Oberwasser / Kommissar Jennerwein ermittelt Bd.4
Alpenkrimi. Originalausgabe
Wer drunten schwimmt, ist länger tot: Kommissar Jennerweins vierter Fall Nachts in einem idyllischen alpenländischen Kurort: Dunkle Gestalten schleppen eine leblose Person zur Höllentalklamm. Hier zum Autoreninterview Kommissar Jennerwein...
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Produktinformationen zu „Oberwasser / Kommissar Jennerwein ermittelt Bd.4 “
Wer drunten schwimmt, ist länger tot: Kommissar Jennerweins vierter Fall Nachts in einem idyllischen alpenländischen Kurort: Dunkle Gestalten schleppen eine leblose Person zur Höllentalklamm. Hier zum Autoreninterview Kommissar Jennerwein erhält einen heiklen Auftrag. Er muss einen verschwundenen BKA-Ermittler finden, aber niemand darf wissen, dass er nach ihm sucht. Während er mit seinem bewährten Team offiziell einem Wilderer nachstellt, forscht er in Gumpen und Schluchten nach dem Vermissten. Derweil erzählen die Einheimischen düstere Legenden von Flößern, die einst das Wildwasser in eine Höhle sog, ein neugieriger Numismatiker entdeckt kryptische Zeichen auf einer alten Goldmünze, und ein Scharfschütze lauert am Bergbach. Kommissar Jennerwein gerät beinahe ins Strudeln...
Klappentext zu „Oberwasser / Kommissar Jennerwein ermittelt Bd.4 “
Wer drunten schwimmt, ist länger tot: Kommissar Jennerweins vierter FallNachts in einem idyllischen alpenländischen Kurort: Dunkle Gestalten schleppen eine leblose Person zur Höllentalklamm. Kommissar Jennerwein erhält einen heiklen Auftrag. Er muss einen verschwundenen BKA-Ermittler finden, aber niemand darf wissen, dass er nach ihm sucht. Während er mit seinem bewährten Team offiziell einem Wilderer nachstellt, forscht er in Gumpen und Schluchten nach dem Vermissten. Derweil erzählen die Einheimischen düstere Legenden von Flößern, die einst das Wildwasser in eine Höhle sog, ein neugieriger Numismatiker entdeckt kryptische Zeichen auf einer alten Goldmünze, und ein Scharfschütze lauert am Bergbach. Kommissar Jennerwein gerät beinahe ins Strudeln...
Lese-Probe zu „Oberwasser / Kommissar Jennerwein ermittelt Bd.4 “
Oberwasser von Jörg Maurer1
Berge, Berge, Berge. Zithermusik. Ein Mann in oberbayrischer Tracht. Sein Gesicht ist geschwärzt. Er blickt wild um sich. Er trägt einen Riesenschnauzbart, den er jetzt sorgfältig glattstreicht. In der Hand hält er einen uralten Schießprügel, der noch mit Pulver geladen werden muss.
Wilderer (singt): Auf den Bergen wohnt die Freiheit!
Ein Polizeiauto nähert sich mit Martinshorn, Türen werden aufgerissen.
Lautsprecherstimme: Geben Sie auf, Sie haben keine Chance!
Wilderer (lädt nach): I gib net auf, nia und nimmer!
Ein Fallnetz wird über den Berserker geworfen, jodelnd und schuhplattelnd wird er ins Polizeiauto gezogen. Die Türen werden zugeschlagen, das Auto fährt mit kreischenden Reifen davon. Im Inneren des Autos reißt sich der Wilderer den falschen Schnauzbart herunter.
Wilderer: Den Düwel ook, dat war knapp!
2
... mehr
Es war Anfang Mai, die Nacht war schwül, und ein warmer Wind schob sich im Schritttempo westwärts durch den Werdenfelser Talkessel. Der Mond hing über der Alpspitze wie ein frisch geschmiertes, ganz leicht angebissenes Schmalzbrot, er warf einen matten Glanz über den heruntergekommenen
Schrottplatz dort unten am Rande des Kurorts. Der heiße Wind strich durch die verbeulten Rohre und ließ ein hohles Stöhnen und heiseres Rasseln hören. Das Mondlicht brachte die verbogenen Stahlteile und ausgeweideten Metallgerippe der Autowracks auf derart unheimliche Weise zum Glitzern und Funkeln, dass man nicht überrascht gewesen wäre, wenn sich die alten Kardanwellen und zerbrochenen Pleuelstangen zu einem schaurigen Totentanz aufgerafft hätten, zu so etwas wie einem Danse Macabre im Otto'schen Viertakt. Ein einzelnes Eisenteil stach besonders hervor. Es hing über der Tür des kleinen ramponierten Bürohäuschens, es war ein armdickes U, alle anderen Buchstaben des Wortes waren längst abgefallen. Sicher waren viele der Kunden schon stehengeblieben und hatten gerätselt, was denn das einst für eine Inschrift gewesen sein mochte. Denn der Schrottplatz gehörte dem alten und versoffenen, ganz und gar U-losen Heilinger Herbert. Gleich neben dem einsamen Buchstaben-Cowboy lehnte eine verwitterte Holzleiter an der Wand, sie führte in den ersten Stock, durch das zersplitterte Fenster konnte man ein paar Sofas und Chaiselongues mit herausgewachsenen Sprungfedern erkennen. Das wirkte von weitem fast romantisch und einladend, nahezu crimsig und cloverig, doch der Raum war bei genauerer Überprüfung so verwanzt und verlaust, so endgültig siffifiziert, dass sich der Mühlriedl Rudi und die Holzmayer Veronika entschlossen hatten, nicht dort oben zu bleiben, sie hatten es sich vielmehr gegenüber dem verfallenen Bürohäuschen in einem alten Mercedes gemütlich gemacht. Der Benz war vor ein paar Tagen erst auf der Bundesstraße 2 vom rechten Weg abgekommen, in den Motorraum hatte sich eine kräftige Mittenwalder Tanne gefräst, die Lederbezüge im Inneren hingegen waren noch intakt, und die Rücksitze luden zum launigen Verweilen ein. Der Mühlriedl und die Holzmayerin hatten sich auf den nachlässig abgesperrten Schrottplatz geschlichen, und der Diesel war ihnen gleich als Erstes aufgefallen. Eine Weile hatten sie eng umschlungen nebeneinander gesessen und in die Nacht hinein gelauscht, die schaurigen Geräusche der Fahrzeugleichen um sie herum gaben ihnen noch den zusätzlichen Kick. Geflüsterte Liebesschwüre und gepresste Zukunftspläne flogen hin und her, dann aber hielten beide gleichzeitig inne. Sie richteten sich langsam auf und spähten vorsichtig durch die zersplitterten Fensterscheiben.
