Perla
Roman
Der bewegende Roman einer jungen Frau in Argentinien und deren schmerzhafte Suche nach ihren Wurzeln und nach sich selbst. Als einziges Kind gut situierter Eltern wächst Perla wohlbehütet in Buenos Aires auf: Ihre Mutter ist schön und...
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Produktinformationen zu „Perla “
Klappentext zu „Perla “
Der bewegende Roman einer jungen Frau in Argentinien und deren schmerzhafte Suche nach ihren Wurzeln und nach sich selbst. Als einziges Kind gut situierter Eltern wächst Perla wohlbehütet in Buenos Aires auf: Ihre Mutter ist schön und elegant, aber unnahbar, ihr strenger Vater ein Marineoffizier, über dessen Beruf man nicht spricht.Obwohl Perla ahnt, dass über der Vergangenheit der Eltern ein dunkler Schatten liegt, ist ihre Liebe zu ihnen bedingungslos. Doch eines Tages kommt ein ungebetener Besucher zu ihr, und nichts ist mehr wie zuvor. Denn nun beginnt für sie eine Reise, auf der sie sich ihrem eigenen Schicksal stellen muss. Ein Schicksal, das sie mit vielen anderen ihrer Generation teilt - das Schicksal eines ganzen Landes.
"Carolina De Robertis tritt mit diesem Roman in die Fußstapfen von Isabel Allende und Gabriel García Márquez."
The Washington Post
Lese-Probe zu „Perla “
Perla von Carolina De Robertis 1
Ankunft
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Manche Dinge kann der Verstand allein nicht fassen. Also hör, wenn du kannst, mit deinem ganzen Sein zu. Die Geschichte drängt hervor, verlangt, erzählt zu werden, hier, jetzt, wo ich dich so nah fühle und die Vergangenheit noch näher, wo sie uns ihren Atem ins Genick bläst.
Er tauchte am zweiten März 2001 auf, kurz nach Mitternacht. Ich war allein. Aus dem Wohnzimmer kam ein leises Geräusch, eine Art Kratzen, wie Fingernägel auf hartem Fußboden - dann nichts mehr. Zuerst konnte ich mich nicht rühren; ich überlegte, ob ich ein Fenster offen gelassen hatte, nein, hatte ich nicht. Ich nahm das Messer, an dem noch Kürbisfleisch klebte, von der Arbeitsplatte und ging langsam durch den Flur zum Wohnzimmer, die Waffe kampfbereit vor mir: Ich würde mit aller Kraft zustechen. Ich bog um den Türpfosten, und da lag er zusammengerollt auf der Seite und tropfte den Teppich voll.
Er war nackt. An seiner aschfahlen, nassen Haut klebte Seetang. Er roch nach Fisch und Kupfer und verfaulenden Äpfeln. Nichts hatte sich bewegt: Die Glasschiebetür zum Garten war geschlossen und unversehrt, die Vorhänge hingen da wie zuvor, und es gab keine Nässespur, die angezeigt hätte, wo er gegangen oder gekrochen war. Ich spürte meine Arme und Beine nicht. Ich stand so unter Spannung, dass die Luft im Zimmer knisterte.
»Raus hier«, sagte ich.
Er rührte sich nicht.
»Verschwinden Sie«, sagte ich, jetzt lauter.
Er hob mit immenser Anstrengung den Kopf und öffnete die Augen. Sie waren weit und bodenlos. Sie starrten mich an, die Augen eines Babys, die Augen einer Boa. In diesem Augenblick ging in meinem Innersten etwas entzwei, als ob eine Ankerkette riss und ein Boot plötzlich mitten in schrecklich dunklem Wasser haltlos dahintrieb, und ich konnte nicht wegschauen.
Ich richtete das Messer genau auf ihn.
Der Mann erschauerte, und sein Kopf fiel wieder auf den Boden. Instinktiv wollte ich ihm aufhelfen, ihm etwas Heißes zu trinken geben oder einen Krankenwagen rufen. Aber wenn er sich nur verstellte, um mich zu überwältigen, sobald ich näher kam? Tu's nicht. Bleib weg von ihm. Ich trat einen Schritt zurück und wartete ab. Der Mann hatte es aufgegeben, den Kopf zu heben, und beobachtete mich aus den Augenwinkeln. Eine Minute verging. Er verzog keine Miene, machte keine Anstalten, mich anzugreifen, wandte aber den Blick nicht ab.
