Operation Romanow
Roman. Deutsche Erstausgabe
1917. Revolution in Russland. Hunger und Chaos regieren die Straßen. Die Romanovs, die Zarenfamilie, sind spurlos verschwunden. Nicolas Curis, ein ehemaliger Offizier, ist auf der Flucht vor den Revolutionären. Er sucht Hilfe bei dem...
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Produktinformationen zu „Operation Romanow “
1917. Revolution in Russland. Hunger und Chaos regieren die Straßen. Die Romanovs, die Zarenfamilie, sind spurlos verschwunden. Nicolas Curis, ein ehemaliger Offizier, ist auf der Flucht vor den Revolutionären. Er sucht Hilfe bei dem undurchsichtigen Geschäftsmann Jacob Berg und begegnet dort Lydia Ryan, die ebenfalls das Land verlassen will. Sie beide gehören zu den wenigen Menschen, die den Aufenthaltsort der Zaren kennen und geraten in ein tödliches Spiel. Denn Jacob Berg ist in Wahrheit ein amerikanischer Spion. Er soll die Romanovs aus den Fängen der Revolutionäre befreien und vor dem sicheren Tod retten. Für Berg ist es allerdings eine sehr persönliche Mission - er hat eine Affäre mit der Tochter des Zaren. Und er wird über Leichen gehen, um sie zu retten.
Klappentext zu „Operation Romanow “
1917. Revolution in Russland. Hunger und Chaos regieren die Straßen. Die Romanovs, die Zarenfamilie, sind spurlos verschwunden. Nicolas Curis, ein ehemaliger Offizier, ist auf der Flucht vor den Revolutionären. Er sucht Hilfe bei dem undurchsichtigen Geschäftsmann Jacob Berg und begegnet dort Lydia Ryan, die ebenfalls das Land verlassen will. Sie beide gehören zu den wenigen Menschen, die den Aufenthaltsort der Zaren kennen und geraten in ein tödliches Spiel. Denn Jacob Berg ist in Wahrheit ein amerikanischer Spion. Er soll die Romanovs aus den Fängen der Revolutionäre befreien und vor dem sicheren Tod retten. Für Berg ist es allerdings eine sehr persönliche Mission - er hat eine Affäre mit der Tochter des Zaren. Und er wird über Leichen gehen, um sie zu retten -
Lese-Probe zu „Operation Romanow “
Operation Romanow von Glenn MeadeIns Deutsche übertragen von Karin Meddekis
Meine liebe Marija,
die Geschichte wird vielleicht niemals vollständig aufdecken, was wirklich mit allen Zarenkindern geschah. Die Antwort ist so geheim, dass ich vorerst nicht darüber sprechen kann.
Lenin in einem Brief an seine Schwester im Juli 1918, nachdem sie ihm geschrieben hatte, sie habe Gerüchte über die Hinrichtung der Romanows gehört.
Anna Anderson ist Teil eines viel größeren Geheimnisses, als sich irgendjemand von uns vorstellen kann, denn sie hat zahlreiche unbeantwortete Fragen hinterlassen. Eine besonders erschreckende Frage ist die: Wie konnte es einer vermeintlich einfachen, geistig verwirrten Bäuerin gelingen, über sechs Jahrzehnte lang die hellsten und angesehensten Anwälte, Ermittler und Journalisten hinters Licht zu führen? In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Redensart, die ich einst gehört habe: »Jede Geschichte hat drei Seiten. Es gibt Ihre Seite, und es gibt meine Seite. Und dann gibt es noch die Wahrheit.«
Gregory Antonow über Anna Anderson, die einst für die jüngste Zarentochter Anastasia gehalten wurde, welche die Hinrichtung der Zarenfamilie angeblich überlebt haben soll.
GEGENWART
1. KAPITEL
Ich glaube, die größten Geheimnisse sind vergraben, und nur die Toten sprechen die Wahrheit.
Und in gewisser Weise kam ich aus diesem Grunde an jenem Sommermorgen, als wir die Leichen fanden, in die Wälder. Es regnete in der Stadt der Toten Seelen, und ein kräftiger Schauer überschwemmte die Straßen.
... mehr
»Heute Morgen ist nicht viel Verkehr. Dreißig Minuten, länger nicht«, sagte mein russischer Fahrer, als unser Landrover an imposanten Granitgebäuden vorbeifuhr, den Relikten einer längst vergangenen prächtigen Epoche.
Ich lehnte mich zurück und sah das alte kaiserliche Jekaterinburg an mir vorüberziehen. Die Stadt, die 1723 zu Ehren von Kaiserin Katharina der Ersten ihren Namen erhalten hat, liegt im Schatten des Urals. Die Landschaft erinnert an die zerklüftete Schönheit Alaskas - dichte Wälder mit Wölfen und Bären, tiefe Schluchten und schneebedeckte Gipfel. Ergiebige Erzminen, welche die größten Schätze der Welt - Platin und Smaragde, Gold und Diamanten - bergen, durchziehen die felsigen Bergketten, die hinter der sibirischen Metropole aufragen.
Als wir Jekaterinburg hinter uns ließen und an den mit Birkenwäldern bewachsenen Hängen vorbeifuhren, öffnete ich die Lederaktentasche auf meinem Schoß und nahm eine Akte heraus. Auf dem blauen Aktendeckel stand:
VORLÄUFIGER BERICHT ÜBER DIE ERGEBNISSE DER ARCHÄOLOGISCHEN GRABUNGEN IN JEKATERINBURG
Dr. Laura Pawlow, Forensische Pathologin, verantwortliche Archäologin der Grabungen
Ich blätterte den dicken Papierstapel durch und sah mir noch einmal die Ergebnisse meiner Arbeit der letzten drei Monate an. Dies war meine erste Reise nach Jekaterinburg, und unser Team kam von überall her: forensische Archäologen, Wissenschaftler und Studenten aus Amerika, England, Deutschland, Italien und natürlich aus unserem Gastland Russland. Für unser gemeinsames Abenteuer erhielten wir nur eine kurze Einweisung: Wir sollten in den Wäldern nach Beweisen für Massenhinrichtungen während des Roten Terrors zur Zeit der russischen Revolution graben.
Viele Tausende kamen um, nicht zuletzt auch die Romanows, die russische Zarenfamilie - der Zar, die Zarin, ihre vier hübschen Töchter und ihr jüngstes Kind, der dreizehnjährige Alexej - von Kugeln und Bajonetten durchbohrt, ihre Schädel von Gewehrkolben zertrümmert und ihre Leichen mit Schwefelsäure übergossen.
Das Ipatjew-Haus, in welchem die Familie gefangen gehalten worden war, wurde von den Stadtbewohnern das Haus der Toten Seelen genannt. Aber die Roten richteten während ihrer Herrschaft so viele Menschen hin, deren Leichen sie in Minen- schächte warfen und in anonymen Gräbern in den weiten Wäldern außerhalb von Jekaterinburg vergruben, dass die Bewohner ihrer Stadt einen neuen Namen gaben: Stadt der Toten Seelen.
Mit der Hitze und den vielen Mückenhatte ich nicht gerechnet. Im Winter gleicht Sibirien einem Gefrierschrank, doch in den kurzen, heißen Sommern herrschen oft hohe Temperaturen. In den Wäldern wimmelt es dann von Fliegen und Mücken. Die Hitze ist so stark, dass süßlich duftendes Harz von den Bäumen tropft und dessen wohlriechender Geruch die Luft erfüllt.
Als mein Fahrer auf einen schmalen, schlammigen Pfad einbog, auf dem schwere Lastwagen Spurrillen hinterlassen hatten, hörte es auf zu regnen. Unser Landrover steuerte auf eine Ansammlung von Baracken und stabilen, begehbaren Zelten zu, die für die Dauer unserer Grabungen in der Mitte einer Lichtung in einem Birkenwald aufgebaut worden waren. Auf einem von Hand beschriebenen Holzschild stand auf Englisch und Russisch:
GRABUNGSSTÄTTE - PRIVATGRUNDSTÜCK UNBEFUGTES BETRETEN VERBOTEN!
Es gab noch etwas, womit ich nicht gerechnet hatte, als wir an diesem Sommermorgen neben einem der Zelte anhielten. Ich war in diesen nach Harz duftenden Wald gekommen, um die Geister der Vergangenheit auszugraben. Doch absolut nichts hätte mich auf das ungeheure Geheimnis vorbereiten können, über das ich stolperte, als die gefrorene sibirische Erde ihre Toten preisgab.
