Opfertod / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.1
Thriller. Originalausgabe
Er muss sie töten. Alle. Zusehen, wie ihre Augen brechen. Sie zerstören. Gleich bei ihrem ersten Fall gerät Kriminalpsychologin Lena Peters an einen Killer, der eine tödliche Mission verfolgt. Eine Mission, in der Lena eine entscheidende...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Opfertod / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.1 “
Er muss sie töten. Alle. Zusehen, wie ihre Augen brechen. Sie zerstören. Gleich bei ihrem ersten Fall gerät Kriminalpsychologin Lena Peters an einen Killer, der eine tödliche Mission verfolgt. Eine Mission, in der Lena eine entscheidende Rolle spielt. Doch davon ahnt sie nichts.
Lena weiß, wie Mörder ticken, was Obsession ist: Denn sie hat ihre eigenen Abgründe. Und dennoch sitzt sie bald in der Falle.
Lena weiß, wie Mörder ticken, was Obsession ist: Denn sie hat ihre eigenen Abgründe. Und dennoch sitzt sie bald in der Falle.
Klappentext zu „Opfertod / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.1 “
Er muss sie töten.Alle.
Zusehen, wie ihre Augen brechen.
Sie zerstören...
Gleich bei ihrem ersten Fall gerät Kriminalpsychologin Lena Peters an einen Killer, der eine tödliche Mission verfolgt. Eine Mission, in der Lena eine entscheidende Rolle spielt. Doch davon ahnt sie nichts. Lena weiß, wie Mörder ticken, was Obsession ist: Denn sie hat ihre eigenen Abgründe. Und dennoch sitzt sie bald in der Falle.
Lese-Probe zu „Opfertod / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.1 “
Opfertod von Hanna WinterI
Berlin, 8. Mai, 22.18 Uhr
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Der Regen lief ihr über das Gesicht, ihre federnden, schnellen Schritte knatschten auf dem nassen Asphalt und ihr verschwitztes T-Shirt klebte an ihrem Rücken wie eine zweite Haut. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, als Lena Peters vom Joggen zurückkam und vor ihrer Haustür in der Boxhagener Straße angelangt war. Außer Atem stützte sie sich auf ihren Knien ab und verschnaufte kurz. Mit den Gedanken bereits bei der morgigen Besprechung, zog Lena ihren Hausschlüssel aus der Trainingshose und lief durch den Innenhof, in den lediglich das schwache Licht umliegender Wohnungen fiel. Nur wenige Meter vor ihrer Erdgeschosswohnung blieb sie abrupt stehen. Ein Mann im Anorak stand vor ihrem Schlafzimmerfenster.
Was zum Teufel ...! Lenas Puls begann zu rasen. Zögerlich trat sie näher und beobachtete, wie der Mann den beleuchteten Raum auskundschaftete. Er stieg über die Terrakottakübel in die kleine, unbepflanzte Parzelle hinter der Wohnung, die nach Angaben der Maklerin einen Garten darstellen sollte. Der Mann näherte sich der Terrasse. Kurz überlegte Lena, die Polizei zu alarmieren, entschied aber, die Sache auf ihre Weise zu regeln.
So, wie sie bisher immer alles alleine geregelt hatte.
Vorsichtig griff sie den kleinen Spaten, der neben dem Sandkasten an der Hauswand lehnte, und schlich sich langsam von hinten an. Der Mann schien sie noch immer nicht bemerkt zu haben, obwohl Lena jetzt dicht hinter ihm war, denn er war kurz davor, seine Hand in den Spalt der gekippten Verandatür gleiten zu lassen. Lena holte zum Schlag aus, als der Mann sich in derselben Sekunde umwandte und ihn die flache Seite des Spatens gradewegs im Gesicht traf, während Lena schrie: »Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!«
Der Mann torkelte nach hinten, hielt sich ächzend vor Schmerz die Hände vor das Gesicht und ging rücklings zu Boden.
»Verdammt, sind Sie vollkommen wahnsinnig?!«, fuhr er Lena wütend an und hielt sich die blutige Nase. »Ich bin die Polizei!«
In diesem Moment fiel Lena auf, dass sie den Mann kannte.
»Herr Drescher? Volker Drescher?« Entsetzt ließ Lena den Spaten fallen und machte einen Schritt auf den Mann zu. Doch anstelle des stattlichen Kriminalisten, dessen sonnengebräuntes Gesicht sie aus zahlreichen Fernsehinterviews kannte, blickte unter der Kapuze des Anoraks ein schmächtiger Mann, Mitte vierzig, mit eingefallenen Zügen und spitzem Kinn hervor. Als er sich aufrichtete, war er kaum einen Kopf größer als Lena.
»Um Himmels willen! Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie hier ... «
Drescher lehnte ächzend an der Hauswand und rückte seine Brille zurecht, ehe er verärgert aufsah.
Verblüfft sah er Lena an. »Für eine Frau Ihrer Statur schlagen Sie aber ordentlich zu! «
Lena wusste, dass man ihr nicht viel Kraft zutraute, und war über seine Reaktion keineswegs überrascht. »Darf ich fragen, was Sie hier in meinem Garten zu suchen haben?«
»Ich habe geklingelt, aber es hat niemand geöffnet. Und als ich sah, dass Licht brannte ... «
»Ich lösche das Licht nie, wenn ich das Haus verlasse.«
Drescher schaute sie überrascht an, sagte aber nichts. »Ihre Nase, ist die gebrochen?«, fragte Lena ehrlich besorgt.
Er tastete seinen Nasenrücken ab und verneinte.
Lena streckte ihm ihre Hand entgegen und wartete darauf, dass er sie ergriff. Doch Drescher schlug ihre helfende Hand aus. Lena sah zu, wie er sich aufraffte und sich den Schmutz vom Anorak strich. »Kommen Sie, ich gebe Ihnen ein Pflaster«, sagte sie schnell. Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte Lena sich um und schloss die Wohnungstür auf.
Mist! Mist! Mist! Musste sie ausgerechnet ihren neuen Chef niederschlagen! »Und wenn Sie wollen, auch einen Whisky, das hilft gegen die Schmerzen«, fügte sie hinzu und wartete darauf, dass Drescher ihr folgte.
