Parallelgeschichten
Roman. Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Übersetzung 2012
Zwanzig Jahre nach seinem international gefeierten Buch der Erinnerung legt Péter Nádas sein Opus maximum vor. Als die Parallelgeschichten 2005 in Ungarn erschienen, wurden sie als ein «Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts» begrüßt.
1989, im Jahr des...
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Produktinformationen zu „Parallelgeschichten “
Klappentext zu „Parallelgeschichten “
Zwanzig Jahre nach seinem international gefeierten Buch der Erinnerung legt Péter Nádas sein Opus maximum vor. Als die Parallelgeschichten 2005 in Ungarn erschienen, wurden sie als ein «Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts» begrüßt.1989, im Jahr des Mauerfalls, findet der Student Döhring beim Joggen im Berliner Tiergarten eine Leiche. Mit dieser kriminalistischen Szene beginnt der Roman, eröffnet zugleich aber auch die weitgespannte Suche nach dem düsteren Geheimnis einer Familie. Es ist die Geschichte der Budapester Familie Demén und ihrer Freunde, deren persönliche Schicksale mit der ungarischen und deutschen Vergangenheit verknüpft werden. Die historischen Markierungen sind die ungarische Revolution 1956, die nachrevolutionäre Zeit, der ungarische Nationalfeiertag am 15. März 1961 und, rückblickend, die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 und die Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin.
Der Roman entwirft ein Panorama europäischer Geschichte, in einer überwältigenden Fülle von Geschichten, die keine realistische Konstruktion zu einer Story vereinen könnte. Die eine große Metaerzählung des Romans jedoch bilden die Geschichten der Körper, die für Nádas zum Schauplatz der Ereignisse werden. Der
männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Lebenswirklichkeit der Personen, sie sind das «glühende Magma», das «in der Tiefe ihrer Seele oder ihres Geistes ruhende Zündmaterial», das die Parallelgeschichten zur Explosion bringt.
Aufgrund seines analytischen Scharfblicks und der Kraft seiner Personengestaltung stellt die internationale Kritik Péter Nádas neben Proust. Wenn dessen großer Roman am Beginn einer literarischen Moderne steht, dann mag diese in den Parallelgeschichten ihre Vollendung finden.
Dünndr.
Lese-Probe zu „Parallelgeschichten “
Parallelgeschichten von Péter NádasVatermord
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Noch in dem denkwürdigen Jahr, als die berühmte Berliner Mauer fiel, stieß man unweit der verwitterten Marmorstatue der Königin Luise auf eine Leiche. Ein paar Tage vor Weihnachten trug sich das zu.
Die Leiche war die eines gepflegten Mannes um die fünfzig, alle seine Sachen waren vom sogenannt Feinsten. Dem ersten Eindruck nach war er jemand von Ansehen, ein Bankier oder Manager. Schnee rieselte langsam, aber es war nicht so kalt, dass er liegen blieb, auf den Wegen im Park schmolz er gleich, nur an den Grashalmen hielt er sich. Die Ermittler gingen vorschriftsmäßig vor und arbeiteten wegen der Witterungsverhältnisse zügig. Sie sperrten die Umgebung ab und durchsuchten das Gelände systematisch, indem sie im Uhrzeigersinn spiralförmig nach innen vorrückten, um die Spuren zu sichern und aufzunehmen. Hinter einem aus schwarzer Plastikfolie improvisierten Sichtschutz entkleideten sie die Leiche vorsichtig, fanden aber keine Spuren von Gewalteinwirkung.
Der Tote war von einem jungen Mann entdeckt worden, der immer vor Tagesanbruch hierher zum Laufen kam. Er war der Einzige, der befragt werden konnte. Als er mit dem Laufen begonnen hatte, war es noch völlig dunkel gewesen, er lief fast jeden Tag dieselbe Strecke zur selben Zeit.
Wenn das nicht der Fall, nicht alles Routine und Gewohnheit gewesen wäre, wenn sich ihm nicht schon ein jeder Stein, ein jeder Schatten ins Gedächtnis geschrieben hätte, wäre ihm die Leiche wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Das Licht entfernter Lampen drang kaum bis hierher. Den auf der Bank liegenden, halb herabhängenden Körper habe er dennoch bemerkt, erklärte er den Polizisten aufgeregt, weil auf dem dunklen Mantel ein wenig Schnee liegen geblieben sei.
Und wie er da gleichmäßig laufe, blitze ihm etwas wie von der Seite in sein Blickfeld, sagte er viel zu laut.
Während er redete, machten sich innerhalb der Absperrung gleichzeitig mehrere Männer zu schaffen. Sie arbeiteten unter ideal zu nennenden Bedingungen, um diese Zeit hielt sich außer ihnen keine Menschenseele im Park auf, es gab keine Schaulustigen. Einer fotografierte mit Blitzlicht etwas auf dem nackten, durchweichten Boden, das zuvor schon von zwei Kriminaltechnikern ausnummeriert worden war.
Als der junge Mann zum dritten Mal mit seiner Geschichte anfing, wurde er nervös gewahr, dass bereits sämtliche Spuren markiert worden waren, und das erfüllte ihn mit einer Beklemmung, als hätte er nicht die Leiche entdeckt und Meldung erstattet, sondern als wäre er der Täter und würde jetzt mit den Indizien konfrontiert.
Es war wie eine Schneide, wobei er nicht hätte sagen können, was für eine Schneide, vielleicht eine Messerklinge oder die Kälte des Gedankens, aber das erwähnte er nicht.
Tatsächlich war sein erster Gedanke gewesen, dass er seinen eigenen Vater ermordet hatte. Wie war es denn möglich, dass er so etwas dachte, dass er den Tod dieses Menschen wünschte, das verstand er nicht und sprach es auch vor den Polizeibeamten nicht aus.
Es blieb kaum noch etwas übrig, worüber er hätte sprechen können.
Man beachtete ihn sowieso nicht weiter, die Polizisten, in Zivil und in Uniform, liefen hin und her und murmelten manchmal halblaut etwas vor sich hin oder warfen sich Sätze zu, die er nicht verstand.
Sie hielten ihn nicht länger auf, er hatte ja seine Personalien schon zweimal angegeben, und man hatte auch zu Protokoll genommen, dass er zu einer späteren Zeugenaussage bereit sei, aber er konnte sich nicht losreißen.
Um ihn herum lösten sich die Beamten ab.
Wenn er laufe, schaue er eigentlich nirgendhin, auf nichts, wiederholte er erregt seinen Bericht, er denke nichts. Psychologisch gesehen sei gerade das die Essenz des gleichmäßigen Laufens. Aber wie er nach etwa zwanzig Minuten ein zweites Mal an der Bank mit dem darauf liegenden Körper vorüberlaufe, erinnere er sich, dass Schnee nur auf einer erkalteten Leiche auf diese Art liegen bleiben kann.