Schließlich fragte ich: »Was wollen Sie?«
Seine Kiefer begannen zu arbeiten, langsam, mühsam. Der Mund öffnete sich, und heraus kam Wasser, schlammig braun wie das Wasser des Flusses sickerte es in den Teppich. Der brackige Geruch im Zimmer wurde stärker. Ich machte noch einen Schritt rückwärts und presste mich an die Wand. Sie fühlte sich kühl und hart an, und ich wünschte, sie würde flüstern, Schsch, keine Angst, manche Dinge sind immer noch solide. Aber sie war nur eine Wand und hatte nichts zu sagen.
Seine Lippen mühten sich. Ich wartete, sah, wie er darum rang, etwas herauszubringen. Schließlich sprach er, undeutlich und zu laut wie ein Taubstummer, der nicht richtig zu artikulieren gelernt hat: »Co-iii-aahh«
Ich schüttelte den Kopf.
Er brachte noch einmal die gleichen Laute hervor, diesmal langsamer: »Coo. Iiii. Aaaahh.«
Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. »Coya?«, fragte ich und dachte, ein Name? Ein Ort, von dem ich noch nie gehört hatte?
»Coo. Miiiii. Aaah.«
Ich nickte, ohne irgendetwas damit anfangen zu können.
»Coo. Miiiii. Dah.«
Und da verstand ich. »Co-mi-da. Essen. Essen?«
Er nickte. Sein Gesicht tropfte zu heftig, als dass es Schweiß sein konnte, die Flüssigkeit quoll aus seinen Poren, er war wie ein menschenförmiger Schwamm, den man gerade aus dem Fluss gefischt hatte - obwohl selbst ein Schwamm irgendwann aufhören würde zu tropfen, die Nässe dieses Mannes aber nicht nachließ. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, presste ich das Messer an meinen Arm, um zu prüfen, ob ich träumte. Die Klinge ritzte die Haut, es blutete, und ich fühlte den Schmerz, erwachte aber nicht aus dieser Wirklichkeit, um mich in einer anderen wiederzufinden. Wenn mein Vater da wäre, könnte er diesen schaurigen Mann sicher nicht sehen, oder wenn doch, hätte er ihn bereits wortlos erstochen und würde sich jetzt einen Scotch eingießen und meiner Mutter beim Säubern des Teppichs zuschauen. Ich begegnete dem Blick des Fremden, und mein Herz pulsierte wie eine Sirene. Ich müsste auf ihn losgehen, dachte ich, ich müsste ihn rausschmeißen. Aber ich konnte es nicht. Später würde dieser Moment für mich der Beginn meines wahren Lebens sein: der Moment, in dem ich, ohne zu wissen, warum, zu meiner eigenen Bestürzung und wider alle Vernunft die Waffe senkte und mich auf die Suche nach etwas Essbarem machte.
Die Küche war so, wie ich sie verlassen hatte, nur der Topf auf dem Herd war übergekocht, Wasser zischte in den Gasflammen. Ich hatte Kürbis für Lolo aufgesetzt, das Schildkrötenmännchen, das in aller Gelassenheit vor dem Kühlschrank saß, den Kopf aus dem Panzer gestreckt. Meine Zigarette auf der Arbeitsplatte war ausgegangen. Ihr Anblick war für mich ein Schock, weil es sich nicht anfühlte wie dieselbe Nacht, in der ich vor wenigen Minuten erst dort gestanden und geraucht und Kürbis geschnitten hatte und mir, als würde ich es glauben, wenn ich es oft genug wiederholte, gesagt hatte, wie schön es doch war, allein zu sein, das Haus für mich zu haben, tun zu können, was ich wollte: Toast zu essen, nackt in der Küche herumtanzen, wenn mir danach war, dreckiges Geschirr auf dem Sofa stehenlassen, mit weit gespreizten Beinen dasitzen, weinen, ohne jemandem erklären zu müssen, warum.
Ich stellte das Gas unterm Kürbistopf ab und durchforstete den Kühlschrank. Mamá hatte mir reichlich Vorräte dagelassen. Ich gruppierte ein Sortiment Lebensmittel auf einem Tablett: Gouda, Brot, Brathuhn und Kartoffeln vom Vorabend, Weißwein, ein Glas Wasser, ein paar Bonbons in einem goldenen Döschen - und trat wieder in den Flur hinaus. Das Messer hatte ich immer noch bei mir, zwischen den Sachen auf dem Tablett. Meine Eltern protestierten aus dem Nirgendwo, aus der Luft hinter mir, und ich hatte darauf keine Antwort. Ich fühlte das schwere Cape ihrer Missbilligung, ihrer Bestürzung über meine Unvernunft. Perla, was tust du?, hörte ich sie im Geiste rufen, als ich ins Wohnzimmer ging.