Die rund sechzig Quadratmeter große Altbauwohnung, für die Lena sich in erster Linie wegen der günstigen Miete entschieden hatte, war unrenoviert und konnte einen neuen Anstrich vertragen. Gleich neben der Eingangstür befand sich die Küche. Dahinter ein kleines Esszimmer, das an das Wohnzimmer grenzte. Am Ende des langen Flurs lagen Lenas Schlafzimmer, das Bad und ein winziger Raum, den sie als Arbeitszimmer nutzte. Bis auf ein paar Möbel gab es hier nicht den allerkleinsten Hinweis auf ein Privatleben. Keinerlei Familienfotos, Postkarten oder Souvenirs vergangener Urlaube. Nichts, was an ihre Vergangenheit erinnern sollte.
Lena streifte im Flur, in dem sich größtenteils unausgepackte Kisten türmten, ihre nassen Turnschuhe ab. Noch immer ein wenig verwirrt, begrüßte sie ihren gescheckten Kater Napoleon, der sie bereits sehnsüchtig erwartet zu haben schien und sich maunzend zwischen ihren Knöcheln schlängelte. Lena hob ihn hoch und streichelte ihn kurz.
»Nett haben Sie's hier«, sagte Drescher, der ihr gefolgt war, und nahm seine Kapuze ab, so dass sein lichtes braunes Haar zum Vorschein kam.
»Ist noch alles etwas provisorisch. Ich bin noch nicht zum Auspacken gekommen.« Sie setzte den Kater ab und führte Drescher ins Badezimmer. In Wahrheit konnte sie sich nicht vorstellen, in diesen vier Wänden die nächsten Wochen oder gar Monate zu verbringen. Obwohl sie schon öfter mehr oder weniger freiwillig umgezogen war, tat sie sich noch immer schwer damit, sich an neue Umgebungen zu gewöhnen. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie in den nächsten Wochen ohnehin nur zum Schlafen herkommen; die Ermittlungen zur laufenden Mordserie, in die Drescher sie von morgen an als Profilerin mit einbinden und die sie rund um die Uhr auf Trab halten würden, waren schon jetzt eine echte Herausforderung. Lena steckte bereits mitten in den Vorbereitungen zum Fall, und ihre Gedanken kreisten seit Tagen kaum mehr um etwas anderes.
»Wo um alles in der Welt haben Sie gesteckt?«, fragte Drescher, während Lena eine Flasche Jod und Verbandsmaterial aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken nahm. »Ich war joggen.«
»Verdammt, Peters - ich habe versucht, Sie zu erreichen -, hatten Sie denn kein Handy dabei?«
Drescher stand jetzt unmittelbar hinter ihr. Lena, die sich längst an den rauen Ton bei der Polizei gewöhnt hatte, drehte sich um. »Nein«, sagte sie knapp und tupfte ihm mit einem jodgetränkten Wattebausch die blutige Nase ab, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass bereits der Anblick weniger Blutstropfen Übelkeit auslöste und ihr das Gefühl gab, keine Luft mehr zu bekommen.
Mit einem Schlag kam die Erinnerung an damals in ihr hoch. An das brennende Autowrack, in dem sie mit ihrer Zwillingsschwester Tamara auf der Rückbank eingequetscht gewesen war.
Blut.
Überall war Blut.
Und Rauch.
Und Glassplitter von zertrümmerten Scheiben.
Ihre Mutter hatte bewusstlos auf dem Beifahrersitz neben ihrem Vater gelegen. Und noch während die Einsatzkräfte der Feuerwehr dabei gewesen waren, sie und Tamara aus dem Wrack zu befreien, hatte Lena die blutüberströmte Hand ihrer Mutter ergriffen. Sie nicht mehr loslassen wollen. Selbst dann nicht, als die Flammen auf ihre Mutter übergesprungen waren. Kaum hatten die Feuerwehrmänner Lena aus den Trümmern gezerrt, war der Wagen explodiert.
Für ihre Eltern war jede Hilfe zu spät gekommen. Der Unfall lag inzwischen rund zwei Jahrzehnte zurück, doch das Blut an ihren Händen hatte Lena zeitweise noch heute vor Augen.
»Wieso nicht?«, fragte Drescher und musterte sie über den Rahmen seiner schmalen Brille hinweg.
Die Frage riss Lena aus den Gedanken und brachte sie abrupt ins Hier und Jetzt zurück. »Es war ausgemacht, dass ich morgen früh auf dem Präsidium erscheine und ...« - »Morgen, morgen! Erzählen Sie das mal unserem Killer!«
Plötzlich zuckte er leicht zurück. »Das Zeug brennt ja wie Spiritus!«
Lena ließ die Hand mit dem Wattebausch sinken und sah ihm fest in die Augen. »Ein weiteres Opfer?« Dreschers Seufzer sprach für sich.
»Etwa heute Abend?«, fragte sie nach.
»Dachten Sie etwa, diese Bestie mordet nur zu Geschäftszeiten? « Mit einem verächtlichen Lacher schob er seine Brille in den Haaransatz, nahm den kühlen Waschlappen, den Lena ihm reichte, und drückte ihn auf seine rotgeschwollene Nase.
»Nein, ... natürlich nicht«, sagte sie beherrscht. Noch einen Patzer durfte sie sich nicht erlauben, wenn sie vor Drescher den letzten Funken Autorität wahren wollte. Irgendwie hatte sie bereits geahnt, dass Volker Drescher die Sorte Polizist war, die es reichlich Überwindung kostete, eine Profilerin zu einem Fall hinzuzuziehen - denn dies setzte die Einsicht voraus, dass die Ermittlungen an einem toten Punkt angelangt waren. In den allermeisten Fällen wurde Lena erst dann engagiert, wenn die zuständigen Ermittler gründlich gescheitert waren, die Nerven des Teams bereits blank lagen und jeder weitere Einsatz lediglich ein Akt purer Verzweiflung war. Somit war Lena es durchaus gewohnt, mit einer Mischung aus Argwohn und Neugierde empfangen zu werden. Auch dieses Mal spürte sie schon jetzt die Blicke der neuen Kollegen im Nacken, die jeden ihrer Schritte genauestens verfolgen und ihre Vorgehensweise kritisch beäugen würden. Doch sie hatte sich ein dickes Fell zugelegt und genügend Vertrauen in ihr eigenes Können, dass ihr das nichts anhaben konnte. Zumindest redete sie sich das ein.