Das habe er irgendwo gelesen. Und da habe er angehalten, um genauer nachzusehen.
Im Berliner Tiergarten ist wirklich schon viel geschehen, besser gesagt, es kann kaum noch etwas geschehen, das nicht schon vorgekommen wäre. Die Polizeibeamten hörten sich seinen Bericht ziemlich gleichgültig an, einer verzog sich auch gleich mit seiner Plastiktüte, um die Arbeit fortzusetzen, kurz darauf blieb ein Dritter bei ihnen stehen, den dann die anderen sich selbst überließen. Der junge Mann hingegen konnte sich nicht beruhigen. Auch diesem neuen Beamten erzählte er seine Geschichte so, als gehörten zu jeder Einzelheit weitere hundert Einzelheiten, als erheische jeder Satz eine Erklärung und als enthülle er mit jeder Erklärung ein hochbrisantes Geheimnis, während er seine eigenen Geheimnisse für sich behielt.
Er fror nicht, trotzdem zitterte er am ganzen Leib. Der Zivilbeamte bot ihm eine Decke an, er solle sie sich umlegen, aber er wies sie mit einer gereizten Handbewegung zurück, wie jemand, den der Zustand seines Körpers, ein wahrscheinlicher Schnupfen oder das täppische, peinliche Zittern, jetzt gerade nicht im Geringsten interessiert. Er hatte wohl, was einem Polizisten sicher nicht unbekannt ist, eine Art Nervenfieber. Offensichtlich war er sich auch nicht bewusst, wie er wirkte. Er machte keinen guten Eindruck, das spürte er bis zu einem gewissen Grad selbst, und es veranlasste ihn, alles noch detaillierter vorzutragen. Trotzdem musterte dieser Polizist wohlwollend, fast schon liebevoll seine aufgewühlten Züge, ja auch seine ganze Gestalt, jedes einzelne Glied, jede Geste, und er überlegte sich, ob er ihn für cholerisch oder eher für asketisch halten sollte, für überdurchschnittlich intelligent und sensibel oder eher für einen gewöhnlichen Stadtneurotiker, der sich nur mit sich selbst beschäftigt.
Wie jemand, der so ausgehungert ist nach Reden, dass er damit von jetzt bis zum nächsten Tag nicht mehr aufhören würde. Wie jemand, der noch nie irgendetwas erlebt hat, jetzt aber steckt er endlich mittendrin, jetzt kommt das große Abenteuer. Wie jemand, dem man nichts Geringeres anvertraut hat als das Geheimnis des Universums.
Er erregte Mitleid und eine gewisse Besorgnis. Am Ende konnte er nur noch mit diesem Beamten reden, den aber nahm er regelrecht in Beschlag, mit seinen fiebrigen Worten, seinen heftigen, wenn auch halbwegs beherrschten Gesten, seiner schwer einzuordnenden seelischen Struktur.
Nachdem der Polizist Körper und Kleidung des jungen Mannes systematisch mit dem Blick abgesucht hatte, erschien er ihm so durchschnittlich, dass es schwerfiel, auf seine soziale Stellung zu schließen, und deshalb erkundigte er sich, welche Universität er denn besuche, was er studiere, und fügte listig hinzu, er frage nicht berufshalber, sondern einfach so, privat. Eigentlich war er zu solchen Fragen nicht berechtigt. Nach seiner Erfahrung ließen sich aber solche sinnlosen und krankhaften Wortschwalle manchmal mit ein paar harmlosen Bemerkungen stoppen. Der Tod eines Unbekannten löst sogar bei Menschen von pyknischer Konstitution regelrechte hysterische Anfälle aus. Gleichzeitig war aber die Frage nicht rein formal gemeint, sondern es begann ihn zu interessieren, wieweit sich der junge Mann durch so eine beiläufige Frage manipulieren und von seiner Selbstverliebtheit ablenken, oder eben, wie leicht er sich einfangen ließ. Wie gefügig er war. Der Beamte gehörte zu den gründlich geschulten Fahndern, die es in der Regel vermeiden können, von einem unerwartet starken Eindruck oder von Phantasien auf eine falsche Fährte geführt zu werden, aber er hatte nicht der Versuchung widerstehen können, wenigstens mit einer provozierenden Frage ein Experiment zu starten.
Doch das richtige Maß lässt sich, sei es in der Anfangsphase der Ermittlung, die im Polizeijargon Erster Angriff heißt, oder auf dem Höhepunkt der Untersuchung, wenn die Ergebnisse zwar noch nicht feststehen, aber doch schon eine Art Bild ergeben, so oder so nicht halten. Manchmal stellte er kleine Fallen. Ermittler seines Typs schätzen die eigene Intuition doch höher ein als die allgemeinen kriminalistischen Regeln, nach denen die weniger mutigen Kollegen verfahren. Sie sind einfallsreicher, ihre Methoden haben allerdings zuweilen auch etwas Willkürliches. In der Fachsprache würde man sagen, dass sie gegenüber dem syllogistischen Verfahren dem heuristischen den Vorzug geben, was hin und wieder sogar dazu führt, dass sie die Gesetze übertreten.
Tatsächlich blieb der junge Mann unter der Wirkung der unbeteiligten Nachfrage in seinem Satz stecken; er studiere Philosophie und Psychologie, sagte er überrascht. Während er antwortete, überlegte er sich, was der Polizeibeamte wohl an ihm beobachtete oder was ihm aufgefallen war.
Hätte ich mir denken können, sagte der Beamte gleichmütig. Was beobachtet der an seinem Hals, und was ist ihm an seinem Trikot aufgefallen, und jetzt an seiner Trainingshose.
Und darüber versiegte der Wortschwall. Als sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass es niemanden interessierte, was immer er berichten mochte. Die Übrigen, so auch der Kommissar, beschäftigten sich mit den Details auf einer anderen Ebene, in einer anderen Tonart.
Nicht mit ihm, nicht mit seinem Bericht.
Seit einiger Zeit lief er in eng anliegenden kleinen Hosen, in gelben oder roten aus glänzendem Stoff, und der Blick des Kommissars setzte die Untersuchung jetzt an seinen Oberschenkeln fort, besonders auf seinem Geschlechtsbereich.