Denn mit den Toten kam die Wahrheit ans Licht.
Und mit der Wahrheit kamen die ersten Gerüchte der unglaublichsten Geschichte auf, die ich jemals gehört hatte.
Ich stieg aus dem Wagen, schob die Plane zur Seite und betrat mein Zelt. Als ich an meinem Arbeitstisch Platz nahm, kam Roy Moran herein, der die Ausgrabungen vor Ort beaufsichtigte. »Hallo, Baby.«
Wir nannten ihn Memphis Roy, und er nannte mich immer Baby. In Memphis nannte jeder jeden Baby. Die Tatsache, dass einer Frau die Leitung der Grabungen oblag, änderte nichts daran. Wenn ich ein Mann gewesen wäre, hätte Roy mich auch Baby genannt.
Roy ist ein großer und knochiger, nüchterner Typ und einer der Besten auf seinem Gebiet. Ich öffnete meine Aktentasche, um Unterlagen herauszunehmen, und sagte: »Wolltest du nicht heute Morgen im Schacht 7 graben?«
»Klar, Baby.« Roy, der ein wenig außer Atem war, stemmte die Hände in die Hüften. In seinem Gesicht spiegelten sich Erregung und Verwirrung. Er nahm das schmutzige Basecap der Detroit Tigers ab, das er immer trug, wischte sich den Schweiß von der Stirn und grinste. »Sieht so aus, als könnte die Sieben unsere Glückszahl sein.«
»Spuck's aus!«
»Wir haben so tief gegraben, wie wir konnten, und sind auf eine torfige Schicht Dauerfrostboden gestoßen. Aber wir haben etwas gefunden, Laura. Ich meine, wir haben wirklich etwas gefunden. «
Ich warf den Stift auf den Tisch. Roy gehörte nicht zu den Leuten, die sich leicht beeindrucken ließen. Doch in diesem Augenblick schien er unter Spannung zu stehen und vor Begeisterung überzusprudeln wie ein aufgeregter zwölfjähriger Junge. »Nun sag schon!«, forderte ich ihn auf.
»Das musst du dir selbst ansehen, Baby.«
Ich folgte Roy durch den Wald. Er bahnte sich mit seinen muskulösen Beinen langsam einen Weg durch regennassen Farn und an alten umgestürzten Bäumen vorbei. »Der Schacht ist über zwanzig Meter tief«, erklärte er mir unterwegs.
Überall auf der Lichtung lagen Bergbaugeräte, Stützpfeiler und Material zum Ausbau der Schächte. Dazwischen standen zahlreiche Lastwagen und SUVs. »Warum habe ich das Gefühl, dass du mir gleich etwas Interessantes erzählst? Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du gefunden hast.«
Roy ging grinsend weiter. Seine Erregung wirkte ansteckend auf mich. Auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen, und seine Augen strahlten. »Es ist eine Frau, Baby. Wir glauben, dass da unten eine weitere Leiche liegen könnte, aber sie ist zu tief vergraben, um zu sehen, was es ist. Und wer weiß? Vielleicht sind es sogar noch mehr!«
Als wir zwischen silbrig schimmernden Birken hindurchgingen und vor der Öffnung eines Minenschachtes stehen blieben, wurde ich nervös. Ich roch den intensiven erdigen Geruch des braunen Torfs. Das Loch im Boden war einen knappen Quadratmeter groß, und dicke Holzbalken sicherten die Seitenwände. Diese Grube gehörte zu einer Reihe von Schächten, die wir bei unseren Ausgrabungen erforschten. Wir suchten nach Hinweisen auf weitere Fundstücke aus der Romanow-Zeit, als der größte Teil dieses Gebietes eine Hinrichtungsstätte gewesen war.
In der Nacht des 16./17. Juli 1918 verschwand in Jekaterinburg die Romanow-Familie - die damals reichste Adelsfamilie der Welt. Augenzeugenberichten zufolge soll die ganze Familie umgebracht worden sein.
Doch aus irgendwelchen unbekannten Gründen beschlossen die Bolschewisten, ihren Tod nicht zu bestätigen, und über lange Zeit hielten sich hartnäckige Gerüchte, dass einige - wenn nicht gar alle Familienmitglieder - der Hinrichtung hatten entkommen können. Es gab auch Hinweise auf geheime Pläne, die Familie aus Jekaterinburg, von dem geheimen Ort, wo sie gefangen gehalten worden war, zu retten. Jahrelang erschienen immer wieder Berichte, dass eine oder mehrere Töchter des Zaren und ihr Bruder Alexej dem Tod entkommen seien.
Die Romanows hatten Edelsteine, Diamanten, Smaragde und Rubine in ihre Unterkleidung eingenäht, weil sie hofften, dass ihnen diese Wertgegenstände bei der Flucht behilflich wären. Später hieß es, die Edelsteine hätten die Qualen während ihrer Hinrichtung verlängert und den Todhinausgezögert.
Solchen Geschichten hatte ich in meiner Kindheit gebannt gelauscht. Ob sie der Wahrheit entsprachen, spielte keine Rolle. Jedenfalls faszinierte mich, wie so viele andere auch, dieses Geheimnis, und ich wollte glauben, dass Anastasia und Alexej entkommen waren.
Zahllose Gerüchte rankten sich um ihre Ermordung, und Jahrzehnte später wurden bei verschiedenen Grabungen außerhalb von Jekaterinburg die sterblichen Überreste von sechs Erwachsenen gefunden. Unter ihnen sollten sich angeblich der Zar, seine Gattin und zwei seiner Töchter befinden. DNA-Vergleiche mit der blutsverwandten britischen Königsfamilie bestätigten die möglichen Identitäten mit hoher Wahrscheinlichkeit.
Über die Entdeckung wurde heftig diskutiert. Viele Experten glaubten, es handele sich um die Skelette der Romanows. Ebenso viele glaubten es nicht und führten als Beweis unter anderem die Tatsache an, dass zahllose Verwandte der Zarenfamilie in dieser Gegend hingerichtet worden waren und es ebenso gut deren Skelette sein konnten, die man gefunden hatte.
Bei einer späteren Grabung in einem Wald westlich von Jekaterinburg wurden zwei weitere vollständige menschliche Skelette gefunden. DNA-Tests deuteten darauf hin, dass es die Knochen der beiden vermissten Kinder des Zaren, Anastasia und Alexej, waren. Es konnte jedoch niemals eindeutig bewiesen werden, dass eines der Skelette das von Anastasia war. Es bestand eine gewisse Wahrscheinlichkeit, doch zweifelsfreie Beweise gab es nicht. Deshalb wurden diese Tests von einigen Wissenschaftlern und hartnäckigen Zweiflern innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche als uneindeutig zurückgewiesen. Was blieb, war die quälende Ungewissheit, dass das Geheimnis fortbestand und das Rätsel noch immer nicht gelöst war.
Über der Öffnung des Schachtes hatten unsere Techniker eine von einem Stromgenerator angetriebene, elektrische Winde mit einem alten Sitzgurt installiert. Von unten stieg der Geruch des Torfes herauf. »Was denkst du: Knochen oder ein vollständiges Skelett?«, fragte ich Roy.
»Ich glaube, es ist die Leiche einer Frau. Der Dauerfrostboden hat sie mumifiziert, und sie ist durch den Torf und die Kälte perfekt erhalten.«
Mir lief vor Erregung ein Schauer über den Rücken. Ich stützte mich mit einer Hand gegen eine Birke, deren weiße Rinde den Stamm vor der Sonneneinstrahlung schützte. »Wie alt?«
»Meiner Erfahrung nach sprechen wir über die Zeit der letzten Romanows. Darauf weist auch ihre Kleidung hin.«
Roy fuhr als Erster hinunter. Er winkte mir zu, ehe er die elektrische Winde aktivierte und in dem dunklen Schacht verschwand. Ein paar Minuten später kehrte der leere Sitzgurt zurück. Ich schnallte mich fest und folgte ihm.
