Pestsiegel
Historischer Kriminalroman
1625: die Pest wütet in England. Matthew soll ein totes Neugeborenes bestatten. Doch das Kleine lebt. Matthew nimmt den Jungen bei sich auf und zieht ihn wie sein eigenes Kind groß. Als Tom ein junger Mann ist, tritt plötzlich ein unbekannter Wohltäter auf...
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Produktinformationen zu „Pestsiegel “
1625: die Pest wütet in England. Matthew soll ein totes Neugeborenes bestatten. Doch das Kleine lebt. Matthew nimmt den Jungen bei sich auf und zieht ihn wie sein eigenes Kind groß. Als Tom ein junger Mann ist, tritt plötzlich ein unbekannter Wohltäter auf den Plan. Seine Absichten sind höchst gefährlich.
Klappentext zu „Pestsiegel “
Ein zerrissenes Land. Ein tödliches Geheimnis. Ein junger Mann auf der Suche nach der Wahrheit.Als Matthew Neave an einem Septemberabend 1625 den Auftrag erhält, den Leichnam eines "Pestkindes" auf seinem Karren zur Pestgrube zu bringen, ist er wenig erfreut, willigt aber aufgrund der guten Bezahlung ein. Auf dem Weg zur Grube stellt Matthew jedoch fest, dass das Neugeborene lebt. Er nimmt den Jungen bei sich auf und zieht ihn zusammen mit seiner Frau Susannah wie sein eigenes Kind groß.
Als Tom ein junger Mann ist, tritt plötzlich ein unbekannter Wohltäter auf den Plan und verschafft dem Jungen eine Lehrstelle bei einem angesehenen Drucker in London. Tom findet sich in die neue Umgebung nur mit Widerwillen ein, und merkt bald, dass er nicht der Sohn eines Werftarbeiters aus Poplar ist, wie er bisher glaubte. Ein dunkles Geheimnis umgibt seine wahre Herkunft. Tom muss erkennen, dass ihn jemand lieber tot als lebendig sehen würde und seine Suche nach der Wahrheit alles andere als ungefährlich ist.
Lese-Probe zu „Pestsiegel “
Pestsiegel von Peter RansleyPROLOG
... mehr
Eines düsteren Abends im September des Jahres 1625 lenkte Matthew Neave den Karren mit den Toten, die er eingesammelt hatte, zum Ufer des Flusses Cherwell. Sieben Leichen: Viel würde man ihm nicht dafür zahlen.
Während die Pferde tranken, aß er das, was er an Brot und Käse noch übrig hatte. Das Brot war hart und trocken. Er weichte es mit etwas Bier aus seiner Flasche auf und wartete darauf, dass das Licht verschwand. Ehe es nicht dunkel war, näherte er sich niemals der Pestgrube.
Im Frühsommer, als die Pest in Oxford ausgebrochen war, hatten die Verwandten der Toten auf der Lauer gelegen, um den Karren abzufangen. Die Angst vor der Seuche wurde von der Furcht vor der Hölle besiegt, in der ihre Liebsten, und später sie selbst, würden leiden müssen, wenn sie kein christliches Begräbnis auf geweihtem Boden erhielten. Bei einem Kampf war Matthew niedergestochen und beinahe in die Grube geworfen worden, ehe die Wache gekommen war.
Doch als die Menschen starben oder flohen und der unbarmherzig heiße Sommer die Übriggebliebenen in dumpfer Apathie zurückließ, blieben solche Übergriffe aus. Gleichwohl setzte Matthew seine Flasche ab, als er das Geräusch eines galoppierenden Pferdes hörte. Unbemerkt tropfte Bier auf seine fleckige Barchentjacke, während er über die Christ Church Meadow starrte.
Wegen der Bäume konnte er den Reiter zunächst nicht ausmachen, aber das Tier war ein rotbrauner Wallach, das Pferd eines Edelmanns. Das Pferd trat aus den Bäumen hervor. Der Reiter war in Schwarz gekleidet. Er war maskiert, obwohl es kein heißer Tag gewesen war. Vielleicht enthielt die Maske einen kleinen Strauß aus Kräutern, die den Träger vor der Seuche schützen sollten. Aber Matthew wollte kein Risiko eingehen.
Er nahm das Messer, mit dem er den Käse geschnitten hatte, und zog sich zum Karren zurück. Der Gestank der verrottenden Leiber bot einen besseren Schutz als jede Waffe.
Wenige Meter vor ihm zügelte der Mann sein Pferd.
»Matthew Neave?«
Matthews Arbeit machte ihn zu einem Ausgestoßenen. Außer mit Susannah, die mit ihm lebte und deren religiöse Visionen ihr sagten, dass sie niemals an der Pest erkranken würde, sprach er - von den Toten einmal abgesehen - nur mit wenigen Menschen.
»Wer will das wissen?«
Der Mann nahm die Maske ab, hielt sich jedoch die Kräuter darin weiter vors Gesicht. Matthew ließ das Messer fallen und riss seinen Hut herunter, die Worte erstarben ihm in der trockenen Kehle. Das war kein Herr von hoher Geburt. Das Pferd war aus einem besseren Stall als der Mann, der es ritt. Aber für Matthew war Mr Eaton von weit größerer Bedeutung als jeder Edelmann.