»Hast du das gehört?«
»Ja. Da draußen ist jemand.«
»Angestellte vom Schrottplatz.«
»Jetzt? Mitten in der Nacht?«
Aus Richtung des Bürohäuschens näherten sich hastige Schritte, dazwischen wurden Stimmen laut. Es waren zornige Flüche in einer fremden Sprache, gepresste Beschimpfungen und gebellte Befehle. Man konnte drei Gestalten erkennen, eine davon ließ ein kurzes Rohrstück über dem Kopf kreisen, um es schließlich wütend auf den Boden zu knallen. Sie waren auf Krawall aus.
»Jessas!«, sagte der Rudi und dämpfte die Stimme auf Winnetous Pirschlautstärke. »Was kommen denn da für welche?« Die Veronika sagte nichts, sie bekreuzigte sich zitternd.
Der Mühlriedl und die Holzmayerin waren verheiratet, jeweils verheiratet, und jeweils unglücklich. Sie waren beide auch nicht gerade die Teenys, welche man auf dem Rücksitz eines zerbeulten Mercedes Benz erwartet hätte, sie waren schon im fortgeschrittenen Alter, hätten sich deshalb locker ein Hotelzimmer leisten können, was natürlich eine Lachnummer gewesen wäre in einer überschaubaren Gemeinde mit knapp dreißigtausend Einwohnern. Die Hotelbranche des Kurorts war fest in der Hand von hochmultiplikativen Ratschkathln und ureinheimischen Dampfplauderern, das Mieten eines Hotelzimmers von zwei bekannten Größen des Ortes (Sägewerk und Apotheke) hätte sich mit Überlichtgeschwindigkeit herumgesprochen. Sie waren noch nicht sonderlich weit fortgeschritten mit ihren aushäusigen Aktivitäten, die Holzmayer Veronika hatte mal grade eben ihr Handtäschchen von der Schulter gestreift und auf den Sitz gestellt.
»Die kommen direkt auf uns zu!«, flüsterte sie entsetzt.
Der Mühlriedl Rudi murmelte ein paar unverständliche Worte, vielleicht war es auch ein Stoßgebet. Kleine Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Beide wagten es nicht, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, so groß war ihre Angst, das Geknarze des maroden Unfallwagens könnte sie verraten. Die Gestalten kamen Schritt für Schritt näher, einer zeigte sogar in ihre Richtung. An Flucht war jetzt nicht mehr zu denken.
»Hast du dein Stichmesser dabei?«, presste die Veronika heraus.
Der Mühlriedl Rudi schluckte und schüttelte den Kopf. Nein, natürlich nicht. Wer nimmt zu einem nächtlichen Rendezvous schon ein Stichmesser mit? Die schwarz gekleideten Männer da draußen sahen auch nicht so aus, als ob man sie mit einem Brotzeitmesser in Schach halten könnte. Sie waren jetzt nur noch zehn oder fünfzehn Meter vom Benz entfernt. Einer von ihnen torkelte, als ob er betrunken wäre. Doch er war nicht betrunken, man hatte ihm die Arme hinter dem Rücken gefesselt, durch die Stöße der beiden anderen konnte er das Gleichgewicht nur mit Mühe halten. Sein Mund war mit einem Band verklebt, und er wand sich unter Schmerzen. Einer der beiden anderen nahm das Eisenrohr vom Boden auf und schlug ihm ohne Vorwarnung von hinten in die Kniekehlen, so dass er strauchelte und zusammensackte. Er blieb leblos liegen. Die beiden packten ihn an den Füßen und schleiften ihn über den grobkörnigen Kiesboden. Dabei blieben die Kopfhörerkabel seines neongrünen iPod immer wieder an einzelnen Steinen hängen. Sein Kopf holperte über die Schlaglöcher, sie beachteten es nicht. Dann hielten sie inne und sahen sich um. Sie schienen ein Versteck zu suchen. Der Mühlriedl Rudi schloss die Augen.
»Die werden doch nicht ausgerechnet -«
Die Holzmayerin hielt sich die Hand vor den Mund, ihre Augen waren weit aufgerissen. Doch die beiden Gestalten bemerkten die unfreiwilligen Zeugen nicht, sie richteten den leblosen Körper auf, fassten ihn an Armen und Beinen, um ihn zu einem alten Ford zu tragen, der nur ein paar Meter neben dem Benz stand. Die Gesichter der beiden Schlepper waren nicht zu erkennen, sie trugen schwarze Skimützen, die sie tief in die Stirn gezogen hatten. Einer öffnete den Kofferraum des Wagens, der andere machte Anstalten, den Leblosen hochzuzerren und in den Kofferraum zu hieven. Als er auf der Kante lag, konnte man das Gesicht des Opfers gut erkennen. Seine Glatze war frisch rasiert, die Augen waren geschlossen, der Mund war mit einem Haushaltstape überklebt, die Hände waren mit demselben Tape auf dem Rücken gefesselt. Dem Mühlriedl und der Holzmayerin liefen Schauer des Entsetzens den Rücken hinunter.
