gesicht. »Glaubst du wirklich, Lena ergeht es anders?«
Sie hatte recht.
Es war eine alberne Frage.
Lächelnd ergriff ich ihre ausgestreckte Hand und folgte ihr ins Haus. Ich hatte einiges vor und musste mir über vieles klar werden. Und doch waren manche Dinge gleich geblieben, denn manche Dinge würden sich nie ändern.
Nur für mich selbst galt das nicht. Ich war von einem Moment zum nächsten ein anderer geworden, und jetzt würde ich alles dafür geben, diesen Augenblick rückgängig machen zu können.
3. Kapitel
Auf dieser oder der anderen Seite
»Komm schon, Ethan, sieh es dir an.«
Ich drehte mich nicht nach Mom um, als ich nach dem Türknauf griff.
Obwohl sie mich dazu ermutigt hatte, war ich noch immer nicht ganz überzeugt. Ich fragte mich, was mich hinter der Tür erwartete. Ich sah das lackierte Holz, fühlte den glatten Eisenknauf unter meinen Fingern, aber ich hatte keine Ahnung, ob auf der anderen Seite immer noch unsere Straße lag.
Lena. Denk an Lena. An Ravenwood. Es gibt keinen anderen Weg zu ihr.
Trotzdem ...
Ich war nicht mehr in Gatlin. Weiß der Himmel, was sich hinter der Tür befand. Es konnte alles und nichts sein.
Ich starrte auf den Türknauf und dachte an das, was ich in den Caster-Tunneln über Türen und Schwellen gelernt hatte.
Und über Portale.
Und Schranken.
Die Tür sah vielleicht harmlos aus - so wie jeder Zugang auf den ersten Blick ziemlich unspektakulär wirkte -, aber das hieß noch lange nicht, dass sie auch harmlos war. Die Temporis Porta zum Beispiel war eine völlig unscheinbare Tür. Aber man konnte nie sicher sein, auf welche Zeit oder Welt man dahinter traf. Das hatte ich am eigenen Leib erfahren.
Hör auf, hier rumzueiern, Wate.
Mach schon.
Stell dich nicht so an, Feigling. Was hast du jetzt noch zu verlieren?
Ich schloss die Augen und drehte den Knauf. Als ich die Augen wieder aufmachte, stand ich nicht an unserer Straße, ganz im Gegenteil.
Ich befand mich zwar am Treppenabsatz unseres Hauses, allerdings mitten im Garten des Immerwährenden Friedens - Gatlins Friedhof. Genauer gesagt stand ich direkt über der Grabstätte meiner Mutter.
Vor meinen Augen erstreckten sich die gepflegten Rasenflächen, aber anstelle von Grabsteinen und Mausoleen mit Plastikengeln und Rehkitzen reihte sich Wohnhaus an Wohnhaus. Ich musste ein zweites Mal hinschauen, bis ich es kapierte. Dort, wo normalerweise die Gräber lagen, standen die Häuser der Menschen, die an dieser Stelle beerdigt waren. Der Friedhof - falls man ihn überhaupt noch so nennen konnte - war kaum wiederzuerkennen.
Da war zum Beispiel die viktorianische Villa der alten Agnes Pritchard mit ihren gelben Fensterläden und den wuchernden Rosenbüschen, die wie immer über den Zaun auf den Gehweg hingen. Ihr Haus stand eigentlich gar nicht an der Cotton Bend, aber die kleine Rasenfläche ihres Grabes lag im Garten des Immerwährenden Friedens direkt gegenüber von Moms Grab, wo sich jetzt Wates Landing, unser Haus, befand.
Agnes' Haus sah dem in Gatlin zum Verwechseln ähnlich - nur die rote Haustür fehlte. An ihrer Stelle markierte ein verwitterter Grabstein den Eingang.