Er lag immer noch in seiner Embryonalstellung da. Er zitterte nicht. Der weinrote Teppich war von dem Wasser fast schwarz. Der Mann bewegte sich nicht, bis auf einen nackten Fuß, der lautlos auf den Boden klopfte. Seine Augen waren starr auf die Wand gerichtet. Morgen früh, wenn ich aufwachte, würde er weg sein und der Teppich trocken, weil nichts von alldem je passiert war.
Ich stellte das Tablett neben ihn auf den Boden. Er starrte es an, als stünden darauf Dinge aus einem bizarren, versunkenen Königreich. Er machte keine Anstalten, sich aufzusetzen und zu essen, und ich begriff, dass er es wohl nicht konnte, da er ja kaum die Kraft gehabt hatte, den Mund zu bewegen. Er war so hilflos wie ein Baby, wartete vielleicht, dass ich ihn fütterte, Bissen für Bissen. Die Vorstellung ekelte mich - meine Hand an seinem Mund, an seiner feuchten Haut -, also wartete ich ab. Er gab einen Laut von sich, unausgeformt, klagend, verlangend. Eine weitere Minute verging.
Schließlich fragte ich: »Möchten Sie Huhn?«
Er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf.
»Käse?«
Wieder Kopfschütteln.
»Schokolade?«
Kopfschütteln.
»Wasser?«
Er nickte, und seine Augen wurden weit. Flehend.
Es ging nicht anders. Er konnte nicht alleine trinken. Ich nahm das Glas vom Tablett, hielt es in Höhe seines Munds, und er hob den Kopf ein paar Zentimeter an. Jetzt, aus der Nähe, sah ich, dass seine Lippen bläulich waren und sein Gesicht feucht glänzte. Ich setzte das Glas an seinen Mund und neigte es vorsichtig, und er kaute, als ob er das Wasser äße, als ob es so fest wäre wie Brot. Ich passte auf, dass ich ihn nicht berührte, obwohl mein Ekel inzwischen mit meiner Neugier im Widerstreit lag: Wie würde sich seine Haut wohl anfühlen?
Er hörte auf, Wasser zu essen, und ließ den Kopf wieder zurücksinken.
»Wer sind Sie?«, fragte ich, aber er hatte die Augen geschlossen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also blieb ich eine Weile neben dem Fremden auf dem Boden sitzen. Ich überlegte, ob ich ihn irgendwohin schaffen sollte, in den Garten, auf die Straße. Aber er wirkte zu schwer, und wenn er von dem Gezerre aufwachte, wäre es nur noch schlimmer. Und außerdem, was würden die Nachbarn sagen? Lieber gar nichts tun, einfach ins Bett gehen, morgen früh würde er genauso unerklärlich wieder verschwunden sein, wie er aufgetaucht war. Keine besonders kluge Lösung, aber eine, mit der ich über die Nacht kommen würde.
Ich war so müde. Zehn Tage war es jetzt her, dass ich mich mit Gabriel gestritten hatte, dass ich ihn an diesem uruguayischen Strand hatte stehenlassen, mit leeren Händen, noch leereren Augen und ohne das Versprechen eines Wiedersehens. Seither raubten mir schlimme Visionen den Schlaf. Aber morgens stand ich immer auf und polierte meine Oberfläche, die strahlende, selbstbewusste junge Frau, brave Tochter und exzellente Studentin im vierten Studienjahr, die sich reibungslos durch die Welt bewegte. Und wenn das Chaos darunter scharrte und tobte, stopfte ich es in die Spalten und Ritzen des Tages, damit es niemand bemerkte.
Der einzige Mensch, der zuverlässig hinter meine Masken blickte, war Gabriel. Als wir uns vor vier Jahren begegnet waren, hatte ich es darauf geschoben, dass er sieben Jahre älter war als ich und deshalb viel welterfahrener. Aber natürlich gab es auch Fünfundzwanzigjährige, die man noch kaum als Männer bezeichnen konnte und die nicht imstande waren, das schwarze Loch in einem selbstsicher auftretenden achtzehnjährigen Mädchen zu sehen. Ich hatte Professoren, Freunde, meine Eltern und deren Freunde zu täuschen vermocht, alle außer Gabriel. Ganz am Anfang hatte ich ihm einmal erklärt, ich müsse jetzt gehen, um für eine Psychologieklausur zu lernen. Er sagte, All der viele Freud, und trotzdem siehst du deine eigenen Dämonen nicht. Dann küsste er mich lachend, was mich wütend machte. Noch wütender aber machte mich mein Verlangen, den Kuss zu erwidern. Red du mir nicht von Dämonen, sagte ich, bevor du deine eigenen nicht bezwungen hast. Er sah mich an, als hätte ich gerade die geheime Zauberformel der Verführung ausgesprochen. In jener Nacht lernte ich nichts, nichts über Freud jedenfalls - nur über die Formen seines Körpers, seine begierigen Hände, seinen Mund auf meiner Haut, sein Geschlecht, das sich durch seine Jeans hart an mich presste. Das war unser erstes Jahr, das unkomplizierteste Jahr unserer Beziehung, als ich einfach nur Perla war und nicht die Menschen, mit denen ich zusammenhing. Bevor wir über seine Arbeit oder meine Familie sprachen, geschweige denn über die explosive Kombination von beidem, bevor unser Bild voneinander Risse bekam, Sprünge, die sich ausweiteten wie bei einem Spiegel, den immer mehr Steinchen treffen. Damals war es genug, uns zu küssen, zu lachen und zu diskutieren, zu rauchen, zu trinken, uns mit Schlangenbewegungen aneinander zu reiben, bis die Hitze, die wir generierten, die Sonne aus dem Schlaf riss.