Besonders unheimlich bei dem Glatzköpfigen war eine Markierung auf dem geschorenen Kopf. In Höhe der Ohrenspitzen lief rund um den ganzen Schädel eine gestrichelte Linie. Innerhalb des Kreises war ein Punkt gemalt, auf den ein Pfeil zeigte. Veronika Holzmayer versuchte sich diese beiden Details einzuprägen: Die seltsame Markierung auf der Glatze des Bewusstlosen und den um den Hals gehängten iPod, der in einer neongrünen Plastikhülle steckte. Das lenkte ein bisschen von der Angst ab, jedoch nicht lange, denn bald fiel ihr Blick auf ein neues beunruhigendes Detail. Es war hell genug, um den dunklen Fleck auf der Innenseite des linken Unterarms zu sehen. Die Verfärbung sah wie ein Brandfleck aus, der von einem Stromschlag herkommen mochte, vielleicht war es auch ein Bluterguss von einem unsauberen Nadeleinstich oder anderen Dingen, die man gar nicht so genau wissen wollte. Die Holzmayer Veronika versuchte sich auch diese Beobachtung für eine eventuelle spätere Zeugenaussage einzuprägen. Das hätte sie sich sparen können. Es sollte keine späteren Zeugenaussagen geben.
Der leblose Körper wurde roh in den Kofferraum geworfen, der Deckel wurde zugeschlagen, die beiden Pudelmützen schrien und fuchtelten, sie schienen sich immer noch zu streiten. Der Mühlriedl und die Holzmayer'sche wurden nicht recht schlau aus den gutturalen stoßweise gepressten Zischlauten und fremdländischen Zungenschlägen. Irgendetwas Slawisches glaubte der Rudi herauszuhören. Dann ging alles ganz schnell, die Fremden stiegen in den Wagen und starteten ihn. Das überraschte insofern, weil man nicht vermutet hätte, dass sich inmitten der vielen Fahrzeugwracks auch ein quicklebendiges befand. Die Pudelmützen wendeten den Wagen und fuhren sehr, sehr leise davon. Ein Blitzstart mit quietschenden Reifen wäre nicht so beunruhigend gewesen wie dieses leise Wegfahren.
Veronika Holzmayer hängte ihre Handtasche wieder um, nur um irgendetwas zu tun. Beide blieben eine Weile sitzen und warteten, ohne zu wissen worauf. Sie lauschten zitternd in die stille Nacht hinaus, doch nun war kein Seufzen verbogener Karosseriebleche mehr zu hören, selbst die Grillen schwiegen.
»Was machen wir jetzt?«, stieß die Holzmayerin heraus, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
»Wir warten eine halbe Stunde, dann hauen wir ab«, erwiderte der Mühlriedl Rudi, ohne rechte Überzeugung.
»Was meinst du, wer die waren?«
»Russen vielleicht.«
»Ich glaube, wir müssen zur Polizei gehen«, sagte die Holzmayer Veronika schließlich um vier Uhr in der Frühe. »Vielleicht jeder einzeln.«
Dann schwiegen sie wieder. Es breitete sich eine Ruhe aus, die nur entsteht, wenn gerade etwas Schreckliches passiert ist.
3
Draußen herrschte herrliches Juniwetter, drinnen standen zwischen den sauber beschrifteten Leitz-Ordnern gravierte Zinnbecher, bedruckte Bierseidel und verstaubte Preispokale, die Wände waren bedeckt mit gerahmten Urkunden und Zeitungsausschnitten - und überall las man etwas von zweiten oder dritten Plätzen bei süd- und oberbayrischen Meisterschaften. Von der Decke hingen Wimpel mit Inschriften wie WolfgangMayer-Gedächtnisturnier oder In Erinnerung an František Hovorovická. Der Raum war mit so vielen Erinnerungsstücken vollgestopft, dass keinem normalen Betrachter noch eine zusätzliche Besonderheit aufgefallen wäre.
Kriminalhauptkommissar Hubertus Jennerwein war kein normaler Betrachter, er ließ sich nicht vom Wirrwarr des zusammengesammelten Edelplunders gängeln, ein paar Sekunden, nachdem er den Raum betreten hatte, blieb sein trainierter Blick sofort an einem flachen Tischchen hängen, auf dem ein Schachbrett stand. An den kleinen hölzernen Kämpfern war sicherlich lange und sorgfältig geschnitzt worden (die Könige blickten phlegmatisch uninteressiert, die Damen melancholisch arrogant), doch das eigentlich Auffällige war die geringe Anzahl der Figuren auf dem Feld. Es war wohl eine zu Ende gespielte Partie, die Mehrzahl der kleinen Kämpfer stand außerhalb - die geop-
ferten Bauern und ausgetricksten Offiziere warteten draußen am Spielfeldrand, niedergeschlagen wie enttäuschte Bezirksligaspielerbräute. Jennerwein fand das insofern merkwürdig, als dekorativ aufgebaute Schachspiele meist in der Grundstellung zu sehen sind, manche Chess-Protzer bauten auch berühmte Weltmeisterschaftspartien auf, so etwas wie Lasker-Capablanca, St. Petersburg, 1918, kurz vor dem entscheidenden 32. Zug. Ein Schachspiel in Endstellung stehenzulassen jedoch war ungewöhnlich, und das fiel Jennerwein sofort auf. Nicht dass er besonders gut Schach gespielt hätte, er beherrschte nicht viel mehr als die Regeln, aber er hatte nun einmal die Begabung, an den unübersichtlichsten Tatorten sofort das Auffällige, das Merkwürdige, das aus dem Rahmen Fallende herauszufiltern, selbst wenn es ein ihm vollkommen fremder Ort war. Und die meisten der Räume, die er betrat, betrat er das erste Mal, das unterschied einen Kriminaler Raub / Mord / Erpressung deutlich von einem Oberstudienrat Deutsch / Geschichte / Sozialkunde. War die merkwürdige Konstellation dort auf dem Brett vielleicht ein Schachrätsel aus der Samstagsbeilage, so etwas wie Matt in drei Zügen? Dafür jedoch war die Situation zu eindeutig, die Weißen waren drückend überlegen, für ein Rätsel war die Endstellung viel zu leicht. Es war nicht einmal Matt in einem Zug, es war Matt ohne irgendetwas. Warum aber hatte der Spieler der geschlagenen Schwarzen den König dann nicht, wie es üblich war, aufs Brett gelegt?