AGNES WILSON PRITCHARD
GELIEBTE EHEFRAU, MUTTER UND GROSSMUTTER
MÖGE SIE BEI DEN ENGELN RUHEN
Die Worte waren in den dunklen Stein graviert, der nun passgenau auf den weiß gestrichenen Türrahmen zugeschnitten war. Ich ließ den Blick über die benachbarten Häuser wandern - überall das gleiche Bild, von Darla Eatons restauriertem Haus im Federal Style bis zum abgeblätterten Putz an Clayton Weathertons Zuhause. Überall ersetzten die Grabsteine der Verstorbenen die Eingangstüren.
Mit angehaltenem Atem drehte ich mich langsam um - in der Hoffnung, hinter mir unsere weiße Haustür mit dem himmelblau gestrichenen Türrahmen zu sehen. Stattdessen starrte ich auf den Grabstein meiner Mutter.
LILA EVERS WATE
GELIEBTE FRAU UND MUTTER
SCIENTIAE CUSTOS
Über ihrem Namen war das keltische Symbol des Awen - drei dünne Linien, die wie Lichtstrahlen zu einem Punkt zusammenliefen - in den Stein gemeißelt. Bis auf die Tatsache, dass der Grabstein jetzt haustürgroß war, sah er aus wie immer. Dieselben rauen Kanten, dieselben blassen Risse. Ich fuhr mit der Hand über den Stein und ertastete die Buchstaben.
Moms Grabstein.
Er war da, weil sie tot war. Genau wie ich. Und wenn mich nicht alles täuschte, dann war ich gerade aus ihrem Grab gestiegen.
Das war der Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, durchzu drehen. Aber konnte man mir das verübeln? Die Situation war einigermaßen überwältigend. Auf einen solchen Anblick konnte man sich schlecht irgendwie vorbereiten.
Ich stemmte mich gegen den Grabstein und trommelte gegen die Inschrift, bis der Stein unter meinen Händen nachgab und ich zurück ins Haus taumelte.
Ich schlug die Tür hinter mir zu und lehnte mich schwer atmend dagegen. Die Diele sah genauso aus wie vorher.
Meine Mutter saß auf der Treppe und blickte auf, als ich hereinplatzte. Sie hatte soeben erst die Göttliche Komödie aufgeschlagen, denn sie hielt die Lesezeichen-Socke noch in der Hand. Sie schien fast auf mich gewartet zu haben.
»Ethan? Hast du es dir anders überlegt?«
»Mom. Da draußen. Vor unserem Haus ist der Friedhof.«
»Ja, das ist er.«
»Und wir sind ...« Das Gegenteil von lebendig. Ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen.
»Ja, das sind wir.« Sie lächelte mich an, weil es nicht wirklich etwas hinzuzufügen gab. »Nimm dir die Zeit, die du brauchst.« Sie blickte wieder in ihr Buch. »Dante ist da ganz meiner Meinung. Lass dir Zeit. Es ist nur«, sie blätterte um, »la notte che le cose ci nasconde.«
»Wie bitte?«
»Die Nacht, die die Dinge vor unserem Blick verschleiert.«
Ich starrte sie immer noch an, als sie sich längst wieder in ihr Buch vertieft hatte.
Aber weil ich keine andere Wahl hatte, machte ich die Tür wieder auf und ging ein zweites Mal nach draußen.
Es dauerte eine Zeit, bis ich die vielen neuen Eindrücke aufgenommen hatte, so wie es eine Weile dauert, bis sich die Augen an helles Sonnenlicht gewöhnen, wenn man aus der Dunkelheit tritt. Wie sich herausstellte, war die Anderwelt genau das, eine »andere Welt«, ein Gatlin mitten auf dem Friedhof, wo die Toten der Stadt ihre eigene Version von Allerseelen hatten. Allerdings schien es sehr viel länger als nur einen Tag zu dauern.
