Operation Amazonas
Roman
Ein Mann stolpert schwerverletzt aus dem Dschungel in ein Amazonasdorf und stirbt. Er wird als CIA-Agent identifiziert, der einem Team angehörte, das vor Jahren verscholl. Die CIA macht eine verstörende Entdeckung: der Agent war ein einarmiger Mann, die Leiche jedoch hat beide Arme ...
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Produktinformationen zu „Operation Amazonas “
Ein Mann stolpert schwerverletzt aus dem Dschungel in ein Amazonasdorf und stirbt. Er wird als CIA-Agent identifiziert, der einem Team angehörte, das vor Jahren verscholl. Die CIA macht eine verstörende Entdeckung: der Agent war ein einarmiger Mann, die Leiche jedoch hat beide Arme ...
Klappentext zu „Operation Amazonas “
Eine tödliche Expedition in die grüne Hölle ...Aus dem Dschungel stolpert ein Mann in ein Amazonas-Dorf - sein Körper ist von Wunden übersät, aus seinen Augen spricht blanker Horror und innerhalb weniger Stunden ist er tot. Der Mann wird zweifelsfrei als CIA-Agent Gerald Clark identifiziert, Mitglied einer vor Jahren verschollenen Expedition. Doch im CIA-Hauptquartier entdeckt man ein verstörendes Detail: Der Agent war einarmig - die Leiche auf dem Foto hat jedoch zwei Arme. Was ist mit dem Mann passiert? Ein Team aus Wissenschaftlern und Elitekämpfern soll es herausfinden. Sie ahnen nicht, was sie im brasilianischen Dschungel erwartet ...
Lese-Probe zu „Operation Amazonas “
Operation Amazonas von James RollinsPROLOG
25. Juli, 6.24 Uhr
In einem Missionsdorf
Amazonasgebiet, Brasilien
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PADRE GARCIA LUIZ Batista mühte sich gerade mit seiner Hacke ab, um den Missionsgarten vom Unkraut zu befreien, als der Fremde aus dem Dschungel hervorgetaumelt kam. Der Mann war lediglich mit einer zerrissenen schwarzen Jeans bekleidet. Barbrüstig und unbeschuht fiel er inmitten der sprießenden Kassavesträucher auf die Knie nieder. Seine zu einem tiefen Mokkaton verbrannte Haut war mit blauen und scharlachroten Tätowierungen bedeckt.
Padre Batista, der den Burschen irrtümlich für einen Yanomami- Indianer hielt, schob den breitkrempigen Strohhut zurück und begrüßte den Mann in der Sprache der Indianer. »Eou, shori«, sagte er. »Willkommen, Freund, in der Mission Wauwai.«
Als der Fremde das Gesicht hob, bemerkte Garcia seinen Irrtum. Die Augen des Mannes waren tiefblau, eine Farbe, die bei den Eingeborenenstämmen nicht vorkam. Außerdem hatte er einen dunklen Stoppelbart.
Offenbar hatte er keinen Indianer, sondern einen Weißen vor sich.
»Bem-vindo«, sagte er auf Portugiesisch, in der Annahme, dies sei einer der allgegenwärtigen Bauern aus einer der Küsten städte, die in den Regenwald hinauszogen, sich dort einen Claim absteckten und ihr Glück zu machen suchten. »Sei willkommen, mein Freund.«
Der arme Kerl hatte offenbar eine ganze Weile im Dschungel verbracht. Die Haut spannte sich über den Knochen, jede einzelne Rippe trat hervor. Das schwarze Haar war verfilzt, am ganzen Leib hatte er Schrammen und nässende Wunden. Fliegenschwärme umschwirrten ihn und nährten sich von den Wunden.
Als der Fremde zu sprechen versuchte, rissen seine ausgetrockneten Lippen, und Blut tropfte ihm aufs Kinn. Er kroch auf Garcia zu und reckte flehentlich den Arm. Aus seinem Mund kamen jedoch nur tierhafte, unverständliche Laute.
Garcia wäre beinahe vor ihm zurückgeschreckt, doch das ließ seine Berufung nicht zu. Der barmherzige Samariter verweigerte sich nicht dem verirrten Wanderer. Er bückte sich und half dem Mann auf die Beine. Der Fremde war völlig ausgehungert, sein Gewicht kaum zu spüren. Durch sein Hemd hindurch spürte der Padre die Fieberhitze, die von ihm ausging.
»Komm, lass uns in den Schatten gehen.« Garcia geleitete den Mann zur Missionskirche, deren weiß getünchter Kirchturm in den blauen Himmel ragte. Hinter dem Gebäude waren auf dem gerodeten Dschungelgelände palmgedeckte Hütten und einige aus Holz erbaute Gebäude verteilt.
Die Mission Wauwai war erst vor fünf Jahren gegründet worden, doch mittlerweile zählte das Dorf fast achtzig Bewohner, die verschiedenen Eingeborenenstämmen angehörten. Einige der Behausungen standen auf Stelzen, was typisch war für die Apalai-Indianer, während in den Hütten, die allein aus Palmwedeln errichtet waren, Wauwai und Tiriós wohnten. Die meisten Bewohner der Mission aber waren Yanomami, zu erkennen an dem großen, gemeinschaftlich genutzten Rundhaus.
Garcia winkte mit dem freien Arm einen der Yanomami-Indianer vom Garten heran, einen Burschen namens Henaowe. Der kleine Indianer, der Gehilfe des Padres, trug Shorts und ein geknöpftes langärmliges Hemd. Er kam herbeigeeilt.
»Hilf mir, den Mann ins Haus zu bringen.«
Henaowe nickte eifrig. Mit dem fiebernden Fremden in der Mitte traten sie durchs Gartentor, gingen um die Kirche herum und näherten sich dem mit Schindeln verkleideten Gebäude, das aus der Südfassade der Kirche vorsprang. Das Haus des Missionars war als einziges mit einem Gasgenerator ausgestattet. Der Generator lieferte Strom für die Kirchenbeleuchtung, einen Kühlschrank und die einzige Klimaanlage des Dorfes. Bisweilen fragte sich Garcia, ob er den Erfolg seiner Mission nicht eher dem Wunder der kühlen Kirche zu verdanken hatte als dem aufrichtigen Glauben an die Erlösung durch Jesus Christus.
Am Haus angelangt, beugte Henaowe sich vor und riss die Hintertür auf. Sie bugsierten den Fremden durchs Esszimmer in ein Hinterzimmer. Hier wohnte einer der Novizen, doch im Moment hielt sich niemand darin auf. Vor zwei Tagen waren die jüngeren Missionare alle zu einem Nachbardorf abgereist, um dort zu predigen. Der kleine Raum war kaum mehr als eine düstere Zelle, aber immerhin kühl und vor der Sonne geschützt.
Garcia bedeutete Henaowe mit einem Kopfnicken, die Laterne anzuzünden. Sie hatten darauf verzichtet, die kleineren Räume mit Elektrizität auszustatten. Kakerlaken und Spinnen flüchteten aus der Helligkeit.
Mit vereinten Kräften legten sie den Mann aufs schmale Bett. »Hilf mir, ihn auszuziehen. Ich muss seine Wunden säubern und verbinden.«
Henaowe nickte und machte Anstalten, dem Mann die Hose aufzuknöpfen, da erstarrte er. Mit einem gedämpften Ausruf des Erschreckens wich der Indianer so ungestüm zurück, als sei er von einem Skorpion gebissen worden.
»Weti kete?«, fragte Garcia. »Was hast du?«
Henaowes Augen waren vor Entsetzen geweitet. Er zeigte auf die nackte Brust des Fremden und sagte etwas in der Eingeborenensprache.
Garcia legte die Stirn in Falten. »Was ist mit der Tätowierung? « Sie bestand überwiegend aus blauen und roten geometrischen Formen; aus roten Kreisen, schwungvollen Schnörkeln und spitzen Dreiecken. Von der Mitte ging eine rote Spirale aus, wie Blut, das kreiselnd in einem Abfluss verschwand. Im Zentrum der Spirale, unmittelbar über dem Nabel, prangte ein einzelner blauer Handabdruck.
»Shawara!«, rief Henaowe aus und wich zur Tür zurück.
Böse Geister.
Garcia blickte seinen Gehilfen an. Eigentlich hatte er geglaubt, der Indianer habe den Aberglauben überwunden. »Es reicht«, sagte er barsch. »Das ist doch bloß Farbe und kein Teufelswerk. Und jetzt hilf mir.«
Henaowe schüttelte sich und wollte nicht näher kommen. Als der Mann aufstöhnte, wandte sich Garcia wieder seinem Patienten zu. Dessen Augen waren glasig vom Fieber. Er zerrte kraftlos am Laken. Garcia legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie glühte. Er wandte sich zu Henaowe um. »Dann hol wenigstens den Verbandskasten und das Penicillin aus dem Kühlschrank.«
Erleichtert rannte der Indianer hinaus.
0 Garcia seufzte. Da er bereits seit zehn Jahren im Regenwald des Amazonas lebte, hatte er sich notgedrungen gewisse medizinische Fertigkeiten angeeignet; Knochenbrüche schienen, Wunden säubern und mit Heilsalben behandeln, Fiebersenken. Er konnte sogar einfache Operationen durchführen, Wunden vernähen und bei schwierigen Geburten helfen. Als Padre der Mission war er nicht nur für das Seelenheil seiner Schäfchen verantwortlich, sondern war auch ihr Ratgeber, Häuptling und Arzt.
Garcia zog dem Mann die verschmutzte Kleidung aus und legte sie beiseite. Als der Fremde nackt vor ihm lag, sah er, wie übel ihm der unerbittliche Dschungel mitgespielt hatte. In den tiefen Wunden wanden sich Maden. Schuppender Pilzbefall hatte die Zehennägel weggefressen, und die Narbe an der Ferse stammte offenbar von einem Schlangenbiss.
Während er die Wunden versorgte, fragte sich der Padre, wer der Mann wohl war. Was hatte er erlebt? Doch auf alle Versuche, mit dem Mann zu reden, antwortete dieser nur mit unverständlichem Gebrabbel.
Viele Bauern, die im Dschungel ihr Auskommen zu finden suchten, fielen Indianern, Räubern, Drogenhändlern oder schlicht Raubtieren zum Opfer. Die häufigste Todesursache unter den Siedlern aber waren Krankheiten. In der abgelegenen Wildnis des Regenwaldes war der nächste Arzt oft erst nach wochenlanger Reise zu erreichen. Da konnte eine simple Grippe schon tödlich sein.
Das Scharren von Füßen auf dem Holzboden lenkte Garcias Aufmerksamkeit wieder zur Tür. Henaowe war mit dem Verbandskasten und einem Eimer mit sauberem Wasser zurückgekehrt. Doch er war nicht allein. Kamala war bei ihm, ein kleiner, weißhaariger Shapori, der Schamane des Stammes. Henaowe hatte den alten Medizinmann offenbar zu Hilfe geholt.
»Haya«, begrüßte ihn Garcia. »Großvater.« Dies war die typische Begrüßung für einen Stammesältesten der Yanomami.