Vier weitere Mitglieder der Mordkommission IV betraten den Raum. Jennerwein beobachtete unauffällig, ob noch jemandem das sonderbare Schachspiel auffiel. Als Erste erschien die Polizeipsychologin Dr. Maria Schmalfuß. Sie kam gerade frisch von einer zweiwöchigen Profiler-Fortbildung, ihr Kopf war vollgestopft mit Täterprofilanalysen und Tatablaufszenarien. Sie blieb mitten im Raum stehen und ließ ihren Blick über die Urkunden und Preisbecher schweifen.
»Pathologische Sammelleidenschaft«, flüsterte sie halblaut in Richtung Jennerwein. »Zeigt den infantilen Wunsch nach einer überschaubaren, einfachen Welt.«
»Oder zeigt, dass der Sammler nicht weiß wohin mit seiner freien Zeit«, maulte Hauptkommissar Ludwig Stengele. Der Allgäuer aus Mindelheim machte einen Schritt auf Maria zu, stolperte aber gleich über einen vorstehenden Teppichrand. Droben am Berg, in luftigen Höhen, in den heimatlichen Felswänden, bewegte er sich wie eine junge Gemse, in geschlossenen Räumen wirkte er hölzern und staksig. Stengele schnüffelte und verzog das Gesicht, der Geruch in dem ungelüfteten Raum gefiel ihm augenscheinlich nicht. Oder er konnte ihn nicht recht einordnen.
» Uagnäm«, sagte er, und es klang wie das Quaken eines Frosches.
»Wie meinen Sie?«, fragte Nicole Schwattke, die hinter ihm hereingekommen war.
»Unangenehm«, übersetzte Stengele frei aus dem Allgäuerischen. Die Recklinghäuser Austauschkommissarin Nicole Schwattke war die jüngste Mitarbeiterin im Team. Sie sah sich beim Eintreten gar nicht erst im Raum um, ihr Blick tunnelte quer durch das muffige Gewusel und zielte sofort auf den wuchtigen Mahagonischreibtisch, der an der anderen Seite des Büros vor dem Fenster stand. Schweigend betrachtete sie das Holzgebirge und nickte nur stumm, so wie es die wortkargen Westfalen seit Jahrhunderten tun, wenn sie etwas Unbekanntes sehen. Als Letzter kam schließlich Hansjochen Becker, der Kriminaltechniker. Nach drei kurzen, insektenartigen Wischblicken kreuz und quer durch den Raum galt seine Aufmerksamkeit sofort dem weichen Teppich, den er aufmerksam betrachtete. Jennerwein schmunzelte. Offensichtlich war keinem der vier Ermittler das Nussholzgemetzel auf dem kleinen Schachtischchen aufgefallen. Es war auch nicht so wichtig. Es hatte vermutlich gar nichts zu bedeuten. Das Kernteam der Mordkommission IV war komplett, ein bisschen verlegen stand es jetzt da, das kleine Rudel der vier weisungsgebundenen Betatiere, augenscheinlich auf das muntere Gebell des Leitwolfs wartend.
»Nun denn«, sagte Jennerwein und drehte den Kopf in Richtung Schreibtisch.
Der beeindruckende Mahagoniklotz war bis auf ein aufgeklapptes Notebook und einen blutroten Schnellhefter mit der Aufschrift Streng vertraulich! leer. Der Mann hinter dem Schreibtisch war stattlich, sein Äußeres sah gepflegt aus. Ein Telefon war unter dem wuchtigen Kinn eingeklemmt, seine Arme hingen neben den Lehnen des Stuhls herunter, seine blauen Augen waren weit geöffnet, so als wäre er erstaunt über das, was er da gerade gehört hatte. Sein grabsteingraues Haar saß glatt, wie gemeißelt, er trug einen sauber gestutzten Kinnbart, eine ultrakonservative Brille - zu einem Kneifer und einem Vatermörder fehlte nicht viel. Der tadellos sitzende Anzug war keinen Zentimeter verrutscht, die Schuhe, die man deshalb gut sah, weil der Mann auf dem Klappdrehschwenkstuhl mehr lag als saß, waren blitzblank. Jennerwein trat noch einen Schritt näher. Der Teint des Hünen war sonnengebräunt, man roch Rasierwasser, und Jennerwein wusste jetzt, warum Stengele gleich beim Eintreten geschnüffelt hatte. »Hm«, machte Maria und hob ihre ägyptisch dünnspitze Nase etwas hoch. »Äußerst interessant.«
Plötzlich ließ der gepflegte Mann das Telefon vom Kinn gleiten und fing es mit der Hand geschickt auf. Der Liegelümmelstuhl drehte sich quietschend, so dass der Mann seinen fünf Besuchern frontal gegenüber saß.
»Entschuldigen Sie«, sagte er und legte das Telefon auf den Tisch. »Ein wichtiges Gespräch.«
Alle nickten verständnisvoll. Jennerwein ging auf den Mann zu und schüttelte ihm über das Mahagoni hinweg die Hand.