Mr Eaton war der Verwalter von Lord Stonehouse. Als Findelkind hatte er es aus eigener Kraft zu etwas Grundbesitz gebracht, Feld um Feld zusammengekauft. Das mühsame Ringen hatte tiefe Furchen in seinem Gesicht hinterlassen. Am eindrucksvollsten war eine schartige Narbe, die sich von der rechten Wange bis zum Hals zog.
»Es gibt ein totes Kind in Horseborne. Bennets Farm.« Mehrere Meilen entfernt, auf der anderen Seite des Shotover Hill, am Rand von Lord Stonehouse' Familienbesitz. »Ein Pestkind, Sir?«
»Ja.«
Matthew wusste, dass das nicht stimmte, wusste, dass das Probleme gab. Er war an der Pest erkrankt, als er sechs war. Die quälenden schwarzen Beulen unter seinen Armen waren aufgeplatzt, aber er hatte überlebt. Den Rest seiner Familie hatte man auf den Karren geworfen und ihn allein im Haus eingesperrt.
Die Pestordnung, die ohne Zweifel die Ansicht der meisten Menschen widerspiegelte, dass es sich bei der Krankheit um eine Strafe Gottes handele, schrieb vor, überlebende Opfer für vierzig Tage und vierzig Nächte unter Quarantäne zu stellen. Mehr als einen Monat lang war Matthew eingesperrt gewesen, am Leben erhalten allein durch die dicke Suppe und das dünne Bier, das der einzige Nachbar, der sich in seine Nähe wagte, ihm durch das Fenster reichte.
Da die wenigen Überlebenden der Pest nie wieder daran erkrankten, versorgte ihn die Krankheit, die Matthew beinahe getötet hatte, jetzt mit Brot und, in einem Pestjahr wie diesem, sogar mit Fleisch. Manche Menschen hielten Matthew für einen Hellseher und Heilkundigen, denn es hieß, er könne vorhersagen, wer an der Krankheit stürbe und wer überlebe. Vielleicht wahrte der Verwalter jetzt nicht nur wegen der Leichen Abstand, sondern auch, weil er diese Geschichten ebenfalls gehört hatte.
Matthew kratzte sich am Kopf. Er kannte jeden Fall im Umkreis von zwanzig Meilen. Manche mochten der Quarantäne entgangen sein, aber das war unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher war es, dass die Seuche sich immer noch ausbreitete. Die schneidende Kälte in der Luft und die geringer werdende Anzahl an Leichen verrieten ihm, dass der Ausbruch so gut wie vorüber war.
Langsam schüttelte Matthew den Kopf. »Horseborne, Sir? Kann nicht sein.«
So mühevoll, wie er seinen kleinen Grundbesitz aufgebaut hatte, so sorgsam hatte Mr Eaton auch an seiner Art zu sprechen gearbeitet. Anders als Matthew mit seiner langsamen, verwaschenen Sprechweise ahmte er den kühlen, spöttischen Tonfall der über ihm Stehenden nach.
»Ich fürchte, es kann sein. Sie breitet sich immer noch aus.«
Die Wolken hatten inzwischen schwarze Ränder, und der Wind frischte auf. Als wüssten sie, dass es ein kurzer Abend werden würde, machten die Mauerschwalben Sturzflüge über das Wasser, um Fliegen zu fangen. Schon bald würden sie davonfliegen, ganze Schwärme von ihnen, und im Himmel verschwinden. So wie die Schwalben wussten, dass es keine Fliegen mehr gab, wusste Matthew, dass es in Horseborne keine Pest gab.
»Ich sammle es morgen ein.«
Trotz seiner Angst, sowohl vor den Leichen im Karren als auch wegen des Fluchs, mit dem Matthew ihn möglicherweise belegen könnte, drängte Mr Eaton sein Pferd dichter heran. Sein Tonfall wurde wieder zu einem bäuerlichen, gedehnten Singsang mit scharfem Unterton.
»Du wirst es heute holen.«
»Es gibt keine Papiere«, erwiderte Matthew starrsinnig.
Nicht alle Menschen, die in der Grube endeten, waren Opfer der Pest. Um die Armen machte sich niemand übermäßig Sorgen, aber als ein Bauer umgebracht und in die Grube geworfen worden war, hatten die Wachen Matthew eingebläut, wie wichtig die Papiere seien, mit denen sie vor seiner Nase herumfuchtelten, ehe sie ein versiegeltes Pesthaus öffneten. Und Susannah hatte Matthew eingeschärft, niemandem, den Gott nicht mit der Pest gestraft hatte, ein christliches Begräbnis zu verweigern.
Aus einem Beutel am Sattel zog Mr Eaton ein Dokument hervor. Er machte sich nicht die Mühe, näher heranzukommen, da er nicht erwartete, dass Matthew es lesen konnte. Das Papier allein genügte. Später konnte Matthew sich nicht entsinnen, ob es unterschrieben gewesen war, aber der Anblick von Falkenklauen, die einen Schild umklammerten, hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Es war Lord Stonehouse' Siegel, und dessen Wort war Gesetz.
Der Wind beugte die Bäume über Matthew, und was von der Sonne übrig war, verbarg sich hinter dunklen Wolken. Er würde eine Stunde brauchen, um nach Shotover Hill zu gelangen - dorthin, wo auch der Bauer, der betrunken vom Markt zurückgekehrt war, ermordet worden war. Anschließend würde er nach Oxford zurückkehren und am nächsten Tag ein gebrochenes Rad oder ein lahmes Pferd vorschieben. Er ging zu seinen Tieren.