Ich stieg die Stufen unserer Veranda hinunter und betrat den Rasen vor dem Haus, nur um sicherzugehen, dass er auch wirklich da war. Ammas Rosenbüsche blühten frisch und üppig, als hätten sie die mörderische Hitzewelle, die in Gatlin für wochenlange Dürre gesorgt hatte, nie zu spüren bekommen. Ich fragte mich, ob sie im richtigen Gatlin auch blühten.
Ich hoffte es.
Wenn die Lilum Wort gehalten hatte, dann würden die Blüten längst wieder austreiben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Lilum ein Versprechen nicht einhielt. Sie war weder Licht noch Dunkel, weder gut noch böse. Sie war nichts als Wahrheit, in ihr hielt sich alles die Waage. Wahrscheinlich konnte sie gar nicht lügen - sonst hätte sie mir damals die schonungslose Wahrheit ein wenig sanfter beigebracht. Was vielleicht nicht unbedingt das Schlechteste gewesen wäre.
Ich wanderte über die frisch gemähten Rasenflächen und um die vertrauten Häuser, die so kreuz und quer auf dem Friedhof verstreut waren, als hätte sie ein Tornado aus Gatlin fortgerissen und hierhergetragen. Aber es waren nicht nur die Häuser - auch Gatlins Bewohner schienen hierhergeweht worden zu sein.
Ich suchte nach der Main Street und hielt instinktiv Ausschau nach der Route 9. Wahrscheinlich zog es mich ganz automatisch zur Kreuzung, wo ich links in Richtung Ravenwood abbiegen konnte. Aber die Anderwelt tickte eben anders - und jedes Mal, wenn ich am Ende einer Reihe von Grabsteinen angelangt war, befand ich mich wieder am Anfang. Der Friedhof bildete eine endlose Spirale, aus der ich nicht mehr herausfand.
Ich musste aufhören, nach Gatlins Straßenzügen zu suchen, und anfangen, in Rastern von Grabsteinen, Mausoleen und Gruften zu denken.
Wenn ich nach Gatlin wollte, dann würde ich bestimmt nicht zu Fuß dorthin gelangen. Die Route 9 nützte mir also nichts, so viel war klar.
Was hatte Mom noch mal gesagt? Stell dir vor, wohin du gehen möchtest, und konzentriere dich darauf - das ist alles. War das tatsächlich das einzige Hindernis zwischen mir und Lena? Kam es wirklich nur auf meine Vorstellungskraft an?
Ich schloss die Augen.
L -
»Was treibst du denn da, Junge?« Miss Winifred blickte von dem Besen auf, mit dem sie ein paar Häuser weiter ihre Veranda fegte. Sie trug das rosa geblümte Kittelkleid, das sie schon zu ihren Lebzeiten Tag für Tag getragen hatte. Zu unseren Lebzeiten.
Ich starrte sie an. »Nichts, Ma'am.«
Hinter ihr ragte ihr Grabstein auf. Über ihrem Namen und unter dem Wort Geheiligt war ein Magnolienbaum in den Stein gemeißelt. Überhaupt gab es hier jede Menge Magnolien. Wahrscheinlich waren sie vergleichbar mit den rot gestrichenen Haustüren Gatlins. Wer sie nicht hatte, war ein Nichts.
Miss Winifred bemerkte meinen Blick und stützte sich auf den Besenstiel. Sie rümpfte die Nase. »Lass dich nicht aufhalten, Junge.«
»Ja, Ma'am.« Ich spürte, wie ich rot wurde. Nie und nimmer würde ich mich unter dem kritischen Blick dieser scharfen alten Augen irgendwohindenken können.
Gatlin war eindeutig kein Ort für Fantasie - nicht einmal in den Straßen der Anderwelt.
»Und bleib ja von meinem Rasen weg, Ethan Wate. Sonst zertrampelst du meine Begonien«, fügte sie hinzu. Dabei hätte ich es bereits bei den Lebenden nie gewagt, auch nur einen Fuß in ihren Vorgarten zu setzen.