Kamala schwieg. Er schritt einfach ins Zimmer und trat ans Bett. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den Fremden. Er wandte sich Henaowe zu und bedeutete dem Indianer, den Eimer und den Verbandskasten abzusetzen. Dann streckte der Schamane die Arme über dem Kranken aus und begann zu singen. Obwohl Garcia zahlreiche Eingeborenendialekte beherrschte, verstand er kein einziges Wort.
Als er fertig war, wandte Kamala sich an den Padre und sagte in fließendem Portugiesisch: »Der Nabe wurde von den Shawara berührt, den gefährlichen Geistern des Urwalds. Er wird noch heute Nacht sterben. Sein Leichnam muss vor Sonnenaufgang verbrannt werden.« Damit wandte Kamala sich zum Gehen.
»Warte! Sag mir, was die Symbole bedeuten.«
Kamala drehte sich widerwillig um und sagte: »Das ist das Zeichen des Ban-ali-Stammes. Blutjaguare. Er ist einer der ihren. Einem Ban-yi, einem Diener des Jaguars, darf niemand helfen, sonst muss er sterben.« Der Schamane pustete sich zur Abwehr böser Geister auf die Fingerspitzen, dann ging er mit Henaowe hinaus.
Als Garcia in dem düsteren Raum mit dem Fremden allein war, verspürte er einen kühlen Luftzug, der nicht von der Klimaanlage kam. Er vernahm das Gewisper der Ban-ali, eines der sagenumwobenen Geisterstämme des Regenwaldes. Ein furchterregendes Volk, das sich angeblich mit Jaguaren paarte und über unaussprechliche Gaben verfügte.
Garcia küsste das Kruzifix und schob die abergläubischen Gedanken beiseite. Er tauchte einen Schwamm ins lauwarme Wasser und drückte ihn dem Kranken an die Lippen.
»Trink«, flüsterte er. Im Urwald entschied vor allem Wasserentzug über Leben und Tod. Er drückte den Schwamm aus und ließ das Wasser auf die geplatzten Lippen des Mannes tropfen.
Der Fremde reagierte wie ein Säugling, der an der Mutterbrust saugt. Er schlürfte das Getröpfel auf und hätte sich dabei beinahe verschluckt. Garcia hob seinen Kopf an, damit er leichter trinken konnte. Nach einer Weile wurden die Augen des Mannes ein wenig klarer. Er tastete nach dem Schwamm, plötzlich gierig auf das Leben spendende Wasser, doch Garcia entzog ihm seine Hand. Bei schwerem Wasserentzug musste man mit dem Trinken vorsichtig sein.
»Ruhen Sie sich aus, Señor«, sagte er in eindringlichem Ton. »Lassen Sie mich die Wunden säubern, dann gebe ich Ihnen ein Antibiotikum.«
Der Mann machte nicht den Eindruck, als habe er ihn verstanden. Er versuchte sich aufzusetzen, streckte die Hand nach dem Schwamm aus und stieß ein unheimliches Geheul aus. Als Garcia ihn aufs Kissen niederdrückte, schnappte er nach Luft, und jetzt auf einmal begriff der Padre, weshalb der Mann nicht sprechen konnte.
Er hatte keine Zunge mehr. Man hatte sie herausgeschnitten.
Mit verkniffener Miene zog Garcia Ampillicin auf eine Spritze und betete im Stillen für die Seelen der Monster, die imstande waren, einem Menschen so etwas anzutun. Das Verfallsdatum des Medikaments war längst abgelaufen, doch daran war nichts zu ändern. Er injizierte dem Mann das Antibiotikum in die linke Hinterbacke, dann machte er sich mit Schwamm und Salbe über die Wunden her.
Der Fremde versank immer wieder im Delirium. Jedes Mal, wenn er bei Bewusstsein war, streckte er unbewusst die Hände nach seinen auf einem Haufen liegenden Kleidern aus, als wollte er sich wieder anziehen und seinen Dschungeltreck fortsetzen. Garcia drückte ihn jedes Mal aufs Bett zurück und deckte ihn wieder zu.
Als die Sonne unterging und die Nacht über den Dschungel hereinbrach, setzte sich Garcia mit der Bibel in der Hand neben das Bett und betete für den Fremden. Insgeheim aber wusste der Padre, dass seine Gebete unerhört bleiben würden. Kamala, der Schamane, hatte die Lage richtig eingeschätzt. Der Mann würde die Nacht nicht überleben.
Für den Fall, dass der Mann Christ war, hatte er ihm vor einer Stunde die Letzte Ölung gespendet. Der Mann hatte sich bewegt, als er ihm das Kreuz auf die Stirn gemalt hatte, war jedoch nicht aufgewacht. Seine Stirn war glühend heiß. Das Antibiotikum hatte gegen die Blutvergiftung nichts ausrichten können.
Überzeugt davon, dass der Mann sterben würde, setzte Garcia seine Nachtwache fort. Dies war das Letzte, was er für den armen Kerl tun konnte. Als es jedoch auf Mitternacht zuging und die Heuschrecken und Myriaden von Fröschen ihre Gesänge anstimmten, schlief Garcia im Sessel ein, die Bibel auf dem Schoß.
Stunden später erwachte er von einem erstickten Schrei. Da er glaubte, sein Patient täte seinen letzten Seufzer, richtete sich Garcia benommen auf, wobei die Bibel auf den Boden fiel. Als er sie hochheben wollte, bemerkte er, dass der Mann ihn anstarrte. Seine Augen waren glasig, doch zumindest war er bei Bewusstsein. Der Fremde deutete mit zitternder Hand auf seine Kleidungsstücke.
»Sie können nicht fort«, sagte Garcia.
Der Mann schloss einen Moment die Augen und schüttelte den Kopf, dann deutete er mit flehentlichem Blick erneut auf seine Hose.
Schließlich ließ Garcia sich erweichen. Wie konnte er ihm seinen letzten Wunsch abschlagen? Er trat ans Fußende des Bettes und reichte dem Sterbenden die zerknitterte Hose.
Der Fremde nahm sie entgegen und tastete an der Innennaht des einen Hosenbeins entlang. Schließlich hielt er inne und fingerte an einer bestimmten Stelle herum.
Mit zitternden Armen streckte er Garcia die Jeans entgegen.
Der Padre meinte, der Fremde werde wieder das Bewusstsein verlieren. Tatsächlich ging sein Atem abgehackter und rauer als zuvor. Garcia aber störte sich nicht an seinem unsinnigen Verhalten. Er nahm die Hose entgegen und befühlte die Stelle, auf die der Mann ihn hingewiesen hatte.
Zu seiner Überraschung spürte er, dass unter dem Baumwollstoff etwas Festeres verborgen war. Eine Geheimtasche.
Neugierig geworden, nahm der Padre eine Schere aus dem Verbandskasten. Der Mann sank seufzend aufs Kissen nieder, offenbar zufrieden damit, dass seine Botschaft verstanden worden war.
Garcia trennte den Faden der Naht durch und öffnete die Geheimtasche. Er zog eine kleine Bronzeplakette hervor und hielt sie in den Lampenschein. Auf der Plakette war ein Name eingraviert.
»Gerald Wallace Clark«, las er laut vor. War das der Name des Fremden? »Sind Sie das, Señor?«
Er sah zum Bett.
»O mein Gott«, murmelte der Padre.
Der Mann auf der Pritsche starrte mit leerem Blick an die Decke, den Mund hatte er geöffnet, die Brust bewegte sich nicht mehr. Der Mann, der kein namenloser Fremder mehr war, hatte sein Leben ausgehaucht.
»Ruhen Sie in Frieden, Señor Clark.«
Padre Garcia hob die Bronzeplakette erneut in den Laternenschein und drehte sie um. Als er die auf der Rückseite eingravierten Worte las, bekam er vor Schreck einen trockenen Mund.
Spezialeinsatzkräfte der U. S. Army
1. August, 10.45 Uhr
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
Der Anruf hatte George Fielding überrascht. Als stellvertretender CIA-Direktor war er schon häufig von verschiedenen Abteilungsleitern zu dringenden Sitzungen gerufen worden, doch ein Dringlichkeitsanruf von Marshall O'Brien, dem Leiter des Directorate Environmental Center, war ungewöhnlich. Das DEC war 1997 gegründet worden und befasste sich mit Umweltangelegenheiten. Während seiner bisherigen Laufbahn hatte das DEC noch nie einen Dringlichkeitsanruf getätigt, denn die waren Angelegenheiten vorbehalten, die unmittelbar die nationale Sicherheit betrafen. Was hatte den Alten Vogel - so lautete Marshall O'Briens Spitzname - wohl veranlasst, Alarm zu schlagen?
Fielding schritt eilig über den Flur, der das alte Hauptquartier mit dem neuen Trakt verband. Das neue Gebäude war Ende der Achtzigerjahre erbaut worden. Es beherbergte viele der florierenden Abteilungen des Geheimdienstes, darunter auch das DEC.
Im Gehen betrachtete er die gerahmten Gemälde an der Flurwand, eine Ahnengalerie ehemaliger CIA-Direktoren, die bis zu Major General Donovan zurückreichte, der das Office of Strategic Services geleitet hatte, das CIA-Gegenstück aus dem Zweiten Weltkrieg. Auch Fieldings eigener Boss würde irgendwann an dieser Wand hängen, und wenn George seine Karten klug ausspielte, würde vielleicht sogar er es zum Direktor bringen.
Mit diesem Gedanken beschäftigt, betrat er das Gebäude des neuen Hauptquartiers und wandte sich zu den Büros des DEC. Kaum war er durch die Tür getreten, wurde er auch schon von einer Sekretärin begrüßt.
Bei seinem Eintreten erhob sie sich. »Deputy Director, Mr. O'Brien erwartet Sie in seinem Büro.« Die Sekretärin geleitete ihn zu einer Flügeltür aus Mahagoni, klopfte flüchtig, öffnete die Tür und hielt sie ihm auf.
»Danke.«
Eine tiefe, kollernde Stimme begrüßte ihn. »Deputy Director Fielding, ich freue mich, dass Sie sich persönlich herbemüht haben.« Marshall O'Brien erhob sich. Er war ein großer Mann mit silbergrauem Haar. Der massige Chefschreibtisch wirkte klein neben ihm. »Bitte nehmen Sie Platz. Ich weiß, Ihre Zeit ist kostbar; und ich werde sie nicht übermäßig in Anspruch nehmen.«
Wie immer kommt er gleich zur Sache, dachte Fielding. Vor vier Jahren hatte man gemunkelt, Marshall O'Brien könne CIA-Direktor werden. Tatsächlich war er schon länger Deputy Director als Fielding, hatte sich jedoch wegen seiner rigiden Haltung mit zahlreichen Senatoren angelegt und mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn noch mehr Brücken hinter sich verbrannt. Auf die Art kam man in Washington nicht weiter. Folglich war O'Brien zur nominellen Gallionsfigur des Umweltzentrums herabgestuft worden. Der Dringlichkeitsanruf stellte vielleicht den Versuch des alten Mannes dar, die Bedeutung seiner Stellung zu betonen und im Spiel zu bleiben.