Daran dachte ich jetzt, als ich den Fremden auf dem Fußboden liegen ließ und wieder in die Küche ging, um den gekochten Kürbis in ein Schälchen zu löffeln und ihn Lolo hinzustellen, der sich irgendwo versteckte, aber in der Nacht, wenn das Haus schlief, garantiert hervorkommen würde. Ich ging nach oben in mein Zimmer, gleichzeitig hellwach und erschöpft. Ich wollte die Zeit zurückdrehen, wollte zurück in jene ersten Nächte mit Gabriel, zurück zu Gabriel selbst, seinem Duft, seiner kräftigen Stimme, seinem Blick, der mir das Gefühl gab, mich vollständig zu erkennen. In seine Gegenwart eingehüllt, würde ich nach der Frau Ausschau halten, die ich mit ihm gewesen war oder sein zu können geglaubt hatte. Und wer ist diese Frau, Perla? Eine mutigere Frau, eine Untergrundfrau, die Geheimnisse in beiden Händen hält wie gebändigte Schlangen. In den Nächten mit Gabriel hatte ich eine Ahnung von dieser Frau bekommen; ich hatte gefühlt, wie ich mich durch das, was ich jetzt war, hindurchsengte, um die Schlangenfrau mit dem lohenden Haar zu werden. Aber das waren nur absurde Phantasien, und außerdem hatte ich vor zehn Tagen diese Tür endgültig zugeknallt und die Tür zu Gabriel auch. Er war jetzt weg, und dafür hatte ich selbst gesorgt. Ich musste es tun, ich hatte keine Wahl, dachte ich Nacht für Nacht, immer wieder, keine Wahl, keine Wahl, eine Beschwörung, deren Macht durch die Wiederholung wuchs. Ich hatte gedacht, er würde mich vielleicht anrufen, aber er tat es nicht. Er war wütender, als ich geglaubt hatte. Wenn er eine Woche nicht anruft, dachte ich, ist es endgültig vorbei - und als eine Woche vergangen war, ohne dass er angerufen hatte, dachte ich, es würde mir das Herz brechen. Doch statt auch nur eine einzige Träne zu vergießen, ging ich in eine Bar in der Nähe der Universität, fand einen schüchternen Kommilitonen namens Osvaldo und ließ mich von ihm abschleppen. Es war schockierend leicht. Ich brauchte ihn nur einen Sekundenbruchteil länger anzuschauen als normal, und fünf Minuten später spendierte er mir einen Drink. Dreißig Minuten später traten wir aus der Bar in die lärmende Nacht hinaus. Auf dem Weg zu seiner Wohnung verhielt er sich wie ein Grubenarbeiter, der überraschend auf eine Goldader gestoßen ist. Er war ein netter Typ, aber als er in meinen Körper eindrang, fand er dort nur meinen Körper. Er hatte keinerlei Gespür für die innere Perla, der ich mich selbst kaum stellen konnte, die Gabriel aber immer gesucht hatte, um sie zu berühren, zu verstehen. Es war lustvoll mit Osvaldo: wie er mich berührte, wie er meine Beine um seinen Nacken schlang, wie sein Geschlecht vor schierer Begeisterung den Rhythmus steigerte. Aber die Lust schien jemand anders zu empfinden, ein Mädchen, das für die Nacht meinen Körper übernommen hatte und das ich kaum kannte. Hinterher lag ich im Dämmerlicht unter ihm und dachte, so, Perla, jetzt hast du, was du wolltest: Du bist nicht mehr nackt und bloß, dein Selbst ist so gut versteckt, dass es niemand mehr findet. Ich hätte erleichtert sein oder zumindest ein Fünkchen Triumphgefühl verspüren sollen, aber ich fühlte mich nur schrecklich allein.