»Geben Sie mir fünf Minuten, ich dusche nur rasch und bin gleich wieder da.« Sie reichte Volker Drescher ein Pflaster und bat ihn, im Wohnzimmer zu warten.
Drescher hielt drei Finger in die Höhe. »Drei Minuten«, drang es unter dem Waschlappen hervor, ehe er diesen gegen das Pflaster eintauschte. »Und wenn Ihr Angebot noch steht, würde ich jetzt auf den Whisky zurückkommen.«
Lena blieb lächelnd in der Tür stehen. »Bedienen Sie sich, die Flasche steht auf dem Küchentisch - ein Glas müsste auch irgendwo herumstehen.«
Mit diesen Worten schloss sie die Tür zum Badezimmer hinter sich, während Drescher schon Richtung Küche verschwand.
Momente später stellte Drescher zwei großzügig gefüllte Whiskygläser auf den Couchtisch im Wohnzimmer und setzte sich auf das helle Sofa. Wie er beim Hinsetzen bemerkte, war es noch immer mit knirschender Schutzfolie überzogen. Während das Prasseln der Dusche aus dem Badezimmer drang, sah er ungeduldig auf seine Uhr. Schließlich nahm er sein Glas und schaute sich ein wenig um. Karge Wände, nackte Glühbirnen, weitere Umzugskartons. Im Vorbeigehen spähte er in die offenstehenden Zimmer. Ein Futon-Bett, ein überdimensionaler Schreibtisch mit einem Laptop darauf. Im Regal dicke Wälzer über Sexualverbrechen, fallanalytische Verfahrensweisen und historische Kriminalfälle. Ein gönnerhaftes Grinsen kroch über seine Lippen, als er darunter auch sein neustes Buch entdeckte. Mal sehen, was diese Profile-rin draufhat ...
Lena hielt die Augen geschlossen und genoss die warme Dusche, während sie spürte, wie das Wasser ihren Nacken entspannte. Schon wieder ein neues Opfer, ging es ihr durch den Kopf. Die Abstände, in denen der Killer zuschlägt, werden immer kürzer, überlegte sie und stellte das Wasser ab.
Zuerst gab es alle paar Wochen ein neues Opfer, dann wöchentlich, und nun vergehen kaum mehr als drei Tage, in denen er nicht zuschlägt. Mit dem heutigen Opfer sind es bereits zwölf grausam verstümmelte Frauen, überlegte sie, während sie aus der Dusche stieg und sich rasch abtrocknete. Was will er uns damit sagen? Sie zog ihren Slip und ein frisches T-Shirt über und schlüpfte in ihre Jeans. Geht es darum, der Polizei seine Macht zu demonstrieren? Oder ist er inzwischen einfach übermütig und vollkommen größenwahnsinnig geworden? Lena betrachtete einen Moment lang die ratlos dreinblickende Frau im Spiegel und kämmte sich schnell die nassen Haare zurück. Sie nahm ihr Handy, das sie am Waschbeckenrand abgelegt hatte, und wollte gerade zurück ins Wohnzimmer gehen, da hielt sie nach einem Blick auf das Display plötzlich inne. Irritiert sah Lena auf, ehe sie mit dem Mobiltelefon in ihrer Hand barfuß zu Drescher ins Wohnzimmer lief.
»Sie sagten, Sie hätten versucht, mich zu erreichen«, meinte sie beim Betreten des Raums. »Das ist seltsam, ich habe gar keine Nachricht darüber erhalten.«
»War nur ein Test«, gab Drescher mit unbewegter Miene zu. »Ich wollte sehen, wie Sie reagieren.«
Ein Test? Lena fragte sich, was als Nächstes kommen würde.
»Wie soll ich sagen ...« Er räusperte sich. »Wir haben es hier mit einem Fall zu tun, dessen Ausmaß an Brutalität es so bislang nicht gegeben hat. Und außergewöhnliche Fälle erfordern nun einmal außergewöhnliche Maßnahmen und außergewöhnliche Qualifikationen, wenn Sie verstehen ... «
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Lena skeptisch und ließ sich ihm gegenüber in den Ledersessel sinken.
»... es gibt Leute, die meinen, diese Mordserie sei möglicherweise eine Nummer zu groß für Sie.«
Lena spürte ein Pochen in ihren Schläfen. »Aber Sie scheinen anderer Meinung zu sein, sonst hätten Sie mich wohl kaum engagiert.« Beiläufig registrierte sie, wie die Augen ihres Vorgesetzten von ihren nackten Füßen zu ihrem flachen Dekolleté und ihren hageren Schultern schweiften - dezent zwar, doch der Blick war ihr nicht entgangen. Dann senkte er den Blick auf das Whiskyglas und befühlte seine bepflasterte Nase. »Sie haben erstklassige Referenzen, Peters. Und damit meine ich nicht nur Ihre hervorragenden Abschlüsse in Psychologie und Kriminologie, sondern vor allem Ihre exzellenten Studien zur Erstellung von Täterprofilen.«
»Danke.« Lena brachte ein Lächeln über die Lippen, das sich rasch verflüchtigte. »Aber trotzdem hätten Sie bei einer Profilerin eher eine Eins-achtzig-Frau mit Boxerrücken erwartet«, sagte sie und warf einen Blick auf seine lädierte Nase.
»... das haben Sie jetzt gesagt.« Drescher räusperte sich und schob seine Brille mit dem Mittelfinger hoch.