»Ja, Ma'am.«
Miss Winifred nickte und fuhr fort, ihre Veranda zu fegen, als wäre es ein ganz gewöhnlicher sonniger Tag in der Old Oak Road, wo ihr Haus in Gatlin stand.
Aber ich durfte mich von Miss Winifred nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen. Ich versuchte es auf der alten Betonbank am Ende unserer Grabreihe. Ich versuchte es an dem schattigen Fleck zwischen den Hecken, die den Garten des Immerwährenden Friedens umzäunten. Ich versuchte es, indem ich mich mit dem Rücken gegen die Umgrenzung unserer eigenen Grabstätte lehnte.
Aber was ich auch machte, ich kam meinem Ziel, mich nach Gatlin zurückzudenken, keinen Millimeter näher. Ich hätte mich ebenso gut zurück ins Grab wünschen können.
Sobald ich die Augen schloss, packte mich die niederschmetternde, erdrückende Angst, für immer tot unter der Erde zu liegen. Die Angst, dass der Wasserturm von Summerville das Letzte war, was ich von der Welt gesehen hatte. Dass ich für immer gegangen war und nie wieder zurückkehren würde.
Nicht zurück nach Hause.
Nicht zu Lena.
Frustriert gab ich auf. Es musste einen anderen Weg geben.
Und tatsächlich fiel mir jemand ein, der mir vielleicht weiterhelfen konnte.
Jemand, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, über alles und jeden Bescheid zu wissen. Was der betreffenden Person in den letzten hundert Jahren ausnahmslos gelungen war.
Ich folgte dem Pfad zum ältesten Teil des Friedhofs und befürchtete fast, ein rußschwarzes Loch im Dach zu sehen, wo die Flammen aus Tante Prues Schlafzimmer geschlagen waren. Aber meine Sorgen waren unbegründet, das Haus sah aus, wie ich es aus meiner Kindheit kannte. Die Hollywoodschaukel bewegte sich mit leisem Quietschen in der sanften Brise, auf dem Tisch daneben stand ein Glas Limonade. Genau wie ich es in Erinnerung hatte.
Die Tür war aus gutem blauem Südstaaten-Granit geschliffen. Amma hatte Stunden damit verbracht, den richtigen Grabstein auszusuchen. »Eine anständige Frau wie deine Tante verdient einen anständigen Grabstein«, hatte sie mir erklärt. »Und überhaupt - wenn sie nicht zufrieden ist, wird sie mir bis zu meinem Lebensende keine Ruhe lassen.« Wahrscheinlich hatte sie mit beidem recht. Auf dem Grabstein saß ein fein gearbeiteter Engel, der dem Besucher einen Kompass entgegenhielt. Ich hätte wetten können, dass es im Garten des Immerwährenden Friedens - und wahrscheinlich auf sämtlichen Südstaatenfriedhöfen - keinen zweiten Engel mit Kompass gab. Die steinernen Engel von Gatlin hielten allerlei Blumen in der Hand, manche klammerten sich an Grabsteine wie an einen Rettungsanker aus Granit - aber einen Kompass? Kein einziger. Doch für eine Frau, die ihr Leben damit verbracht hatte, die unterirdischen Caster-Tunnel von Gatlin zu kartieren, passte er perfekt.
Unter dem Engel war eine Inschrift in den Stein gemeißelt:
PRUDENCE JANE STATHAM
BELLE OF THE BALL
Tante Prue, die Ballkönigin. In ihrem Testament hatte sie ausdrücklich ein weiteres »e« hinter »Ball« gewünscht. Balle war kein richtiges Wort, klang aber nach Tante Prues Meinung mit einem e französischer als ohne. Dad hingegen hatte argumentiert, dass Tante Prue als überzeugte Patriotin sicher dafür gewesen wäre, ihre letzten Worte im guten alten Südstaaten-Amerikanisch zu schreiben. Ich war mir da nicht so sicher, deshalb hatte ich mich aus der Diskussion lieber herausgehalten. Abgesehen davon war die Grabsteininschrift nur eine von Dutzenden Anweisungen gewesen, die Tante Prue in dem ausführlichen Katalog für ihre eigene Beerdigung zusammengestellt hatte - neben der Gästeliste, die unter anderem einen Türsteher für die Kirche vorsah.