»Dann breche ich besser auf«, sagte er.
»Du wirst tun, was ich sage! Keine Ausflüchte!«
Matthew starrte ihn an. Der Verwalter hatte den Ruf, sich vor nichts zu fürchten, aber irgendetwas hatte ihn erschreckt. Er hatte die Worte so heftig hervorgestoßen, dass ihm die Kräuter, die er sich vor den Mund gehalten hatte, aus der Hand fielen. Gleichwohl lenkte er sein Pferd noch näher.
»Hier!«
Etwas Silbernes blitzte auf. Matthew fing die Münze ebenso geschickt wie eine Schwalbe Fliegen fängt. Seine Haltung veränderte sich.
»Danke, Sir!«
»An der Grube bekommst du noch eine. Und kein Wort - verstanden?«
Matthew verstand, dass zwei halbe Kronen eine ganze ergaben. Und dass Mr Eaton an der Grube auf ihn warten würde, um sicher zu gehen, dass er seine Aufgabe zu Ende brachte.
Der Regen setzte ein, kurz nachdem Matthew die Wiese hinter sich gelassen hatte. Heftige Böen durchnässten ihn, während er fluchend auf die Pferde eindrosch. Nur mit Mühe und rutschend kam er den Shotover hoch. Sobald er über die Kuppe war, holte er die Silbermünze heraus, um seine Stimmung zu heben. Eine halbe Krone. Erst dieses Jahr anlässlich der Krönung Charles I. frisch geprägt.
Sie half Matthew zu vergessen, dass er bis auf die Haut durchnässt war. Eine halbe Krone! Das war mehr, als ein Tagelöhner in einem Monat verdiente. Und an der Grube würde er noch eine bekommen!
Er war so mit der Münze beschäftigt, dass er die herannahende Kutsche nicht wahrnahm. Der Kutscher peitschte die Pferde, damit sie am Fuß des Hügels Fahrt aufnahmen. Klappernd und holpernd rollte Matthews Karren den Hügel hinunter und war auf die Mitte des Fahrwegs geraten. Matthew riss an den Zügeln, und Funken flogen, als er erfolglos die Bremse zog.
Die Pferde der näherkommenden Kutsche bäumten sich auf. Matthew erhaschte einen Blick auf das zornige Gesicht des Kutschers und spürte das Brennen eines Peitschenhiebs auf seiner Wange. Er ließ die Zügel los, und der Karren schlingerte durch den Dreck. Mit einem knirschenden Geräusch kratzte Holz über Stein.
Fluchend schrie er der Kutsche hinterher, dann suchte er nach der Münze, die ihm aus der Hand geglitten war. Er schob eine der Leichen beiseite, die aus dem Karren gefallen war, bis er schließlich aufgab und verzweifelt den Kopf hängen ließ. Dann dachte er an die andere Silbermünze, die bei der Grube auf ihn wartete. Er warf die Leiche zurück zu den anderen auf dem Karren und bedeckte sie mit den dicken Bündeln aus Heu, mit denen er seine Fracht verbarg.
Als er kurz vor Horseborne den Weg zur Bennets Farm entdeckte, war das eine Rad verbogen und rieb an der Seite des Karrens. Der Name des Hofes sagte ihm etwas, aber er konnte sich nicht daran erinnern, was es war.
Der Weg war eine dicke, zähe Masse aus Schlamm, Blättern und Dung, pockennarbig von den Hufen der Rinder und Pferde. Darüber lagen die frischen, tiefen Spuren einer Kutsche.
Inzwischen war es fast dunkel, der Regen hatte nachgelassen und tröpfelte nur noch von den Bäumen. Der Karren rumpelte und hüpfte durch ein kleines Wäldchen. Ein Zweig zerrte an Matthews Hut, ehe er das offene Tor zum Hof erreichte.
Vor der Tür des wohlhabend aussehenden Bauernhauses aus Flechtwerk und Lehm hielt er an. An der Tür war kein rotes Kreuz. Und noch etwas stimmte nicht.
Es gab keinen Hund. Wer hatte je von einem Bauernhof ohne Hund gehört? Dann fiel es ihm wieder ein. Bennet war der Bauer, der ermordet worden war. Mr Eaton hatte den Hof gekauft, um ihn seinem benachbarten Land hinzuzufügen, und noch keinen neuen Pächter gefunden.
Mit wachsendem Unbehaben näherte er sich der Tür und blieb abrupt stehen. Ein Paar funkelnder Augen beobachtete ihn aus den Büschen heraus. Er wollte schon davonlaufen, als er bemerkte, dass die Augen nicht blinzelten. Sie bestanden aus Juwelen und zierten den Kopf eines Falken, dem Mittelstück eines prachtvollen Anhängers, dessen goldene Kette sich in den Büschen verfangen hatte. Matthew wusste, woher er stammte. Es würde ein Finderlohn darauf ausgesetzt sein - eine beträchtliche Summe. Er hatte das Silber verloren, aber Gold gefunden. Er stopfte die Kette in seine Tasche und klopfte an die Tür.