Während unserer Grabungen in Jekaterinburg im letzten Monat hatten wir allerhand gefunden: verrostete Mosin-Nagant- Gewehre, von Grünspan überzogene Kupfermünzen, Patronenhülsen und eine Brille. Wir waren sogar auf mehrere Verstecke der Zarenfamilie voller Silber-und Goldbarren sowie persönlicher Gegenstände und Schmuck gestoßen. So viele wohlhabende Familien mit Verbindungen zum Zarenhaus waren in der Hoffnung, dem Gemetzel zu entkommen, während der Revolution hierher geflohen, aber die Roten hatten jeden Einzelnen von ihnen aufgespürt.
Nicht alle Opfer waren wohlhabend. Auch meine eigene Vergangenheit lag in diesen Wäldern begraben. Lange bevor ich nach Jekaterinburg kam, hatte ich viel über diese Stadt an den gewundenen, breiten Ufern der Isset gehört, in der meine Großmutter Marijana als Kind gelebt hatte. Sie war elf Jahre alt, als die Rotgardisten während der Oktoberrevolution in ihre Heimatstadt einfielen. Ihre Familie waren einfache Muschiks - leidgeprüfte russische Bauern und Bergarbeiter, die bis zum Umfallen arbeiteten, um Erz aus dem Dauerfrostboden zu fördern, aus der steinharten, torfigen sibirischen Erde, die selbst im Sommer gefroren war.
Drei von Marijanas Brüdern, darunter auch ihr geliebter Pjotr, der gerade mal fünfzehn war, wurden in den Wäldern hinter der Stadt erschossen. Was hatten sie verbrochen? Sie hatten protestiert, als die Roten ihren kleinen Minenbetrieb beschlagnahmten, ein dilettantisches Unternehmen, das ihre zwölfköpfige Familie kaum ernährte. Lenin hielt nichts von Privatbesitz.
Persönliche Besitztümer jeglicher Art gehörten nun den Sowjets. Alle, die protestierten, wurden ins Gefängnis geworfen. Wenn sie weiterhin protestierten, wurden sie erschossen. Das alles gehörte zum Roten Terror, der Russland heimsuchte, als Lenin die Macht ergriff.
Während eines ungewöhnlich kalten Winters reiste die Familie meiner Großmutter auf der Flucht vor der Diktatur durch Sibirien und bestieg in Sankt Petersburg ein verrostetes Dampfschiff, das nach Amerika fuhr. Die einzigen Erinnerungen, die sie in ihren Stofftaschen bei sich trugen, waren einige verblichene Familienfotos in bräunlichen Farbtönen und Postkarten des kaiserlichen Jekaterinburg - Andenken auf brüchigem Papier, das im Laufe der Jahre vergilbte und immer nach verbranntem Holz roch. Ich erinnere mich noch an diesen Geruch, der mir in die Nase stieg, wenn ich als Kind in dem Familienalbum mit den verblassten Bildern aus einer anderen Welt blätterte.
Damals fand ich zwischen den Seiten des Albums auch ein altes Schwarz-Weiß-Foto und daneben eine Handvoll zerbröselter getrockneter Blumen in einem alten Bogen Pergamentpapier, dessen Ränder mit der Zeit fleckig geworden waren.
»Was ist das, Nana?« Die Fotografie zeigte einen beeindruckenden, mit flatternden Fahnen des russischen Zarenreiches geschmückten Bahnhof. Auf den Stufen des Bahnhofs standen unverkennbar die Romanows: der Zar und seine Gattin, die einer Menge zuwinkten, und neben ihnen ihr Sohn und die Töchter. Ich erkannte Anastasia, die ein weißes Kleid und hübsche Schuhe trug. Sie hatte eine Schleife im Haar und hielt einen Blumenstrauß in der Hand.
»Das wurde beim Besuch der Zarenfamilie 1913 in Jekaterinburg aufgenommen. Das war vor dem Krieg, bevor in Russland die Hölle ausbrach.« Großmutters blaue Augen wurden feucht, als die Erinnerungen an ihr schönes altes Leben in ihr aufstiegen.
»Und die Blumen?«
»Niemand in der Zarenfamilie war so rebellisch und geistreich wie Anastasia. Als sie an jenem Tag auf den Stufen des Bahnhofs stand, warf sie den Kindern in der Menge den Blumenstrauß zu. Du kannst dir sicherlich vorstellen, was für ein Gedränge entstand. Ich wurde fast totgetrampelt, doch es gelang mir, ein paar Blumen zu ergattern. Ich habe sie immer in Ehren gehalten.«
Ich sah auf die Fotos in dem Album und strich mit den Fingerspitzen behutsam über die brüchigen getrockneten Blumen. »Du hast Anastasia gesehen? Sie hat tatsächlich diese Blumen geworfen?«
»Es war ein freches Ding, dieses Mädchen, voller Leben, ein richtiger Wildfang. Wir Kinder haben sie geliebt. Die Familie nannte sie liebevoll Kubyschka. Das heißt ›Pummelchen‹.«
Und jetzt war ich hier, Mitglied eines internationalen archäologischen Grabungsteams, und verbrachte meinen Sommer in Jeans und schmuddeligen Pullovern in einem begehbaren Zelt im Umland von Jekaterinburg. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, als hätte mich die Vergangenheit meiner Familie eingeholt.
Die Neugier brachte mich fast um. Ich drückte auf den Schalter, worauf der Motor zu surren begann und die Winde mich in den Schacht hinunterfuhr.
Zuerst umgab mich Dunkelheit, doch nach etwa sieben Metern wurden die Seiten des Schachtes von Glühbirnen erhellt. Mit meinen abgetragenen Reeboks trat ich immer wieder gegen die Wände, um nicht dagegen zustoßen.
Unter mir sah ich helles Licht, und plötzlich ergriff Roy den Gurt. »Okay, Baby, du bist unten.«
Ich ließ das Seil los und trat auf glitschige verschlammte Holzplanken. Als ich mich abschnallte, begann ich zu frösteln. Es war furchtbar kalt. Ich rieb mir die Arme. Durch die quadratische Öffnung des Schachtes schien grelles blaues Licht auf mich hinab.
Ein Stück von mir entfernt erhellten starke Halogenlampen den Boden der Kammer, die sich mindestens vier Meter in alle Richtungen erstreckte und damit breiter war als der Schacht selbst. Ein Teil der Kammer war in tiefe Dunkelheit gehüllt, wodurch eine ausgesprochen schaurige Atmosphäre entstand. Roy hatte die Wände mit einem Gerüst aus Balken und Streben gesichert, um einen Einsturz zu verhindern, doch das tröstete mich nicht. Ich hasste geschlossene Räume, vor allem Tunnel, was in meinem Job nicht gerade hilfreich war.
Ein kräftig gebauter Mann mit einem dicken grauen Schnurrbart und einer Metallbrille schlug mit einem Fäustel und einem breiten Meißel an einer Wand der Kammer den gefrorenen Torfboden weg. Tom Atkins aus Boston. Er unterbrach seine Arbeit und grinste mich an. »Hallo, Laura, alles klar?«
Vor seinen Füßen stand ein geöffneter Werkzeugkasten, und sein Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Luft. Tom trug eine dick gefütterte Columbia-Skijacke, warme Wollhandschuhe und Ohrenschützer. Neben ihm stand ein Klapptisch, auf dem Werkzeuge und Bürsten sowie zwei große elektrische Taschenlampen lagen. Er nahm die Ohrenschützer ab.
»Du hast dich aber gut eingedeckt, Tom«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf einen Haufen ungeöffneter Budweiser-und Heinekendosen, die in einer Ecke aufgestapelt waren.
»Erspar dir deinen Kommentar. Hier unten ist es kälter als in meinem Kühlschrank!«
»Und was habt ihr beide gefunden außer einem perfekten Ort, um euer Bier zu kühlen?«
»Sieh dir erst mal das hier an.« Tom zeigte auf ein Schüttelsieb aus Draht.
Ich nahm es in die Hand. In einer Ecke des Siebes lagen mehrere stark angelaufene Messingknöpfe einer Militäruniform. Ich sah ein paar kupferne Kopeken und silberne Rubel, auf denen ich nur mit Mühe die Jahreszahlen erkennen konnte: 1914 und 1916, und eine Münze aus dem Jahr 1912. Ein vergilbter Kamm aus Elfenbein und ein Teil eines Kofferverschlusses lagen ebenfalls in dem Sieb. Der Anblick des Kinderhaarbandes daneben jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken.