Lena nahm ihren Whisky vom Couchtisch, zwang sich aber, das Glas nicht in einem Zug zu leeren. »Sie selbst haben in einer Fachzeitschrift erklärt, gute Leute seien rar, und das man einem Teammitglied die Kompetenz ebenso wenig an der Nasenspitze ansieht wie einem Verbrecher die kriminelle Energie«, konterte sie und ärgerte sich sogleich, dass sie sich von ihm aus der Reserve hatte locken lassen. Das Pochen in Lenas Schläfen wurde schlagartig stärker, als sie spürte, wie ein Schwall Wut sie überkam. Mehr zu ihrer eigenen Beruhigung strich sie über das weiche Fell ihres Katers, der soeben auf die Couch gesprungen war und es sich neben ihr bequem gemacht hatte. Drescher knackte mit den Fingern und sah von seinem Glas auf, ohne den Kopf anzuheben. »Das hier ist immerhin Berlin - und nicht Fischbach oder wie das Kaff heißt, wo Sie aufgewachsen sind.«
Überaus scharfsinnig. »Wenn ich Sie daran erinnern darf, waren die Rotlichtmorde, die toten Hafenkinder oder die Giftmischer auch nicht in Fischbach.«
»Aber das hier ist ein vollkommen anderes Pflaster«, sagte er mit einem vehementen Kopfschütteln.
Lena hielt seinem stechenden Blick stand und überlegte, wie sie ihn davon überzeugen konnte, dass sie die Richtige für den Fall war. Aber musste sie das überhaupt? Schließlich war er es gewesen, der sie für den Fall angefragt hatte und nicht andersherum. Lena spülte ihren Ärger darüber, dass er ihre Kompetenz bereits anzuzweifeln schien, bevor sie mit ihrer Arbeit überhaupt richtig losgelegt hatte, mit einem ordentlichen Schluck Whisky hinunter, als ihr im nächsten Moment unverhofft ein Lächeln auf den Lippen lag.
Er will mich auf die Probe stellen? Na schön, das kann er haben. Sie schwenkte das Glas in ihrer Hand und wartete, bis sie seine ganze Aufmerksamkeit hatte. Dann schloss Lena die Augen und sagte: »Sie tragen ein hellblaues Ralph-Lauren-Hemd aus Baumwolle mit Manschettenärmeln. Es hat sechs Knöpfe, den fehlenden in der Mitte nicht mitgerechnet. In ihrer rechten Brusttasche befindet sich ein anthrazitfarbener Lamy-Kugelschreiber, auf dem ihr Name eingraviert ist. Er ist am oberen Rand leicht angekaut, womöglich weil sie unter Druck stehen«, erzählte sie und hielt die Augen weiter geschlossen. »Sie sind nicht verheiratet, denn sie tragen seit längerer Zeit keinen Ehering; die leichte Einbuchtung fehlt, die über die Jahre entstanden wäre. Ihre HUGOBOSS-Brille hat vorne links einen kleinen Kratzer am Metallbügel, vielleicht, weil sie ihnen schon einmal heruntergefallen ist. Sie benutzen Vetiver von Guerlain. Allerdings haben Sie es sich heute Morgen nur hinter ein Ohr gespritzt, wahrscheinlich waren Sie in Eile.« Lena hielt die Augen weiterhin geschlossen.« Sie legen Wert auf Pünktlichkeit und sind es auch selbst, denn ihre Uhr«, sagte sie und tippte sich aufs Handgelenk, »die geht zwei Minuten vor. Sie tragen klassische Lederschuhe, deren Absatz gut vier Zentimeter beträgt, was darauf schließen lässt, dass ... « - »Okay, okay, es reicht, Peters«, unterbrach er Lena. »Sie haben gewonnen.«
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie seinen erstaunten Blick.
Drescher schob mürrisch den Unterkiefer zur Seite und sagte: »Ich wollte Sie bloß gewarnt haben, das ist alles.«
Sie unterdrückte ein Grinsen, und für einen Moment tat sich ein beklemmendes Schweigen wie ein tiefer Abgrund zwischen ihnen auf.
»Ich dachte, Sie leben alleine«, wechselte Drescher abrupt das Thema, die Augen auf das Schachspiel gerichtet, das auf einer schlichten, weiß lackierten Kommode aufgebaut war. »Gegen wen spielen Sie dann?«
Lena rang sich ein Lächeln ab. Sie sprach ungern über sich selbst. Zudem hatte sie nicht die geringste Lust, sich von Drescher über ihr Privatleben ausfragen zu lassen, und tat seine Frage mit einem Achselzucken ab.
Der Abgrund wurde tiefer.
Sie sah Drescher an, dass er sich einen Kommentar verkniff. Kurz darauf zog er ein Foto aus der Brusttasche seines Hemdes und legte es auf den Couchtisch. Von dem Abzug schaute Lena eine junge Frau mit einnehmendem Lächeln an. Sie trug ein kurzes Kleid, und ihre Füße steckten in hohen Riemchensandalen. Ganz offensichtlich befand sie sich zum Zeitpunkt, als das Foto aufgenommen wurde, auf einer Party und sah aus, als hätte sie Spaß.
»Das Opfer?«, fragte Lena.
Drescher holte tief Luft. »Ihr Name ist Yvonne Nowak, zwanzig Jahre« - er biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf -, »fast noch ein Kind.«
»Wo wurde sie gefunden?«
»Noch gar nicht«, erklärte er und zog die Stirn in Falten. »Sie studiert Mathematik an der Humboldt-Universität und ist nach der gestrigen Vorlesung spurlos verschwunden.«
Lena schluckte, wollte aber vorerst optimistisch bleiben. »Das muss noch nichts heißen ... - sie könnte spontan verreist oder sonst wo sein.«
Drescher schüttelte erneut den Kopf und trank seinen Whisky aus. »Mein Gefühl sagt mir, dass die Kleine etwas mit dem Fall zu tun hat. Außerdem sollte sie gestern ihren nagelneuen Wagen abholen, den ihre Eltern zum Studium haben springen lassen. Einen roten Beetle mit allem Pipapo ... Sie hat ihn sich selbst ausgesucht und sich nach Angaben ihrer Mitbewohnerin schon seit Wochen drauf gefreut. Ich meine, so was vergisst man doch nicht einfach, oder?«
»Nein, wahrscheinlich nicht ... «
»Frau Nowak wohnt in einer WG in Kreuzberg - unweit der Haustür hatte Augenzeugen zufolge mehrmals derselbe fensterlose schwarze Lieferwagen geparkt. Genau so einer wurde auch vor dem Verschwinden der anderen Opfer in deren Nähe gesichtet.«
Irritiert stellte Lena ihr Glas ab. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Herrgott, es vergeht kein Tag, an dem dieser verfluchte Fall nicht die Schlagzeilen dominiert - wir treten bei den Ermittlungen schon viel zu lange auf der Stelle und können uns kein weiteres Opfer erlauben. Die Presse und der Polizeipräsident machen ordentlich Druck.«
Lena presste die Lippen zusammen. »Trotzdem müssen wir bei Yvonne Nowak deshalb nicht zwangsläufig mit dem Schlimmsten rechnen.«
»Nein, müssen wir nicht«, sagte Drescher.