Trotzdem musste ich beim Anblick ihres Grabsteins schmunzeln.
Noch bevor ich anklopfen konnte, hörte ich hinter der Tür Hunde jaulen, und im nächsten Augenblick schwang der Grabstein zur Seite. Im Türrahmen stand Tante Prue mit rosafarbenen Lockenwicklern in den Haaren, eine Hand in die Hüfte gestützt. Drei Yorkshire- Terrier wuselten um ihre Beine - Harlon James eins bis drei.
»Wurde aber auch langsam Zeit.« Mit einer blitzschnellen Bewegung, die ich ihr zu Lebzeiten niemals zugetraut hätte, packte sie mich am Ohr und zog mich ins Haus. »Du warst schon immer ein Sturkopf, Ethan. Aber was du diesmal angerichtet hast, das schlägt dem Fass den Boden aus. Weiß der Herr im Himmel, was dich da geritten hat - aber ich hätte gute Lust, dich rauszuschicken und eine Rute holen zu lassen.« Es war ein reizender Brauch aus Tante Prues Tagen, ein Kind zuerst die Rute aussuchen zu lassen, mit der man ihm dann den Hintern versohlte. Dabei wusste ich ebenso gut wie Tante Prue, dass sie mich niemals schlagen würde. Wenn sie das gewollt hätte, hätte sie schon vor Jahren damit anfangen können.
Sie hielt mein Ohr zwischen ihren Schraubstockfingern, und weil sie mir nur ungefähr bis zur Brust ging, zwang sie mich damit fast in die Knie. Sämtliche Harlon Jameses folgten uns jaulend und hechelnd dicht auf den Fersen, als sie mich in die Küche schleifte.
»Ich hatte keine Wahl, Tante Prue. Ich musste die Menschen retten, die mir wichtig waren.«
»Spar dir den Atem. Ich habe alles mit eigenen Augen gesehen - und ich hatte meine gute Brille auf.« Sie schniefte. »Und da sagen die Leute immer, dass ich die mello-dramatische Ader hätte.«
Ich unterdrückte ein Lachen. »Du brauchst deine Brille hier immer noch?«
»Reine Gewohnheit. Inzwischen fühle ich mich ohne sie ganz nackt. Wer rechnet denn auch mit so was?« Sie fuchtelte mit ihrem knochigen Finger drohend vor meinem Gesicht herum. »Aber versuch nicht, das Thema zu wechseln. Diesmal hast du einen größeren Schlamassel veranstaltet als ein blinder Anstreicher.«
»Prudence Jane, warum lässt du den Jungen nicht einfach in Ruhe?«, hörte ich die Stimme eines alten Mannes aus dem Nebenraum. »Was geschehen ist, ist nun mal geschehen.«
Tante Prue zog mich wieder in die Diele, ohne den Griff um mein Ohr zu lockern. »Schreib du mir nicht vor, was ich zu tun habe, Harlon Turner!«
»Turner? War das nicht ...«
Sie zog mich mit einem Ruck ins Wohnzimmer, wo nicht nur einer, sondern alle ihre fünf verflossenen Ehemänner saßen.
Drei Jüngere saßen in hochgekrempelten weißen Hemden um den Kartentisch und knabberten Maissnacks. Der vierte saß auf einem Sofa und las Zeitung. Er blickte auf, nickte mir zu und schob eine kleine weiße Porzellanschüssel in meine Richtung. »Auch welche? «
Ich schüttelte den Kopf.