In der Zeit des Roten Terrors - der Säuberungsaktion nach der Oktoberrevolution, um die Macht durchzusetzen und Angst und Schrecken zu verbreiten - brachten die Bolschewisten ganze Familien um. Ich schüttelte den Kopf. »Traurig, aber interessant. «
»Den Jackpot findest du da drüben.« Tom zeigte mit dem Daumenindie Ecke der Kammer, in der er arbeitete. »Du solltest erst einmal tief durchatmen, Laura.«
»Warum?«
»Es ist ein bisschen unheimlich. Fast makaber.«
Ich nahm eine Taschenlampe von Toms Tisch und ging tiefer in die Kammer hinein. Als ich den kräftigen Lichtstrahl auf den gefrorenen Boden richtete, stieg pures Entsetzen in mir auf. Aus dem Dauerfrostboden ragte eine Hand heraus. Das Fleisch war unversehrt und ausgeblichen, die Finger von einer dünnen Schicht Schlamm überzogen und zur Faust geballt. Sie schien etwas festzuhalten. »Mein Gott . . .!«
»Bis jetzt hast du noch nichts gesehen. Schau mal hier.« Roy zeigte auf die gefrorene Wand.
Und dann sah ich es. Es war nicht nur eine Hand, sondern ein ganzer Leichnam. Das Gesicht einer Frau starrte aus der Torferde heraus. Es war ein grotesker Anblick. Auch ihre Kleidung war freigelegt. Sie trug eine helle Bluse und ein dunkles Oberteil aus Wolle, die aussahen, als stammten sie aus einem anderen Jahrhundert. »Wahnsinn!«
»Gruselig, nicht wahr?«, sagte Tom. »Der Dauerfrostboden hat sie tiefgefroren.«
»Das überrascht mich nicht, Baby«, fügte Roy hinzu. »In einem solchen Boden hat man sogar schon unversehrte Wollhaarmammuts gefunden. Wirf mal einen Blick nach links.«
Ich folgte der Aufforderung und sah die Überreste einer dunklen Jacke aus grobem Stoff aus der braunen Erde herausragen. Etwa dreißig Zentimeter des Kleidungsstückes waren freigelegt. Darunter zeichneten sich die vagen Umrisse eines kleinen menschlichen Rumpfes ab.
»Da liegt noch eine Leiche«, sagte Roy. »Wir wissen nicht, ob es die eines Kindes oder eines Erwachsenen ist, und es wird eine Weile dauern, bis wir sie ausgegraben haben. Zuerst konzentrieren wir uns auf die Frau.«
Fröstelnd richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau und sah sie mir genauer an. Der gut erhaltene Kopf war deutlich sichtbar. Die Augen waren geschlossen. Ich sah ihre Nase, die Lippen, Ohren und Wangen. Ein paar Locken ihres dunklen Haars fielen auf ihr Gesicht und die Stirn. Sie hatte hübsche Wangenknochen. Ich richtete den Schein der Taschenlampe auf ihr bleiches Gesicht. Der Anblick wühlte mich auf, denn dies war einer der bedeutendsten Funde, die jemals in Jekaterinburg gemacht worden waren. »Unglaublich. Ich frage mich, wer sie war.«
»Keine Ahnung. Aber da ist noch etwas«, sagte Roy.
»Was denn?«
»Schau mal, was sie in der Hand hält.«
Ich richtete die Taschenlampe auf die geballte Faust und fragte mich, wie viele Jahrzehnte sie die Hand schon ballte. Offenbar umklammerte sie eine Metallkette. »Was ist das?«
»Sieht wie ein Schmuckstück aus«, meinte Tom.
»Wahrscheinlich hast du recht. Möchte jemand von euch versuchen, die Hand zu öffnen?«
Roy grinste mich an. »Wir dachten, das überlassen wir dir.«
»Vielen Dank!«
»Du bist der Boss, Baby.« Joe reichte mir ein Paar Einweghandschuhe.
»Okay, ich versuche es. Halt bitte die Taschenlampe«, bat ich ihn.
Roy richtete das Licht auf die geballte Faust. Ich streifte die Handschuhe über, atmete tiefdurch und schloss kurz die Augen. Dann umklammerte ich den Zeigefinger und das Handgelenk, zog vorsichtig an dem Finger und versuchte, die Hand zu öffnen.
Das Fleisch fühlte sich wie harter, kalter Marmor an.
Ich hatte Angst, die Haut könnte zerreißen oder die ganze Hand wie feines Porzellan zerbrechen. Zu meiner Überraschung öffneten sich die Finger lautlos, zwar nur ein kleines Stück, aber es reichte aus, um zu sehen, was sie festhielt. »Komm näher heran mit dem Licht«, bat ich Roy.
Er richtete die Taschenlampe auf die geöffnete Hand. In den ausgeblichenen weißen Furchen fand ich eine Kette und ein Medaillon.
Es sah nicht so teuer und ausgefallen aus wie andere in Jekaterinburg gefundene Schmuckstücke, welche Verwandte des Adelshauses oder reiche Händler, die hier ermordet worden waren, versteckt hatten. Ich zog das Medaillon mit der dünnen Kette heraus und wischte es vorsichtig mit den Fingern ab. Auf der Vorderseite des Schmuckstückes, das teilweise mit Torf bedeckt war, entdeckte ich ein erhabenes Bild.
Roy reichte mir sein Taschenmesser. »Hier, versuch's mal damit. «
Ich nahm das Messer und kratzte die Erde ab. Es bestand kein Zweifel, dass das leicht nach vorne gewölbte goldene Familienwappen der Romanows die Vorderseite zierte. Ich erkannte den doppelköpfigen kaiserlichen Adler. Auf der Rückseite fand ich eine Gravur, doch die Korrosion hatte sie unkenntlich gemacht. Mein Herzschlag setzte aus.
»Meinst du, wir hatten Glück?«, fragte Tom begeistert.
»Das frage ich mich selbst. Ich wünschte, ich wüsste es.«
»Könnte es sein, dass wir die sterblichen Überreste einer Romanow gefunden haben, Baby?«, wollte Roy wissen.
Ich antwortete nicht und starrte wie gebannt auf das Medaillon.
Tom rieb sich die eisigen Hände, als wollte er sie durch die Reibung in Brand setzen. »Wer weiß? Jedenfalls müssen wir die Russen informieren, und wir müssen die Leiche aus dem Dauerfrostbodenherausholen. Hoffentlich erfahren wir bei der genaueren Untersuchung, ob ihr Körper irgendwelche Wunden aufweist und wie sie möglicherweise gestorben ist.«
Den Russen oblag die Aufsicht über die Grabungsstätte. Jeden Tag kam ein Inspektor aus Jekaterinburg und überprüfte unsere Fortschritte. Doch daran dachte ich nicht, als ich auf das Medaillon blickte und angestrengt nachdachte. »Nein, ihr macht vorläufig gar nichts und informiert niemanden. Noch nicht.«
Tom runzelte die Stirn.
»Warum nicht?«, fragte Roy.
Ich war wie gelähmt und wahnsinnig aufgeregt, als ich noch einmal auf die beiden Leichen starrte. Intuitiv hob ich den Kopf zu der Öffnung des Schachtes. Das blaue Licht, das in diesem Augenblick auf mich herabschien, war wie eine Erleuchtung. Ich umklammerte das Medaillon. Mein Herz begann zu rasen.
»Was ist los?«, fragte Roy, als er bemerkte, wie fassungslos ich war.
Ich ging zurück zu dem Sitzgurt und schnallte mich fest. »Macht Fotos von der Leiche, und zwar aus allen Winkeln. Wir brauchen auch eine Haarprobe für eine DNA-Analyse. Ich will wissen, ob diese Frau eine Romanow oder eine Blutsverwandte der Zarenfamilie sein könnte.« Ich drückte auf den Schalter, worauf die Winde mich nach oben zog.
»Eh, wo gehst du hin, Baby?«, fragte Roy irritiert.
»Ich muss einen Flug buchen. Und frag mich nicht, wohin. Das würdest du sowieso nicht glauben.«
Einige Ereignisse in unserem Leben treffen uns mit einer so ungeheuren Wucht, dass wir sie kaum begreifen können. Die Geburt unseres ersten Kindes. Oder die Hand, die erschlafft, wenn wir am Totenbett eines geliebten Menschen sitzen. Das Mysterium, das diese Leichen im Dauerfrostboden umgab, lag auf derselben seismischen Skala. In den nächsten achtzehn Stunden konnte ich weder richtig denken noch schlafen. Aber ich erinnere mich noch gut daran, wie ich nach dem Flug von Jekaterinburg nach Moskau am nächsten Nachmittag am Londoner Heathrow Airport landete.