Doch Lena meinte ihm anzusehen, dass da noch etwas anderes war. Eine entscheidende Information, die Drescher zurückhielt.
© Ullstein TB (Verlag)
Der Regen lief ihr über das Gesicht, ihre federnden, schnellen Schritte knatschten auf dem nassen Asphalt und ihr verschwitztes T-Shirt klebte an ihrem Rücken wie eine zweite Haut. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, als Lena Peters vom Joggen zurückkam und vor ihrer Haustür in der Boxhagener Straße angelangt war. Außer Atem stützte sie sich auf ihren Knien ab und verschnaufte kurz. Mit den Gedanken bereits bei der morgigen Besprechung, zog Lena ihren Hausschlüssel aus der Trainingshose und lief durch den Innenhof, in den lediglich das schwache Licht umliegender Wohnungen fiel. Nur wenige Meter vor ihrer Erdgeschosswohnung blieb sie abrupt stehen. Ein Mann im Anorak stand vor ihrem Schlafzimmerfenster.
Was zum Teufel ...! Lenas Puls begann zu rasen. Zögerlich trat sie näher und beobachtete, wie der Mann den beleuchteten Raum auskundschaftete. Er stieg über die Terrakottakübel in die kleine, unbepflanzte Parzelle hinter der Wohnung, die nach Angaben der Maklerin einen Garten darstellen sollte. Der Mann näherte sich der Terrasse. Kurz überlegte Lena, die Polizei zu alarmieren, entschied aber, die Sache auf ihre Weise zu regeln.
So, wie sie bisher immer alles alleine geregelt hatte.
Vorsichtig griff sie den kleinen Spaten, der neben dem Sandkasten an der Hauswand lehnte, und schlich sich langsam von hinten an. Der Mann schien sie noch immer nicht bemerkt zu haben, obwohl Lena jetzt dicht hinter ihm war, denn er war kurz davor, seine Hand in den Spalt der gekippten Verandatür gleiten zu lassen. Lena holte zum Schlag aus, als der Mann sich in derselben Sekunde umwandte und ihn die flache Seite des Spatens gradewegs im Gesicht traf, während Lena schrie: »Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!«
Der Mann torkelte nach hinten, hielt sich ächzend vor Schmerz die Hände vor das Gesicht und ging rücklings zu Boden.
»Verdammt, sind Sie vollkommen wahnsinnig?!«, fuhr er Lena wütend an und hielt sich die blutige Nase. »Ich bin die Polizei!«
In diesem Moment fiel Lena auf, dass sie den Mann kannte.
»Herr Drescher? Volker Drescher?« Entsetzt ließ Lena den Spaten fallen und machte einen Schritt auf den Mann zu. Doch anstelle des stattlichen Kriminalisten, dessen sonnengebräuntes Gesicht sie aus zahlreichen Fernsehinterviews kannte, blickte unter der Kapuze des Anoraks ein schmächtiger Mann, Mitte vierzig, mit eingefallenen Zügen und spitzem Kinn hervor. Als er sich aufrichtete, war er kaum einen Kopf größer als Lena.
»Um Himmels willen! Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie hier ... «
Drescher lehnte ächzend an der Hauswand und rückte seine Brille zurecht, ehe er verärgert aufsah.
Verblüfft sah er Lena an. »Für eine Frau Ihrer Statur schlagen Sie aber ordentlich zu! «
Lena wusste, dass man ihr nicht viel Kraft zutraute, und war über seine Reaktion keineswegs überrascht. »Darf ich fragen, was Sie hier in meinem Garten zu suchen haben?«
»Ich habe geklingelt, aber es hat niemand geöffnet. Und als ich sah, dass Licht brannte ... «
»Ich lösche das Licht nie, wenn ich das Haus verlasse.«
Drescher schaute sie überrascht an, sagte aber nichts. »Ihre Nase, ist die gebrochen?«, fragte Lena ehrlich besorgt.
Er tastete seinen Nasenrücken ab und verneinte.
Lena streckte ihm ihre Hand entgegen und wartete darauf, dass er sie ergriff. Doch Drescher schlug ihre helfende Hand aus. Lena sah zu, wie er sich aufraffte und sich den Schmutz vom Anorak strich. »Kommen Sie, ich gebe Ihnen ein Pflaster«, sagte sie schnell. Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte Lena sich um und schloss die Wohnungstür auf.
Mist! Mist! Mist! Musste sie ausgerechnet ihren neuen Chef niederschlagen! »Und wenn Sie wollen, auch einen Whisky, das hilft gegen die Schmerzen«, fügte sie hinzu und wartete darauf, dass Drescher ihr folgte.
Die rund sechzig Quadratmeter große Altbauwohnung, für die Lena sich in erster Linie wegen der günstigen Miete entschieden hatte, war unrenoviert und konnte einen neuen Anstrich vertragen. Gleich neben der Eingangstür befand sich die Küche. Dahinter ein kleines Esszimmer, das an das Wohnzimmer grenzte. Am Ende des langen Flurs lagen Lenas Schlafzimmer, das Bad und ein winziger Raum, den sie als Arbeitszimmer nutzte. Bis auf ein paar Möbel gab es hier nicht den allerkleinsten Hinweis auf ein Privatleben. Keinerlei Familienfotos, Postkarten oder Souvenirs vergangener Urlaube. Nichts, was an ihre Vergangenheit erinnern sollte.
Lena streifte im Flur, in dem sich größtenteils unausgepackte Kisten türmten, ihre nassen Turnschuhe ab. Noch immer ein wenig verwirrt, begrüßte sie ihren gescheckten Kater Napoleon, der sie bereits sehnsüchtig erwartet zu haben schien und sich maunzend zwischen ihren Knöcheln schlängelte. Lena hob ihn hoch und streichelte ihn kurz.