Was so grob war, ihn so bis ins Mark hinein traf, dass er auf den Menschen, der ihm in diesem nackten frühmorgendlichen Park gegenüberstand, endlich aufmerksam wurde, während um sie herum friedlich der Schnee rieselte. Aufmerksam auf die Lippen des Kommissars, seine Augen, seine auffällig dichten, hoch geschwungenen Brauen, auf alles, was er bisher auch schon flüchtig wahrgenommen hatte, seine Stirn, sein wirr gekräuseltes Haar, seine gutmütige Ausstrahlung. Ein Mensch, der ihn eindringlich, fast bekümmert ansah, als wisse er alles von ihm. Als unterziehe er im Rückblick und im Voraus seine verborgensten Geheimnisse einzeln einer Prüfung und täte das sogar mit Anteilnahme. Doch dem Kommissar in seiner großen Zerstreutheit war bloß in den Sinn gekommen, was er einige Tage zuvor im Wartezimmer seines Zahnarztes in irgendeinem dummen Magazin gelesen hatte, nämlich dass sich in Deutschland jedes Jahr siebzehntausend Studenten in Philosophie und zweiundzwanzigtausend in Psychologie einschreiben. Was bedeutet, dass pro Generation rund zehn Millionen mit der Mechanik des Geistes und der Seele befasst sind, mithin eine ansehnliche Anzahl, auch wenn sich ein Vielfaches mit Handel, Finanzen und Militär beschäftigt.
Der junge Mann war verstummt, er spürte, dass der Kommissar von ihm und seinen wissenschaftlichen Interessen nicht viel hielt, sein verfluchter Körper in der verschwitzten Trainingshose zitterte jedoch weiter.
Er lieferte sich aus.
Der Polizist seinerseits, rund zehn Jahre älter und mit abgeschlossenem Jurastudium, fragte in der plötzlich entstandenen Stille rasch, ob sie ihn nach Hause bringen sollten, und fügte noch rascher hinzu, sie würden das gern tun. Wenn er die Decke schon nicht wolle. Es wäre ihnen nicht recht, wenn sich der einzige Augenzeuge erkälte. Er benutzte den Plural wie einen Schild, nicht er sprach, nicht er machte dieses Angebot, sondern die Einheit. Aber es war doch nur er, der ihn hinter diesem Schutzmantel hervor durchdringend ansah. Als wären da kriminologisch gesehen verdächtige Zonen, die er erforschte. Oder als nähme er aus der beruflichen Deckung heraus den anderen Massenmenschen jetzt einmal so richtig in Augenschein.
Kein Wunder, dass der junge Mann das freundliche Angebot ablehnte.
Dieser Mann hatte unmerklich etwas mit ihm getan, ihn erfasst und eingeordnet, und war vielleicht im nächsten Augenblick zu allem fähig. Er sah eine freie Stirn, lockiges dunkles Haar, das irgendwie seinen Blick fesselte, große, volle weiche Lippen. Er musste auf der Hut sein. Mit einer einzigen Bewegung, eigentlich ziemlich ungehobelt, wies er das Angebot zurück, bloß weg hier, dachte er dabei, aber wenigstens stimmlich hatte er sich jetzt unter Kontrolle.
Er sagte, falls er noch benötigt werde, stehe er ihnen während der Festtage in keinem Fall, danach aber erneut zur Verfügung.
Das interessierte den Polizisten ganz offensichtlich nicht. Allerdings wäre ihm lieber gewesen, wenn der junge Mann das Angebot nicht zurückgewiesen hätte. Seine Personalien waren zwar aufgenommen, mit der Meldung war auch seine Stimme registriert, aber er hatte nichts dabei, um sich auszuweisen. Da kein unmittelbarer Verdacht vorlag, konnte man das auch nicht von ihm verlangen.
Er fahre morgen nach Hause, fügte der junge Mann verlegen hinzu.
Bei jedem Wort klapperten seine Zähne, er hörte es selbst. Demnach leben Sie in Berlin, bemerkte der Ermittler rücksichtsvoll, sind aber woanders zu Hause.
Der junge Mann begriff nicht, wie einen der eigene Körper so im Stich lassen und demütigen kann.
Auch dafür hatte der Detektiv vielleicht einiges Verständnis, er bedankte sich für die äußerst wertvolle Hilfe, sie nickten sich zu.
Berlin ist nur vorübergehend mein Wohnort, sagte, auf seine Zähne achtend, der Student, als müsse er sich für so viel Verständnis doch erkenntlich erweisen.
Sie schienen sich aus irgendeinem Grund nicht voneinander lösen zu können.
Meine Eltern leben in Pfeilen, ich bin dort geboren. Allerdings etwas außerhalb der Stadt.
Eine Stadt heißt so, fragte der Polizist, und eine Weile musterten sie sich misstrauisch.
Im Westen, sagte der Student und zeigte mit dem Finger in die Richtung, Niederrhein.
Habe ich noch nie gehört, ist aber bestimmt mein Fehler.
Wir haben da von alters her einen Hof, meine Eltern wohnen aber in der Stadt. Ein unbedeutender Ort, man muss ihn nicht kennen.
Der junge Mann wollte zuvorkommend lächeln, was eher zu einem Zähnefletschen geriet.
Es war nicht auszumachen, wer von den beiden zuerst die Hand ausstreckte. Jedenfalls gaben sie sich die Hand, der Händedruck brachte sie beide gehörig in Verlegenheit.
Der Polizist stellte sich zögernd vor, Dr. Kienast.
Der Doktortitel blieb zwischen ihnen in der Luft hängen. In der Berührung der nackten Handflächen, in den gegenseitig gespürten Wölbungen lag etwas übermäßig Körperliches. Der Doktortitel hatte eher mit Heilen zu tun. Als mache der Kommissar diesbezüglich ein Versprechen. Und es führte auch dazu, dass der Kommissar aus der unabsehbaren Menschenmasse, deren unbedeutende Teile sie beide gleicherweise waren, herausgehoben wurde. Aber der junge Mann erstarrte vor solcher Vertraulichkeit vollends und erwiderte die taktvoll zurückhaltende und vielversprechende Vorstellung nicht.
Wenn es den anderen interessierte, konnte er seinen Namen ja im Protokoll nachsehen, das ein uniformierter Kollege vorhin aufgenommen hatte. Und dann, im Glauben, dass er das unterbrochene Laufen ohne weiteres fortsetzen konnte, rannte er los. Schließlich war ja nichts geschehen.
Nach ein paar Schritten wurde er gewahr, dass er sich völlig verkalkuliert hatte. Das alles ging über seine Kräfte. Es war doch etwas Fatales geschehen, etwas, worüber er nicht leicht hinwegkommen würde. Wenn er überhaupt mit heiler Haut davonkäme. Mit seiner blöden Geschwätzigkeit hatte er alles vermasselt, warum hatte er ausgepackt, wohin er reiste, warum hatte er freiwillige Erklärungen abgegeben. Er verlangsamte den Schritt, dann aber wechselte er den Rhythmus und versuchte, seinem Davonlaufen noch größeren Schwung zu geben, doch seine Schenkel schlotterten, seine Knie zitterten, er fand keinen Atem, und vor allem spürte er im Rücken den provokanten Blick dieses elenden Polizisten.