Und das war ich auch, drei weitere Nächte, bis dieser Fremde bei mir einbrach, ohne auch nur eine einzige Scheibe zu zerschlagen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Manche Dinge kann der Verstand allein nicht fassen. Also hör, wenn du kannst, mit deinem ganzen Sein zu. Die Geschichte drängt hervor, verlangt, erzählt zu werden, hier, jetzt, wo ich dich so nah fühle und die Vergangenheit noch näher, wo sie uns ihren Atem ins Genick bläst.
Er tauchte am zweiten März 2001 auf, kurz nach Mitternacht. Ich war allein. Aus dem Wohnzimmer kam ein leises Geräusch, eine Art Kratzen, wie Fingernägel auf hartem Fußboden - dann nichts mehr. Zuerst konnte ich mich nicht rühren; ich überlegte, ob ich ein Fenster offen gelassen hatte, nein, hatte ich nicht. Ich nahm das Messer, an dem noch Kürbisfleisch klebte, von der Arbeitsplatte und ging langsam durch den Flur zum Wohnzimmer, die Waffe kampfbereit vor mir: Ich würde mit aller Kraft zustechen. Ich bog um den Türpfosten, und da lag er zusammengerollt auf der Seite und tropfte den Teppich voll.
Er war nackt. An seiner aschfahlen, nassen Haut klebte Seetang. Er roch nach Fisch und Kupfer und verfaulenden Äpfeln. Nichts hatte sich bewegt: Die Glasschiebetür zum Garten war geschlossen und unversehrt, die Vorhänge hingen da wie zuvor, und es gab keine Nässespur, die angezeigt hätte, wo er gegangen oder gekrochen war. Ich spürte meine Arme und Beine nicht. Ich stand so unter Spannung, dass die Luft im Zimmer knisterte.
»Raus hier«, sagte ich.
Er rührte sich nicht.
»Verschwinden Sie«, sagte ich, jetzt lauter.
Er hob mit immenser Anstrengung den Kopf und öffnete die Augen. Sie waren weit und bodenlos. Sie starrten mich an, die Augen eines Babys, die Augen einer Boa. In diesem Augenblick ging in meinem Innersten etwas entzwei, als ob eine Ankerkette riss und ein Boot plötzlich mitten in schrecklich dunklem Wasser haltlos dahintrieb, und ich konnte nicht wegschauen.
Ich richtete das Messer genau auf ihn.
Der Mann erschauerte, und sein Kopf fiel wieder auf den Boden. Instinktiv wollte ich ihm aufhelfen, ihm etwas Heißes zu trinken geben oder einen Krankenwagen rufen. Aber wenn er sich nur verstellte, um mich zu überwältigen, sobald ich näher kam? Tu's nicht. Bleib weg von ihm. Ich trat einen Schritt zurück und wartete ab. Der Mann hatte es aufgegeben, den Kopf zu heben, und beobachtete mich aus den Augenwinkeln. Eine Minute verging. Er verzog keine Miene, machte keine Anstalten, mich anzugreifen, wandte aber den Blick nicht ab.
Schließlich fragte ich: »Was wollen Sie?«
Seine Kiefer begannen zu arbeiten, langsam, mühsam. Der Mund öffnete sich, und heraus kam Wasser, schlammig braun wie das Wasser des Flusses sickerte es in den Teppich. Der brackige Geruch im Zimmer wurde stärker. Ich machte noch einen Schritt rückwärts und presste mich an die Wand. Sie fühlte sich kühl und hart an, und ich wünschte, sie würde flüstern, Schsch, keine Angst, manche Dinge sind immer noch solide. Aber sie war nur eine Wand und hatte nichts zu sagen.
Seine Lippen mühten sich. Ich wartete, sah, wie er darum rang, etwas herauszubringen. Schließlich sprach er, undeutlich und zu laut wie ein Taubstummer, der nicht richtig zu artikulieren gelernt hat: »Co-iii-aahh«
Ich schüttelte den Kopf.
Er brachte noch einmal die gleichen Laute hervor, diesmal langsamer: »Coo. Iiii. Aaaahh.«
Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. »Coya?«, fragte ich und dachte, ein Name? Ein Ort, von dem ich noch nie gehört hatte?
»Coo. Miiiii. Aaah.«
Ich nickte, ohne irgendetwas damit anfangen zu können.