Er hatte die Witwe Martin erwartet oder eine andere besoffene Hebamme, doch die Frau, die ihm öffnete, war ein weiterer Schock für ihn. Wie Mr Eaton gehörte auch sie nicht zum Adel. Kate Beaumann war die Gesellschafterin einer vornehmen Dame, ebenso gottesfürchtig, wie ihr schlichtes schwarzes Gewand vermuten ließ, und sie war offensichtlich genauso erschrocken darüber, ihn zu sehen, wie er über ihren Anblick. Sie kannten einander, denn es war erstaunlich, wie viele Menschen aus allen Schichten die Dienste eines Heilkundigen in Anspruch nahmen. Sie hatte ein herzliches, freundliches Gesicht, das Matthew an den guten Nachbarn erinnerte, der ihn während der Pest am Leben erhalten hatte. Sie war Mitte zwanzig, aber in ihrem Haar waren bereits graue Strähnen zu sehen, und ihre Augen waren rot vom Weinen. Ihr Kleid war, wie ihre Unterschuhe, dreckbespritzt.
Er berührte seinen tropfenden Hut. »'N Abend, Miss Beau-mann.«
Ohne ein Wort bedeutete sie ihm, ihr zu folgen. Hastig schloss sie eine der Türen, doch er hatte bereits einen Blick auf ein schwach glühendes Feuer und den hastig abgedeckten, blutbespritzten Boden erhascht. Sie führte ihn in einen Stall, in dem der Bauer wohl seine kranken Tiere untergebracht hatte. Auf dem Stroh lag ein kleines, in eine Leinenschürze gehülltes Bündel.
»Nimm ihn.«
Als er sich nicht rührte, hob sie das Ding auf und stieß es Matthew in die Arme. Das kleine Bündel war kalt und feucht. Ein Teil des Tuches, mit dem es bedeckt war, rutschte zur Seite und gab den Blick auf das Gesicht des Säuglings frei, ohne die verräterischen Pestbeulen oder Narben. Das Kind wirkte auf Matthew, als sei es totgeboren oder kurz nach der Geburt gestorben.
»Er sieht nicht aus wie ein Pestkind«, sagte er.
Die Rauheit in Kate Beaumanns Stimme überraschte ihn. »Für uns war er die Pest«, sagte sie.
Ohne ein weiteres Wort ging Matthew und rannte fast zum Karren. Er nahm die Schürze an sich, ehe er das Baby auf den Karren warf und es mit einem Bündel Stroh zudeckte. Die Schürze war aus feinstem Leinen gefertigt, das möglicherweise sogar aus Flandern stammte. Kate Beaumanns schmutziger Rock legte nahe, dass sie das Kind auf das Feld geworfen hatte, damit es starb. Das war ebenso verbreitet wie der Tod selbst. Matthew trank den letzten Schluck Bier, ehe er sich daran machte, den Shotover ein weiteres Mal zu überwinden.
Die Frage war, warum Kate das Kind nicht einfach dort gelassen hatte. Oder es vergraben hatte. Oder es in den Fluss geworfen hatte. Babys sahen sich ziemlich ähnlich. Aber Leichen konnten gefunden werden.
Mr Eatons Drängen und Angst zeugten deutlich davon, dass das nicht geschehen durfte. Vielleicht hatte das Kind besondere Gesichtszüge oder ein Muttermal. Wenn das der Fall war, war die Grube die ideale Lösung für das Problem.
Eingesetzt zur Bekämpfung der Pest, fraß sich der Kalk rasch in die Leiber und Gesichter und verwandelte sie innerhalb weniger Tage in einen nicht wiederzuerkennenden Schleim. Niemand würde sich der Grube nähern und schon gar keine Leiche daraus hervorholen. Jemand wollte verhindern, dass man die Gesichtszüge des Kindes auf der Ladefläche seines Karrens erkannte oder vorgab, sie zu erkennen.
Matthew zuckte mit den Schultern. Seine Hand schloss sich um den Anhänger, bis er die Umrisse des juwelenbesetzten Vogels und die Glieder der Kette ertastete, eines nach dem anderen. Dann hielt er inne, und er hörte auf, sie zu streicheln. Was, wenn man ihn verdächtigte, das Schmuckstück gestohlen zu haben? Es war riskant, viel zu riskant, es zurückzugeben. Die Pferde, die den Karren immer langsamer zogen, brauchten neue Hufeisen, und der Schmied würde das Gold einschmelzen. Die herausgebrochenen Edelsteine konnte er einzeln auf der Witney Fair oder in Oxford verkaufen, zusammen mit der Leinenschürze, die Susannah waschen und plätten konnte.
Auf diese Weise grübelte er vor sich hin, und das Schaukeln des Karrens ließ ihn in einen Halbschlaf sinken. Allmählich rutschten ihm die Zügel aus den Fingern, bis er den ersten holperigen Schrei vernahm.
Er musste eingeschlafen sein und geträumt haben. Hier gab es nichts als den Wind, die erschöpften Fehltritte der Hufe und das Knarzen des Karrens. Aber da war es erneut. Unmissverständlich. Der Schrei eines Babys.
Hatte er nicht von Anfang an befürchtet, dass etwas nicht stimmte? Hatte Susannah ihn nicht ein ums andere Mal davor gewarnt, jemanden, der nicht an der Pest gestorben war, in die Grube zu werfen? Das Kind war mausetot gewesen - und jetzt war es zurückgekehrt, um ihn heimzusuchen!