»Worum geht's?«, fragte Fielding, als er sich setzte.
O'Brien nahm seinerseits Platz und schlug einen grauen Aktenordner auf.
Ein Dossier, dachte Fielding.
Der alte Mann räusperte sich. »Vor zwei Tagen wurde dem Konsulat in Manaus, Brasilien, eine Leiche gemeldet. Der Verstorbene wurde anhand einer Plakette der Spezialeinsatzkräfte identifiziert, denen er früher einmal angehörte.«
Fielding runzelte die Stirn. Die Plaketten waren bei vielen militärischen Einheiten gebräuchlich. Eigentlich dienten sie eher der Traditionspflege als der Identifizierung. Ein Angehöriger dieser Einheiten, ob im aktiven Dienst oder bereits ausgeschieden, musste seinen Kameraden eine Runde spendieren, wenn er ohne die Plakette erwischt wurde. »Was geht uns das an?«
»Der Mann hat nicht nur den Spezialeinsatzkräften angehört. Agent Gerald Clark hat für mich gearbeitet.« Fielding blinzelte überrascht.
O'Brien fuhr fort. »Agent Clark hatte zusammen mit einer Forschungsgruppe den Auftrag, Beschwerden über von Goldminen verursachte Umweltschäden nachzugehen und incognito Informationen über die Verschickung bolivianischen und kolumbianischen Kokains im Amazonasbecken zu sammeln. «
Fielding straffte sich. »Und er wurde ermordet? Geht es darum?«
»Nein. Vor sechs Tagen tauchte Agent Clark in einem Missionsdorf im tiefen Dschungel auf, verletzt und mit hohem Fieber. Der Missionsleiter bemühte sich um ihn, dennoch verstarb er nach wenigen Stunden.«
»Eine Tragödie, aber weshalb sollte das die nationale Sicherheit tangieren?«
»Weil Agent Clark bereits seit vier Jahren vermisst wurde.« O'Brien reichte Fielding einen gefaxten Zeitungsartikel.
Fielding nahm das Blatt verwirrt entgegen. »Seit vier Jahren, sagten Sie?«
EXPEDITION IM AMAZONASGEBIET
VERSCHOLLEN
Associated Press
MANAUS, BRASILIEN, 20. MÄRZ - Die intensive Suche nach dem millionenschweren Industriellen Dr. Carl Rand und seinem internationalen Team von 30 Wissenschaftlern und Führern wurde nach drei Monaten eingestellt. Die Expedition, ein Gemeinschaftsunternehmen des nationalen Krebsforschungsinstituts der USA und der brasilianischen Indianerstiftung, verschwand im Regenwald, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.
Die Expedition verfolgte das Ziel, die wahre Zahl der im Amazonasgebiet heimischen Indianer zu bestimmen. Drei Monate nach dem Aufbruch aus der Dschungelstadt Manaus verstummten jedoch die täglichen Funkmeldungen. Alle Versuche, wieder Kontakt mit dem Team aufzunehmen, scheiterten. Rettungshubschrauber und Suchtrupps wurden zu dem Ort ausgesandt, an dem es sich zuletzt befunden hatte, doch es wurde niemand gefunden. Zwei Wochen später wurde eine letzte Nachricht aufgefangen: »Schickt Hilfe ... halten nicht mehr lange durch. O Gott, sie sind überall!« Dann wurde das Team vom riesigen Dschungel verschluckt.
Nach dreimonatiger Suche unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit erklärte Commander Ferdinand Gonzales, der Leiter des internationalen Suchteams, die Expeditionsteilnehmer für »vermisst und wahrscheinlich tot«. Daraufhin wurden sämtliche Suchmaßnahmen eingestellt. Die Zuständigen stimmen darin überein, dass die Expedition entweder von einem kriegerischen Stamm überwältigt wurde oder auf einen geheimen Stützpunkt von Drogenhändlern gestoßen ist. Wie dem auch sei; mit dem heutigen Tag, da die Suchtrupps zurückbeordert werden, sterben alle Hoffnungen, die Gesuchten doch noch zu finden. Zuletzt sei angemerkt, dass im Regenwald des Amazonas jedes Jahr zahlreiche Forschungsreisende, Wissenschaftler und Missionare spurlos verschwinden.
»Mein Gott.« O'Brien nahm dem verdatterten Fielding den Zeitungsartikel aus der Hand und fuhr fort: »Nach dem Verschwinden der Expedition kam kein Kontakt mehr mit dem Forschungsteam oder unserem Agenten zustande. Agent Clark wurde als verstorben geführt.«
»Können wir davon ausgehen, dass es sich wirklich um denselben Mann handelt?«
O'Brien nickte. »Gebissmerkmale und Fingerabdrücke stimmen mit denen in den Akten überein.«
Fielding schüttelte den Kopf; seine anfängliche Bestürzung verflüchtigte sich allmählich. »So tragisch der Vorfall und so lästig der dadurch entstehende Papierkram ist, begreife ich doch noch immer nicht, weshalb dies die nationale Sicherheit betreffen sollte.«
»Normalerweise würde ich Ihnen zustimmen, wenn da nicht noch eine Merkwürdigkeit wäre.« O'Brien blätterte im Dossier und zog zwei Fotos aus dem Stapel. Das erste reichte er Fielding. »Das wurde einige Tage vor dem Aufbruch der Expedition aufgenommen.«
Auf dem grobkörnigen Foto sah man einen Mann mit Levi's Jeans, Hawaiihemd und Safarihut. Der Mann grinste breit und hielt ein Glas mit einem tropischen Cocktail in der Hand. »Agent Clark?«
»Ja, das Foto wurde von einem der Wissenschaftler bei einer Abschiedsparty aufgenommen.« O'Brien reichte ihm das zweite Foto. »Und das wurde im Leichenschauhaus von Manaus aufgenommen, wo der Leichnam derzeit verwahrt wird.«
Fielding nahm das Hochglanzfoto mit einem gewissen Unbehagen entgegen. Bilder von Toten sah er sich nur ungern an, doch er hatte keine andere Wahl. Der Leichnam auf dem Foto war nackt und lag auf einem Tisch aus rostfreiem Stahl, nichts als Haut und Knochen. Der Körper war mit eigenartigen Tätowierungen bedeckt. Gleichwohl erkannte Fielding den Mann wieder. Das war tatsächlich Agent Clark - jedoch mit einem signifikanten Unterschied. Er verglich die beiden Fotos.
O'Brien hatte bemerkt, dass Fielding bleich geworden war, und ergriff das Wort. »Zwei Jahre vor seinem Verschwinden wurde Agent Clark bei einer bewaffneten Aufklärungsmission im Irak von einem Scharfschützen in den linken Arm getroffen. Bevor er den nächsten US-Stützpunkt hätte erreichen können, hatte der Wundbrand eingesetzt. Der Arm musste an der Schulter amputiert werden, womit seine Karriere bei den Spezialeinsatzkräften beendet war.«
»Aber der Leichnam hat noch beide Arme.«
»So ist es. Die Fingerabdrücke vom Arm des Leichnams entsprechen denen, die vor der Verletzung registriert wurden. Agent Clark ist offenbar einarmig in den Amazonasdschungel gezogen und mit beiden Armen zurückgekehrt.«
»Aber das ist unmöglich. Was zum Teufel ist da passiert?«
Marshall O'Brien musterte Fielding mit seinem Falkenblick; jetzt sah man, dass er den Spitznamen Alter Vogel zu Recht trug. Der alte Mann senkte die Stimme. »Genau das will ich herausfinden.«
Erster Akt
DIE MISSION
1
SCHLANGENGRUBE
6. August, 10.11 Uhr
Amazonas-Dschungel, Brasilien
DIE ANAKONDA HIELT das kleine Indianermädchen fest umklammert und zerrte es auf den Fluss zu.
Nathan Rand hatte am frühen Morgen Heilpflanzen gesucht und war gerade auf dem Rückweg zum Yanomami-Dorf, als er die Schreie hörte. Er ließ den Sammelbeutel fallen und eilte dem Mädchen zu Hilfe. Im Laufen nahm er die kurzläufige Flinte von der Schulter. Wer sich allein in den Dschungel begab, hatte stets eine Waffe dabei.
Er zwängte sich durch dichtes Laubwerk, und auf einmal sah er die Schlange und das Mädchen. Die Anakonda, eines der größten Exemplare, die er je gesehen hatte, war mindestens fünfzehn Meter lang und lag zur Hälfte im Wasser, zur Hälfte auf dem morastigen Ufer. Die schwarzen Schuppen schimmerten feucht. Offenbar hatte sie dicht unter der Wasseroberfläche gelauert, als das Mädchen Wasser holen gekommen war. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Riesenschlangen Wild auflauerten, das am Flussufer trinken wollte:
Pekaris, Wasserschweine, Rotwild aus dem Dschungel. Allerdings griffen die Schlangen nur selten Menschen an.
Während seiner zehnjährigen Tätigkeit als Ethnobotaniker im Amazonasdschungel hatte er jedoch eines gelernt: Wenn ein Tier nur hungrig genug war, galten keine Regeln mehr. Im endlosen grünen Urwald hieß es fressen oder gefressen werden.
Nathan blickte mit zusammengekniffenem Auge durch den Gewehrsucher. Er kannte das Mädchen. »Mein Gott, Tama!« Sie war die neunjährige Nichte des Häuptlings, ein stets lächelndes, freundliches Kind, das ihm bei seiner Ankunft im Dorf vor einem Monat einen Strauß Dschungelblumen überreicht hatte. Später hatte sie ihn immer wieder an den Armhärchen gezupft, die bei den glatthäutigen Yanomami eine Seltenheit waren, und ihm den Spitznamen Jako Basho gegeben, was »Bruder Affe« bedeutete.
Er biss sich vor Konzentration auf die Unterlippe und zielte. Da die Schlange das Kind mit ihrem muskulösen Leib mehrfach umschlungen hatte, konnte er keinen Schuss anbringen.
»Verdammt!« Er warf die Flinte weg, zog die Machete aus der Scheide und sprang vor - während die Schlange unvermittelt weiterkroch und das Mädchen ins schwarze Flusswasser hinabzog. Tamas Geschrei verstummte, Luftblasen verrieten, wo sie sich befand.
Ohne lange zu überlegen, sprang Nathan ihr nach.
Von allen Bereichen des Amazonasgebiets war keiner gefährlicher als die Wasserläufe. Unter der friedlichen Wasseroberfläche waren zahllose Gefahren verborgen. Gierige Piranhaschwärme jagten in der Tiefe, Stachelrochen versteckten sich im Schlamm, und im Wurzelwerk lauerten Zitteraale. Am schlimmsten aber waren die eigentlichen Menschenfresser des Flusses, die riesigen schwarzen Kaimane, die zur Familie der Alligatoren gehörten. Daher hielten sich die indianischen Ureinwohner nach Möglichkeit von unbekannten Gewässern fern.
Nathan Rand aber war kein Indianer.