»Coo. Miiiii. Dah.«
Und da verstand ich. »Co-mi-da. Essen. Essen?«
Er nickte. Sein Gesicht tropfte zu heftig, als dass es Schweiß sein konnte, die Flüssigkeit quoll aus seinen Poren, er war wie ein menschenförmiger Schwamm, den man gerade aus dem Fluss gefischt hatte - obwohl selbst ein Schwamm irgendwann aufhören würde zu tropfen, die Nässe dieses Mannes aber nicht nachließ. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, presste ich das Messer an meinen Arm, um zu prüfen, ob ich träumte. Die Klinge ritzte die Haut, es blutete, und ich fühlte den Schmerz, erwachte aber nicht aus dieser Wirklichkeit, um mich in einer anderen wiederzufinden. Wenn mein Vater da wäre, könnte er diesen schaurigen Mann sicher nicht sehen, oder wenn doch, hätte er ihn bereits wortlos erstochen und würde sich jetzt einen Scotch eingießen und meiner Mutter beim Säubern des Teppichs zuschauen. Ich begegnete dem Blick des Fremden, und mein Herz pulsierte wie eine Sirene. Ich müsste auf ihn losgehen, dachte ich, ich müsste ihn rausschmeißen. Aber ich konnte es nicht. Später würde dieser Moment für mich der Beginn meines wahren Lebens sein: der Moment, in dem ich, ohne zu wissen, warum, zu meiner eigenen Bestürzung und wider alle Vernunft die Waffe senkte und mich auf die Suche nach etwas Essbarem machte.
Die Küche war so, wie ich sie verlassen hatte, nur der Topf auf dem Herd war übergekocht, Wasser zischte in den Gasflammen. Ich hatte Kürbis für Lolo aufgesetzt, das Schildkrötenmännchen, das in aller Gelassenheit vor dem Kühlschrank saß, den Kopf aus dem Panzer gestreckt. Meine Zigarette auf der Arbeitsplatte war ausgegangen. Ihr Anblick war für mich ein Schock, weil es sich nicht anfühlte wie dieselbe Nacht, in der ich vor wenigen Minuten erst dort gestanden und geraucht und Kürbis geschnitten hatte und mir, als würde ich es glauben, wenn ich es oft genug wiederholte, gesagt hatte, wie schön es doch war, allein zu sein, das Haus für mich zu haben, tun zu können, was ich wollte: Toast zu essen, nackt in der Küche herumtanzen, wenn mir danach war, dreckiges Geschirr auf dem Sofa stehenlassen, mit weit gespreizten Beinen dasitzen, weinen, ohne jemandem erklären zu müssen, warum.
Ich stellte das Gas unterm Kürbistopf ab und durchforstete den Kühlschrank. Mamá hatte mir reichlich Vorräte dagelassen. Ich gruppierte ein Sortiment Lebensmittel auf einem Tablett: Gouda, Brot, Brathuhn und Kartoffeln vom Vorabend, Weißwein, ein Glas Wasser, ein paar Bonbons in einem goldenen Döschen - und trat wieder in den Flur hinaus. Das Messer hatte ich immer noch bei mir, zwischen den Sachen auf dem Tablett. Meine Eltern protestierten aus dem Nirgendwo, aus der Luft hinter mir, und ich hatte darauf keine Antwort. Ich fühlte das schwere Cape ihrer Missbilligung, ihrer Bestürzung über meine Unvernunft. Perla, was tust du?, hörte ich sie im Geiste rufen, als ich ins Wohnzimmer ging.
Er lag immer noch in seiner Embryonalstellung da. Er zitterte nicht. Der weinrote Teppich war von dem Wasser fast schwarz. Der Mann bewegte sich nicht, bis auf einen nackten Fuß, der lautlos auf den Boden klopfte. Seine Augen waren starr auf die Wand gerichtet. Morgen früh, wenn ich aufwachte, würde er weg sein und der Teppich trocken, weil nichts von alldem je passiert war.
Ich stellte das Tablett neben ihn auf den Boden. Er starrte es an, als stünden darauf Dinge aus einem bizarren, versunkenen Königreich. Er machte keine Anstalten, sich aufzusetzen und zu essen, und ich begriff, dass er es wohl nicht konnte, da er ja kaum die Kraft gehabt hatte, den Mund zu bewegen. Er war so hilflos wie ein Baby, wartete vielleicht, dass ich ihn fütterte, Bissen für Bissen. Die Vorstellung ekelte mich - meine Hand an seinem Mund, an seiner feuchten Haut -, also wartete ich ab. Er gab einen Laut von sich, unausgeformt, klagend, verlangend. Eine weitere Minute verging.
Schließlich fragte ich: »Möchten Sie Huhn?«
Er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf.
»Käse?«
Wieder Kopfschütteln.
»Schokolade?«
Kopfschütteln.
»Wasser?«
Er nickte, und seine Augen wurden weit. Flehend.