Als der Schrei zu einem kläglichen Wimmern wurde, bekreuzigte Matthew sich voller Entsetzen und trieb die Pferde an, um dem Geist zu entfliehen, von dem er überzeugt war, er würde ihn bis in die Hölle verfolgen. Es war die Hölle, der er als Kind irgendwie entkommen war, aber er wusste, dass er schon immer für sie bestimmt gewesen war. Seine Hölle war keine Feuergrube, sondern eine voller Leichen, die langsam zerfressen, verbrannt und wieder erschaffen wurden, nur um erneut zerfressen und verbrannt zu werden und sich bis in alle Ewigkeit im ätzenden Kalk zu winden.
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Eines düsteren Abends im September des Jahres 1625 lenkte Matthew Neave den Karren mit den Toten, die er eingesammelt hatte, zum Ufer des Flusses Cherwell. Sieben Leichen: Viel würde man ihm nicht dafür zahlen.
Während die Pferde tranken, aß er das, was er an Brot und Käse noch übrig hatte. Das Brot war hart und trocken. Er weichte es mit etwas Bier aus seiner Flasche auf und wartete darauf, dass das Licht verschwand. Ehe es nicht dunkel war, näherte er sich niemals der Pestgrube.
Im Frühsommer, als die Pest in Oxford ausgebrochen war, hatten die Verwandten der Toten auf der Lauer gelegen, um den Karren abzufangen. Die Angst vor der Seuche wurde von der Furcht vor der Hölle besiegt, in der ihre Liebsten, und später sie selbst, würden leiden müssen, wenn sie kein christliches Begräbnis auf geweihtem Boden erhielten. Bei einem Kampf war Matthew niedergestochen und beinahe in die Grube geworfen worden, ehe die Wache gekommen war.
Doch als die Menschen starben oder flohen und der unbarmherzig heiße Sommer die Übriggebliebenen in dumpfer Apathie zurückließ, blieben solche Übergriffe aus. Gleichwohl setzte Matthew seine Flasche ab, als er das Geräusch eines galoppierenden Pferdes hörte. Unbemerkt tropfte Bier auf seine fleckige Barchentjacke, während er über die Christ Church Meadow starrte.
Wegen der Bäume konnte er den Reiter zunächst nicht ausmachen, aber das Tier war ein rotbrauner Wallach, das Pferd eines Edelmanns. Das Pferd trat aus den Bäumen hervor. Der Reiter war in Schwarz gekleidet. Er war maskiert, obwohl es kein heißer Tag gewesen war. Vielleicht enthielt die Maske einen kleinen Strauß aus Kräutern, die den Träger vor der Seuche schützen sollten. Aber Matthew wollte kein Risiko eingehen.
Er nahm das Messer, mit dem er den Käse geschnitten hatte, und zog sich zum Karren zurück. Der Gestank der verrottenden Leiber bot einen besseren Schutz als jede Waffe.
Wenige Meter vor ihm zügelte der Mann sein Pferd.
»Matthew Neave?«
Matthews Arbeit machte ihn zu einem Ausgestoßenen. Außer mit Susannah, die mit ihm lebte und deren religiöse Visionen ihr sagten, dass sie niemals an der Pest erkranken würde, sprach er - von den Toten einmal abgesehen - nur mit wenigen Menschen.
»Wer will das wissen?«
Der Mann nahm die Maske ab, hielt sich jedoch die Kräuter darin weiter vors Gesicht. Matthew ließ das Messer fallen und riss seinen Hut herunter, die Worte erstarben ihm in der trockenen Kehle. Das war kein Herr von hoher Geburt. Das Pferd war aus einem besseren Stall als der Mann, der es ritt. Aber für Matthew war Mr Eaton von weit größerer Bedeutung als jeder Edelmann.
Mr Eaton war der Verwalter von Lord Stonehouse. Als Findelkind hatte er es aus eigener Kraft zu etwas Grundbesitz gebracht, Feld um Feld zusammengekauft. Das mühsame Ringen hatte tiefe Furchen in seinem Gesicht hinterlassen. Am eindrucksvollsten war eine schartige Narbe, die sich von der rechten Wange bis zum Hals zog.
»Es gibt ein totes Kind in Horseborne. Bennets Farm.« Mehrere Meilen entfernt, auf der anderen Seite des Shotover Hill, am Rand von Lord Stonehouse' Familienbesitz. »Ein Pestkind, Sir?«
»Ja.«
Matthew wusste, dass das nicht stimmte, wusste, dass das Probleme gab. Er war an der Pest erkrankt, als er sechs war. Die quälenden schwarzen Beulen unter seinen Armen waren aufgeplatzt, aber er hatte überlebt. Den Rest seiner Familie hatte man auf den Karren geworfen und ihn allein im Haus eingesperrt.
Die Pestordnung, die ohne Zweifel die Ansicht der meisten Menschen widerspiegelte, dass es sich bei der Krankheit um eine Strafe Gottes handele, schrieb vor, überlebende Opfer für vierzig Tage und vierzig Nächte unter Quarantäne zu stellen. Mehr als einen Monat lang war Matthew eingesperrt gewesen, am Leben erhalten allein durch die dicke Suppe und das dünne Bier, das der einzige Nachbar, der sich in seine Nähe wagte, ihm durch das Fenster reichte.