Mit angehaltenem Atem suchte er im trüben Wasser und machte schließlich die Windungen der Schlange aus. Ein heller Arm winkte. Er stieß sich mit den Beinen ab und ergriff die kleine Hand. Die Fingerchen schlossen sich verzweifelt um seine Pranke.
Tama war immer noch bei Bewusstsein!
An ihrem Arm zog er sich näher an die Schlange heran. Mit der anderen Hand holte er mit der Machete aus. Er trat mit den Beinen, um nicht abzutreiben, und drückte Tamas Hand. Dann auf einmal wirbelte das Wasser durcheinander, und er blickte in die roten Augen der Riesenschlange. Sie spürte, dass man ihr die Beute streitig machte. Das schwarze Maul öffnete sich und ruckte vor.
Nate wich seitlich aus, wobei er sich bemühte, das Mädchen nicht loszulassen.
Die Kiefer der Anakonda packten seinen Arm wie ein Schraubstock. Das Tier war zwar ungiftig, jedoch so kräftig, dass Nates Handgelenk zu brechen drohte. Ohne den Schmerz und seine wachsende Panik zu beachten, schwenkte er den anderen Arm vor und zielte mit der Machete auf die Augen des Tieres.
Im letzten Moment wälzte sich die Anakonda herum und schleuderte Nate auf den schlammigen Flussboden. Die Luft wurde Nate aus der Lunge gepresst, als ihn zweihundert Kilo geschuppte Muskeln niederdrückten. Er wand sich und scharrte mit den Beinen, fand im Flussschlamm jedoch keinen Halt.
Dann entglitten die Finger des Mädchens seinem Griff.
Nein ... Tama!
Er ließ die Machete los und drückte mit beiden Händen gegen den mächtigen Schlangenleib. Seine Schultern sanken in den weichen Schlamm ein, doch er ließ nicht locker. Für jede Windung, die er beiseiteschob, tauchte eine weitere auf. Seine Armmuskeln erlahmten, und seine Lunge schrie nach Luft.
In diesem Moment wurde Nathan Rand klar, dass er verloren war - was ihn nicht sonderlich wunderte. Er hatte gewusst, dass es eines Tages geschehen würde. Das war seine Bestimmung, der Fluch, der auf seiner Familie lastete. Seine Eltern waren beide im Regenwald des Amazonas umgekommen. Während seines elften Lebensjahres war seine Mutter an einem unbekannten Dschungelfieber erkrankt und in einem kleinen Missionshospital gestorben. Vor vier Jahren war dann sein Vater einfach im Regenwald verschwunden.
Als Nate an den Schmerz dachte, den der Verlust seines Vaters bei ihm ausgelöst hatte, flammte Wut in ihm auf. Familienfluch hin oder her, er weigerte sich, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Er würde nicht zulassen, dass der Dschungel ihn verschluckte. Vor allem aber wollte er Tama nicht verlieren!
Das letzte bisschen Luft hinausschreiend, schob Nathan den gewundenen Leib der Anakonda von seinen Beinen hinunter. Von der Last befreit, schwenkte er die Beine nach unten, sank bis zu den Knöcheln im Schlamm ein und richtete sich auf. Als sein Kopf aus dem Wasser hervorstieß, füllte er die Lunge mit Luft, doch sofort wurde er am Arm ins dunkle Wasser zurückgerissen.
Diesmal versuchte er gar nicht erst, sich der Schlange zu erwehren. Das Handgelenk, das die Anakonda umklammert hielt, an die Brust gedrückt, wand er sich innerhalb der Windungen des Schlangenleibs, bis er den Hals der Schlange mit dem anderen Arm umfassen konnte. Als er das Tier fest im Griff hatte, drückte er ihm den linken Daumen ins Auge.
Die Schlange wand sich, schleuderte Nate für einen Moment aus dem Wasser, dann tauchte sie ihn wieder unter. Er ließ nicht locker.
Na los, du Biest, lass los!
Obwohl die Schlange seinen Oberkörper umklammert hielt, gelang es ihm, sich so weit zu krümmen, dass er ihr den zweiten Daumen ins andere Auge drücken konnte. Er drückte mit beiden Daumen fest zu, in der Hoffnung, dass sich seine rudimentären Kenntnisse der Reptilienphysiologie als wahr erweisen würden. Demnach löste Druck auf ein Schlangenauge über den Sehnerv einen Würgereflex aus.
Er drückte fester, während ihm der Herzschlag in den Ohren dröhnte.
Auf einmal ließ der Druck auf sein Handgelenk nach, und Nathan wurde mit solcher Gewalt fortgeschleudert, dass er halb aus dem Wasser flog und mit der Schulter aufs Ufer prallte. Als er sich herumwälzte, sah er in der Flussmitte dicht an der Wasserfläche eine helle Gestalt mit dem Gesicht nach unten im Wasser treiben.
Tama!
Wie erhofft, hatte die Schlange beide Opfer reflexartig losgelassen. Nathan watete ins Wasser, packte das Kind beim Arm und zog es zu sich her. Er legte sich die leblose Tama über die Schulter und kletterte eilig ans Ufer.
Er setzte ihren nassen Körper auf dem Boden ab. Sie atmete nicht mehr, ihre Lippen waren blau angelaufen. Er fühlte ihr den Puls. Er war noch spürbar, aber ziemlich schwach.
Unwillkürlich blickte Nathan sich nach Hilfe um. Da außer ihm niemand da war, musste er das Mädchen allein wiederbeleben. Vor Beginn seiner Dschungelexpedition hatte er eine Ausbildung in erster Hilfe und Reanimation absolviert, doch er war kein Arzt. Er kniete sich hin, wälzte Tama auf den Bauch und drückte rhythmisch auf ihren Rücken. Etwas Wasser schoss aus Nase und Mund.
Zufrieden wälzte er das Mädchen wieder herum und machte sich an die Mund-zu-Mund-Beatmung.
In diesem Moment trat eine Yanomami in mittleren Jahren aus dem Dschungel. Wie alle Indianer war sie klein, zirka eins fünfzig. Ihr schwarzes Haar war kreisförmig geschoren, die Ohrläppchen waren mit Federn und Bambusstöckchen durchbohrt. Ihre dunklen Augen weiteten sich, als sie den über das kleine Kind gebeugten Weißen sah.
Nathan wusste sehr gut, wie er auf sie wirken musste. Er richtete sich aus der Hocke auf, als Tama unvermittelt wieder zu Bewusstsein kam, einen Schwall Flusswasser aushustete, um sich schlug und zu schreien begann. Das verängstigte Kind drosch mit seinen kleinen Fäusten auf ihn ein, noch immer im Albtraum der Schlangenattacke gefangen.
»Ruhig, du bist in Sicherheit«, sagte er in der Yanomami- Sprache und versuchte ihre Hände zu packen. Er wandte den Kopf zur Frau um und wollte ihr alles erklären, doch die kleine Indianerin ließ den Korb fallen und verschwand im Dickicht am Flussufer, wobei sie einen Alarmruf ausstieß. Nathan kannte den Ruf. Er ertönte immer dann, wenn ein Dorfbewohner in Gefahr war.
»Na großartig.« Nathan schloss die Augen und seufzte.
Als er vor vier Wochen in der Absicht, die medizinischen Kenntnisse des alten Stammesschamanen aufzuzeichnen, in das Dorf gekommen war, hatte ihn der Häuptling gebeten, sich von den Frauen fernzuhalten. In der Vergangenheit war es mehrfach vorgekommen, dass Fremde Indianerfrauen missbraucht hatten. Nathan war der Bitte nachgekommen, obwohl einige Frauen liebend gern zu ihm in die Hängematte geklettert wären. Einen Mann von eins achtzig, mit blauen Augen und sandfarbenem Haar, hatten die Frauen dieses abgeschiedenen Stammes noch nicht gesehen.
In der Ferne wurde der Hilferuf der flüchtenden Frau von anderen, von vielen anderen Stimmen beantwortet. Der Name Yanomami bedeutete in etwa »das wilde Volk«. Die Yanomami- Stämme standen in dem Ruf, grausame Krieger zu sein. Die Huyas, die jungen Männer des Dorfes, fanden stets eine Ehrverletzung, einen Besitzanspruch oder einen Fluch als Vorwand, um mit einem Nachbarstamm oder einem Angehörigen des eigenen Stammes Streit anzufangen. Sie waren dafür berüchtigt, ganze Dörfer auszulöschen, bloß weil man sie beschimpft hatte.
Nathan blickte dem jungen Mädchen ins Gesicht. Was würden die Huyas wohl davon halten? Von einem Weißen, der über eines ihrer Kinder herfiel, noch dazu die Nichte des Häuptlings?
Tama hatte ihren Anfall erst einmal überwunden und abermals das Bewusstsein verloren. Sie atmete wieder regelmäßig, doch als er ihre Stirn berührte, spürte er, dass sie fieberte. Außerdem machte er an ihrer rechten Seite eine sich allmählich blau färbende Quetschung aus. Er tastete sie ab - in der Umarmung der Anakonda hatte sie sich zwei Rippen gebrochen. Er hockte sich auf die Fersen, biss sich auf die Lippen. Sie musste sofort ärztlich versorgt werden, sonst war ihr Leben in Gefahr.
Er bückte sich und hob sie behutsam hoch. Das nächste Hospital lag zehn Meilen flussabwärts in dem kleinen Städtchen São Gabriel. Er musste sie schnellstens dorthin schaffen.
Doch gab es ein Problem - die Yanomami. Zusammen mit dem Mädchen würde er es nicht schaffen, vor ihnen zu flüchten. Dies war Indianergebiet, und obwohl er sich recht gut auskannte, war er doch kein Eingeborener. Im Amazonasgebiet gab es ein Sprichwort: Na boesi, ingi sabe ala sani. Im Dschungel weiß der Indianer alles. Die Yanomami waren hervorragende Jäger, geschickt im Umgang mit Bogen, Blasrohr, Speer und Knüppel.
Es gab keinen Ausweg.
Er hob die Flinte auf, die er zuvor weggeworfen hatte, und legte sich den Riemen um die Schulter. Mit dem Mädchen auf den Armen wandte er sich zum Dorf. Um seiner selbst und um Tamas willen musste er die Indianer dazu bringen, ihn anzuhören.
Im Dorf, das er seit einem Monat sein Zuhause nannte, herrschte Totenstille. Nathan zuckte im Gehen zusammen. Selbst das ständige Vogelgezwitscher und das Jagdgeschrei der Affen waren verstummt.
Mit angehaltenem Atem bog er um eine Biegung und sah sich unvermittelt einer Reihe von Indianern gegenüber, die ihm mit angelegten Pfeilen und erhobenen Speeren den Weg verstellten. Hinter seinem Rücken spürte er eine Bewegung. Als er sich umsah, bemerkte er weitere Indianer mit rot bemalten Gesichtern, die hinter ihm Aufstellung genommen hatten.
Wenn Nate dem Mädchen und sich selbst das Leben retten wollte, musste er etwas tun, das ihm zuwider war, doch er hatte keine andere Wahl.