Es ging nicht anders. Er konnte nicht alleine trinken. Ich nahm das Glas vom Tablett, hielt es in Höhe seines Munds, und er hob den Kopf ein paar Zentimeter an. Jetzt, aus der Nähe, sah ich, dass seine Lippen bläulich waren und sein Gesicht feucht glänzte. Ich setzte das Glas an seinen Mund und neigte es vorsichtig, und er kaute, als ob er das Wasser äße, als ob es so fest wäre wie Brot. Ich passte auf, dass ich ihn nicht berührte, obwohl mein Ekel inzwischen mit meiner Neugier im Widerstreit lag: Wie würde sich seine Haut wohl anfühlen?
Er hörte auf, Wasser zu essen, und ließ den Kopf wieder zurücksinken.
»Wer sind Sie?«, fragte ich, aber er hatte die Augen geschlossen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also blieb ich eine Weile neben dem Fremden auf dem Boden sitzen. Ich überlegte, ob ich ihn irgendwohin schaffen sollte, in den Garten, auf die Straße. Aber er wirkte zu schwer, und wenn er von dem Gezerre aufwachte, wäre es nur noch schlimmer. Und außerdem, was würden die Nachbarn sagen? Lieber gar nichts tun, einfach ins Bett gehen, morgen früh würde er genauso unerklärlich wieder verschwunden sein, wie er aufgetaucht war. Keine besonders kluge Lösung, aber eine, mit der ich über die Nacht kommen würde.
Ich war so müde. Zehn Tage war es jetzt her, dass ich mich mit Gabriel gestritten hatte, dass ich ihn an diesem uruguayischen Strand hatte stehenlassen, mit leeren Händen, noch leereren Augen und ohne das Versprechen eines Wiedersehens. Seither raubten mir schlimme Visionen den Schlaf. Aber morgens stand ich immer auf und polierte meine Oberfläche, die strahlende, selbstbewusste junge Frau, brave Tochter und exzellente Studentin im vierten Studienjahr, die sich reibungslos durch die Welt bewegte. Und wenn das Chaos darunter scharrte und tobte, stopfte ich es in die Spalten und Ritzen des Tages, damit es niemand bemerkte.
Der einzige Mensch, der zuverlässig hinter meine Masken blickte, war Gabriel. Als wir uns vor vier Jahren begegnet waren, hatte ich es darauf geschoben, dass er sieben Jahre älter war als ich und deshalb viel welterfahrener. Aber natürlich gab es auch Fünfundzwanzigjährige, die man noch kaum als Männer bezeichnen konnte und die nicht imstande waren, das schwarze Loch in einem selbstsicher auftretenden achtzehnjährigen Mädchen zu sehen. Ich hatte Professoren, Freunde, meine Eltern und deren Freunde zu täuschen vermocht, alle außer Gabriel. Ganz am Anfang hatte ich ihm einmal erklärt, ich müsse jetzt gehen, um für eine Psychologieklausur zu lernen. Er sagte, All der viele Freud, und trotzdem siehst du deine eigenen Dämonen nicht. Dann küsste er mich lachend, was mich wütend machte. Noch wütender aber machte mich mein Verlangen, den Kuss zu erwidern. Red du mir nicht von Dämonen, sagte ich, bevor du deine eigenen nicht bezwungen hast. Er sah mich an, als hätte ich gerade die geheime Zauberformel der Verführung ausgesprochen. In jener Nacht lernte ich nichts, nichts über Freud jedenfalls - nur über die Formen seines Körpers, seine begierigen Hände, seinen Mund auf meiner Haut, sein Geschlecht, das sich durch seine Jeans hart an mich presste. Das war unser erstes Jahr, das unkomplizierteste Jahr unserer Beziehung, als ich einfach nur Perla war und nicht die Menschen, mit denen ich zusammenhing. Bevor wir über seine Arbeit oder meine Familie sprachen, geschweige denn über die explosive Kombination von beidem, bevor unser Bild voneinander Risse bekam, Sprünge, die sich ausweiteten wie bei einem Spiegel, den immer mehr Steinchen treffen. Damals war es genug, uns zu küssen, zu lachen und zu diskutieren, zu rauchen, zu trinken, uns mit Schlangenbewegungen aneinander zu reiben, bis die Hitze, die wir generierten, die Sonne aus dem Schlaf riss.