»Aber setzen Sie sich doch bitte, meine Herrschaften«, sagte Dr. Rosenberger. »Kaffee? Tee? Wein? Bier?«
»Ein Kaviarbrötchen«, scherzte Maria. Der gepflegte Mann war Polizeioberrat Dr. Rosenberger, der Vorgesetzte von Kommissar Jennerwein. Er lachte höflich und verschränkte seine Hände auf der Platte des Edelholzschreibtischs. Alle starrten auf die Intarsien, mit denen der Tisch an der Vorderseite verziert war. Eine exzentrische Weise, sich Distanz zu verschaffen, dachte Jennerwein. Infantile Fixierung auf Reviermarkierung, Angst vor Machtverlust, dachte Maria. Ein wunderbares Holz, um viele, viele verwertbare Spuren zu hinterlassen, dachte Becker. G'spinnerter Hirni, dachte Stengele, der hockt wahrscheinlich den ganzen Tag hinter diesem toten Holzklotz und weiß dabei gar nicht mehr, wie man Handschellen anlegt. Nicole Schwattke machte sich als Einzige keine Gedanken über den Tisch. Sie starrte in eine andere Ecke des Raums.
»Das sieht aber gar nicht gut aus für Schwarz«, sagte sie.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Es war Anfang Mai, die Nacht war schwül, und ein warmer Wind schob sich im Schritttempo westwärts durch den Werdenfelser Talkessel. Der Mond hing über der Alpspitze wie ein frisch geschmiertes, ganz leicht angebissenes Schmalzbrot, er warf einen matten Glanz über den heruntergekommenen
Schrottplatz dort unten am Rande des Kurorts. Der heiße Wind strich durch die verbeulten Rohre und ließ ein hohles Stöhnen und heiseres Rasseln hören. Das Mondlicht brachte die verbogenen Stahlteile und ausgeweideten Metallgerippe der Autowracks auf derart unheimliche Weise zum Glitzern und Funkeln, dass man nicht überrascht gewesen wäre, wenn sich die alten Kardanwellen und zerbrochenen Pleuelstangen zu einem schaurigen Totentanz aufgerafft hätten, zu so etwas wie einem Danse Macabre im Otto'schen Viertakt. Ein einzelnes Eisenteil stach besonders hervor. Es hing über der Tür des kleinen ramponierten Bürohäuschens, es war ein armdickes U, alle anderen Buchstaben des Wortes waren längst abgefallen. Sicher waren viele der Kunden schon stehengeblieben und hatten gerätselt, was denn das einst für eine Inschrift gewesen sein mochte. Denn der Schrottplatz gehörte dem alten und versoffenen, ganz und gar U-losen Heilinger Herbert. Gleich neben dem einsamen Buchstaben-Cowboy lehnte eine verwitterte Holzleiter an der Wand, sie führte in den ersten Stock, durch das zersplitterte Fenster konnte man ein paar Sofas und Chaiselongues mit herausgewachsenen Sprungfedern erkennen. Das wirkte von weitem fast romantisch und einladend, nahezu crimsig und cloverig, doch der Raum war bei genauerer Überprüfung so verwanzt und verlaust, so endgültig siffifiziert, dass sich der Mühlriedl Rudi und die Holzmayer Veronika entschlossen hatten, nicht dort oben zu bleiben, sie hatten es sich vielmehr gegenüber dem verfallenen Bürohäuschen in einem alten Mercedes gemütlich gemacht. Der Benz war vor ein paar Tagen erst auf der Bundesstraße 2 vom rechten Weg abgekommen, in den Motorraum hatte sich eine kräftige Mittenwalder Tanne gefräst, die Lederbezüge im Inneren hingegen waren noch intakt, und die Rücksitze luden zum launigen Verweilen ein. Der Mühlriedl und die Holzmayerin hatten sich auf den nachlässig abgesperrten Schrottplatz geschlichen, und der Diesel war ihnen gleich als Erstes aufgefallen. Eine Weile hatten sie eng umschlungen nebeneinander gesessen und in die Nacht hinein gelauscht, die schaurigen Geräusche der Fahrzeugleichen um sie herum gaben ihnen noch den zusätzlichen Kick. Geflüsterte Liebesschwüre und gepresste Zukunftspläne flogen hin und her, dann aber hielten beide gleichzeitig inne. Sie richteten sich langsam auf und spähten vorsichtig durch die zersplitterten Fensterscheiben.
»Hast du das gehört?«
»Ja. Da draußen ist jemand.«
»Angestellte vom Schrottplatz.«
»Jetzt? Mitten in der Nacht?«
Aus Richtung des Bürohäuschens näherten sich hastige Schritte, dazwischen wurden Stimmen laut. Es waren zornige Flüche in einer fremden Sprache, gepresste Beschimpfungen und gebellte Befehle. Man konnte drei Gestalten erkennen, eine davon ließ ein kurzes Rohrstück über dem Kopf kreisen, um es schließlich wütend auf den Boden zu knallen. Sie waren auf Krawall aus.
»Jessas!«, sagte der Rudi und dämpfte die Stimme auf Winnetous Pirschlautstärke. »Was kommen denn da für welche?« Die Veronika sagte nichts, sie bekreuzigte sich zitternd.