»Nabrushi yi yi!«, rief er mit lauter Stimme. »Ich bestehe auf einem Zweikampf!«
Übersetzung: Norbert Stöbe
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
PADRE GARCIA LUIZ Batista mühte sich gerade mit seiner Hacke ab, um den Missionsgarten vom Unkraut zu befreien, als der Fremde aus dem Dschungel hervorgetaumelt kam. Der Mann war lediglich mit einer zerrissenen schwarzen Jeans bekleidet. Barbrüstig und unbeschuht fiel er inmitten der sprießenden Kassavesträucher auf die Knie nieder. Seine zu einem tiefen Mokkaton verbrannte Haut war mit blauen und scharlachroten Tätowierungen bedeckt.
Padre Batista, der den Burschen irrtümlich für einen Yanomami- Indianer hielt, schob den breitkrempigen Strohhut zurück und begrüßte den Mann in der Sprache der Indianer. »Eou, shori«, sagte er. »Willkommen, Freund, in der Mission Wauwai.«
Als der Fremde das Gesicht hob, bemerkte Garcia seinen Irrtum. Die Augen des Mannes waren tiefblau, eine Farbe, die bei den Eingeborenenstämmen nicht vorkam. Außerdem hatte er einen dunklen Stoppelbart.
Offenbar hatte er keinen Indianer, sondern einen Weißen vor sich.
»Bem-vindo«, sagte er auf Portugiesisch, in der Annahme, dies sei einer der allgegenwärtigen Bauern aus einer der Küsten städte, die in den Regenwald hinauszogen, sich dort einen Claim absteckten und ihr Glück zu machen suchten. »Sei willkommen, mein Freund.«
Der arme Kerl hatte offenbar eine ganze Weile im Dschungel verbracht. Die Haut spannte sich über den Knochen, jede einzelne Rippe trat hervor. Das schwarze Haar war verfilzt, am ganzen Leib hatte er Schrammen und nässende Wunden. Fliegenschwärme umschwirrten ihn und nährten sich von den Wunden.
Als der Fremde zu sprechen versuchte, rissen seine ausgetrockneten Lippen, und Blut tropfte ihm aufs Kinn. Er kroch auf Garcia zu und reckte flehentlich den Arm. Aus seinem Mund kamen jedoch nur tierhafte, unverständliche Laute.
Garcia wäre beinahe vor ihm zurückgeschreckt, doch das ließ seine Berufung nicht zu. Der barmherzige Samariter verweigerte sich nicht dem verirrten Wanderer. Er bückte sich und half dem Mann auf die Beine. Der Fremde war völlig ausgehungert, sein Gewicht kaum zu spüren. Durch sein Hemd hindurch spürte der Padre die Fieberhitze, die von ihm ausging.
»Komm, lass uns in den Schatten gehen.« Garcia geleitete den Mann zur Missionskirche, deren weiß getünchter Kirchturm in den blauen Himmel ragte. Hinter dem Gebäude waren auf dem gerodeten Dschungelgelände palmgedeckte Hütten und einige aus Holz erbaute Gebäude verteilt.
Die Mission Wauwai war erst vor fünf Jahren gegründet worden, doch mittlerweile zählte das Dorf fast achtzig Bewohner, die verschiedenen Eingeborenenstämmen angehörten. Einige der Behausungen standen auf Stelzen, was typisch war für die Apalai-Indianer, während in den Hütten, die allein aus Palmwedeln errichtet waren, Wauwai und Tiriós wohnten. Die meisten Bewohner der Mission aber waren Yanomami, zu erkennen an dem großen, gemeinschaftlich genutzten Rundhaus.
Garcia winkte mit dem freien Arm einen der Yanomami-Indianer vom Garten heran, einen Burschen namens Henaowe. Der kleine Indianer, der Gehilfe des Padres, trug Shorts und ein geknöpftes langärmliges Hemd. Er kam herbeigeeilt.
»Hilf mir, den Mann ins Haus zu bringen.«
Henaowe nickte eifrig. Mit dem fiebernden Fremden in der Mitte traten sie durchs Gartentor, gingen um die Kirche herum und näherten sich dem mit Schindeln verkleideten Gebäude, das aus der Südfassade der Kirche vorsprang. Das Haus des Missionars war als einziges mit einem Gasgenerator ausgestattet. Der Generator lieferte Strom für die Kirchenbeleuchtung, einen Kühlschrank und die einzige Klimaanlage des Dorfes. Bisweilen fragte sich Garcia, ob er den Erfolg seiner Mission nicht eher dem Wunder der kühlen Kirche zu verdanken hatte als dem aufrichtigen Glauben an die Erlösung durch Jesus Christus.
Am Haus angelangt, beugte Henaowe sich vor und riss die Hintertür auf. Sie bugsierten den Fremden durchs Esszimmer in ein Hinterzimmer. Hier wohnte einer der Novizen, doch im Moment hielt sich niemand darin auf. Vor zwei Tagen waren die jüngeren Missionare alle zu einem Nachbardorf abgereist, um dort zu predigen. Der kleine Raum war kaum mehr als eine düstere Zelle, aber immerhin kühl und vor der Sonne geschützt.
Garcia bedeutete Henaowe mit einem Kopfnicken, die Laterne anzuzünden. Sie hatten darauf verzichtet, die kleineren Räume mit Elektrizität auszustatten. Kakerlaken und Spinnen flüchteten aus der Helligkeit.
Mit vereinten Kräften legten sie den Mann aufs schmale Bett. »Hilf mir, ihn auszuziehen. Ich muss seine Wunden säubern und verbinden.«
Henaowe nickte und machte Anstalten, dem Mann die Hose aufzuknöpfen, da erstarrte er. Mit einem gedämpften Ausruf des Erschreckens wich der Indianer so ungestüm zurück, als sei er von einem Skorpion gebissen worden.
»Weti kete?«, fragte Garcia. »Was hast du?«
Henaowes Augen waren vor Entsetzen geweitet. Er zeigte auf die nackte Brust des Fremden und sagte etwas in der Eingeborenensprache.
Garcia legte die Stirn in Falten. »Was ist mit der Tätowierung? « Sie bestand überwiegend aus blauen und roten geometrischen Formen; aus roten Kreisen, schwungvollen Schnörkeln und spitzen Dreiecken. Von der Mitte ging eine rote Spirale aus, wie Blut, das kreiselnd in einem Abfluss verschwand. Im Zentrum der Spirale, unmittelbar über dem Nabel, prangte ein einzelner blauer Handabdruck.
»Shawara!«, rief Henaowe aus und wich zur Tür zurück.
Böse Geister.
Garcia blickte seinen Gehilfen an. Eigentlich hatte er geglaubt, der Indianer habe den Aberglauben überwunden. »Es reicht«, sagte er barsch. »Das ist doch bloß Farbe und kein Teufelswerk. Und jetzt hilf mir.«
Henaowe schüttelte sich und wollte nicht näher kommen. Als der Mann aufstöhnte, wandte sich Garcia wieder seinem Patienten zu. Dessen Augen waren glasig vom Fieber. Er zerrte kraftlos am Laken. Garcia legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie glühte. Er wandte sich zu Henaowe um. »Dann hol wenigstens den Verbandskasten und das Penicillin aus dem Kühlschrank.«
Erleichtert rannte der Indianer hinaus.
0 Garcia seufzte. Da er bereits seit zehn Jahren im Regenwald des Amazonas lebte, hatte er sich notgedrungen gewisse medizinische Fertigkeiten angeeignet; Knochenbrüche schienen, Wunden säubern und mit Heilsalben behandeln, Fiebersenken. Er konnte sogar einfache Operationen durchführen, Wunden vernähen und bei schwierigen Geburten helfen. Als Padre der Mission war er nicht nur für das Seelenheil seiner Schäfchen verantwortlich, sondern war auch ihr Ratgeber, Häuptling und Arzt.
Garcia zog dem Mann die verschmutzte Kleidung aus und legte sie beiseite. Als der Fremde nackt vor ihm lag, sah er, wie übel ihm der unerbittliche Dschungel mitgespielt hatte. In den tiefen Wunden wanden sich Maden. Schuppender Pilzbefall hatte die Zehennägel weggefressen, und die Narbe an der Ferse stammte offenbar von einem Schlangenbiss.
Während er die Wunden versorgte, fragte sich der Padre, wer der Mann wohl war. Was hatte er erlebt? Doch auf alle Versuche, mit dem Mann zu reden, antwortete dieser nur mit unverständlichem Gebrabbel.
Viele Bauern, die im Dschungel ihr Auskommen zu finden suchten, fielen Indianern, Räubern, Drogenhändlern oder schlicht Raubtieren zum Opfer. Die häufigste Todesursache unter den Siedlern aber waren Krankheiten. In der abgelegenen Wildnis des Regenwaldes war der nächste Arzt oft erst nach wochenlanger Reise zu erreichen. Da konnte eine simple Grippe schon tödlich sein.
Das Scharren von Füßen auf dem Holzboden lenkte Garcias Aufmerksamkeit wieder zur Tür. Henaowe war mit dem Verbandskasten und einem Eimer mit sauberem Wasser zurückgekehrt. Doch er war nicht allein. Kamala war bei ihm, ein kleiner, weißhaariger Shapori, der Schamane des Stammes. Henaowe hatte den alten Medizinmann offenbar zu Hilfe geholt.
»Haya«, begrüßte ihn Garcia. »Großvater.« Dies war die typische Begrüßung für einen Stammesältesten der Yanomami.
Kamala schwieg. Er schritt einfach ins Zimmer und trat ans Bett. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den Fremden. Er wandte sich Henaowe zu und bedeutete dem Indianer, den Eimer und den Verbandskasten abzusetzen. Dann streckte der Schamane die Arme über dem Kranken aus und begann zu singen. Obwohl Garcia zahlreiche Eingeborenendialekte beherrschte, verstand er kein einziges Wort.
Als er fertig war, wandte Kamala sich an den Padre und sagte in fließendem Portugiesisch: »Der Nabe wurde von den Shawara berührt, den gefährlichen Geistern des Urwalds. Er wird noch heute Nacht sterben. Sein Leichnam muss vor Sonnenaufgang verbrannt werden.« Damit wandte Kamala sich zum Gehen.
»Warte! Sag mir, was die Symbole bedeuten.«
Kamala drehte sich widerwillig um und sagte: »Das ist das Zeichen des Ban-ali-Stammes. Blutjaguare. Er ist einer der ihren. Einem Ban-yi, einem Diener des Jaguars, darf niemand helfen, sonst muss er sterben.« Der Schamane pustete sich zur Abwehr böser Geister auf die Fingerspitzen, dann ging er mit Henaowe hinaus.
Als Garcia in dem düsteren Raum mit dem Fremden allein war, verspürte er einen kühlen Luftzug, der nicht von der Klimaanlage kam. Er vernahm das Gewisper der Ban-ali, eines der sagenumwobenen Geisterstämme des Regenwaldes. Ein furchterregendes Volk, das sich angeblich mit Jaguaren paarte und über unaussprechliche Gaben verfügte.
Garcia küsste das Kruzifix und schob die abergläubischen Gedanken beiseite. Er tauchte einen Schwamm ins lauwarme Wasser und drückte ihn dem Kranken an die Lippen.