Daran dachte ich jetzt, als ich den Fremden auf dem Fußboden liegen ließ und wieder in die Küche ging, um den gekochten Kürbis in ein Schälchen zu löffeln und ihn Lolo hinzustellen, der sich irgendwo versteckte, aber in der Nacht, wenn das Haus schlief, garantiert hervorkommen würde. Ich ging nach oben in mein Zimmer, gleichzeitig hellwach und erschöpft. Ich wollte die Zeit zurückdrehen, wollte zurück in jene ersten Nächte mit Gabriel, zurück zu Gabriel selbst, seinem Duft, seiner kräftigen Stimme, seinem Blick, der mir das Gefühl gab, mich vollständig zu erkennen. In seine Gegenwart eingehüllt, würde ich nach der Frau Ausschau halten, die ich mit ihm gewesen war oder sein zu können geglaubt hatte. Und wer ist diese Frau, Perla? Eine mutigere Frau, eine Untergrundfrau, die Geheimnisse in beiden Händen hält wie gebändigte Schlangen. In den Nächten mit Gabriel hatte ich eine Ahnung von dieser Frau bekommen; ich hatte gefühlt, wie ich mich durch das, was ich jetzt war, hindurchsengte, um die Schlangenfrau mit dem lohenden Haar zu werden. Aber das waren nur absurde Phantasien, und außerdem hatte ich vor zehn Tagen diese Tür endgültig zugeknallt und die Tür zu Gabriel auch. Er war jetzt weg, und dafür hatte ich selbst gesorgt. Ich musste es tun, ich hatte keine Wahl, dachte ich Nacht für Nacht, immer wieder, keine Wahl, keine Wahl, eine Beschwörung, deren Macht durch die Wiederholung wuchs. Ich hatte gedacht, er würde mich vielleicht anrufen, aber er tat es nicht. Er war wütender, als ich geglaubt hatte. Wenn er eine Woche nicht anruft, dachte ich, ist es endgültig vorbei - und als eine Woche vergangen war, ohne dass er angerufen hatte, dachte ich, es würde mir das Herz brechen. Doch statt auch nur eine einzige Träne zu vergießen, ging ich in eine Bar in der Nähe der Universität, fand einen schüchternen Kommilitonen namens Osvaldo und ließ mich von ihm abschleppen. Es war schockierend leicht. Ich brauchte ihn nur einen Sekundenbruchteil länger anzuschauen als normal, und fünf Minuten später spendierte er mir einen Drink. Dreißig Minuten später traten wir aus der Bar in die lärmende Nacht hinaus. Auf dem Weg zu seiner Wohnung verhielt er sich wie ein Grubenarbeiter, der überraschend auf eine Goldader gestoßen ist. Er war ein netter Typ, aber als er in meinen Körper eindrang, fand er dort nur meinen Körper. Er hatte keinerlei Gespür für die innere Perla, der ich mich selbst kaum stellen konnte, die Gabriel aber immer gesucht hatte, um sie zu berühren, zu verstehen. Es war lustvoll mit Osvaldo: wie er mich berührte, wie er meine Beine um seinen Nacken schlang, wie sein Geschlecht vor schierer Begeisterung den Rhythmus steigerte. Aber die Lust schien jemand anders zu empfinden, ein Mädchen, das für die Nacht meinen Körper übernommen hatte und das ich kaum kannte. Hinterher lag ich im Dämmerlicht unter ihm und dachte, so, Perla, jetzt hast du, was du wolltest: Du bist nicht mehr nackt und bloß, dein Selbst ist so gut versteckt, dass es niemand mehr findet. Ich hätte erleichtert sein oder zumindest ein Fünkchen Triumphgefühl verspüren sollen, aber ich fühlte mich nur schrecklich allein.
Und das war ich auch, drei weitere Nächte, bis dieser Fremde bei mir einbrach, ohne auch nur eine einzige Scheibe zu zerschlagen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Carolina De Robertis
De Robertis, CarolinaCarolina De Robertis hat lateinamerikanische Wurzeln, denn ihre Familie stammt aus Uruguay. Die 1975 geborene Autorin wuchs in England, der Schweiz und Kalifornien auf. Im Alter von zehn Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Kalifornien, wo die Autorin heute noch lebt. Sie arbeitet für die Huffington Post und ist Übersetzerin aus dem Spanischen. Mit ihrem ersten Roman 'Die unsichtbaren Stimmen' hatte sie ihren internationalen Durchbruch: Das Buch erschien in über 20 Ländern und stand in Deutschland 14 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Ebenfalls von ihr stammt der Roman 'Perla' über die Geschichte der 'Verschwundenen' in Argentinien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carolina De Robertis
- 2013, 2. Aufl., 336 Seiten, Maße: 13 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Cornelia Holfelder-von der Tann
- Übersetzer: Cornelia Holfelder-Von Der Tann
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810508535
- ISBN-13: 9783810508539
Rezension zu „Perla “
Poetisch und zugleich herzzerreißend. Carolina de Robertis tritt mit diesem Roman in die Fußstapfen von Isabel Allende. Petra
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