Als Erstes suchte ich die Telefonnummer heraus, die ich mir ins Notizbuch geschrieben hatte, und rief sie noch einmal vom Handy aus an. Es klingelte und klingelte. Ich versuchte es noch weitere sechs Mal mit demselben Ergebnis. Eine Computer- stimme forderte mich auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Es war die sechste seit dem Morgen.
Ich war erschöpft, doch ich hoffte, dass die Lösung des Geheimnisses um die Leichen in Jekaterinburg nur ein paar Hundert Meilen entfernt lag.
Der Flug nach Dublin über die Irische See dauerte eine knappe Stunde. Als das Flugzeug von Aer Lingus zur Landung ansetzte, erblickte ich die grüne irische Küste, über die dicke, dunkle Regenwolken hinwegzogen.
Nachdem ich einen Wagen gemietet und in einer Straßenkarte nach dem kürzesten Weg gesucht hatte, war wieder eine Stunde vergangen. Es regnete unaufhörlich, als ich Richtung Norden fuhr. Ich konnte es kaum erwarten, mein Ziel zu erreichen.
Pechschwarze Wolkenfelder verdeckten die Sonne, doch als ich in der Nähe einer Stadt namens Drogheda über eine große, moderne Brücke fuhr, brachen einzelne Strahlen durch die Wolken. Bald sah ich die irische Küste und die zerklüfteten Mourne Mountains vor mir. Es war ein eindrucksvolles Spiel leuchtend grüner Farbschattierungen, die so intensiv waren, dass meine Augen brannten.
Jetzt musste ich nur noch das Dorf finden, das ich suchte, und den Mann, der mir - so hoffte ich - bei der Lösung des Rätsels helfen konnte.
Copyright 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
»Heute Morgen ist nicht viel Verkehr. Dreißig Minuten, länger nicht«, sagte mein russischer Fahrer, als unser Landrover an imposanten Granitgebäuden vorbeifuhr, den Relikten einer längst vergangenen prächtigen Epoche.
Ich lehnte mich zurück und sah das alte kaiserliche Jekaterinburg an mir vorüberziehen. Die Stadt, die 1723 zu Ehren von Kaiserin Katharina der Ersten ihren Namen erhalten hat, liegt im Schatten des Urals. Die Landschaft erinnert an die zerklüftete Schönheit Alaskas - dichte Wälder mit Wölfen und Bären, tiefe Schluchten und schneebedeckte Gipfel. Ergiebige Erzminen, welche die größten Schätze der Welt - Platin und Smaragde, Gold und Diamanten - bergen, durchziehen die felsigen Bergketten, die hinter der sibirischen Metropole aufragen.
Als wir Jekaterinburg hinter uns ließen und an den mit Birkenwäldern bewachsenen Hängen vorbeifuhren, öffnete ich die Lederaktentasche auf meinem Schoß und nahm eine Akte heraus. Auf dem blauen Aktendeckel stand:
VORLÄUFIGER BERICHT ÜBER DIE ERGEBNISSE DER ARCHÄOLOGISCHEN GRABUNGEN IN JEKATERINBURG
Dr. Laura Pawlow, Forensische Pathologin, verantwortliche Archäologin der Grabungen
Ich blätterte den dicken Papierstapel durch und sah mir noch einmal die Ergebnisse meiner Arbeit der letzten drei Monate an. Dies war meine erste Reise nach Jekaterinburg, und unser Team kam von überall her: forensische Archäologen, Wissenschaftler und Studenten aus Amerika, England, Deutschland, Italien und natürlich aus unserem Gastland Russland. Für unser gemeinsames Abenteuer erhielten wir nur eine kurze Einweisung: Wir sollten in den Wäldern nach Beweisen für Massenhinrichtungen während des Roten Terrors zur Zeit der russischen Revolution graben.
Viele Tausende kamen um, nicht zuletzt auch die Romanows, die russische Zarenfamilie - der Zar, die Zarin, ihre vier hübschen Töchter und ihr jüngstes Kind, der dreizehnjährige Alexej - von Kugeln und Bajonetten durchbohrt, ihre Schädel von Gewehrkolben zertrümmert und ihre Leichen mit Schwefelsäure übergossen.
Das Ipatjew-Haus, in welchem die Familie gefangen gehalten worden war, wurde von den Stadtbewohnern das Haus der Toten Seelen genannt. Aber die Roten richteten während ihrer Herrschaft so viele Menschen hin, deren Leichen sie in Minen- schächte warfen und in anonymen Gräbern in den weiten Wäldern außerhalb von Jekaterinburg vergruben, dass die Bewohner ihrer Stadt einen neuen Namen gaben: Stadt der Toten Seelen.
Mit der Hitze und den vielen Mückenhatte ich nicht gerechnet. Im Winter gleicht Sibirien einem Gefrierschrank, doch in den kurzen, heißen Sommern herrschen oft hohe Temperaturen. In den Wäldern wimmelt es dann von Fliegen und Mücken. Die Hitze ist so stark, dass süßlich duftendes Harz von den Bäumen tropft und dessen wohlriechender Geruch die Luft erfüllt.
Als mein Fahrer auf einen schmalen, schlammigen Pfad einbog, auf dem schwere Lastwagen Spurrillen hinterlassen hatten, hörte es auf zu regnen. Unser Landrover steuerte auf eine Ansammlung von Baracken und stabilen, begehbaren Zelten zu, die für die Dauer unserer Grabungen in der Mitte einer Lichtung in einem Birkenwald aufgebaut worden waren. Auf einem von Hand beschriebenen Holzschild stand auf Englisch und Russisch:
GRABUNGSSTÄTTE - PRIVATGRUNDSTÜCK UNBEFUGTES BETRETEN VERBOTEN!
Es gab noch etwas, womit ich nicht gerechnet hatte, als wir an diesem Sommermorgen neben einem der Zelte anhielten. Ich war in diesen nach Harz duftenden Wald gekommen, um die Geister der Vergangenheit auszugraben. Doch absolut nichts hätte mich auf das ungeheure Geheimnis vorbereiten können, über das ich stolperte, als die gefrorene sibirische Erde ihre Toten preisgab.
Denn mit den Toten kam die Wahrheit ans Licht.
Und mit der Wahrheit kamen die ersten Gerüchte der unglaublichsten Geschichte auf, die ich jemals gehört hatte.
Ich stieg aus dem Wagen, schob die Plane zur Seite und betrat mein Zelt. Als ich an meinem Arbeitstisch Platz nahm, kam Roy Moran herein, der die Ausgrabungen vor Ort beaufsichtigte. »Hallo, Baby.«
Wir nannten ihn Memphis Roy, und er nannte mich immer Baby. In Memphis nannte jeder jeden Baby. Die Tatsache, dass einer Frau die Leitung der Grabungen oblag, änderte nichts daran. Wenn ich ein Mann gewesen wäre, hätte Roy mich auch Baby genannt.
Roy ist ein großer und knochiger, nüchterner Typ und einer der Besten auf seinem Gebiet. Ich öffnete meine Aktentasche, um Unterlagen herauszunehmen, und sagte: »Wolltest du nicht heute Morgen im Schacht 7 graben?«
»Klar, Baby.« Roy, der ein wenig außer Atem war, stemmte die Hände in die Hüften. In seinem Gesicht spiegelten sich Erregung und Verwirrung. Er nahm das schmutzige Basecap der Detroit Tigers ab, das er immer trug, wischte sich den Schweiß von der Stirn und grinste. »Sieht so aus, als könnte die Sieben unsere Glückszahl sein.«
»Spuck's aus!«
»Wir haben so tief gegraben, wie wir konnten, und sind auf eine torfige Schicht Dauerfrostboden gestoßen. Aber wir haben etwas gefunden, Laura. Ich meine, wir haben wirklich etwas gefunden. «
Ich warf den Stift auf den Tisch. Roy gehörte nicht zu den Leuten, die sich leicht beeindrucken ließen. Doch in diesem Augenblick schien er unter Spannung zu stehen und vor Begeisterung überzusprudeln wie ein aufgeregter zwölfjähriger Junge. »Nun sag schon!«, forderte ich ihn auf.