»Trink«, flüsterte er. Im Urwald entschied vor allem Wasserentzug über Leben und Tod. Er drückte den Schwamm aus und ließ das Wasser auf die geplatzten Lippen des Mannes tropfen.
Der Fremde reagierte wie ein Säugling, der an der Mutterbrust saugt. Er schlürfte das Getröpfel auf und hätte sich dabei beinahe verschluckt. Garcia hob seinen Kopf an, damit er leichter trinken konnte. Nach einer Weile wurden die Augen des Mannes ein wenig klarer. Er tastete nach dem Schwamm, plötzlich gierig auf das Leben spendende Wasser, doch Garcia entzog ihm seine Hand. Bei schwerem Wasserentzug musste man mit dem Trinken vorsichtig sein.
»Ruhen Sie sich aus, Señor«, sagte er in eindringlichem Ton. »Lassen Sie mich die Wunden säubern, dann gebe ich Ihnen ein Antibiotikum.«
Der Mann machte nicht den Eindruck, als habe er ihn verstanden. Er versuchte sich aufzusetzen, streckte die Hand nach dem Schwamm aus und stieß ein unheimliches Geheul aus. Als Garcia ihn aufs Kissen niederdrückte, schnappte er nach Luft, und jetzt auf einmal begriff der Padre, weshalb der Mann nicht sprechen konnte.
Er hatte keine Zunge mehr. Man hatte sie herausgeschnitten.
Mit verkniffener Miene zog Garcia Ampillicin auf eine Spritze und betete im Stillen für die Seelen der Monster, die imstande waren, einem Menschen so etwas anzutun. Das Verfallsdatum des Medikaments war längst abgelaufen, doch daran war nichts zu ändern. Er injizierte dem Mann das Antibiotikum in die linke Hinterbacke, dann machte er sich mit Schwamm und Salbe über die Wunden her.
Der Fremde versank immer wieder im Delirium. Jedes Mal, wenn er bei Bewusstsein war, streckte er unbewusst die Hände nach seinen auf einem Haufen liegenden Kleidern aus, als wollte er sich wieder anziehen und seinen Dschungeltreck fortsetzen. Garcia drückte ihn jedes Mal aufs Bett zurück und deckte ihn wieder zu.
Als die Sonne unterging und die Nacht über den Dschungel hereinbrach, setzte sich Garcia mit der Bibel in der Hand neben das Bett und betete für den Fremden. Insgeheim aber wusste der Padre, dass seine Gebete unerhört bleiben würden. Kamala, der Schamane, hatte die Lage richtig eingeschätzt. Der Mann würde die Nacht nicht überleben.
Für den Fall, dass der Mann Christ war, hatte er ihm vor einer Stunde die Letzte Ölung gespendet. Der Mann hatte sich bewegt, als er ihm das Kreuz auf die Stirn gemalt hatte, war jedoch nicht aufgewacht. Seine Stirn war glühend heiß. Das Antibiotikum hatte gegen die Blutvergiftung nichts ausrichten können.
Überzeugt davon, dass der Mann sterben würde, setzte Garcia seine Nachtwache fort. Dies war das Letzte, was er für den armen Kerl tun konnte. Als es jedoch auf Mitternacht zuging und die Heuschrecken und Myriaden von Fröschen ihre Gesänge anstimmten, schlief Garcia im Sessel ein, die Bibel auf dem Schoß.
Stunden später erwachte er von einem erstickten Schrei. Da er glaubte, sein Patient täte seinen letzten Seufzer, richtete sich Garcia benommen auf, wobei die Bibel auf den Boden fiel. Als er sie hochheben wollte, bemerkte er, dass der Mann ihn anstarrte. Seine Augen waren glasig, doch zumindest war er bei Bewusstsein. Der Fremde deutete mit zitternder Hand auf seine Kleidungsstücke.
»Sie können nicht fort«, sagte Garcia.
Der Mann schloss einen Moment die Augen und schüttelte den Kopf, dann deutete er mit flehentlichem Blick erneut auf seine Hose.
Schließlich ließ Garcia sich erweichen. Wie konnte er ihm seinen letzten Wunsch abschlagen? Er trat ans Fußende des Bettes und reichte dem Sterbenden die zerknitterte Hose.
Der Fremde nahm sie entgegen und tastete an der Innennaht des einen Hosenbeins entlang. Schließlich hielt er inne und fingerte an einer bestimmten Stelle herum.
Mit zitternden Armen streckte er Garcia die Jeans entgegen.
Der Padre meinte, der Fremde werde wieder das Bewusstsein verlieren. Tatsächlich ging sein Atem abgehackter und rauer als zuvor. Garcia aber störte sich nicht an seinem unsinnigen Verhalten. Er nahm die Hose entgegen und befühlte die Stelle, auf die der Mann ihn hingewiesen hatte.
Zu seiner Überraschung spürte er, dass unter dem Baumwollstoff etwas Festeres verborgen war. Eine Geheimtasche.
Neugierig geworden, nahm der Padre eine Schere aus dem Verbandskasten. Der Mann sank seufzend aufs Kissen nieder, offenbar zufrieden damit, dass seine Botschaft verstanden worden war.
Garcia trennte den Faden der Naht durch und öffnete die Geheimtasche. Er zog eine kleine Bronzeplakette hervor und hielt sie in den Lampenschein. Auf der Plakette war ein Name eingraviert.
»Gerald Wallace Clark«, las er laut vor. War das der Name des Fremden? »Sind Sie das, Señor?«
Er sah zum Bett.
»O mein Gott«, murmelte der Padre.
Der Mann auf der Pritsche starrte mit leerem Blick an die Decke, den Mund hatte er geöffnet, die Brust bewegte sich nicht mehr. Der Mann, der kein namenloser Fremder mehr war, hatte sein Leben ausgehaucht.
»Ruhen Sie in Frieden, Señor Clark.«
Padre Garcia hob die Bronzeplakette erneut in den Laternenschein und drehte sie um. Als er die auf der Rückseite eingravierten Worte las, bekam er vor Schreck einen trockenen Mund.
Spezialeinsatzkräfte der U. S. Army
1. August, 10.45 Uhr
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
Der Anruf hatte George Fielding überrascht. Als stellvertretender CIA-Direktor war er schon häufig von verschiedenen Abteilungsleitern zu dringenden Sitzungen gerufen worden, doch ein Dringlichkeitsanruf von Marshall O'Brien, dem Leiter des Directorate Environmental Center, war ungewöhnlich. Das DEC war 1997 gegründet worden und befasste sich mit Umweltangelegenheiten. Während seiner bisherigen Laufbahn hatte das DEC noch nie einen Dringlichkeitsanruf getätigt, denn die waren Angelegenheiten vorbehalten, die unmittelbar die nationale Sicherheit betrafen. Was hatte den Alten Vogel - so lautete Marshall O'Briens Spitzname - wohl veranlasst, Alarm zu schlagen?
Fielding schritt eilig über den Flur, der das alte Hauptquartier mit dem neuen Trakt verband. Das neue Gebäude war Ende der Achtzigerjahre erbaut worden. Es beherbergte viele der florierenden Abteilungen des Geheimdienstes, darunter auch das DEC.
Im Gehen betrachtete er die gerahmten Gemälde an der Flurwand, eine Ahnengalerie ehemaliger CIA-Direktoren, die bis zu Major General Donovan zurückreichte, der das Office of Strategic Services geleitet hatte, das CIA-Gegenstück aus dem Zweiten Weltkrieg. Auch Fieldings eigener Boss würde irgendwann an dieser Wand hängen, und wenn George seine Karten klug ausspielte, würde vielleicht sogar er es zum Direktor bringen.
Mit diesem Gedanken beschäftigt, betrat er das Gebäude des neuen Hauptquartiers und wandte sich zu den Büros des DEC. Kaum war er durch die Tür getreten, wurde er auch schon von einer Sekretärin begrüßt.
Bei seinem Eintreten erhob sie sich. »Deputy Director, Mr. O'Brien erwartet Sie in seinem Büro.« Die Sekretärin geleitete ihn zu einer Flügeltür aus Mahagoni, klopfte flüchtig, öffnete die Tür und hielt sie ihm auf.
»Danke.«
Eine tiefe, kollernde Stimme begrüßte ihn. »Deputy Director Fielding, ich freue mich, dass Sie sich persönlich herbemüht haben.« Marshall O'Brien erhob sich. Er war ein großer Mann mit silbergrauem Haar. Der massige Chefschreibtisch wirkte klein neben ihm. »Bitte nehmen Sie Platz. Ich weiß, Ihre Zeit ist kostbar; und ich werde sie nicht übermäßig in Anspruch nehmen.«
Wie immer kommt er gleich zur Sache, dachte Fielding. Vor vier Jahren hatte man gemunkelt, Marshall O'Brien könne CIA-Direktor werden. Tatsächlich war er schon länger Deputy Director als Fielding, hatte sich jedoch wegen seiner rigiden Haltung mit zahlreichen Senatoren angelegt und mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn noch mehr Brücken hinter sich verbrannt. Auf die Art kam man in Washington nicht weiter. Folglich war O'Brien zur nominellen Gallionsfigur des Umweltzentrums herabgestuft worden. Der Dringlichkeitsanruf stellte vielleicht den Versuch des alten Mannes dar, die Bedeutung seiner Stellung zu betonen und im Spiel zu bleiben.
»Worum geht's?«, fragte Fielding, als er sich setzte.
O'Brien nahm seinerseits Platz und schlug einen grauen Aktenordner auf.
Ein Dossier, dachte Fielding.
Der alte Mann räusperte sich. »Vor zwei Tagen wurde dem Konsulat in Manaus, Brasilien, eine Leiche gemeldet. Der Verstorbene wurde anhand einer Plakette der Spezialeinsatzkräfte identifiziert, denen er früher einmal angehörte.«
Fielding runzelte die Stirn. Die Plaketten waren bei vielen militärischen Einheiten gebräuchlich. Eigentlich dienten sie eher der Traditionspflege als der Identifizierung. Ein Angehöriger dieser Einheiten, ob im aktiven Dienst oder bereits ausgeschieden, musste seinen Kameraden eine Runde spendieren, wenn er ohne die Plakette erwischt wurde. »Was geht uns das an?«
»Der Mann hat nicht nur den Spezialeinsatzkräften angehört. Agent Gerald Clark hat für mich gearbeitet.« Fielding blinzelte überrascht.
O'Brien fuhr fort. »Agent Clark hatte zusammen mit einer Forschungsgruppe den Auftrag, Beschwerden über von Goldminen verursachte Umweltschäden nachzugehen und incognito Informationen über die Verschickung bolivianischen und kolumbianischen Kokains im Amazonasbecken zu sammeln. «
Fielding straffte sich. »Und er wurde ermordet? Geht es darum?«
»Nein. Vor sechs Tagen tauchte Agent Clark in einem Missionsdorf im tiefen Dschungel auf, verletzt und mit hohem Fieber. Der Missionsleiter bemühte sich um ihn, dennoch verstarb er nach wenigen Stunden.«
»Eine Tragödie, aber weshalb sollte das die nationale Sicherheit tangieren?«
»Weil Agent Clark bereits seit vier Jahren vermisst wurde.« O'Brien reichte Fielding einen gefaxten Zeitungsartikel.