An Prues fünften Ehemann, Harlon - denjenigen, nach dem sie ihre Hunde benannt hatte -, konnte ich mich sogar noch erinnern. Als ich klein war, hatte er in seinen Westentaschen immer Zitronenbonbons dabei, von denen er mir in der Kirche hin und wieder eines zugesteckt hatte. Ich hatte sie alle gegessen, egal wie viele Fussel daran klebten. Wenn man sich in der Kirchenbank zu Tode langweilte, durfte man nicht wählerisch sein. Einmal hatte Link während des Bußgottesdienstes ein ganzes Fläschchen Atemspray getrunken - was sich nicht wirklich gelohnt hatte, denn danach hatte er den ganzen Nachmittag und den halben Abend dafür büßen müssen.
Harlon sah genau so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. In einer Geste der Resignation warf er die Arme hoch. »Prudence, du bist die störrischste Frau, die ich in meinem ganzen Leben getroffen habe!«
Mit dieser Einschätzung hatte er zweifellos recht - und jeder im Raum wusste das. Die übrigen vier Ehemänner blickten uns mit einer Mischung aus Mitleid und Belustigung an.
Tante Prue ließ mein Ohr los und baute sich vor ihrem letzten Ehemann auf. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich dich gebeten hätte, mich zu heiraten, Harlon James Turner. Daraus folgt, dass du ganz offensichtlich der törichtste Mann bist, dem ich in meinem ganzen Leben begegnet bin.« Alle drei Hunde spitzten beim Klang ihres Namens erwartungsvoll die Ohren.
Der Mann auf dem Sofa legte seine Zeitung beiseite, stand auf und gab dem armen alten Harlon einen Klaps auf die Schulter. »Vielleicht solltest du unseren kleinen Feuerspeier lieber in Ruhe lassen.« Er senkte verschwörerisch die Stimme. »Sonst bist du schneller weg vom Fenster als im ersten Leben.«
Sichtlich zufrieden marschierte Tante Prue zurück in die Küche - die drei vierbeinigen Harlons und ich folgten ihr auf dem Fuß. Sie zeigte auf einen Stuhl am Küchentisch, während sie süßen Tee in zwei Gläser goss. »Wenn ich geahnt hätte, dass ich jetzt alle fünf Mannsbilder aushalten muss, hätte ich mir zweimal überlegt, ob ich auch nur einen von ihnen heirate.«
Und jetzt waren sie alle hier versammelt. Ich überlegte, was der Grund dafür sein mochte, gab es aber bald auf. Ich wollte gar nicht so genau wissen, welche Rechnungen meine Tante mit ihren fünf Ehemännern und fast genauso vielen Hunden noch offen hatte.
»Trink nur, Junge«, sagte Harlon.
Ich warf einen Blick auf den Tee, der verlockend aussah, obwohl ich überhaupt keinen Durst hatte. Bei Moms Schmortomaten hatte ich nicht lange überlegen müssen. Ich würde alles essen, was sie für mich kochte. Aber jetzt, wo ich bei meiner toten Großtante am anderen Ende des Friedhofs zu Besuch war, dämmerte mir langsam, dass ich die Spielregeln hier - wo immer hier war - noch nicht einmal ansatzweise kannte.
Tante Prue bemerkte meinen Blick. »Du kannst ruhig trinken, obwohl du es nicht mehr unbedingt musst. Auf der anderen Seite ist es allerdings nicht so leicht.«
»Was meinst du damit?« In meinem Kopf schwirrten so viele Fragen, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte.
»Drüben, im Reich der Sterblichen, kannst du weder essen noch trinken, höchstens Dinge bewegen. Erst gestern habe ich Grace' Gebiss versteckt. Hab es ganz zufällig in die Dose mit dem Malzkaffee fallen lassen.« Es sah Tante Prue wirklich ähnlich, ihre Schwestern noch aus dem Grab in den Wahnsinn zu treiben.