»Nett haben Sie's hier«, sagte Drescher, der ihr gefolgt war, und nahm seine Kapuze ab, so dass sein lichtes braunes Haar zum Vorschein kam.
»Ist noch alles etwas provisorisch. Ich bin noch nicht zum Auspacken gekommen.« Sie setzte den Kater ab und führte Drescher ins Badezimmer. In Wahrheit konnte sie sich nicht vorstellen, in diesen vier Wänden die nächsten Wochen oder gar Monate zu verbringen. Obwohl sie schon öfter mehr oder weniger freiwillig umgezogen war, tat sie sich noch immer schwer damit, sich an neue Umgebungen zu gewöhnen. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie in den nächsten Wochen ohnehin nur zum Schlafen herkommen; die Ermittlungen zur laufenden Mordserie, in die Drescher sie von morgen an als Profilerin mit einbinden und die sie rund um die Uhr auf Trab halten würden, waren schon jetzt eine echte Herausforderung. Lena steckte bereits mitten in den Vorbereitungen zum Fall, und ihre Gedanken kreisten seit Tagen kaum mehr um etwas anderes.
»Wo um alles in der Welt haben Sie gesteckt?«, fragte Drescher, während Lena eine Flasche Jod und Verbandsmaterial aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken nahm. »Ich war joggen.«
»Verdammt, Peters - ich habe versucht, Sie zu erreichen -, hatten Sie denn kein Handy dabei?«
Drescher stand jetzt unmittelbar hinter ihr. Lena, die sich längst an den rauen Ton bei der Polizei gewöhnt hatte, drehte sich um. »Nein«, sagte sie knapp und tupfte ihm mit einem jodgetränkten Wattebausch die blutige Nase ab, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass bereits der Anblick weniger Blutstropfen Übelkeit auslöste und ihr das Gefühl gab, keine Luft mehr zu bekommen.
Mit einem Schlag kam die Erinnerung an damals in ihr hoch. An das brennende Autowrack, in dem sie mit ihrer Zwillingsschwester Tamara auf der Rückbank eingequetscht gewesen war.
Blut.
Überall war Blut.
Und Rauch.
Und Glassplitter von zertrümmerten Scheiben.
Ihre Mutter hatte bewusstlos auf dem Beifahrersitz neben ihrem Vater gelegen. Und noch während die Einsatzkräfte der Feuerwehr dabei gewesen waren, sie und Tamara aus dem Wrack zu befreien, hatte Lena die blutüberströmte Hand ihrer Mutter ergriffen. Sie nicht mehr loslassen wollen. Selbst dann nicht, als die Flammen auf ihre Mutter übergesprungen waren. Kaum hatten die Feuerwehrmänner Lena aus den Trümmern gezerrt, war der Wagen explodiert.
Für ihre Eltern war jede Hilfe zu spät gekommen. Der Unfall lag inzwischen rund zwei Jahrzehnte zurück, doch das Blut an ihren Händen hatte Lena zeitweise noch heute vor Augen.
»Wieso nicht?«, fragte Drescher und musterte sie über den Rahmen seiner schmalen Brille hinweg.
Die Frage riss Lena aus den Gedanken und brachte sie abrupt ins Hier und Jetzt zurück. »Es war ausgemacht, dass ich morgen früh auf dem Präsidium erscheine und ...« - »Morgen, morgen! Erzählen Sie das mal unserem Killer!«
Plötzlich zuckte er leicht zurück. »Das Zeug brennt ja wie Spiritus!«
Lena ließ die Hand mit dem Wattebausch sinken und sah ihm fest in die Augen. »Ein weiteres Opfer?« Dreschers Seufzer sprach für sich.
»Etwa heute Abend?«, fragte sie nach.
»Dachten Sie etwa, diese Bestie mordet nur zu Geschäftszeiten? « Mit einem verächtlichen Lacher schob er seine Brille in den Haaransatz, nahm den kühlen Waschlappen, den Lena ihm reichte, und drückte ihn auf seine rotgeschwollene Nase.
»Nein, ... natürlich nicht«, sagte sie beherrscht. Noch einen Patzer durfte sie sich nicht erlauben, wenn sie vor Drescher den letzten Funken Autorität wahren wollte. Irgendwie hatte sie bereits geahnt, dass Volker Drescher die Sorte Polizist war, die es reichlich Überwindung kostete, eine Profilerin zu einem Fall hinzuzuziehen - denn dies setzte die Einsicht voraus, dass die Ermittlungen an einem toten Punkt angelangt waren. In den allermeisten Fällen wurde Lena erst dann engagiert, wenn die zuständigen Ermittler gründlich gescheitert waren, die Nerven des Teams bereits blank lagen und jeder weitere Einsatz lediglich ein Akt purer Verzweiflung war. Somit war Lena es durchaus gewohnt, mit einer Mischung aus Argwohn und Neugierde empfangen zu werden. Auch dieses Mal spürte sie schon jetzt die Blicke der neuen Kollegen im Nacken, die jeden ihrer Schritte genauestens verfolgen und ihre Vorgehensweise kritisch beäugen würden. Doch sie hatte sich ein dickes Fell zugelegt und genügend Vertrauen in ihr eigenes Können, dass ihr das nichts anhaben konnte. Zumindest redete sie sich das ein.
»Geben Sie mir fünf Minuten, ich dusche nur rasch und bin gleich wieder da.« Sie reichte Volker Drescher ein Pflaster und bat ihn, im Wohnzimmer zu warten.
Drescher hielt drei Finger in die Höhe. »Drei Minuten«, drang es unter dem Waschlappen hervor, ehe er diesen gegen das Pflaster eintauschte. »Und wenn Ihr Angebot noch steht, würde ich jetzt auf den Whisky zurückkommen.«
Lena blieb lächelnd in der Tür stehen. »Bedienen Sie sich, die Flasche steht auf dem Küchentisch - ein Glas müsste auch irgendwo herumstehen.«
Mit diesen Worten schloss sie die Tür zum Badezimmer hinter sich, während Drescher schon Richtung Küche verschwand.