»Das musst du dir selbst ansehen, Baby.«
Ich folgte Roy durch den Wald. Er bahnte sich mit seinen muskulösen Beinen langsam einen Weg durch regennassen Farn und an alten umgestürzten Bäumen vorbei. »Der Schacht ist über zwanzig Meter tief«, erklärte er mir unterwegs.
Überall auf der Lichtung lagen Bergbaugeräte, Stützpfeiler und Material zum Ausbau der Schächte. Dazwischen standen zahlreiche Lastwagen und SUVs. »Warum habe ich das Gefühl, dass du mir gleich etwas Interessantes erzählst? Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du gefunden hast.«
Roy ging grinsend weiter. Seine Erregung wirkte ansteckend auf mich. Auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen, und seine Augen strahlten. »Es ist eine Frau, Baby. Wir glauben, dass da unten eine weitere Leiche liegen könnte, aber sie ist zu tief vergraben, um zu sehen, was es ist. Und wer weiß? Vielleicht sind es sogar noch mehr!«
Als wir zwischen silbrig schimmernden Birken hindurchgingen und vor der Öffnung eines Minenschachtes stehen blieben, wurde ich nervös. Ich roch den intensiven erdigen Geruch des braunen Torfs. Das Loch im Boden war einen knappen Quadratmeter groß, und dicke Holzbalken sicherten die Seitenwände. Diese Grube gehörte zu einer Reihe von Schächten, die wir bei unseren Ausgrabungen erforschten. Wir suchten nach Hinweisen auf weitere Fundstücke aus der Romanow-Zeit, als der größte Teil dieses Gebietes eine Hinrichtungsstätte gewesen war.
In der Nacht des 16./17. Juli 1918 verschwand in Jekaterinburg die Romanow-Familie - die damals reichste Adelsfamilie der Welt. Augenzeugenberichten zufolge soll die ganze Familie umgebracht worden sein.
Doch aus irgendwelchen unbekannten Gründen beschlossen die Bolschewisten, ihren Tod nicht zu bestätigen, und über lange Zeit hielten sich hartnäckige Gerüchte, dass einige - wenn nicht gar alle Familienmitglieder - der Hinrichtung hatten entkommen können. Es gab auch Hinweise auf geheime Pläne, die Familie aus Jekaterinburg, von dem geheimen Ort, wo sie gefangen gehalten worden war, zu retten. Jahrelang erschienen immer wieder Berichte, dass eine oder mehrere Töchter des Zaren und ihr Bruder Alexej dem Tod entkommen seien.
Die Romanows hatten Edelsteine, Diamanten, Smaragde und Rubine in ihre Unterkleidung eingenäht, weil sie hofften, dass ihnen diese Wertgegenstände bei der Flucht behilflich wären. Später hieß es, die Edelsteine hätten die Qualen während ihrer Hinrichtung verlängert und den Todhinausgezögert.
Solchen Geschichten hatte ich in meiner Kindheit gebannt gelauscht. Ob sie der Wahrheit entsprachen, spielte keine Rolle. Jedenfalls faszinierte mich, wie so viele andere auch, dieses Geheimnis, und ich wollte glauben, dass Anastasia und Alexej entkommen waren.
Zahllose Gerüchte rankten sich um ihre Ermordung, und Jahrzehnte später wurden bei verschiedenen Grabungen außerhalb von Jekaterinburg die sterblichen Überreste von sechs Erwachsenen gefunden. Unter ihnen sollten sich angeblich der Zar, seine Gattin und zwei seiner Töchter befinden. DNA-Vergleiche mit der blutsverwandten britischen Königsfamilie bestätigten die möglichen Identitäten mit hoher Wahrscheinlichkeit.
Über die Entdeckung wurde heftig diskutiert. Viele Experten glaubten, es handele sich um die Skelette der Romanows. Ebenso viele glaubten es nicht und führten als Beweis unter anderem die Tatsache an, dass zahllose Verwandte der Zarenfamilie in dieser Gegend hingerichtet worden waren und es ebenso gut deren Skelette sein konnten, die man gefunden hatte.
Bei einer späteren Grabung in einem Wald westlich von Jekaterinburg wurden zwei weitere vollständige menschliche Skelette gefunden. DNA-Tests deuteten darauf hin, dass es die Knochen der beiden vermissten Kinder des Zaren, Anastasia und Alexej, waren. Es konnte jedoch niemals eindeutig bewiesen werden, dass eines der Skelette das von Anastasia war. Es bestand eine gewisse Wahrscheinlichkeit, doch zweifelsfreie Beweise gab es nicht. Deshalb wurden diese Tests von einigen Wissenschaftlern und hartnäckigen Zweiflern innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche als uneindeutig zurückgewiesen. Was blieb, war die quälende Ungewissheit, dass das Geheimnis fortbestand und das Rätsel noch immer nicht gelöst war.
Über der Öffnung des Schachtes hatten unsere Techniker eine von einem Stromgenerator angetriebene, elektrische Winde mit einem alten Sitzgurt installiert. Von unten stieg der Geruch des Torfes herauf. »Was denkst du: Knochen oder ein vollständiges Skelett?«, fragte ich Roy.
»Ich glaube, es ist die Leiche einer Frau. Der Dauerfrostboden hat sie mumifiziert, und sie ist durch den Torf und die Kälte perfekt erhalten.«
Mir lief vor Erregung ein Schauer über den Rücken. Ich stützte mich mit einer Hand gegen eine Birke, deren weiße Rinde den Stamm vor der Sonneneinstrahlung schützte. »Wie alt?«
»Meiner Erfahrung nach sprechen wir über die Zeit der letzten Romanows. Darauf weist auch ihre Kleidung hin.«
Roy fuhr als Erster hinunter. Er winkte mir zu, ehe er die elektrische Winde aktivierte und in dem dunklen Schacht verschwand. Ein paar Minuten später kehrte der leere Sitzgurt zurück. Ich schnallte mich fest und folgte ihm.
Während unserer Grabungen in Jekaterinburg im letzten Monat hatten wir allerhand gefunden: verrostete Mosin-Nagant- Gewehre, von Grünspan überzogene Kupfermünzen, Patronenhülsen und eine Brille. Wir waren sogar auf mehrere Verstecke der Zarenfamilie voller Silber-und Goldbarren sowie persönlicher Gegenstände und Schmuck gestoßen. So viele wohlhabende Familien mit Verbindungen zum Zarenhaus waren in der Hoffnung, dem Gemetzel zu entkommen, während der Revolution hierher geflohen, aber die Roten hatten jeden Einzelnen von ihnen aufgespürt.
Nicht alle Opfer waren wohlhabend. Auch meine eigene Vergangenheit lag in diesen Wäldern begraben. Lange bevor ich nach Jekaterinburg kam, hatte ich viel über diese Stadt an den gewundenen, breiten Ufern der Isset gehört, in der meine Großmutter Marijana als Kind gelebt hatte. Sie war elf Jahre alt, als die Rotgardisten während der Oktoberrevolution in ihre Heimatstadt einfielen. Ihre Familie waren einfache Muschiks - leidgeprüfte russische Bauern und Bergarbeiter, die bis zum Umfallen arbeiteten, um Erz aus dem Dauerfrostboden zu fördern, aus der steinharten, torfigen sibirischen Erde, die selbst im Sommer gefroren war.
Drei von Marijanas Brüdern, darunter auch ihr geliebter Pjotr, der gerade mal fünfzehn war, wurden in den Wäldern hinter der Stadt erschossen. Was hatten sie verbrochen? Sie hatten protestiert, als die Roten ihren kleinen Minenbetrieb beschlagnahmten, ein dilettantisches Unternehmen, das ihre zwölfköpfige Familie kaum ernährte. Lenin hielt nichts von Privatbesitz.
Persönliche Besitztümer jeglicher Art gehörten nun den Sowjets. Alle, die protestierten, wurden ins Gefängnis geworfen. Wenn sie weiterhin protestierten, wurden sie erschossen. Das alles gehörte zum Roten Terror, der Russland heimsuchte, als Lenin die Macht ergriff.