»Moment mal, du warst auf der anderen Seite? In Gatlin?« Wenn sie bei ihren Schwestern vorbeischauen konnte, dann würde ich das doch auch bei Lena schaffen, oder etwa nicht?
»Habe ich das gesagt?« Mir war klar, dass sie die Antwort auf meine Frage hatte. Aber ich wusste auch, dass sie nicht damit herausrücken würde, solange sie nicht wollte.
»Ja, das hast du.«
Sag mir einfach, wie ich zu Lena komme. Mehr will ich gar nicht wissen.
»Immer langsam mit den jungen Pferden - kein Grund, sich so aufzuregen. Ich war nur ganz kurz dort. Hab mich dann aus dem Staub gemacht, und schwupp, war ich wieder hier auf dem Friedhof. Schnell wie der Blitz.«
»Tante Prue, bitte ...« Sie schüttelte den Kopf und ich gab auf. Meine Tante war in diesem Leben genauso dickköpfig wie im letzten. Ich versuchte es mit einem Themawechsel. »Der Friedhof hier, ist das wirklich der Garten des Immerwährenden Friedens?«
»Und ob er das ist. Jedes Mal, wenn sie jemanden unter die Erde bringen, taucht ein neues Haus in unserem Viertel auf.« Sie rümpfte die Nase. »Sie fallen hier ein, man kann nichts dagegen tun, selbst wenn es keine Verwandtschaft ist.«
Ich dachte an die steinernen Türen und die Häuser über den Gräbern. Ich hatte schon immer gefunden, dass der Garten des Immerwährenden Friedens eine Art Gatlin in klein war - die guten Plätze reihten sich entlang des breiten Kieswegs, während sich die Gräber der fragwürdigen Gatliner dicht am Zaun drängten. Anscheinend war die Anderwelt doch nicht so anders.
»Warum habe ich dann keines, Tante Prue? Kein eigenes Haus, meine ich.«
»Die jungen Leute bekommen keine eigenen Häuser - außer natür lich ihre Eltern leben noch. Aber wenn ich mir dein Zimmer so anschaue, weiß ich ohnehin nicht, wie du ein ganzes Haus sauber halten willst.«
Ich hatte nicht wirklich etwas zu meiner Verteidigung vorzubringen. »Ist das auch der Grund, warum ich keinen Grabstein habe?«
Tante Prue wandte den Blick ab. Sie verschwieg mir etwas. »Vielleicht solltest du diese Frage lieber deiner Mutter stellen.«
»Ich frage aber dich.«
Sie seufzte schwer. »Du bist nicht im Garten des Immerwährenden Friedens beerdigt, Ethan Wate.«
© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe cbt/cbj Verlag, München.
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Autoren-Porträt von Kami Garcia, Margaret Stohl
Kami Garcia lebt mit ihrer Familien im kalifornischen Los Angeles.Margaret Stohl lebt mit ihrer Familien im kalifornischen Los Angeles.Petra Koob-Pawis wurde 1961 geboren. Sie studierte an der Universität Würzburg Anglistik und Germanistik, ging anschließend einer wissenschasftlichen Tätigkeit an der Universität Würzburg nach. Seit 1987 arbeitet Frau Koob-Pawis freiberuflich für verschiedene Verlage als Lektorin und Übersetzerin. Frau Koob-Pawis lebt in der Nähe von München.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Kami Garcia , Margaret Stohl
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2014, 416 Seiten, Maße: 15 x 22,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Koob-Pawis, Petra
- Übersetzer: Petra Koob-Pawis
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 3570151336
- ISBN-13: 9783570151334
- Erscheinungsdatum: 20.01.2014
Rezension zu „Nineteen Moons - Eine ewige Liebe “
"Bildgewaltig, düster und voller Magie - 'Nineteen Moons' gehört zu den glücklichsten (Fantasy-)Erlebnissen der letzten Jahre." literaturmarkt.info
Kommentar zu "Nineteen Moons - Eine ewige Liebe"
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