Momente später stellte Drescher zwei großzügig gefüllte Whiskygläser auf den Couchtisch im Wohnzimmer und setzte sich auf das helle Sofa. Wie er beim Hinsetzen bemerkte, war es noch immer mit knirschender Schutzfolie überzogen. Während das Prasseln der Dusche aus dem Badezimmer drang, sah er ungeduldig auf seine Uhr. Schließlich nahm er sein Glas und schaute sich ein wenig um. Karge Wände, nackte Glühbirnen, weitere Umzugskartons. Im Vorbeigehen spähte er in die offenstehenden Zimmer. Ein Futon-Bett, ein überdimensionaler Schreibtisch mit einem Laptop darauf. Im Regal dicke Wälzer über Sexualverbrechen, fallanalytische Verfahrensweisen und historische Kriminalfälle. Ein gönnerhaftes Grinsen kroch über seine Lippen, als er darunter auch sein neustes Buch entdeckte. Mal sehen, was diese Profile-rin draufhat ...
Lena hielt die Augen geschlossen und genoss die warme Dusche, während sie spürte, wie das Wasser ihren Nacken entspannte. Schon wieder ein neues Opfer, ging es ihr durch den Kopf. Die Abstände, in denen der Killer zuschlägt, werden immer kürzer, überlegte sie und stellte das Wasser ab.
Zuerst gab es alle paar Wochen ein neues Opfer, dann wöchentlich, und nun vergehen kaum mehr als drei Tage, in denen er nicht zuschlägt. Mit dem heutigen Opfer sind es bereits zwölf grausam verstümmelte Frauen, überlegte sie, während sie aus der Dusche stieg und sich rasch abtrocknete. Was will er uns damit sagen? Sie zog ihren Slip und ein frisches T-Shirt über und schlüpfte in ihre Jeans. Geht es darum, der Polizei seine Macht zu demonstrieren? Oder ist er inzwischen einfach übermütig und vollkommen größenwahnsinnig geworden? Lena betrachtete einen Moment lang die ratlos dreinblickende Frau im Spiegel und kämmte sich schnell die nassen Haare zurück. Sie nahm ihr Handy, das sie am Waschbeckenrand abgelegt hatte, und wollte gerade zurück ins Wohnzimmer gehen, da hielt sie nach einem Blick auf das Display plötzlich inne. Irritiert sah Lena auf, ehe sie mit dem Mobiltelefon in ihrer Hand barfuß zu Drescher ins Wohnzimmer lief.
»Sie sagten, Sie hätten versucht, mich zu erreichen«, meinte sie beim Betreten des Raums. »Das ist seltsam, ich habe gar keine Nachricht darüber erhalten.«
»War nur ein Test«, gab Drescher mit unbewegter Miene zu. »Ich wollte sehen, wie Sie reagieren.«
Ein Test? Lena fragte sich, was als Nächstes kommen würde.
»Wie soll ich sagen ...« Er räusperte sich. »Wir haben es hier mit einem Fall zu tun, dessen Ausmaß an Brutalität es so bislang nicht gegeben hat. Und außergewöhnliche Fälle erfordern nun einmal außergewöhnliche Maßnahmen und außergewöhnliche Qualifikationen, wenn Sie verstehen ... «
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Lena skeptisch und ließ sich ihm gegenüber in den Ledersessel sinken.
»... es gibt Leute, die meinen, diese Mordserie sei möglicherweise eine Nummer zu groß für Sie.«
Lena spürte ein Pochen in ihren Schläfen. »Aber Sie scheinen anderer Meinung zu sein, sonst hätten Sie mich wohl kaum engagiert.« Beiläufig registrierte sie, wie die Augen ihres Vorgesetzten von ihren nackten Füßen zu ihrem flachen Dekolleté und ihren hageren Schultern schweiften - dezent zwar, doch der Blick war ihr nicht entgangen. Dann senkte er den Blick auf das Whiskyglas und befühlte seine bepflasterte Nase. »Sie haben erstklassige Referenzen, Peters. Und damit meine ich nicht nur Ihre hervorragenden Abschlüsse in Psychologie und Kriminologie, sondern vor allem Ihre exzellenten Studien zur Erstellung von Täterprofilen.«
»Danke.« Lena brachte ein Lächeln über die Lippen, das sich rasch verflüchtigte. »Aber trotzdem hätten Sie bei einer Profilerin eher eine Eins-achtzig-Frau mit Boxerrücken erwartet«, sagte sie und warf einen Blick auf seine lädierte Nase.
»... das haben Sie jetzt gesagt.« Drescher räusperte sich und schob seine Brille mit dem Mittelfinger hoch.
Lena nahm ihren Whisky vom Couchtisch, zwang sich aber, das Glas nicht in einem Zug zu leeren. »Sie selbst haben in einer Fachzeitschrift erklärt, gute Leute seien rar, und das man einem Teammitglied die Kompetenz ebenso wenig an der Nasenspitze ansieht wie einem Verbrecher die kriminelle Energie«, konterte sie und ärgerte sich sogleich, dass sie sich von ihm aus der Reserve hatte locken lassen. Das Pochen in Lenas Schläfen wurde schlagartig stärker, als sie spürte, wie ein Schwall Wut sie überkam. Mehr zu ihrer eigenen Beruhigung strich sie über das weiche Fell ihres Katers, der soeben auf die Couch gesprungen war und es sich neben ihr bequem gemacht hatte. Drescher knackte mit den Fingern und sah von seinem Glas auf, ohne den Kopf anzuheben. »Das hier ist immerhin Berlin - und nicht Fischbach oder wie das Kaff heißt, wo Sie aufgewachsen sind.«
Überaus scharfsinnig. »Wenn ich Sie daran erinnern darf, waren die Rotlichtmorde, die toten Hafenkinder oder die Giftmischer auch nicht in Fischbach.«
»Aber das hier ist ein vollkommen anderes Pflaster«, sagte er mit einem vehementen Kopfschütteln.
Lena hielt seinem stechenden Blick stand und überlegte, wie sie ihn davon überzeugen konnte, dass sie die Richtige für den Fall war. Aber musste sie das überhaupt? Schließlich war er es gewesen, der sie für den Fall angefragt hatte und nicht andersherum. Lena spülte ihren Ärger darüber, dass er ihre Kompetenz bereits anzuzweifeln schien, bevor sie mit ihrer Arbeit überhaupt richtig losgelegt hatte, mit einem ordentlichen Schluck Whisky hinunter, als ihr im nächsten Moment unverhofft ein Lächeln auf den Lippen lag.