Der Mühlriedl und die Holzmayerin waren verheiratet, jeweils verheiratet, und jeweils unglücklich. Sie waren beide auch nicht gerade die Teenys, welche man auf dem Rücksitz eines zerbeulten Mercedes Benz erwartet hätte, sie waren schon im fortgeschrittenen Alter, hätten sich deshalb locker ein Hotelzimmer leisten können, was natürlich eine Lachnummer gewesen wäre in einer überschaubaren Gemeinde mit knapp dreißigtausend Einwohnern. Die Hotelbranche des Kurorts war fest in der Hand von hochmultiplikativen Ratschkathln und ureinheimischen Dampfplauderern, das Mieten eines Hotelzimmers von zwei bekannten Größen des Ortes (Sägewerk und Apotheke) hätte sich mit Überlichtgeschwindigkeit herumgesprochen. Sie waren noch nicht sonderlich weit fortgeschritten mit ihren aushäusigen Aktivitäten, die Holzmayer Veronika hatte mal grade eben ihr Handtäschchen von der Schulter gestreift und auf den Sitz gestellt.
»Die kommen direkt auf uns zu!«, flüsterte sie entsetzt.
Der Mühlriedl Rudi murmelte ein paar unverständliche Worte, vielleicht war es auch ein Stoßgebet. Kleine Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Beide wagten es nicht, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, so groß war ihre Angst, das Geknarze des maroden Unfallwagens könnte sie verraten. Die Gestalten kamen Schritt für Schritt näher, einer zeigte sogar in ihre Richtung. An Flucht war jetzt nicht mehr zu denken.
»Hast du dein Stichmesser dabei?«, presste die Veronika heraus.
Der Mühlriedl Rudi schluckte und schüttelte den Kopf. Nein, natürlich nicht. Wer nimmt zu einem nächtlichen Rendezvous schon ein Stichmesser mit? Die schwarz gekleideten Männer da draußen sahen auch nicht so aus, als ob man sie mit einem Brotzeitmesser in Schach halten könnte. Sie waren jetzt nur noch zehn oder fünfzehn Meter vom Benz entfernt. Einer von ihnen torkelte, als ob er betrunken wäre. Doch er war nicht betrunken, man hatte ihm die Arme hinter dem Rücken gefesselt, durch die Stöße der beiden anderen konnte er das Gleichgewicht nur mit Mühe halten. Sein Mund war mit einem Band verklebt, und er wand sich unter Schmerzen. Einer der beiden anderen nahm das Eisenrohr vom Boden auf und schlug ihm ohne Vorwarnung von hinten in die Kniekehlen, so dass er strauchelte und zusammensackte. Er blieb leblos liegen. Die beiden packten ihn an den Füßen und schleiften ihn über den grobkörnigen Kiesboden. Dabei blieben die Kopfhörerkabel seines neongrünen iPod immer wieder an einzelnen Steinen hängen. Sein Kopf holperte über die Schlaglöcher, sie beachteten es nicht. Dann hielten sie inne und sahen sich um. Sie schienen ein Versteck zu suchen. Der Mühlriedl Rudi schloss die Augen.
»Die werden doch nicht ausgerechnet -«
Die Holzmayerin hielt sich die Hand vor den Mund, ihre Augen waren weit aufgerissen. Doch die beiden Gestalten bemerkten die unfreiwilligen Zeugen nicht, sie richteten den leblosen Körper auf, fassten ihn an Armen und Beinen, um ihn zu einem alten Ford zu tragen, der nur ein paar Meter neben dem Benz stand. Die Gesichter der beiden Schlepper waren nicht zu erkennen, sie trugen schwarze Skimützen, die sie tief in die Stirn gezogen hatten. Einer öffnete den Kofferraum des Wagens, der andere machte Anstalten, den Leblosen hochzuzerren und in den Kofferraum zu hieven. Als er auf der Kante lag, konnte man das Gesicht des Opfers gut erkennen. Seine Glatze war frisch rasiert, die Augen waren geschlossen, der Mund war mit einem Haushaltstape überklebt, die Hände waren mit demselben Tape auf dem Rücken gefesselt. Dem Mühlriedl und der Holzmayerin liefen Schauer des Entsetzens den Rücken hinunter.
Besonders unheimlich bei dem Glatzköpfigen war eine Markierung auf dem geschorenen Kopf. In Höhe der Ohrenspitzen lief rund um den ganzen Schädel eine gestrichelte Linie. Innerhalb des Kreises war ein Punkt gemalt, auf den ein Pfeil zeigte. Veronika Holzmayer versuchte sich diese beiden Details einzuprägen: Die seltsame Markierung auf der Glatze des Bewusstlosen und den um den Hals gehängten iPod, der in einer neongrünen Plastikhülle steckte. Das lenkte ein bisschen von der Angst ab, jedoch nicht lange, denn bald fiel ihr Blick auf ein neues beunruhigendes Detail. Es war hell genug, um den dunklen Fleck auf der Innenseite des linken Unterarms zu sehen. Die Verfärbung sah wie ein Brandfleck aus, der von einem Stromschlag herkommen mochte, vielleicht war es auch ein Bluterguss von einem unsauberen Nadeleinstich oder anderen Dingen, die man gar nicht so genau wissen wollte. Die Holzmayer Veronika versuchte sich auch diese Beobachtung für eine eventuelle spätere Zeugenaussage einzuprägen. Das hätte sie sich sparen können. Es sollte keine späteren Zeugenaussagen geben.
Der leblose Körper wurde roh in den Kofferraum geworfen, der Deckel wurde zugeschlagen, die beiden Pudelmützen schrien und fuchtelten, sie schienen sich immer noch zu streiten. Der Mühlriedl und die Holzmayer'sche wurden nicht recht schlau aus den gutturalen stoßweise gepressten Zischlauten und fremdländischen Zungenschlägen. Irgendetwas Slawisches glaubte der Rudi herauszuhören. Dann ging alles ganz schnell, die Fremden stiegen in den Wagen und starteten ihn. Das überraschte insofern, weil man nicht vermutet hätte, dass sich inmitten der vielen Fahrzeugwracks auch ein quicklebendiges befand. Die Pudelmützen wendeten den Wagen und fuhren sehr, sehr leise davon. Ein Blitzstart mit quietschenden Reifen wäre nicht so beunruhigend gewesen wie dieses leise Wegfahren.