Tatsächlich blickte der ihm lange nach, dann wies er die Techniker an, den Fußabdruck des jungen Mannes zu sichern. In den Muskeln seiner Handfläche fühlte er noch den Druck der anderen Hand, ihre Wärme klebte an der Haut, zog in die Muskelfasern hinein, höchst angenehm, auch wenn die Bewertung der Berührung zweifellos Teil der Untersuchung war. Kienast, der seine Doktorarbeit über die magische, mythische und rationale Epoche in der Geschichte der Beweisführung geschrieben hatte, galt unter den strikt wissenschaftlich und streng nach Reglement vorgehenden Kollegen als großer Phantast. Seiner Methoden wegen hätten sie ihn sogar ein wenig abschätzig betrachtet, wären da nicht seine weitgefächerte Aufmerksamkeit und sein solides Fachwissen gewesen.
Allmählich wurde es heller, aber im fernen Licht der Lampen sah man noch immer Schnee fallen.
Als hätte er in dem Händedruck des jungen Mannes eine ungeheure Kraft und zugleich ein wahnsinniges Zittern gespürt, was er nicht in Einklang bringen konnte. Der Junge war vielleicht drogensüchtig, war gerade auf Entzug, vielleicht deswegen erschienen seine Gesichtszüge so vorzeitig gealtert und verbraucht.
Er konnte die schlanke Gestalt im Schneefall zwischen den Bäumen immer noch sehen.
Hoffnungslos, sagte er sich, hätte aber nicht sagen können, auf wen oder was sich das eigentlich bezog.
Als bekäme er noch einen hoffnungslosen Fall als Zugabe. Was er der Schicksalsfügung, im nächtlichen Bereitschaftsdienst nicht abgelöst worden zu sein, zu verdanken hatte. Und als wäre das bevorstehende Weihnachtsfest nur dazu da, die Komplikationen noch zu vergrößern. Wobei sich Kienast in diesem ihm zusätzlich aufgehalsten Fall im Prinzip nur mit zwei ganz schlichten Dingen hätte beschäftigen sollen. Die Identität der unbekannten Person feststellen sowie die Möglichkeit ausschließen, dass ihr Tod durch Gewalteinwirkung verursacht worden war. Er sah voraus, dass das ganz simpel war und er es doch nicht befriedigend würde lösen können. Der Junge würde ihm irgendwie reinpfuschen. Sein anderer hoffnungsloser Fall war aufregender, mit dem war er seit mehr als zwei Monaten beschäftigt. Ein Vatermord, dessen sich anstelle der regelmäßig von ihrem Vater missbrauchten minderjährigen Tochter die Mutter anklagte.
Nach dem Nachtdienst überkam ihn oft Verzagtheit, was ihm Angst machte, nicht zu Unrecht. Seine natürliche Trägheit bahnte sich auf diese Art einen Weg. Kienast ähnelte einer großen Katze, er liebte es weich, warm und bequem.
Es würde lange dauern, bis man den Leichnam identifizieren konnte, schon weil niemand den Mann vermisste, auch nach den Festtagen nicht.
Bevor sie ihn auf Eis legten, wurde er nur gerade einer oberflächlichen pathologischen Prüfung unterzogen. Die Kriminaltechniker untersuchten auch seine Kleidung gründlich. Nach wie vor fand man weder an ihr noch an seinem Körper Spuren, die auf eine Gewalttat hinwiesen. Ganz offensichtlich war der Mann auf der Parkbank einem Herzanfall erlegen.
Auch wenn es Kienasts Aufmerksamkeit nicht entging, dass die Leiche kein einziges Kleidungsstück trug, auf dem sich ein Etikett befunden hätte. In Fällen, in denen die Feststellung der Identität Schwierigkeiten bereitet, wäre das von großem Nutzen. Nach Etiketts muss man geradezu automatisch ausschauen. Mäntel und Jacken wenden, da ist es ja aufs Futter aufgenäht. Bei Hemden und Pullovern am Kragen und am Ausschnitt suchen, bei Hosen innen am Bund. Auf Socken und Unterwäsche sind sie zuweilen aufgestickt, auf billigeren Waren meistens bloß aufgedruckt. Manchmal bringt das mehr als die sogenannte Bertillonage, die Bestimmung jener elf Körpermerkmale, die zur Identifikation dienen soll, aber meistens nichts nützt und in der Tiefe von Schubladen oder Datenbanken verschwindet. Dieser tote Mann hatte keine billigen Sachen getragen. Dr. Kienast nahm schon das dritte oder vierte Stück in Augenschein, mit übergestreiften Handschuhen zog er sie vorsichtig aus den beschrifteten Plastiktüten, und als er erneut feststellte, dass die Etiketts fehlten, zischte er vor Überraschung unwillkürlich durch die Zähne.
Er war allein in dem Saal, das einsame Zischgeräusch hallte von den Kachelwänden wider.
Denn es ist ja noch verständlich, wenn jemand die Etiketts als unangenehm bunt empfindet oder wenn sie seine Haut reizen, oder wenn es ihm ganz einfach nicht gefällt, so beschriftet zu sein, und er sie aus seinem Mantel, seinem Jackett entfernt. Und es ist auch noch akzeptabel, wenn er das Etikett von seinem Pullover oder seinem Hemd abtrennt, weil es, sagen wir, seinen Hals reibt, aber wozu in aller Welt würde er es vom Bund innen an der Hose entfernen, wo man es ja sowieso nicht sieht. Eine Manie, aber was für einen Sinn oder eine Bedeutung konnte eine solche Manie haben. Als wäre Kienast wütend auf die Person, deren Leiche hier vor ihm lag.
...
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Noch in dem denkwürdigen Jahr, als die berühmte Berliner Mauer fiel, stieß man unweit der verwitterten Marmorstatue der Königin Luise auf eine Leiche. Ein paar Tage vor Weihnachten trug sich das zu.
Die Leiche war die eines gepflegten Mannes um die fünfzig, alle seine Sachen waren vom sogenannt Feinsten. Dem ersten Eindruck nach war er jemand von Ansehen, ein Bankier oder Manager. Schnee rieselte langsam, aber es war nicht so kalt, dass er liegen blieb, auf den Wegen im Park schmolz er gleich, nur an den Grashalmen hielt er sich. Die Ermittler gingen vorschriftsmäßig vor und arbeiteten wegen der Witterungsverhältnisse zügig. Sie sperrten die Umgebung ab und durchsuchten das Gelände systematisch, indem sie im Uhrzeigersinn spiralförmig nach innen vorrückten, um die Spuren zu sichern und aufzunehmen. Hinter einem aus schwarzer Plastikfolie improvisierten Sichtschutz entkleideten sie die Leiche vorsichtig, fanden aber keine Spuren von Gewalteinwirkung.