Während eines ungewöhnlich kalten Winters reiste die Familie meiner Großmutter auf der Flucht vor der Diktatur durch Sibirien und bestieg in Sankt Petersburg ein verrostetes Dampfschiff, das nach Amerika fuhr. Die einzigen Erinnerungen, die sie in ihren Stofftaschen bei sich trugen, waren einige verblichene Familienfotos in bräunlichen Farbtönen und Postkarten des kaiserlichen Jekaterinburg - Andenken auf brüchigem Papier, das im Laufe der Jahre vergilbte und immer nach verbranntem Holz roch. Ich erinnere mich noch an diesen Geruch, der mir in die Nase stieg, wenn ich als Kind in dem Familienalbum mit den verblassten Bildern aus einer anderen Welt blätterte.
Damals fand ich zwischen den Seiten des Albums auch ein altes Schwarz-Weiß-Foto und daneben eine Handvoll zerbröselter getrockneter Blumen in einem alten Bogen Pergamentpapier, dessen Ränder mit der Zeit fleckig geworden waren.
»Was ist das, Nana?« Die Fotografie zeigte einen beeindruckenden, mit flatternden Fahnen des russischen Zarenreiches geschmückten Bahnhof. Auf den Stufen des Bahnhofs standen unverkennbar die Romanows: der Zar und seine Gattin, die einer Menge zuwinkten, und neben ihnen ihr Sohn und die Töchter. Ich erkannte Anastasia, die ein weißes Kleid und hübsche Schuhe trug. Sie hatte eine Schleife im Haar und hielt einen Blumenstrauß in der Hand.
»Das wurde beim Besuch der Zarenfamilie 1913 in Jekaterinburg aufgenommen. Das war vor dem Krieg, bevor in Russland die Hölle ausbrach.« Großmutters blaue Augen wurden feucht, als die Erinnerungen an ihr schönes altes Leben in ihr aufstiegen.
»Und die Blumen?«
»Niemand in der Zarenfamilie war so rebellisch und geistreich wie Anastasia. Als sie an jenem Tag auf den Stufen des Bahnhofs stand, warf sie den Kindern in der Menge den Blumenstrauß zu. Du kannst dir sicherlich vorstellen, was für ein Gedränge entstand. Ich wurde fast totgetrampelt, doch es gelang mir, ein paar Blumen zu ergattern. Ich habe sie immer in Ehren gehalten.«
Ich sah auf die Fotos in dem Album und strich mit den Fingerspitzen behutsam über die brüchigen getrockneten Blumen. »Du hast Anastasia gesehen? Sie hat tatsächlich diese Blumen geworfen?«
»Es war ein freches Ding, dieses Mädchen, voller Leben, ein richtiger Wildfang. Wir Kinder haben sie geliebt. Die Familie nannte sie liebevoll Kubyschka. Das heißt ›Pummelchen‹.«
Und jetzt war ich hier, Mitglied eines internationalen archäologischen Grabungsteams, und verbrachte meinen Sommer in Jeans und schmuddeligen Pullovern in einem begehbaren Zelt im Umland von Jekaterinburg. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, als hätte mich die Vergangenheit meiner Familie eingeholt.
Die Neugier brachte mich fast um. Ich drückte auf den Schalter, worauf der Motor zu surren begann und die Winde mich in den Schacht hinunterfuhr.
Zuerst umgab mich Dunkelheit, doch nach etwa sieben Metern wurden die Seiten des Schachtes von Glühbirnen erhellt. Mit meinen abgetragenen Reeboks trat ich immer wieder gegen die Wände, um nicht dagegen zustoßen.
Unter mir sah ich helles Licht, und plötzlich ergriff Roy den Gurt. »Okay, Baby, du bist unten.«
Ich ließ das Seil los und trat auf glitschige verschlammte Holzplanken. Als ich mich abschnallte, begann ich zu frösteln. Es war furchtbar kalt. Ich rieb mir die Arme. Durch die quadratische Öffnung des Schachtes schien grelles blaues Licht auf mich hinab.
Ein Stück von mir entfernt erhellten starke Halogenlampen den Boden der Kammer, die sich mindestens vier Meter in alle Richtungen erstreckte und damit breiter war als der Schacht selbst. Ein Teil der Kammer war in tiefe Dunkelheit gehüllt, wodurch eine ausgesprochen schaurige Atmosphäre entstand. Roy hatte die Wände mit einem Gerüst aus Balken und Streben gesichert, um einen Einsturz zu verhindern, doch das tröstete mich nicht. Ich hasste geschlossene Räume, vor allem Tunnel, was in meinem Job nicht gerade hilfreich war.
Ein kräftig gebauter Mann mit einem dicken grauen Schnurrbart und einer Metallbrille schlug mit einem Fäustel und einem breiten Meißel an einer Wand der Kammer den gefrorenen Torfboden weg. Tom Atkins aus Boston. Er unterbrach seine Arbeit und grinste mich an. »Hallo, Laura, alles klar?«
Vor seinen Füßen stand ein geöffneter Werkzeugkasten, und sein Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Luft. Tom trug eine dick gefütterte Columbia-Skijacke, warme Wollhandschuhe und Ohrenschützer. Neben ihm stand ein Klapptisch, auf dem Werkzeuge und Bürsten sowie zwei große elektrische Taschenlampen lagen. Er nahm die Ohrenschützer ab.
»Du hast dich aber gut eingedeckt, Tom«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf einen Haufen ungeöffneter Budweiser-und Heinekendosen, die in einer Ecke aufgestapelt waren.
»Erspar dir deinen Kommentar. Hier unten ist es kälter als in meinem Kühlschrank!«
»Und was habt ihr beide gefunden außer einem perfekten Ort, um euer Bier zu kühlen?«
»Sieh dir erst mal das hier an.« Tom zeigte auf ein Schüttelsieb aus Draht.
Ich nahm es in die Hand. In einer Ecke des Siebes lagen mehrere stark angelaufene Messingknöpfe einer Militäruniform. Ich sah ein paar kupferne Kopeken und silberne Rubel, auf denen ich nur mit Mühe die Jahreszahlen erkennen konnte: 1914 und 1916, und eine Münze aus dem Jahr 1912. Ein vergilbter Kamm aus Elfenbein und ein Teil eines Kofferverschlusses lagen ebenfalls in dem Sieb. Der Anblick des Kinderhaarbandes daneben jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken.
In der Zeit des Roten Terrors - der Säuberungsaktion nach der Oktoberrevolution, um die Macht durchzusetzen und Angst und Schrecken zu verbreiten - brachten die Bolschewisten ganze Familien um. Ich schüttelte den Kopf. »Traurig, aber interessant. «
»Den Jackpot findest du da drüben.« Tom zeigte mit dem Daumenindie Ecke der Kammer, in der er arbeitete. »Du solltest erst einmal tief durchatmen, Laura.«
»Warum?«
»Es ist ein bisschen unheimlich. Fast makaber.«
Ich nahm eine Taschenlampe von Toms Tisch und ging tiefer in die Kammer hinein. Als ich den kräftigen Lichtstrahl auf den gefrorenen Boden richtete, stieg pures Entsetzen in mir auf. Aus dem Dauerfrostboden ragte eine Hand heraus. Das Fleisch war unversehrt und ausgeblichen, die Finger von einer dünnen Schicht Schlamm überzogen und zur Faust geballt. Sie schien etwas festzuhalten. »Mein Gott . . .!«
»Bis jetzt hast du noch nichts gesehen. Schau mal hier.« Roy zeigte auf die gefrorene Wand.
Und dann sah ich es. Es war nicht nur eine Hand, sondern ein ganzer Leichnam. Das Gesicht einer Frau starrte aus der Torferde heraus. Es war ein grotesker Anblick. Auch ihre Kleidung war freigelegt. Sie trug eine helle Bluse und ein dunkles Oberteil aus Wolle, die aussahen, als stammten sie aus einem anderen Jahrhundert. »Wahnsinn!«
»Gruselig, nicht wahr?«, sagte Tom. »Der Dauerfrostboden hat sie tiefgefroren.«
»Das überrascht mich nicht, Baby«, fügte Roy hinzu. »In einem solchen Boden hat man sogar schon unversehrte Wollhaarmammuts gefunden. Wirf mal einen Blick nach links.«
Ich folgte der Aufforderung und sah die Überreste einer dunklen Jacke aus grobem Stoff aus der braunen Erde herausragen. Etwa dreißig Zentimeter des Kleidungsstückes waren freigelegt. Darunter zeichneten sich die vagen Umrisse eines kleinen menschlichen Rumpfes ab.