Veronika Holzmayer hängte ihre Handtasche wieder um, nur um irgendetwas zu tun. Beide blieben eine Weile sitzen und warteten, ohne zu wissen worauf. Sie lauschten zitternd in die stille Nacht hinaus, doch nun war kein Seufzen verbogener Karosseriebleche mehr zu hören, selbst die Grillen schwiegen.
»Was machen wir jetzt?«, stieß die Holzmayerin heraus, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
»Wir warten eine halbe Stunde, dann hauen wir ab«, erwiderte der Mühlriedl Rudi, ohne rechte Überzeugung.
»Was meinst du, wer die waren?«
»Russen vielleicht.«
»Ich glaube, wir müssen zur Polizei gehen«, sagte die Holzmayer Veronika schließlich um vier Uhr in der Frühe. »Vielleicht jeder einzeln.«
Dann schwiegen sie wieder. Es breitete sich eine Ruhe aus, die nur entsteht, wenn gerade etwas Schreckliches passiert ist.
3
Draußen herrschte herrliches Juniwetter, drinnen standen zwischen den sauber beschrifteten Leitz-Ordnern gravierte Zinnbecher, bedruckte Bierseidel und verstaubte Preispokale, die Wände waren bedeckt mit gerahmten Urkunden und Zeitungsausschnitten - und überall las man etwas von zweiten oder dritten Plätzen bei süd- und oberbayrischen Meisterschaften. Von der Decke hingen Wimpel mit Inschriften wie WolfgangMayer-Gedächtnisturnier oder In Erinnerung an František Hovorovická. Der Raum war mit so vielen Erinnerungsstücken vollgestopft, dass keinem normalen Betrachter noch eine zusätzliche Besonderheit aufgefallen wäre.
Kriminalhauptkommissar Hubertus Jennerwein war kein normaler Betrachter, er ließ sich nicht vom Wirrwarr des zusammengesammelten Edelplunders gängeln, ein paar Sekunden, nachdem er den Raum betreten hatte, blieb sein trainierter Blick sofort an einem flachen Tischchen hängen, auf dem ein Schachbrett stand. An den kleinen hölzernen Kämpfern war sicherlich lange und sorgfältig geschnitzt worden (die Könige blickten phlegmatisch uninteressiert, die Damen melancholisch arrogant), doch das eigentlich Auffällige war die geringe Anzahl der Figuren auf dem Feld. Es war wohl eine zu Ende gespielte Partie, die Mehrzahl der kleinen Kämpfer stand außerhalb - die geop-
ferten Bauern und ausgetricksten Offiziere warteten draußen am Spielfeldrand, niedergeschlagen wie enttäuschte Bezirksligaspielerbräute. Jennerwein fand das insofern merkwürdig, als dekorativ aufgebaute Schachspiele meist in der Grundstellung zu sehen sind, manche Chess-Protzer bauten auch berühmte Weltmeisterschaftspartien auf, so etwas wie Lasker-Capablanca, St. Petersburg, 1918, kurz vor dem entscheidenden 32. Zug. Ein Schachspiel in Endstellung stehenzulassen jedoch war ungewöhnlich, und das fiel Jennerwein sofort auf. Nicht dass er besonders gut Schach gespielt hätte, er beherrschte nicht viel mehr als die Regeln, aber er hatte nun einmal die Begabung, an den unübersichtlichsten Tatorten sofort das Auffällige, das Merkwürdige, das aus dem Rahmen Fallende herauszufiltern, selbst wenn es ein ihm vollkommen fremder Ort war. Und die meisten der Räume, die er betrat, betrat er das erste Mal, das unterschied einen Kriminaler Raub / Mord / Erpressung deutlich von einem Oberstudienrat Deutsch / Geschichte / Sozialkunde. War die merkwürdige Konstellation dort auf dem Brett vielleicht ein Schachrätsel aus der Samstagsbeilage, so etwas wie Matt in drei Zügen? Dafür jedoch war die Situation zu eindeutig, die Weißen waren drückend überlegen, für ein Rätsel war die Endstellung viel zu leicht. Es war nicht einmal Matt in einem Zug, es war Matt ohne irgendetwas. Warum aber hatte der Spieler der geschlagenen Schwarzen den König dann nicht, wie es üblich war, aufs Brett gelegt?
Vier weitere Mitglieder der Mordkommission IV betraten den Raum. Jennerwein beobachtete unauffällig, ob noch jemandem das sonderbare Schachspiel auffiel. Als Erste erschien die Polizeipsychologin Dr. Maria Schmalfuß. Sie kam gerade frisch von einer zweiwöchigen Profiler-Fortbildung, ihr Kopf war vollgestopft mit Täterprofilanalysen und Tatablaufszenarien. Sie blieb mitten im Raum stehen und ließ ihren Blick über die Urkunden und Preisbecher schweifen.
»Pathologische Sammelleidenschaft«, flüsterte sie halblaut in Richtung Jennerwein. »Zeigt den infantilen Wunsch nach einer überschaubaren, einfachen Welt.«
»Oder zeigt, dass der Sammler nicht weiß wohin mit seiner freien Zeit«, maulte Hauptkommissar Ludwig Stengele. Der Allgäuer aus Mindelheim machte einen Schritt auf Maria zu, stolperte aber gleich über einen vorstehenden Teppichrand. Droben am Berg, in luftigen Höhen, in den heimatlichen Felswänden, bewegte er sich wie eine junge Gemse, in geschlossenen Räumen wirkte er hölzern und staksig. Stengele schnüffelte und verzog das Gesicht, der Geruch in dem ungelüfteten Raum gefiel ihm augenscheinlich nicht. Oder er konnte ihn nicht recht einordnen.