Der Tote war von einem jungen Mann entdeckt worden, der immer vor Tagesanbruch hierher zum Laufen kam. Er war der Einzige, der befragt werden konnte. Als er mit dem Laufen begonnen hatte, war es noch völlig dunkel gewesen, er lief fast jeden Tag dieselbe Strecke zur selben Zeit.
Wenn das nicht der Fall, nicht alles Routine und Gewohnheit gewesen wäre, wenn sich ihm nicht schon ein jeder Stein, ein jeder Schatten ins Gedächtnis geschrieben hätte, wäre ihm die Leiche wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Das Licht entfernter Lampen drang kaum bis hierher. Den auf der Bank liegenden, halb herabhängenden Körper habe er dennoch bemerkt, erklärte er den Polizisten aufgeregt, weil auf dem dunklen Mantel ein wenig Schnee liegen geblieben sei.
Und wie er da gleichmäßig laufe, blitze ihm etwas wie von der Seite in sein Blickfeld, sagte er viel zu laut.
Während er redete, machten sich innerhalb der Absperrung gleichzeitig mehrere Männer zu schaffen. Sie arbeiteten unter ideal zu nennenden Bedingungen, um diese Zeit hielt sich außer ihnen keine Menschenseele im Park auf, es gab keine Schaulustigen. Einer fotografierte mit Blitzlicht etwas auf dem nackten, durchweichten Boden, das zuvor schon von zwei Kriminaltechnikern ausnummeriert worden war.
Als der junge Mann zum dritten Mal mit seiner Geschichte anfing, wurde er nervös gewahr, dass bereits sämtliche Spuren markiert worden waren, und das erfüllte ihn mit einer Beklemmung, als hätte er nicht die Leiche entdeckt und Meldung erstattet, sondern als wäre er der Täter und würde jetzt mit den Indizien konfrontiert.
Es war wie eine Schneide, wobei er nicht hätte sagen können, was für eine Schneide, vielleicht eine Messerklinge oder die Kälte des Gedankens, aber das erwähnte er nicht.
Tatsächlich war sein erster Gedanke gewesen, dass er seinen eigenen Vater ermordet hatte. Wie war es denn möglich, dass er so etwas dachte, dass er den Tod dieses Menschen wünschte, das verstand er nicht und sprach es auch vor den Polizeibeamten nicht aus.
Es blieb kaum noch etwas übrig, worüber er hätte sprechen können.
Man beachtete ihn sowieso nicht weiter, die Polizisten, in Zivil und in Uniform, liefen hin und her und murmelten manchmal halblaut etwas vor sich hin oder warfen sich Sätze zu, die er nicht verstand.
Sie hielten ihn nicht länger auf, er hatte ja seine Personalien schon zweimal angegeben, und man hatte auch zu Protokoll genommen, dass er zu einer späteren Zeugenaussage bereit sei, aber er konnte sich nicht losreißen.
Um ihn herum lösten sich die Beamten ab.
Wenn er laufe, schaue er eigentlich nirgendhin, auf nichts, wiederholte er erregt seinen Bericht, er denke nichts. Psychologisch gesehen sei gerade das die Essenz des gleichmäßigen Laufens. Aber wie er nach etwa zwanzig Minuten ein zweites Mal an der Bank mit dem darauf liegenden Körper vorüberlaufe, erinnere er sich, dass Schnee nur auf einer erkalteten Leiche auf diese Art liegen bleiben kann.
Das habe er irgendwo gelesen. Und da habe er angehalten, um genauer nachzusehen.
Im Berliner Tiergarten ist wirklich schon viel geschehen, besser gesagt, es kann kaum noch etwas geschehen, das nicht schon vorgekommen wäre. Die Polizeibeamten hörten sich seinen Bericht ziemlich gleichgültig an, einer verzog sich auch gleich mit seiner Plastiktüte, um die Arbeit fortzusetzen, kurz darauf blieb ein Dritter bei ihnen stehen, den dann die anderen sich selbst überließen. Der junge Mann hingegen konnte sich nicht beruhigen. Auch diesem neuen Beamten erzählte er seine Geschichte so, als gehörten zu jeder Einzelheit weitere hundert Einzelheiten, als erheische jeder Satz eine Erklärung und als enthülle er mit jeder Erklärung ein hochbrisantes Geheimnis, während er seine eigenen Geheimnisse für sich behielt.
Er fror nicht, trotzdem zitterte er am ganzen Leib. Der Zivilbeamte bot ihm eine Decke an, er solle sie sich umlegen, aber er wies sie mit einer gereizten Handbewegung zurück, wie jemand, den der Zustand seines Körpers, ein wahrscheinlicher Schnupfen oder das täppische, peinliche Zittern, jetzt gerade nicht im Geringsten interessiert. Er hatte wohl, was einem Polizisten sicher nicht unbekannt ist, eine Art Nervenfieber. Offensichtlich war er sich auch nicht bewusst, wie er wirkte. Er machte keinen guten Eindruck, das spürte er bis zu einem gewissen Grad selbst, und es veranlasste ihn, alles noch detaillierter vorzutragen. Trotzdem musterte dieser Polizist wohlwollend, fast schon liebevoll seine aufgewühlten Züge, ja auch seine ganze Gestalt, jedes einzelne Glied, jede Geste, und er überlegte sich, ob er ihn für cholerisch oder eher für asketisch halten sollte, für überdurchschnittlich intelligent und sensibel oder eher für einen gewöhnlichen Stadtneurotiker, der sich nur mit sich selbst beschäftigt.
Wie jemand, der so ausgehungert ist nach Reden, dass er damit von jetzt bis zum nächsten Tag nicht mehr aufhören würde. Wie jemand, der noch nie irgendetwas erlebt hat, jetzt aber steckt er endlich mittendrin, jetzt kommt das große Abenteuer. Wie jemand, dem man nichts Geringeres anvertraut hat als das Geheimnis des Universums.
Er erregte Mitleid und eine gewisse Besorgnis. Am Ende konnte er nur noch mit diesem Beamten reden, den aber nahm er regelrecht in Beschlag, mit seinen fiebrigen Worten, seinen heftigen, wenn auch halbwegs beherrschten Gesten, seiner schwer einzuordnenden seelischen Struktur.