Fielding nahm das Blatt verwirrt entgegen. »Seit vier Jahren, sagten Sie?«
EXPEDITION IM AMAZONASGEBIET
VERSCHOLLEN
Associated Press
MANAUS, BRASILIEN, 20. MÄRZ - Die intensive Suche nach dem millionenschweren Industriellen Dr. Carl Rand und seinem internationalen Team von 30 Wissenschaftlern und Führern wurde nach drei Monaten eingestellt. Die Expedition, ein Gemeinschaftsunternehmen des nationalen Krebsforschungsinstituts der USA und der brasilianischen Indianerstiftung, verschwand im Regenwald, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.
Die Expedition verfolgte das Ziel, die wahre Zahl der im Amazonasgebiet heimischen Indianer zu bestimmen. Drei Monate nach dem Aufbruch aus der Dschungelstadt Manaus verstummten jedoch die täglichen Funkmeldungen. Alle Versuche, wieder Kontakt mit dem Team aufzunehmen, scheiterten. Rettungshubschrauber und Suchtrupps wurden zu dem Ort ausgesandt, an dem es sich zuletzt befunden hatte, doch es wurde niemand gefunden. Zwei Wochen später wurde eine letzte Nachricht aufgefangen: »Schickt Hilfe ... halten nicht mehr lange durch. O Gott, sie sind überall!« Dann wurde das Team vom riesigen Dschungel verschluckt.
Nach dreimonatiger Suche unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit erklärte Commander Ferdinand Gonzales, der Leiter des internationalen Suchteams, die Expeditionsteilnehmer für »vermisst und wahrscheinlich tot«. Daraufhin wurden sämtliche Suchmaßnahmen eingestellt. Die Zuständigen stimmen darin überein, dass die Expedition entweder von einem kriegerischen Stamm überwältigt wurde oder auf einen geheimen Stützpunkt von Drogenhändlern gestoßen ist. Wie dem auch sei; mit dem heutigen Tag, da die Suchtrupps zurückbeordert werden, sterben alle Hoffnungen, die Gesuchten doch noch zu finden. Zuletzt sei angemerkt, dass im Regenwald des Amazonas jedes Jahr zahlreiche Forschungsreisende, Wissenschaftler und Missionare spurlos verschwinden.
»Mein Gott.« O'Brien nahm dem verdatterten Fielding den Zeitungsartikel aus der Hand und fuhr fort: »Nach dem Verschwinden der Expedition kam kein Kontakt mehr mit dem Forschungsteam oder unserem Agenten zustande. Agent Clark wurde als verstorben geführt.«
»Können wir davon ausgehen, dass es sich wirklich um denselben Mann handelt?«
O'Brien nickte. »Gebissmerkmale und Fingerabdrücke stimmen mit denen in den Akten überein.«
Fielding schüttelte den Kopf; seine anfängliche Bestürzung verflüchtigte sich allmählich. »So tragisch der Vorfall und so lästig der dadurch entstehende Papierkram ist, begreife ich doch noch immer nicht, weshalb dies die nationale Sicherheit betreffen sollte.«
»Normalerweise würde ich Ihnen zustimmen, wenn da nicht noch eine Merkwürdigkeit wäre.« O'Brien blätterte im Dossier und zog zwei Fotos aus dem Stapel. Das erste reichte er Fielding. »Das wurde einige Tage vor dem Aufbruch der Expedition aufgenommen.«
Auf dem grobkörnigen Foto sah man einen Mann mit Levi's Jeans, Hawaiihemd und Safarihut. Der Mann grinste breit und hielt ein Glas mit einem tropischen Cocktail in der Hand. »Agent Clark?«
»Ja, das Foto wurde von einem der Wissenschaftler bei einer Abschiedsparty aufgenommen.« O'Brien reichte ihm das zweite Foto. »Und das wurde im Leichenschauhaus von Manaus aufgenommen, wo der Leichnam derzeit verwahrt wird.«
Fielding nahm das Hochglanzfoto mit einem gewissen Unbehagen entgegen. Bilder von Toten sah er sich nur ungern an, doch er hatte keine andere Wahl. Der Leichnam auf dem Foto war nackt und lag auf einem Tisch aus rostfreiem Stahl, nichts als Haut und Knochen. Der Körper war mit eigenartigen Tätowierungen bedeckt. Gleichwohl erkannte Fielding den Mann wieder. Das war tatsächlich Agent Clark - jedoch mit einem signifikanten Unterschied. Er verglich die beiden Fotos.
O'Brien hatte bemerkt, dass Fielding bleich geworden war, und ergriff das Wort. »Zwei Jahre vor seinem Verschwinden wurde Agent Clark bei einer bewaffneten Aufklärungsmission im Irak von einem Scharfschützen in den linken Arm getroffen. Bevor er den nächsten US-Stützpunkt hätte erreichen können, hatte der Wundbrand eingesetzt. Der Arm musste an der Schulter amputiert werden, womit seine Karriere bei den Spezialeinsatzkräften beendet war.«
»Aber der Leichnam hat noch beide Arme.«
»So ist es. Die Fingerabdrücke vom Arm des Leichnams entsprechen denen, die vor der Verletzung registriert wurden. Agent Clark ist offenbar einarmig in den Amazonasdschungel gezogen und mit beiden Armen zurückgekehrt.«
»Aber das ist unmöglich. Was zum Teufel ist da passiert?«
Marshall O'Brien musterte Fielding mit seinem Falkenblick; jetzt sah man, dass er den Spitznamen Alter Vogel zu Recht trug. Der alte Mann senkte die Stimme. »Genau das will ich herausfinden.«
Erster Akt
DIE MISSION
1
SCHLANGENGRUBE
6. August, 10.11 Uhr
Amazonas-Dschungel, Brasilien
DIE ANAKONDA HIELT das kleine Indianermädchen fest umklammert und zerrte es auf den Fluss zu.
Nathan Rand hatte am frühen Morgen Heilpflanzen gesucht und war gerade auf dem Rückweg zum Yanomami-Dorf, als er die Schreie hörte. Er ließ den Sammelbeutel fallen und eilte dem Mädchen zu Hilfe. Im Laufen nahm er die kurzläufige Flinte von der Schulter. Wer sich allein in den Dschungel begab, hatte stets eine Waffe dabei.
Er zwängte sich durch dichtes Laubwerk, und auf einmal sah er die Schlange und das Mädchen. Die Anakonda, eines der größten Exemplare, die er je gesehen hatte, war mindestens fünfzehn Meter lang und lag zur Hälfte im Wasser, zur Hälfte auf dem morastigen Ufer. Die schwarzen Schuppen schimmerten feucht. Offenbar hatte sie dicht unter der Wasseroberfläche gelauert, als das Mädchen Wasser holen gekommen war. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Riesenschlangen Wild auflauerten, das am Flussufer trinken wollte:
Pekaris, Wasserschweine, Rotwild aus dem Dschungel. Allerdings griffen die Schlangen nur selten Menschen an.
Während seiner zehnjährigen Tätigkeit als Ethnobotaniker im Amazonasdschungel hatte er jedoch eines gelernt: Wenn ein Tier nur hungrig genug war, galten keine Regeln mehr. Im endlosen grünen Urwald hieß es fressen oder gefressen werden.
Nathan blickte mit zusammengekniffenem Auge durch den Gewehrsucher. Er kannte das Mädchen. »Mein Gott, Tama!« Sie war die neunjährige Nichte des Häuptlings, ein stets lächelndes, freundliches Kind, das ihm bei seiner Ankunft im Dorf vor einem Monat einen Strauß Dschungelblumen überreicht hatte. Später hatte sie ihn immer wieder an den Armhärchen gezupft, die bei den glatthäutigen Yanomami eine Seltenheit waren, und ihm den Spitznamen Jako Basho gegeben, was »Bruder Affe« bedeutete.
Er biss sich vor Konzentration auf die Unterlippe und zielte. Da die Schlange das Kind mit ihrem muskulösen Leib mehrfach umschlungen hatte, konnte er keinen Schuss anbringen.
»Verdammt!« Er warf die Flinte weg, zog die Machete aus der Scheide und sprang vor - während die Schlange unvermittelt weiterkroch und das Mädchen ins schwarze Flusswasser hinabzog. Tamas Geschrei verstummte, Luftblasen verrieten, wo sie sich befand.
Ohne lange zu überlegen, sprang Nathan ihr nach.
Von allen Bereichen des Amazonasgebiets war keiner gefährlicher als die Wasserläufe. Unter der friedlichen Wasseroberfläche waren zahllose Gefahren verborgen. Gierige Piranhaschwärme jagten in der Tiefe, Stachelrochen versteckten sich im Schlamm, und im Wurzelwerk lauerten Zitteraale. Am schlimmsten aber waren die eigentlichen Menschenfresser des Flusses, die riesigen schwarzen Kaimane, die zur Familie der Alligatoren gehörten. Daher hielten sich die indianischen Ureinwohner nach Möglichkeit von unbekannten Gewässern fern.
Nathan Rand aber war kein Indianer.
Mit angehaltenem Atem suchte er im trüben Wasser und machte schließlich die Windungen der Schlange aus. Ein heller Arm winkte. Er stieß sich mit den Beinen ab und ergriff die kleine Hand. Die Fingerchen schlossen sich verzweifelt um seine Pranke.
Tama war immer noch bei Bewusstsein!
An ihrem Arm zog er sich näher an die Schlange heran. Mit der anderen Hand holte er mit der Machete aus. Er trat mit den Beinen, um nicht abzutreiben, und drückte Tamas Hand. Dann auf einmal wirbelte das Wasser durcheinander, und er blickte in die roten Augen der Riesenschlange. Sie spürte, dass man ihr die Beute streitig machte. Das schwarze Maul öffnete sich und ruckte vor.
Nate wich seitlich aus, wobei er sich bemühte, das Mädchen nicht loszulassen.
Die Kiefer der Anakonda packten seinen Arm wie ein Schraubstock. Das Tier war zwar ungiftig, jedoch so kräftig, dass Nates Handgelenk zu brechen drohte. Ohne den Schmerz und seine wachsende Panik zu beachten, schwenkte er den anderen Arm vor und zielte mit der Machete auf die Augen des Tieres.
Im letzten Moment wälzte sich die Anakonda herum und schleuderte Nate auf den schlammigen Flussboden. Die Luft wurde Nate aus der Lunge gepresst, als ihn zweihundert Kilo geschuppte Muskeln niederdrückten. Er wand sich und scharrte mit den Beinen, fand im Flussschlamm jedoch keinen Halt.
Dann entglitten die Finger des Mädchens seinem Griff.
Nein ... Tama!
Er ließ die Machete los und drückte mit beiden Händen gegen den mächtigen Schlangenleib. Seine Schultern sanken in den weichen Schlamm ein, doch er ließ nicht locker. Für jede Windung, die er beiseiteschob, tauchte eine weitere auf. Seine Armmuskeln erlahmten, und seine Lunge schrie nach Luft.