» Uagnäm«, sagte er, und es klang wie das Quaken eines Frosches.
»Wie meinen Sie?«, fragte Nicole Schwattke, die hinter ihm hereingekommen war.
»Unangenehm«, übersetzte Stengele frei aus dem Allgäuerischen. Die Recklinghäuser Austauschkommissarin Nicole Schwattke war die jüngste Mitarbeiterin im Team. Sie sah sich beim Eintreten gar nicht erst im Raum um, ihr Blick tunnelte quer durch das muffige Gewusel und zielte sofort auf den wuchtigen Mahagonischreibtisch, der an der anderen Seite des Büros vor dem Fenster stand. Schweigend betrachtete sie das Holzgebirge und nickte nur stumm, so wie es die wortkargen Westfalen seit Jahrhunderten tun, wenn sie etwas Unbekanntes sehen. Als Letzter kam schließlich Hansjochen Becker, der Kriminaltechniker. Nach drei kurzen, insektenartigen Wischblicken kreuz und quer durch den Raum galt seine Aufmerksamkeit sofort dem weichen Teppich, den er aufmerksam betrachtete. Jennerwein schmunzelte. Offensichtlich war keinem der vier Ermittler das Nussholzgemetzel auf dem kleinen Schachtischchen aufgefallen. Es war auch nicht so wichtig. Es hatte vermutlich gar nichts zu bedeuten. Das Kernteam der Mordkommission IV war komplett, ein bisschen verlegen stand es jetzt da, das kleine Rudel der vier weisungsgebundenen Betatiere, augenscheinlich auf das muntere Gebell des Leitwolfs wartend.
»Nun denn«, sagte Jennerwein und drehte den Kopf in Richtung Schreibtisch.
Der beeindruckende Mahagoniklotz war bis auf ein aufgeklapptes Notebook und einen blutroten Schnellhefter mit der Aufschrift Streng vertraulich! leer. Der Mann hinter dem Schreibtisch war stattlich, sein Äußeres sah gepflegt aus. Ein Telefon war unter dem wuchtigen Kinn eingeklemmt, seine Arme hingen neben den Lehnen des Stuhls herunter, seine blauen Augen waren weit geöffnet, so als wäre er erstaunt über das, was er da gerade gehört hatte. Sein grabsteingraues Haar saß glatt, wie gemeißelt, er trug einen sauber gestutzten Kinnbart, eine ultrakonservative Brille - zu einem Kneifer und einem Vatermörder fehlte nicht viel. Der tadellos sitzende Anzug war keinen Zentimeter verrutscht, die Schuhe, die man deshalb gut sah, weil der Mann auf dem Klappdrehschwenkstuhl mehr lag als saß, waren blitzblank. Jennerwein trat noch einen Schritt näher. Der Teint des Hünen war sonnengebräunt, man roch Rasierwasser, und Jennerwein wusste jetzt, warum Stengele gleich beim Eintreten geschnüffelt hatte. »Hm«, machte Maria und hob ihre ägyptisch dünnspitze Nase etwas hoch. »Äußerst interessant.«
Plötzlich ließ der gepflegte Mann das Telefon vom Kinn gleiten und fing es mit der Hand geschickt auf. Der Liegelümmelstuhl drehte sich quietschend, so dass der Mann seinen fünf Besuchern frontal gegenüber saß.
»Entschuldigen Sie«, sagte er und legte das Telefon auf den Tisch. »Ein wichtiges Gespräch.«
Alle nickten verständnisvoll. Jennerwein ging auf den Mann zu und schüttelte ihm über das Mahagoni hinweg die Hand.
»Aber setzen Sie sich doch bitte, meine Herrschaften«, sagte Dr. Rosenberger. »Kaffee? Tee? Wein? Bier?«
»Ein Kaviarbrötchen«, scherzte Maria. Der gepflegte Mann war Polizeioberrat Dr. Rosenberger, der Vorgesetzte von Kommissar Jennerwein. Er lachte höflich und verschränkte seine Hände auf der Platte des Edelholzschreibtischs. Alle starrten auf die Intarsien, mit denen der Tisch an der Vorderseite verziert war. Eine exzentrische Weise, sich Distanz zu verschaffen, dachte Jennerwein. Infantile Fixierung auf Reviermarkierung, Angst vor Machtverlust, dachte Maria. Ein wunderbares Holz, um viele, viele verwertbare Spuren zu hinterlassen, dachte Becker. G'spinnerter Hirni, dachte Stengele, der hockt wahrscheinlich den ganzen Tag hinter diesem toten Holzklotz und weiß dabei gar nicht mehr, wie man Handschellen anlegt. Nicole Schwattke machte sich als Einzige keine Gedanken über den Tisch. Sie starrte in eine andere Ecke des Raums.
»Das sieht aber gar nicht gut aus für Schwarz«, sagte sie.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Jörg Maurer
Jörg Maurer liebt es, seine Leserinnen und Leser zu überraschen. Er führt sie auf anspielungsreiche Entdeckungsreisen und verstößt dabei genussvoll gegen die üblichen erzählerischen Regeln. In seinen Romanen machen hintergründiger Witz und unerwartete Wendungen die Musik zur Spannungshandlung.All dies hat Jörg Maurer auch schon auf der Bühne unter Beweis gestellt. Als Kabarettist feierte er mit seinen musikalisch-parodistischen Programmen große Erfolge und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine inzwischen fünfzehn Jennerwein-Romane sind allesamt Bestseller. Sein Roman »Shorty« war ebenfalls erfolgreich.Jörg Maurer lebt zwischen Buchdeckeln, auf Kinositzen und in Theaterrängen, überwiegend in Süddeutschland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jörg Maurer
- 2012, 7. Aufl., 400 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596188954
- ISBN-13: 9783596188956
- Erscheinungsdatum: 21.02.2012
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