Nachdem der Polizist Körper und Kleidung des jungen Mannes systematisch mit dem Blick abgesucht hatte, erschien er ihm so durchschnittlich, dass es schwerfiel, auf seine soziale Stellung zu schließen, und deshalb erkundigte er sich, welche Universität er denn besuche, was er studiere, und fügte listig hinzu, er frage nicht berufshalber, sondern einfach so, privat. Eigentlich war er zu solchen Fragen nicht berechtigt. Nach seiner Erfahrung ließen sich aber solche sinnlosen und krankhaften Wortschwalle manchmal mit ein paar harmlosen Bemerkungen stoppen. Der Tod eines Unbekannten löst sogar bei Menschen von pyknischer Konstitution regelrechte hysterische Anfälle aus. Gleichzeitig war aber die Frage nicht rein formal gemeint, sondern es begann ihn zu interessieren, wieweit sich der junge Mann durch so eine beiläufige Frage manipulieren und von seiner Selbstverliebtheit ablenken, oder eben, wie leicht er sich einfangen ließ. Wie gefügig er war. Der Beamte gehörte zu den gründlich geschulten Fahndern, die es in der Regel vermeiden können, von einem unerwartet starken Eindruck oder von Phantasien auf eine falsche Fährte geführt zu werden, aber er hatte nicht der Versuchung widerstehen können, wenigstens mit einer provozierenden Frage ein Experiment zu starten.
Doch das richtige Maß lässt sich, sei es in der Anfangsphase der Ermittlung, die im Polizeijargon Erster Angriff heißt, oder auf dem Höhepunkt der Untersuchung, wenn die Ergebnisse zwar noch nicht feststehen, aber doch schon eine Art Bild ergeben, so oder so nicht halten. Manchmal stellte er kleine Fallen. Ermittler seines Typs schätzen die eigene Intuition doch höher ein als die allgemeinen kriminalistischen Regeln, nach denen die weniger mutigen Kollegen verfahren. Sie sind einfallsreicher, ihre Methoden haben allerdings zuweilen auch etwas Willkürliches. In der Fachsprache würde man sagen, dass sie gegenüber dem syllogistischen Verfahren dem heuristischen den Vorzug geben, was hin und wieder sogar dazu führt, dass sie die Gesetze übertreten.
Tatsächlich blieb der junge Mann unter der Wirkung der unbeteiligten Nachfrage in seinem Satz stecken; er studiere Philosophie und Psychologie, sagte er überrascht. Während er antwortete, überlegte er sich, was der Polizeibeamte wohl an ihm beobachtete oder was ihm aufgefallen war.
Hätte ich mir denken können, sagte der Beamte gleichmütig. Was beobachtet der an seinem Hals, und was ist ihm an seinem Trikot aufgefallen, und jetzt an seiner Trainingshose.
Und darüber versiegte der Wortschwall. Als sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass es niemanden interessierte, was immer er berichten mochte. Die Übrigen, so auch der Kommissar, beschäftigten sich mit den Details auf einer anderen Ebene, in einer anderen Tonart.
Nicht mit ihm, nicht mit seinem Bericht.
Seit einiger Zeit lief er in eng anliegenden kleinen Hosen, in gelben oder roten aus glänzendem Stoff, und der Blick des Kommissars setzte die Untersuchung jetzt an seinen Oberschenkeln fort, besonders auf seinem Geschlechtsbereich.
Was so grob war, ihn so bis ins Mark hinein traf, dass er auf den Menschen, der ihm in diesem nackten frühmorgendlichen Park gegenüberstand, endlich aufmerksam wurde, während um sie herum friedlich der Schnee rieselte. Aufmerksam auf die Lippen des Kommissars, seine Augen, seine auffällig dichten, hoch geschwungenen Brauen, auf alles, was er bisher auch schon flüchtig wahrgenommen hatte, seine Stirn, sein wirr gekräuseltes Haar, seine gutmütige Ausstrahlung. Ein Mensch, der ihn eindringlich, fast bekümmert ansah, als wisse er alles von ihm. Als unterziehe er im Rückblick und im Voraus seine verborgensten Geheimnisse einzeln einer Prüfung und täte das sogar mit Anteilnahme. Doch dem Kommissar in seiner großen Zerstreutheit war bloß in den Sinn gekommen, was er einige Tage zuvor im Wartezimmer seines Zahnarztes in irgendeinem dummen Magazin gelesen hatte, nämlich dass sich in Deutschland jedes Jahr siebzehntausend Studenten in Philosophie und zweiundzwanzigtausend in Psychologie einschreiben. Was bedeutet, dass pro Generation rund zehn Millionen mit der Mechanik des Geistes und der Seele befasst sind, mithin eine ansehnliche Anzahl, auch wenn sich ein Vielfaches mit Handel, Finanzen und Militär beschäftigt.
Der junge Mann war verstummt, er spürte, dass der Kommissar von ihm und seinen wissenschaftlichen Interessen nicht viel hielt, sein verfluchter Körper in der verschwitzten Trainingshose zitterte jedoch weiter.
Er lieferte sich aus.
Der Polizist seinerseits, rund zehn Jahre älter und mit abgeschlossenem Jurastudium, fragte in der plötzlich entstandenen Stille rasch, ob sie ihn nach Hause bringen sollten, und fügte noch rascher hinzu, sie würden das gern tun. Wenn er die Decke schon nicht wolle. Es wäre ihnen nicht recht, wenn sich der einzige Augenzeuge erkälte. Er benutzte den Plural wie einen Schild, nicht er sprach, nicht er machte dieses Angebot, sondern die Einheit. Aber es war doch nur er, der ihn hinter diesem Schutzmantel hervor durchdringend ansah. Als wären da kriminologisch gesehen verdächtige Zonen, die er erforschte. Oder als nähme er aus der beruflichen Deckung heraus den anderen Massenmenschen jetzt einmal so richtig in Augenschein.
Kein Wunder, dass der junge Mann das freundliche Angebot ablehnte.
Dieser Mann hatte unmerklich etwas mit ihm getan, ihn erfasst und eingeordnet, und war vielleicht im nächsten Augenblick zu allem fähig. Er sah eine freie Stirn, lockiges dunkles Haar, das irgendwie seinen Blick fesselte, große, volle weiche Lippen. Er musste auf der Hut sein. Mit einer einzigen Bewegung, eigentlich ziemlich ungehobelt, wies er das Angebot zurück, bloß weg hier, dachte er dabei, aber wenigstens stimmlich hatte er sich jetzt unter Kontrolle.
Er sagte, falls er noch benötigt werde, stehe er ihnen während der Festtage in keinem Fall, danach aber erneut zur Verfügung.