In diesem Moment wurde Nathan Rand klar, dass er verloren war - was ihn nicht sonderlich wunderte. Er hatte gewusst, dass es eines Tages geschehen würde. Das war seine Bestimmung, der Fluch, der auf seiner Familie lastete. Seine Eltern waren beide im Regenwald des Amazonas umgekommen. Während seines elften Lebensjahres war seine Mutter an einem unbekannten Dschungelfieber erkrankt und in einem kleinen Missionshospital gestorben. Vor vier Jahren war dann sein Vater einfach im Regenwald verschwunden.
Als Nate an den Schmerz dachte, den der Verlust seines Vaters bei ihm ausgelöst hatte, flammte Wut in ihm auf. Familienfluch hin oder her, er weigerte sich, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Er würde nicht zulassen, dass der Dschungel ihn verschluckte. Vor allem aber wollte er Tama nicht verlieren!
Das letzte bisschen Luft hinausschreiend, schob Nathan den gewundenen Leib der Anakonda von seinen Beinen hinunter. Von der Last befreit, schwenkte er die Beine nach unten, sank bis zu den Knöcheln im Schlamm ein und richtete sich auf. Als sein Kopf aus dem Wasser hervorstieß, füllte er die Lunge mit Luft, doch sofort wurde er am Arm ins dunkle Wasser zurückgerissen.
Diesmal versuchte er gar nicht erst, sich der Schlange zu erwehren. Das Handgelenk, das die Anakonda umklammert hielt, an die Brust gedrückt, wand er sich innerhalb der Windungen des Schlangenleibs, bis er den Hals der Schlange mit dem anderen Arm umfassen konnte. Als er das Tier fest im Griff hatte, drückte er ihm den linken Daumen ins Auge.
Die Schlange wand sich, schleuderte Nate für einen Moment aus dem Wasser, dann tauchte sie ihn wieder unter. Er ließ nicht locker.
Na los, du Biest, lass los!
Obwohl die Schlange seinen Oberkörper umklammert hielt, gelang es ihm, sich so weit zu krümmen, dass er ihr den zweiten Daumen ins andere Auge drücken konnte. Er drückte mit beiden Daumen fest zu, in der Hoffnung, dass sich seine rudimentären Kenntnisse der Reptilienphysiologie als wahr erweisen würden. Demnach löste Druck auf ein Schlangenauge über den Sehnerv einen Würgereflex aus.
Er drückte fester, während ihm der Herzschlag in den Ohren dröhnte.
Auf einmal ließ der Druck auf sein Handgelenk nach, und Nathan wurde mit solcher Gewalt fortgeschleudert, dass er halb aus dem Wasser flog und mit der Schulter aufs Ufer prallte. Als er sich herumwälzte, sah er in der Flussmitte dicht an der Wasserfläche eine helle Gestalt mit dem Gesicht nach unten im Wasser treiben.
Tama!
Wie erhofft, hatte die Schlange beide Opfer reflexartig losgelassen. Nathan watete ins Wasser, packte das Kind beim Arm und zog es zu sich her. Er legte sich die leblose Tama über die Schulter und kletterte eilig ans Ufer.
Er setzte ihren nassen Körper auf dem Boden ab. Sie atmete nicht mehr, ihre Lippen waren blau angelaufen. Er fühlte ihr den Puls. Er war noch spürbar, aber ziemlich schwach.
Unwillkürlich blickte Nathan sich nach Hilfe um. Da außer ihm niemand da war, musste er das Mädchen allein wiederbeleben. Vor Beginn seiner Dschungelexpedition hatte er eine Ausbildung in erster Hilfe und Reanimation absolviert, doch er war kein Arzt. Er kniete sich hin, wälzte Tama auf den Bauch und drückte rhythmisch auf ihren Rücken. Etwas Wasser schoss aus Nase und Mund.
Zufrieden wälzte er das Mädchen wieder herum und machte sich an die Mund-zu-Mund-Beatmung.
In diesem Moment trat eine Yanomami in mittleren Jahren aus dem Dschungel. Wie alle Indianer war sie klein, zirka eins fünfzig. Ihr schwarzes Haar war kreisförmig geschoren, die Ohrläppchen waren mit Federn und Bambusstöckchen durchbohrt. Ihre dunklen Augen weiteten sich, als sie den über das kleine Kind gebeugten Weißen sah.
Nathan wusste sehr gut, wie er auf sie wirken musste. Er richtete sich aus der Hocke auf, als Tama unvermittelt wieder zu Bewusstsein kam, einen Schwall Flusswasser aushustete, um sich schlug und zu schreien begann. Das verängstigte Kind drosch mit seinen kleinen Fäusten auf ihn ein, noch immer im Albtraum der Schlangenattacke gefangen.
»Ruhig, du bist in Sicherheit«, sagte er in der Yanomami- Sprache und versuchte ihre Hände zu packen. Er wandte den Kopf zur Frau um und wollte ihr alles erklären, doch die kleine Indianerin ließ den Korb fallen und verschwand im Dickicht am Flussufer, wobei sie einen Alarmruf ausstieß. Nathan kannte den Ruf. Er ertönte immer dann, wenn ein Dorfbewohner in Gefahr war.
»Na großartig.« Nathan schloss die Augen und seufzte.
Als er vor vier Wochen in der Absicht, die medizinischen Kenntnisse des alten Stammesschamanen aufzuzeichnen, in das Dorf gekommen war, hatte ihn der Häuptling gebeten, sich von den Frauen fernzuhalten. In der Vergangenheit war es mehrfach vorgekommen, dass Fremde Indianerfrauen missbraucht hatten. Nathan war der Bitte nachgekommen, obwohl einige Frauen liebend gern zu ihm in die Hängematte geklettert wären. Einen Mann von eins achtzig, mit blauen Augen und sandfarbenem Haar, hatten die Frauen dieses abgeschiedenen Stammes noch nicht gesehen.
In der Ferne wurde der Hilferuf der flüchtenden Frau von anderen, von vielen anderen Stimmen beantwortet. Der Name Yanomami bedeutete in etwa »das wilde Volk«. Die Yanomami- Stämme standen in dem Ruf, grausame Krieger zu sein. Die Huyas, die jungen Männer des Dorfes, fanden stets eine Ehrverletzung, einen Besitzanspruch oder einen Fluch als Vorwand, um mit einem Nachbarstamm oder einem Angehörigen des eigenen Stammes Streit anzufangen. Sie waren dafür berüchtigt, ganze Dörfer auszulöschen, bloß weil man sie beschimpft hatte.
Nathan blickte dem jungen Mädchen ins Gesicht. Was würden die Huyas wohl davon halten? Von einem Weißen, der über eines ihrer Kinder herfiel, noch dazu die Nichte des Häuptlings?
Tama hatte ihren Anfall erst einmal überwunden und abermals das Bewusstsein verloren. Sie atmete wieder regelmäßig, doch als er ihre Stirn berührte, spürte er, dass sie fieberte. Außerdem machte er an ihrer rechten Seite eine sich allmählich blau färbende Quetschung aus. Er tastete sie ab - in der Umarmung der Anakonda hatte sie sich zwei Rippen gebrochen. Er hockte sich auf die Fersen, biss sich auf die Lippen. Sie musste sofort ärztlich versorgt werden, sonst war ihr Leben in Gefahr.
Er bückte sich und hob sie behutsam hoch. Das nächste Hospital lag zehn Meilen flussabwärts in dem kleinen Städtchen São Gabriel. Er musste sie schnellstens dorthin schaffen.
Doch gab es ein Problem - die Yanomami. Zusammen mit dem Mädchen würde er es nicht schaffen, vor ihnen zu flüchten. Dies war Indianergebiet, und obwohl er sich recht gut auskannte, war er doch kein Eingeborener. Im Amazonasgebiet gab es ein Sprichwort: Na boesi, ingi sabe ala sani. Im Dschungel weiß der Indianer alles. Die Yanomami waren hervorragende Jäger, geschickt im Umgang mit Bogen, Blasrohr, Speer und Knüppel.
Es gab keinen Ausweg.
Er hob die Flinte auf, die er zuvor weggeworfen hatte, und legte sich den Riemen um die Schulter. Mit dem Mädchen auf den Armen wandte er sich zum Dorf. Um seiner selbst und um Tamas willen musste er die Indianer dazu bringen, ihn anzuhören.
Im Dorf, das er seit einem Monat sein Zuhause nannte, herrschte Totenstille. Nathan zuckte im Gehen zusammen. Selbst das ständige Vogelgezwitscher und das Jagdgeschrei der Affen waren verstummt.
Mit angehaltenem Atem bog er um eine Biegung und sah sich unvermittelt einer Reihe von Indianern gegenüber, die ihm mit angelegten Pfeilen und erhobenen Speeren den Weg verstellten. Hinter seinem Rücken spürte er eine Bewegung. Als er sich umsah, bemerkte er weitere Indianer mit rot bemalten Gesichtern, die hinter ihm Aufstellung genommen hatten.
Wenn Nate dem Mädchen und sich selbst das Leben retten wollte, musste er etwas tun, das ihm zuwider war, doch er hatte keine andere Wahl.
»Nabrushi yi yi!«, rief er mit lauter Stimme. »Ich bestehe auf einem Zweikampf!«
Übersetzung: Norbert Stöbe
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von James Rollins
Neueste Technologiekenntnisse und fundierte wissenschaftliche Fakten, genial verknüpft mit historischen und mythologischen Themen - all das macht die Abenteuerthriller von James Rollins zum einzigartigen Leseerlebnis. Mit dem Auftakt zu seiner hochspannenden Serie um die SIGMA-Force feierte er international bereits riesige Erfolge. Der passionierte Höhlentaucher James Rollins betreibt eine Praxis für Veterinärmedizin in Sacramento, Kalifornien. Stöbe, NorbertNorbert Stöbe, 1953 in Troisdorf geboren, begann schon als Chemiestudent zu schreiben. Neben seiner Tätigkeit als Chemiker am Institut Textilchemie und Makromolekulare Chemie der RWTH Aachen übersetzte er die ersten Bücher. Sein Roman New York ist himmlisch wurde mit dem C. Bertelsmann Förderpreis und dem Kurd-Lasswitz-Preis ausgezeichnet. Seine Erzählung Der Durst der Stadt erhielt den Kurd-Lasswitz-Preis und die Kurzgeschichte Zehn Punkte den Deutschen Science Fiction Preis. Zu seinen weiteren bekannten Romanen zählen Spielzeit, Namenlos und Der Weg nach unten. Norbert Stöbe ist einer der bekanntesten deutschen Science-Fiction-Schriftsteller. Er lebt als freier Autor und Übersetzer in Stolberg.
Bibliographische Angaben
- Autor: James Rollins
- 2013, Neuveröffentlichung, 576 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Stöbe, Norbert
- Übersetzer: Norbert Stöbe
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442378214
- ISBN-13: 9783442378210
- Erscheinungsdatum: 11.07.2013
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