Da die wenigen Überlebenden der Pest nie wieder daran erkrankten, versorgte ihn die Krankheit, die Matthew beinahe getötet hatte, jetzt mit Brot und, in einem Pestjahr wie diesem, sogar mit Fleisch. Manche Menschen hielten Matthew für einen Hellseher und Heilkundigen, denn es hieß, er könne vorhersagen, wer an der Krankheit stürbe und wer überlebe. Vielleicht wahrte der Verwalter jetzt nicht nur wegen der Leichen Abstand, sondern auch, weil er diese Geschichten ebenfalls gehört hatte.
Matthew kratzte sich am Kopf. Er kannte jeden Fall im Umkreis von zwanzig Meilen. Manche mochten der Quarantäne entgangen sein, aber das war unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher war es, dass die Seuche sich immer noch ausbreitete. Die schneidende Kälte in der Luft und die geringer werdende Anzahl an Leichen verrieten ihm, dass der Ausbruch so gut wie vorüber war.
Langsam schüttelte Matthew den Kopf. »Horseborne, Sir? Kann nicht sein.«
So mühevoll, wie er seinen kleinen Grundbesitz aufgebaut hatte, so sorgsam hatte Mr Eaton auch an seiner Art zu sprechen gearbeitet. Anders als Matthew mit seiner langsamen, verwaschenen Sprechweise ahmte er den kühlen, spöttischen Tonfall der über ihm Stehenden nach.
»Ich fürchte, es kann sein. Sie breitet sich immer noch aus.«
Die Wolken hatten inzwischen schwarze Ränder, und der Wind frischte auf. Als wüssten sie, dass es ein kurzer Abend werden würde, machten die Mauerschwalben Sturzflüge über das Wasser, um Fliegen zu fangen. Schon bald würden sie davonfliegen, ganze Schwärme von ihnen, und im Himmel verschwinden. So wie die Schwalben wussten, dass es keine Fliegen mehr gab, wusste Matthew, dass es in Horseborne keine Pest gab.
»Ich sammle es morgen ein.«
Trotz seiner Angst, sowohl vor den Leichen im Karren als auch wegen des Fluchs, mit dem Matthew ihn möglicherweise belegen könnte, drängte Mr Eaton sein Pferd dichter heran. Sein Tonfall wurde wieder zu einem bäuerlichen, gedehnten Singsang mit scharfem Unterton.
»Du wirst es heute holen.«
»Es gibt keine Papiere«, erwiderte Matthew starrsinnig.
Nicht alle Menschen, die in der Grube endeten, waren Opfer der Pest. Um die Armen machte sich niemand übermäßig Sorgen, aber als ein Bauer umgebracht und in die Grube geworfen worden war, hatten die Wachen Matthew eingebläut, wie wichtig die Papiere seien, mit denen sie vor seiner Nase herumfuchtelten, ehe sie ein versiegeltes Pesthaus öffneten. Und Susannah hatte Matthew eingeschärft, niemandem, den Gott nicht mit der Pest gestraft hatte, ein christliches Begräbnis zu verweigern.
Aus einem Beutel am Sattel zog Mr Eaton ein Dokument hervor. Er machte sich nicht die Mühe, näher heranzukommen, da er nicht erwartete, dass Matthew es lesen konnte. Das Papier allein genügte. Später konnte Matthew sich nicht entsinnen, ob es unterschrieben gewesen war, aber der Anblick von Falkenklauen, die einen Schild umklammerten, hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Es war Lord Stonehouse' Siegel, und dessen Wort war Gesetz.
Der Wind beugte die Bäume über Matthew, und was von der Sonne übrig war, verbarg sich hinter dunklen Wolken. Er würde eine Stunde brauchen, um nach Shotover Hill zu gelangen - dorthin, wo auch der Bauer, der betrunken vom Markt zurückgekehrt war, ermordet worden war. Anschließend würde er nach Oxford zurückkehren und am nächsten Tag ein gebrochenes Rad oder ein lahmes Pferd vorschieben. Er ging zu seinen Tieren.
»Dann breche ich besser auf«, sagte er.
»Du wirst tun, was ich sage! Keine Ausflüchte!«
Matthew starrte ihn an. Der Verwalter hatte den Ruf, sich vor nichts zu fürchten, aber irgendetwas hatte ihn erschreckt. Er hatte die Worte so heftig hervorgestoßen, dass ihm die Kräuter, die er sich vor den Mund gehalten hatte, aus der Hand fielen. Gleichwohl lenkte er sein Pferd noch näher.
»Hier!«
Etwas Silbernes blitzte auf. Matthew fing die Münze ebenso geschickt wie eine Schwalbe Fliegen fängt. Seine Haltung veränderte sich.
»Danke, Sir!«
»An der Grube bekommst du noch eine. Und kein Wort - verstanden?«
Matthew verstand, dass zwei halbe Kronen eine ganze ergaben. Und dass Mr Eaton an der Grube auf ihn warten würde, um sicher zu gehen, dass er seine Aufgabe zu Ende brachte.
Der Regen setzte ein, kurz nachdem Matthew die Wiese hinter sich gelassen hatte. Heftige Böen durchnässten ihn, während er fluchend auf die Pferde eindrosch. Nur mit Mühe und rutschend kam er den Shotover hoch. Sobald er über die Kuppe war, holte er die Silbermünze heraus, um seine Stimmung zu heben. Eine halbe Krone. Erst dieses Jahr anlässlich der Krönung Charles I. frisch geprägt.