Das interessierte den Polizisten ganz offensichtlich nicht. Allerdings wäre ihm lieber gewesen, wenn der junge Mann das Angebot nicht zurückgewiesen hätte. Seine Personalien waren zwar aufgenommen, mit der Meldung war auch seine Stimme registriert, aber er hatte nichts dabei, um sich auszuweisen. Da kein unmittelbarer Verdacht vorlag, konnte man das auch nicht von ihm verlangen.
Er fahre morgen nach Hause, fügte der junge Mann verlegen hinzu.
Bei jedem Wort klapperten seine Zähne, er hörte es selbst. Demnach leben Sie in Berlin, bemerkte der Ermittler rücksichtsvoll, sind aber woanders zu Hause.
Der junge Mann begriff nicht, wie einen der eigene Körper so im Stich lassen und demütigen kann.
Auch dafür hatte der Detektiv vielleicht einiges Verständnis, er bedankte sich für die äußerst wertvolle Hilfe, sie nickten sich zu.
Berlin ist nur vorübergehend mein Wohnort, sagte, auf seine Zähne achtend, der Student, als müsse er sich für so viel Verständnis doch erkenntlich erweisen.
Sie schienen sich aus irgendeinem Grund nicht voneinander lösen zu können.
Meine Eltern leben in Pfeilen, ich bin dort geboren. Allerdings etwas außerhalb der Stadt.
Eine Stadt heißt so, fragte der Polizist, und eine Weile musterten sie sich misstrauisch.
Im Westen, sagte der Student und zeigte mit dem Finger in die Richtung, Niederrhein.
Habe ich noch nie gehört, ist aber bestimmt mein Fehler.
Wir haben da von alters her einen Hof, meine Eltern wohnen aber in der Stadt. Ein unbedeutender Ort, man muss ihn nicht kennen.
Der junge Mann wollte zuvorkommend lächeln, was eher zu einem Zähnefletschen geriet.
Es war nicht auszumachen, wer von den beiden zuerst die Hand ausstreckte. Jedenfalls gaben sie sich die Hand, der Händedruck brachte sie beide gehörig in Verlegenheit.
Der Polizist stellte sich zögernd vor, Dr. Kienast.
Der Doktortitel blieb zwischen ihnen in der Luft hängen. In der Berührung der nackten Handflächen, in den gegenseitig gespürten Wölbungen lag etwas übermäßig Körperliches. Der Doktortitel hatte eher mit Heilen zu tun. Als mache der Kommissar diesbezüglich ein Versprechen. Und es führte auch dazu, dass der Kommissar aus der unabsehbaren Menschenmasse, deren unbedeutende Teile sie beide gleicherweise waren, herausgehoben wurde. Aber der junge Mann erstarrte vor solcher Vertraulichkeit vollends und erwiderte die taktvoll zurückhaltende und vielversprechende Vorstellung nicht.
Wenn es den anderen interessierte, konnte er seinen Namen ja im Protokoll nachsehen, das ein uniformierter Kollege vorhin aufgenommen hatte. Und dann, im Glauben, dass er das unterbrochene Laufen ohne weiteres fortsetzen konnte, rannte er los. Schließlich war ja nichts geschehen.
Nach ein paar Schritten wurde er gewahr, dass er sich völlig verkalkuliert hatte. Das alles ging über seine Kräfte. Es war doch etwas Fatales geschehen, etwas, worüber er nicht leicht hinwegkommen würde. Wenn er überhaupt mit heiler Haut davonkäme. Mit seiner blöden Geschwätzigkeit hatte er alles vermasselt, warum hatte er ausgepackt, wohin er reiste, warum hatte er freiwillige Erklärungen abgegeben. Er verlangsamte den Schritt, dann aber wechselte er den Rhythmus und versuchte, seinem Davonlaufen noch größeren Schwung zu geben, doch seine Schenkel schlotterten, seine Knie zitterten, er fand keinen Atem, und vor allem spürte er im Rücken den provokanten Blick dieses elenden Polizisten.
Tatsächlich blickte der ihm lange nach, dann wies er die Techniker an, den Fußabdruck des jungen Mannes zu sichern. In den Muskeln seiner Handfläche fühlte er noch den Druck der anderen Hand, ihre Wärme klebte an der Haut, zog in die Muskelfasern hinein, höchst angenehm, auch wenn die Bewertung der Berührung zweifellos Teil der Untersuchung war. Kienast, der seine Doktorarbeit über die magische, mythische und rationale Epoche in der Geschichte der Beweisführung geschrieben hatte, galt unter den strikt wissenschaftlich und streng nach Reglement vorgehenden Kollegen als großer Phantast. Seiner Methoden wegen hätten sie ihn sogar ein wenig abschätzig betrachtet, wären da nicht seine weitgefächerte Aufmerksamkeit und sein solides Fachwissen gewesen.
Allmählich wurde es heller, aber im fernen Licht der Lampen sah man noch immer Schnee fallen.
Als hätte er in dem Händedruck des jungen Mannes eine ungeheure Kraft und zugleich ein wahnsinniges Zittern gespürt, was er nicht in Einklang bringen konnte. Der Junge war vielleicht drogensüchtig, war gerade auf Entzug, vielleicht deswegen erschienen seine Gesichtszüge so vorzeitig gealtert und verbraucht.
Er konnte die schlanke Gestalt im Schneefall zwischen den Bäumen immer noch sehen.
Hoffnungslos, sagte er sich, hätte aber nicht sagen können, auf wen oder was sich das eigentlich bezog.
Als bekäme er noch einen hoffnungslosen Fall als Zugabe. Was er der Schicksalsfügung, im nächtlichen Bereitschaftsdienst nicht abgelöst worden zu sein, zu verdanken hatte. Und als wäre das bevorstehende Weihnachtsfest nur dazu da, die Komplikationen noch zu vergrößern. Wobei sich Kienast in diesem ihm zusätzlich aufgehalsten Fall im Prinzip nur mit zwei ganz schlichten Dingen hätte beschäftigen sollen. Die Identität der unbekannten Person feststellen sowie die Möglichkeit ausschließen, dass ihr Tod durch Gewalteinwirkung verursacht worden war. Er sah voraus, dass das ganz simpel war und er es doch nicht befriedigend würde lösen können. Der Junge würde ihm irgendwie reinpfuschen. Sein anderer hoffnungsloser Fall war aufregender, mit dem war er seit mehr als zwei Monaten beschäftigt. Ein Vatermord, dessen sich anstelle der regelmäßig von ihrem Vater missbrauchten minderjährigen Tochter die Mutter anklagte.
Nach dem Nachtdienst überkam ihn oft Verzagtheit, was ihm Angst machte, nicht zu Unrecht. Seine natürliche Trägheit bahnte sich auf diese Art einen Weg. Kienast ähnelte einer großen Katze, er liebte es weich, warm und bequem.