»Da liegt noch eine Leiche«, sagte Roy. »Wir wissen nicht, ob es die eines Kindes oder eines Erwachsenen ist, und es wird eine Weile dauern, bis wir sie ausgegraben haben. Zuerst konzentrieren wir uns auf die Frau.«
Fröstelnd richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau und sah sie mir genauer an. Der gut erhaltene Kopf war deutlich sichtbar. Die Augen waren geschlossen. Ich sah ihre Nase, die Lippen, Ohren und Wangen. Ein paar Locken ihres dunklen Haars fielen auf ihr Gesicht und die Stirn. Sie hatte hübsche Wangenknochen. Ich richtete den Schein der Taschenlampe auf ihr bleiches Gesicht. Der Anblick wühlte mich auf, denn dies war einer der bedeutendsten Funde, die jemals in Jekaterinburg gemacht worden waren. »Unglaublich. Ich frage mich, wer sie war.«
»Keine Ahnung. Aber da ist noch etwas«, sagte Roy.
»Was denn?«
»Schau mal, was sie in der Hand hält.«
Ich richtete die Taschenlampe auf die geballte Faust und fragte mich, wie viele Jahrzehnte sie die Hand schon ballte. Offenbar umklammerte sie eine Metallkette. »Was ist das?«
»Sieht wie ein Schmuckstück aus«, meinte Tom.
»Wahrscheinlich hast du recht. Möchte jemand von euch versuchen, die Hand zu öffnen?«
Roy grinste mich an. »Wir dachten, das überlassen wir dir.«
»Vielen Dank!«
»Du bist der Boss, Baby.« Joe reichte mir ein Paar Einweghandschuhe.
»Okay, ich versuche es. Halt bitte die Taschenlampe«, bat ich ihn.
Roy richtete das Licht auf die geballte Faust. Ich streifte die Handschuhe über, atmete tiefdurch und schloss kurz die Augen. Dann umklammerte ich den Zeigefinger und das Handgelenk, zog vorsichtig an dem Finger und versuchte, die Hand zu öffnen.
Das Fleisch fühlte sich wie harter, kalter Marmor an.
Ich hatte Angst, die Haut könnte zerreißen oder die ganze Hand wie feines Porzellan zerbrechen. Zu meiner Überraschung öffneten sich die Finger lautlos, zwar nur ein kleines Stück, aber es reichte aus, um zu sehen, was sie festhielt. »Komm näher heran mit dem Licht«, bat ich Roy.
Er richtete die Taschenlampe auf die geöffnete Hand. In den ausgeblichenen weißen Furchen fand ich eine Kette und ein Medaillon.
Es sah nicht so teuer und ausgefallen aus wie andere in Jekaterinburg gefundene Schmuckstücke, welche Verwandte des Adelshauses oder reiche Händler, die hier ermordet worden waren, versteckt hatten. Ich zog das Medaillon mit der dünnen Kette heraus und wischte es vorsichtig mit den Fingern ab. Auf der Vorderseite des Schmuckstückes, das teilweise mit Torf bedeckt war, entdeckte ich ein erhabenes Bild.
Roy reichte mir sein Taschenmesser. »Hier, versuch's mal damit. «
Ich nahm das Messer und kratzte die Erde ab. Es bestand kein Zweifel, dass das leicht nach vorne gewölbte goldene Familienwappen der Romanows die Vorderseite zierte. Ich erkannte den doppelköpfigen kaiserlichen Adler. Auf der Rückseite fand ich eine Gravur, doch die Korrosion hatte sie unkenntlich gemacht. Mein Herzschlag setzte aus.
»Meinst du, wir hatten Glück?«, fragte Tom begeistert.
»Das frage ich mich selbst. Ich wünschte, ich wüsste es.«
»Könnte es sein, dass wir die sterblichen Überreste einer Romanow gefunden haben, Baby?«, wollte Roy wissen.
Ich antwortete nicht und starrte wie gebannt auf das Medaillon.
Tom rieb sich die eisigen Hände, als wollte er sie durch die Reibung in Brand setzen. »Wer weiß? Jedenfalls müssen wir die Russen informieren, und wir müssen die Leiche aus dem Dauerfrostbodenherausholen. Hoffentlich erfahren wir bei der genaueren Untersuchung, ob ihr Körper irgendwelche Wunden aufweist und wie sie möglicherweise gestorben ist.«
Den Russen oblag die Aufsicht über die Grabungsstätte. Jeden Tag kam ein Inspektor aus Jekaterinburg und überprüfte unsere Fortschritte. Doch daran dachte ich nicht, als ich auf das Medaillon blickte und angestrengt nachdachte. »Nein, ihr macht vorläufig gar nichts und informiert niemanden. Noch nicht.«
Tom runzelte die Stirn.
»Warum nicht?«, fragte Roy.
Ich war wie gelähmt und wahnsinnig aufgeregt, als ich noch einmal auf die beiden Leichen starrte. Intuitiv hob ich den Kopf zu der Öffnung des Schachtes. Das blaue Licht, das in diesem Augenblick auf mich herabschien, war wie eine Erleuchtung. Ich umklammerte das Medaillon. Mein Herz begann zu rasen.
»Was ist los?«, fragte Roy, als er bemerkte, wie fassungslos ich war.
Ich ging zurück zu dem Sitzgurt und schnallte mich fest. »Macht Fotos von der Leiche, und zwar aus allen Winkeln. Wir brauchen auch eine Haarprobe für eine DNA-Analyse. Ich will wissen, ob diese Frau eine Romanow oder eine Blutsverwandte der Zarenfamilie sein könnte.« Ich drückte auf den Schalter, worauf die Winde mich nach oben zog.
»Eh, wo gehst du hin, Baby?«, fragte Roy irritiert.
»Ich muss einen Flug buchen. Und frag mich nicht, wohin. Das würdest du sowieso nicht glauben.«
Einige Ereignisse in unserem Leben treffen uns mit einer so ungeheuren Wucht, dass wir sie kaum begreifen können. Die Geburt unseres ersten Kindes. Oder die Hand, die erschlafft, wenn wir am Totenbett eines geliebten Menschen sitzen. Das Mysterium, das diese Leichen im Dauerfrostboden umgab, lag auf derselben seismischen Skala. In den nächsten achtzehn Stunden konnte ich weder richtig denken noch schlafen. Aber ich erinnere mich noch gut daran, wie ich nach dem Flug von Jekaterinburg nach Moskau am nächsten Nachmittag am Londoner Heathrow Airport landete.
Als Erstes suchte ich die Telefonnummer heraus, die ich mir ins Notizbuch geschrieben hatte, und rief sie noch einmal vom Handy aus an. Es klingelte und klingelte. Ich versuchte es noch weitere sechs Mal mit demselben Ergebnis. Eine Computer- stimme forderte mich auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Es war die sechste seit dem Morgen.
Ich war erschöpft, doch ich hoffte, dass die Lösung des Geheimnisses um die Leichen in Jekaterinburg nur ein paar Hundert Meilen entfernt lag.
Der Flug nach Dublin über die Irische See dauerte eine knappe Stunde. Als das Flugzeug von Aer Lingus zur Landung ansetzte, erblickte ich die grüne irische Küste, über die dicke, dunkle Regenwolken hinwegzogen.
Nachdem ich einen Wagen gemietet und in einer Straßenkarte nach dem kürzesten Weg gesucht hatte, war wieder eine Stunde vergangen. Es regnete unaufhörlich, als ich Richtung Norden fuhr. Ich konnte es kaum erwarten, mein Ziel zu erreichen.
Pechschwarze Wolkenfelder verdeckten die Sonne, doch als ich in der Nähe einer Stadt namens Drogheda über eine große, moderne Brücke fuhr, brachen einzelne Strahlen durch die Wolken. Bald sah ich die irische Küste und die zerklüfteten Mourne Mountains vor mir. Es war ein eindrucksvolles Spiel leuchtend grüner Farbschattierungen, die so intensiv waren, dass meine Augen brannten.
Jetzt musste ich nur noch das Dorf finden, das ich suchte, und den Mann, der mir - so hoffte ich - bei der Lösung des Rätsels helfen konnte.
Copyright 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
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Bibliographische Angaben
- Autor: Glenn Meade
- 2012, 1. Auflage., 703 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Ins Deutsche übertr. v. Karin Meddekis
- Übersetzer: Karin Meddekis
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404166027
- ISBN-13: 9783404166022
- Erscheinungsdatum: 12.10.2012
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