Sie half Matthew zu vergessen, dass er bis auf die Haut durchnässt war. Eine halbe Krone! Das war mehr, als ein Tagelöhner in einem Monat verdiente. Und an der Grube würde er noch eine bekommen!
Er war so mit der Münze beschäftigt, dass er die herannahende Kutsche nicht wahrnahm. Der Kutscher peitschte die Pferde, damit sie am Fuß des Hügels Fahrt aufnahmen. Klappernd und holpernd rollte Matthews Karren den Hügel hinunter und war auf die Mitte des Fahrwegs geraten. Matthew riss an den Zügeln, und Funken flogen, als er erfolglos die Bremse zog.
Die Pferde der näherkommenden Kutsche bäumten sich auf. Matthew erhaschte einen Blick auf das zornige Gesicht des Kutschers und spürte das Brennen eines Peitschenhiebs auf seiner Wange. Er ließ die Zügel los, und der Karren schlingerte durch den Dreck. Mit einem knirschenden Geräusch kratzte Holz über Stein.
Fluchend schrie er der Kutsche hinterher, dann suchte er nach der Münze, die ihm aus der Hand geglitten war. Er schob eine der Leichen beiseite, die aus dem Karren gefallen war, bis er schließlich aufgab und verzweifelt den Kopf hängen ließ. Dann dachte er an die andere Silbermünze, die bei der Grube auf ihn wartete. Er warf die Leiche zurück zu den anderen auf dem Karren und bedeckte sie mit den dicken Bündeln aus Heu, mit denen er seine Fracht verbarg.
Als er kurz vor Horseborne den Weg zur Bennets Farm entdeckte, war das eine Rad verbogen und rieb an der Seite des Karrens. Der Name des Hofes sagte ihm etwas, aber er konnte sich nicht daran erinnern, was es war.
Der Weg war eine dicke, zähe Masse aus Schlamm, Blättern und Dung, pockennarbig von den Hufen der Rinder und Pferde. Darüber lagen die frischen, tiefen Spuren einer Kutsche.
Inzwischen war es fast dunkel, der Regen hatte nachgelassen und tröpfelte nur noch von den Bäumen. Der Karren rumpelte und hüpfte durch ein kleines Wäldchen. Ein Zweig zerrte an Matthews Hut, ehe er das offene Tor zum Hof erreichte.
Vor der Tür des wohlhabend aussehenden Bauernhauses aus Flechtwerk und Lehm hielt er an. An der Tür war kein rotes Kreuz. Und noch etwas stimmte nicht.
Es gab keinen Hund. Wer hatte je von einem Bauernhof ohne Hund gehört? Dann fiel es ihm wieder ein. Bennet war der Bauer, der ermordet worden war. Mr Eaton hatte den Hof gekauft, um ihn seinem benachbarten Land hinzuzufügen, und noch keinen neuen Pächter gefunden.
Mit wachsendem Unbehaben näherte er sich der Tür und blieb abrupt stehen. Ein Paar funkelnder Augen beobachtete ihn aus den Büschen heraus. Er wollte schon davonlaufen, als er bemerkte, dass die Augen nicht blinzelten. Sie bestanden aus Juwelen und zierten den Kopf eines Falken, dem Mittelstück eines prachtvollen Anhängers, dessen goldene Kette sich in den Büschen verfangen hatte. Matthew wusste, woher er stammte. Es würde ein Finderlohn darauf ausgesetzt sein - eine beträchtliche Summe. Er hatte das Silber verloren, aber Gold gefunden. Er stopfte die Kette in seine Tasche und klopfte an die Tür.
Er hatte die Witwe Martin erwartet oder eine andere besoffene Hebamme, doch die Frau, die ihm öffnete, war ein weiterer Schock für ihn. Wie Mr Eaton gehörte auch sie nicht zum Adel. Kate Beaumann war die Gesellschafterin einer vornehmen Dame, ebenso gottesfürchtig, wie ihr schlichtes schwarzes Gewand vermuten ließ, und sie war offensichtlich genauso erschrocken darüber, ihn zu sehen, wie er über ihren Anblick. Sie kannten einander, denn es war erstaunlich, wie viele Menschen aus allen Schichten die Dienste eines Heilkundigen in Anspruch nahmen. Sie hatte ein herzliches, freundliches Gesicht, das Matthew an den guten Nachbarn erinnerte, der ihn während der Pest am Leben erhalten hatte. Sie war Mitte zwanzig, aber in ihrem Haar waren bereits graue Strähnen zu sehen, und ihre Augen waren rot vom Weinen. Ihr Kleid war, wie ihre Unterschuhe, dreckbespritzt.
Er berührte seinen tropfenden Hut. »'N Abend, Miss Beau-mann.«
Ohne ein Wort bedeutete sie ihm, ihr zu folgen. Hastig schloss sie eine der Türen, doch er hatte bereits einen Blick auf ein schwach glühendes Feuer und den hastig abgedeckten, blutbespritzten Boden erhascht. Sie führte ihn in einen Stall, in dem der Bauer wohl seine kranken Tiere untergebracht hatte. Auf dem Stroh lag ein kleines, in eine Leinenschürze gehülltes Bündel.