Es würde lange dauern, bis man den Leichnam identifizieren konnte, schon weil niemand den Mann vermisste, auch nach den Festtagen nicht.
Bevor sie ihn auf Eis legten, wurde er nur gerade einer oberflächlichen pathologischen Prüfung unterzogen. Die Kriminaltechniker untersuchten auch seine Kleidung gründlich. Nach wie vor fand man weder an ihr noch an seinem Körper Spuren, die auf eine Gewalttat hinwiesen. Ganz offensichtlich war der Mann auf der Parkbank einem Herzanfall erlegen.
Auch wenn es Kienasts Aufmerksamkeit nicht entging, dass die Leiche kein einziges Kleidungsstück trug, auf dem sich ein Etikett befunden hätte. In Fällen, in denen die Feststellung der Identität Schwierigkeiten bereitet, wäre das von großem Nutzen. Nach Etiketts muss man geradezu automatisch ausschauen. Mäntel und Jacken wenden, da ist es ja aufs Futter aufgenäht. Bei Hemden und Pullovern am Kragen und am Ausschnitt suchen, bei Hosen innen am Bund. Auf Socken und Unterwäsche sind sie zuweilen aufgestickt, auf billigeren Waren meistens bloß aufgedruckt. Manchmal bringt das mehr als die sogenannte Bertillonage, die Bestimmung jener elf Körpermerkmale, die zur Identifikation dienen soll, aber meistens nichts nützt und in der Tiefe von Schubladen oder Datenbanken verschwindet. Dieser tote Mann hatte keine billigen Sachen getragen. Dr. Kienast nahm schon das dritte oder vierte Stück in Augenschein, mit übergestreiften Handschuhen zog er sie vorsichtig aus den beschrifteten Plastiktüten, und als er erneut feststellte, dass die Etiketts fehlten, zischte er vor Überraschung unwillkürlich durch die Zähne.
Er war allein in dem Saal, das einsame Zischgeräusch hallte von den Kachelwänden wider.
Denn es ist ja noch verständlich, wenn jemand die Etiketts als unangenehm bunt empfindet oder wenn sie seine Haut reizen, oder wenn es ihm ganz einfach nicht gefällt, so beschriftet zu sein, und er sie aus seinem Mantel, seinem Jackett entfernt. Und es ist auch noch akzeptabel, wenn er das Etikett von seinem Pullover oder seinem Hemd abtrennt, weil es, sagen wir, seinen Hals reibt, aber wozu in aller Welt würde er es vom Bund innen an der Hose entfernen, wo man es ja sowieso nicht sieht. Eine Manie, aber was für einen Sinn oder eine Bedeutung konnte eine solche Manie haben. Als wäre Kienast wütend auf die Person, deren Leiche hier vor ihm lag.
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Autoren-Porträt von Péter Nádas
Es gibt wenige Schriftsteller, die schon zu Lebzeiten als Legende gelten. Péter Nádas gehört mit Sicherheit dazu. Der große Erzähler und Autor legte 1986 sein von den Kritikern als opus magnum bezeichnetes Buch der Erinnerung vor und arbeitete danach gut 18 Jahre an seinem zweiten, höchst umfangreichen, Werk Parallelgeschichten. Es erschien 2005 im Original und 2012 in zahlreichen Übersetzungen. Iris Radisch, Literaturkritikerin der ZEIT, schrieb über Parallelgeschichten: ... es ist grausam schön, unübersichtlich, überraschend, anmutig, lüstern, albtraumhaft und vollkommen labyrinthisch" ... Nádas webt Erzählfäden von Orten, Zeiten, Menschen und Ereignissen zusammen, viele verlieren sich wieder, werden abgerissen, andere tauchen hunderte Seiten später erneut auf - beim Lesen des über 1700 Seiten starken Buches entsteht so sachte ein Gewebe, ein Zeitgemälde des 20. Jahrhunderts, löchrig und individuell, aber betörend und mit großer erzählerischer Kraft. Schon im Buch der Erinnerung arbeitete Nádas mit der Darstellung paralleler Erinnerungen - verschiedene Zeiten, verschiedene Menschen -, in Parallelgeschichten setzt er es radikaler denn je fort.Geboren wurde Nádas 1942 in Budapest, mit 13 verlor er seine kranke Mutter Klára, als er 16 war beging sein Vater László Selbstmord - so waren Péter und sein Bruder Pál 1958 Vollwaisen und eine Verwandte kümmerte sich die Jungen. Nádas studierte Chemie und interessierte sich stark für Fotografie. Seine erste Stelle trat er auch 1961 als Fotoreporter an, später arbeitete er als Journalist für eine Zeitung. Für das Schreiben hat sich Nádas 1965 entschieden, 1967 veröffentlichte er einen ersten Band mit Erzählungen. Danach stand der vom Regime „unerwünschte Autor" Nádas von 1969 bis 1977 unter
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Veröffentlichungsverbot im kommunistischen Ungarn. Er zog sich von Budapest aufs Land zurück, lebte als freier Schriftsteller und arbeitete zeitweise für Zeitschriften. 1981 verbrachte er auf Einladung des DAAD ein Jahr in Westberlin.
Eine Nahtoderfahrung - Nádas brach 1993 in Budapest zusammen und erlitt einen Herzinfarkt - verarbeitete er literarisch in dem Bericht Der eigenen Tod.
Für sein Buch der Erinnerung wurde Nádas u. a. mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1991) und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (1995) ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau, der Journalistin Magda Salamon, in Budapest und Gombosszeg, einem kleinen Dorf, vier Bahnstunden von Budapest entfernt.
Eine Nahtoderfahrung - Nádas brach 1993 in Budapest zusammen und erlitt einen Herzinfarkt - verarbeitete er literarisch in dem Bericht Der eigenen Tod.
Für sein Buch der Erinnerung wurde Nádas u. a. mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1991) und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (1995) ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau, der Journalistin Magda Salamon, in Budapest und Gombosszeg, einem kleinen Dorf, vier Bahnstunden von Budapest entfernt.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Péter Nádas
- 2012, 1728 Seiten, Maße: 15,4 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Christina Viragh
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498046950
- ISBN-13: 9783498046958
- Erscheinungsdatum: 14.02.2012
Pressezitat
[Der Roman] will verstören, und er verstört ... Er versenkt sich tief in die unheimlichen Korrespondenzen zwischen dem kollektiven Unbewussten des Ostens und der dunklen Sehnsucht seiner Intellektuellen nach Übertretung und Selbstauslöschung. Iris Radisch Zeit Literaturbeilage 20221013
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