Er will mich auf die Probe stellen? Na schön, das kann er haben. Sie schwenkte das Glas in ihrer Hand und wartete, bis sie seine ganze Aufmerksamkeit hatte. Dann schloss Lena die Augen und sagte: »Sie tragen ein hellblaues Ralph-Lauren-Hemd aus Baumwolle mit Manschettenärmeln. Es hat sechs Knöpfe, den fehlenden in der Mitte nicht mitgerechnet. In ihrer rechten Brusttasche befindet sich ein anthrazitfarbener Lamy-Kugelschreiber, auf dem ihr Name eingraviert ist. Er ist am oberen Rand leicht angekaut, womöglich weil sie unter Druck stehen«, erzählte sie und hielt die Augen weiter geschlossen. »Sie sind nicht verheiratet, denn sie tragen seit längerer Zeit keinen Ehering; die leichte Einbuchtung fehlt, die über die Jahre entstanden wäre. Ihre HUGOBOSS-Brille hat vorne links einen kleinen Kratzer am Metallbügel, vielleicht, weil sie ihnen schon einmal heruntergefallen ist. Sie benutzen Vetiver von Guerlain. Allerdings haben Sie es sich heute Morgen nur hinter ein Ohr gespritzt, wahrscheinlich waren Sie in Eile.« Lena hielt die Augen weiterhin geschlossen.« Sie legen Wert auf Pünktlichkeit und sind es auch selbst, denn ihre Uhr«, sagte sie und tippte sich aufs Handgelenk, »die geht zwei Minuten vor. Sie tragen klassische Lederschuhe, deren Absatz gut vier Zentimeter beträgt, was darauf schließen lässt, dass ... « - »Okay, okay, es reicht, Peters«, unterbrach er Lena. »Sie haben gewonnen.«
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie seinen erstaunten Blick.
Drescher schob mürrisch den Unterkiefer zur Seite und sagte: »Ich wollte Sie bloß gewarnt haben, das ist alles.«
Sie unterdrückte ein Grinsen, und für einen Moment tat sich ein beklemmendes Schweigen wie ein tiefer Abgrund zwischen ihnen auf.
»Ich dachte, Sie leben alleine«, wechselte Drescher abrupt das Thema, die Augen auf das Schachspiel gerichtet, das auf einer schlichten, weiß lackierten Kommode aufgebaut war. »Gegen wen spielen Sie dann?«
Lena rang sich ein Lächeln ab. Sie sprach ungern über sich selbst. Zudem hatte sie nicht die geringste Lust, sich von Drescher über ihr Privatleben ausfragen zu lassen, und tat seine Frage mit einem Achselzucken ab.
Der Abgrund wurde tiefer.
Sie sah Drescher an, dass er sich einen Kommentar verkniff. Kurz darauf zog er ein Foto aus der Brusttasche seines Hemdes und legte es auf den Couchtisch. Von dem Abzug schaute Lena eine junge Frau mit einnehmendem Lächeln an. Sie trug ein kurzes Kleid, und ihre Füße steckten in hohen Riemchensandalen. Ganz offensichtlich befand sie sich zum Zeitpunkt, als das Foto aufgenommen wurde, auf einer Party und sah aus, als hätte sie Spaß.
»Das Opfer?«, fragte Lena.
Drescher holte tief Luft. »Ihr Name ist Yvonne Nowak, zwanzig Jahre« - er biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf -, »fast noch ein Kind.«
»Wo wurde sie gefunden?«
»Noch gar nicht«, erklärte er und zog die Stirn in Falten. »Sie studiert Mathematik an der Humboldt-Universität und ist nach der gestrigen Vorlesung spurlos verschwunden.«
Lena schluckte, wollte aber vorerst optimistisch bleiben. »Das muss noch nichts heißen ... - sie könnte spontan verreist oder sonst wo sein.«
Drescher schüttelte erneut den Kopf und trank seinen Whisky aus. »Mein Gefühl sagt mir, dass die Kleine etwas mit dem Fall zu tun hat. Außerdem sollte sie gestern ihren nagelneuen Wagen abholen, den ihre Eltern zum Studium haben springen lassen. Einen roten Beetle mit allem Pipapo ... Sie hat ihn sich selbst ausgesucht und sich nach Angaben ihrer Mitbewohnerin schon seit Wochen drauf gefreut. Ich meine, so was vergisst man doch nicht einfach, oder?«
»Nein, wahrscheinlich nicht ... «
»Frau Nowak wohnt in einer WG in Kreuzberg - unweit der Haustür hatte Augenzeugen zufolge mehrmals derselbe fensterlose schwarze Lieferwagen geparkt. Genau so einer wurde auch vor dem Verschwinden der anderen Opfer in deren Nähe gesichtet.«
Irritiert stellte Lena ihr Glas ab. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Herrgott, es vergeht kein Tag, an dem dieser verfluchte Fall nicht die Schlagzeilen dominiert - wir treten bei den Ermittlungen schon viel zu lange auf der Stelle und können uns kein weiteres Opfer erlauben. Die Presse und der Polizeipräsident machen ordentlich Druck.«
Lena presste die Lippen zusammen. »Trotzdem müssen wir bei Yvonne Nowak deshalb nicht zwangsläufig mit dem Schlimmsten rechnen.«
»Nein, müssen wir nicht«, sagte Drescher.
Doch Lena meinte ihm anzusehen, dass da noch etwas anderes war. Eine entscheidende Information, die Drescher zurückhielt.
© Ullstein TB (Verlag)
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Autoren-Porträt von Hanna Winter
Hanna Winter wurde in Frankfurt am Main geboren und arbeitete nach dem Publizistikstudium als Redakteurin. Ihr erster Thriller Die Spur der Kinder landete auf Anhieb auf den Bestsellerlisten. Heute lebt sie als freie Autorin in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hanna Winter
- 2012, 320 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283667
- ISBN-13: 9783548283661
Rezension zu „Opfertod / Kriminalpsychologin Lena Peters Bd.1 “
"Hanna Winter blickt in ihren Thrillern in die Abgründe der menschlichen Seele.", Frankfurter Rundschau
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