»Nimm ihn.«
Als er sich nicht rührte, hob sie das Ding auf und stieß es Matthew in die Arme. Das kleine Bündel war kalt und feucht. Ein Teil des Tuches, mit dem es bedeckt war, rutschte zur Seite und gab den Blick auf das Gesicht des Säuglings frei, ohne die verräterischen Pestbeulen oder Narben. Das Kind wirkte auf Matthew, als sei es totgeboren oder kurz nach der Geburt gestorben.
»Er sieht nicht aus wie ein Pestkind«, sagte er.
Die Rauheit in Kate Beaumanns Stimme überraschte ihn. »Für uns war er die Pest«, sagte sie.
Ohne ein weiteres Wort ging Matthew und rannte fast zum Karren. Er nahm die Schürze an sich, ehe er das Baby auf den Karren warf und es mit einem Bündel Stroh zudeckte. Die Schürze war aus feinstem Leinen gefertigt, das möglicherweise sogar aus Flandern stammte. Kate Beaumanns schmutziger Rock legte nahe, dass sie das Kind auf das Feld geworfen hatte, damit es starb. Das war ebenso verbreitet wie der Tod selbst. Matthew trank den letzten Schluck Bier, ehe er sich daran machte, den Shotover ein weiteres Mal zu überwinden.
Die Frage war, warum Kate das Kind nicht einfach dort gelassen hatte. Oder es vergraben hatte. Oder es in den Fluss geworfen hatte. Babys sahen sich ziemlich ähnlich. Aber Leichen konnten gefunden werden.
Mr Eatons Drängen und Angst zeugten deutlich davon, dass das nicht geschehen durfte. Vielleicht hatte das Kind besondere Gesichtszüge oder ein Muttermal. Wenn das der Fall war, war die Grube die ideale Lösung für das Problem.
Eingesetzt zur Bekämpfung der Pest, fraß sich der Kalk rasch in die Leiber und Gesichter und verwandelte sie innerhalb weniger Tage in einen nicht wiederzuerkennenden Schleim. Niemand würde sich der Grube nähern und schon gar keine Leiche daraus hervorholen. Jemand wollte verhindern, dass man die Gesichtszüge des Kindes auf der Ladefläche seines Karrens erkannte oder vorgab, sie zu erkennen.
Matthew zuckte mit den Schultern. Seine Hand schloss sich um den Anhänger, bis er die Umrisse des juwelenbesetzten Vogels und die Glieder der Kette ertastete, eines nach dem anderen. Dann hielt er inne, und er hörte auf, sie zu streicheln. Was, wenn man ihn verdächtigte, das Schmuckstück gestohlen zu haben? Es war riskant, viel zu riskant, es zurückzugeben. Die Pferde, die den Karren immer langsamer zogen, brauchten neue Hufeisen, und der Schmied würde das Gold einschmelzen. Die herausgebrochenen Edelsteine konnte er einzeln auf der Witney Fair oder in Oxford verkaufen, zusammen mit der Leinenschürze, die Susannah waschen und plätten konnte.
Auf diese Weise grübelte er vor sich hin, und das Schaukeln des Karrens ließ ihn in einen Halbschlaf sinken. Allmählich rutschten ihm die Zügel aus den Fingern, bis er den ersten holperigen Schrei vernahm.
Er musste eingeschlafen sein und geträumt haben. Hier gab es nichts als den Wind, die erschöpften Fehltritte der Hufe und das Knarzen des Karrens. Aber da war es erneut. Unmissverständlich. Der Schrei eines Babys.
Hatte er nicht von Anfang an befürchtet, dass etwas nicht stimmte? Hatte Susannah ihn nicht ein ums andere Mal davor gewarnt, jemanden, der nicht an der Pest gestorben war, in die Grube zu werfen? Das Kind war mausetot gewesen - und jetzt war es zurückgekehrt, um ihn heimzusuchen!
Als der Schrei zu einem kläglichen Wimmern wurde, bekreuzigte Matthew sich voller Entsetzen und trieb die Pferde an, um dem Geist zu entfliehen, von dem er überzeugt war, er würde ihn bis in die Hölle verfolgen. Es war die Hölle, der er als Kind irgendwie entkommen war, aber er wusste, dass er schon immer für sie bestimmt gewesen war. Seine Hölle war keine Feuergrube, sondern eine voller Leichen, die langsam zerfressen, verbrannt und wieder erschaffen wurden, nur um erneut zerfressen und verbrannt zu werden und sich bis in alle Ewigkeit im ätzenden Kalk zu winden.
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Peter Ransley
Peter Ransley stammt aus Leeds und lebt heute in London. Er arbeitet erfolgreich als Drehbuchautor für das britische Fernsehen und sein großes Interesse gilt der Geschichte. Durch die intensive Beschäftigung mit dem englischen Bürgerkrieg entstand die Idee zu der Romantrilogie um Tom Neave, die Peter Ransley in England den Vergleich mit C. J. Sansom einbrachte. Poets, MariaMaria Poets übersetzt seit vielen Jahren Belletristik, darunter viele Spannungstitel, und zeichnet sich u.a. durch Dialogstärke und ihr Gespür für Ton und Tempo aus. Sie lebt als freie Übersetzerin und Lektorin in Norddeutschland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Ransley
- 2012, 3. Aufl., 544 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Maria Poets
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596184037
- ISBN-13: 9783596184033
- Erscheinungsdatum: 23.07.2012
Kommentar zu "Pestsiegel"