Polizeimajor Johannes Schäfer Band 6: Sterben und sterben lassen
Kriminalroman
EIN MÖRDER ZURÜCK IN DER FREIHEIT. EIN ORT IN AUFRUHR. EIN BÖSES GEHEIMNIS. Es brodelt im beschaulichen Dienstort von Major Schäfer: Frederik Bosch, vor 26 Jahren für den Mord an der siebenjährigen Susanna Paulus verurteilt, hat sich nach seiner Entlassung...
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Produktinformationen zu „Polizeimajor Johannes Schäfer Band 6: Sterben und sterben lassen “
Klappentext zu „Polizeimajor Johannes Schäfer Band 6: Sterben und sterben lassen “
EIN MÖRDER ZURÜCK IN DER FREIHEIT. EIN ORT IN AUFRUHR. EIN BÖSES GEHEIMNIS. Es brodelt im beschaulichen Dienstort von Major Schäfer: Frederik Bosch, vor 26 Jahren für den Mord an der siebenjährigen Susanna Paulus verurteilt, hat sich nach seiner Entlassung aus der Haft ausgerechnet bei Schaching, wo das Verbrechen einst geschah, niedergelassen. Seine Rückkehr sorgt unter den Bewohnern für Empörung. Die werden sich schon beruhigen, ist Schäfer überzeugt. Doch dann kommen ihm Andeutungen zu Ohren, die Boschs Schuld in Frage stellen. Er beginnt nachzuforschen und stößt auf Ungereimtheiten und ignorierte Indizien. Und immer wieder auf einen angesehenen Bürger namens Luis Strommer, der offensichtlich etwas zu verbergen sucht. PACKEND, ÜBERRASCHEND UND VON BEISSENDER KOMIK Georg Haderers neuer Kriminalroman: ein literarisches Kaleidoskop aus skurrilen Charakteren, einem ebenso genialen wie abgedrehten Ermittler, schrägen Begegnungen und psychischen Ausnahmezuständen. ************** "Die Krimis von Georg Haderer sind wie ein Mosaik aus Spannungsliteratur, Unterhaltung, Charakterstudie und Gesellschaftskritik." "Eine kleine Provinz in großem Aufruhr: Ein Jäger wird erschossen, ein angeblicher Kindermörder zieht zurück in sein Heimatdorf. Das können die Bewohner nicht zulassen und wollen den Entlassenen im wahrsten Sinne des Wortes beseitigen. Aber was hat sich damals und heute wirklich zugetragen? Mit unerwarteten und dramatischen Wendungen zieht Georg Haderer die Leser in seinen Bann." "Heißer Lesetipp: Fesselnd, ironisch und mit viel Wortwitz - Georg Haderer schreibt Krimis vom Feinsten!" "Schäfer ist ein intelligenter, sensibler und verschrobener Typ, der bei seinen Ermittlungen völlig unkonventionell und eigensinnig vorgeht. Was für ein Original! Und wie gerne ich ihn doch auf seinen Alleingängen begleite!" ************** GEORG HADERERS KRIMINALROMANE MIT MAJOR SCHÄFER: * Schäfers Qualen * Ohnmachtsspiele * Der bessere Mensch * Engel und Dämonen * Es wird Tote geben *
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1
Wie der Mann dort auf dem Baumstumpf saß: mit zittrigen
Fingern an einer Zigarette saugend, in eine graue
Wolldecke gehüllt, die ihm einer der beiden Sanitäter
übergelegt hatte, blass und verstört, ein Häuflein Elend,
bemitleidenswert. Ein Glück für ihn. Sonst hätte Schäfer
wohl längst einen schweren Ast aufgehoben und
ihn totgeschlagen. Dieses Arschloch. Wer zu blöd war,
einen Läufer von einem Wildschwein zu unterscheiden,
sollte nicht mit einem Gewehr in den Wald gelassen
werden. Restalkohol wahrscheinlich oder wärmender
Morgenschnaps; von diesen grenzdebilen Kreaturen
stieg doch keine nüchtern in den Geländewagen, wenn
es zum Halali und Herumballern ging.
„Null Komma null“, merkte Inspektor Plank fast
schüchtern an und hielt Schäfer das Testgerät hin.
„Ist wahrscheinlich auch sein IQ“, murrte der und trat
zwei Schritte zurück, weil ihm der Gestank von Erbrochenem
in die Nase stieg. Beim ersten Versuch, seinen Atemalkohol
zu messen, hatte sich der Jäger auf Planks Schuhe
übergeben, beim zweiten hatte ihn ein Hustenanfall außer
Gefecht gesetzt, erst der dritte war erfolgreich gewesen.
„Ich will eine Blutprobe“, wandte Schäfer sich an den
Notarzt, der nun auf ihn zukam und sich die Einweghandschuhe
abzog.
„Würde ich lieber warten, bis er ein bisschen stabiler
ist.“
„Stabil, hm“, murrte Schäfer und deutete mit dem Daumen
über seine Schulter, wo in etwa zwanzig Metern Entfernung
unter einer Aludecke ein Mann lag, aus dessen
zerfetzter Oberschenkelarterie ein paar Liter Blut in den
Waldboden gesickert waren. „So wie der da hinten, oder?“
„Lassen Sie Ihren Grant nicht an mir aus“, erwiderte
der Arzt ohne merkbare Erregung in der Stimme. „Tschuldigung“,
Schäfer hob den Blick zu den Baumwipfeln.
Er atmete tief durch und versuchte sich auf das
Hämmern des Spechts zu konzentrieren, der dort oben
unbekümmert seinem Tagwerk nachging. Wenn hier wer
stabil werden musste, dann er selbst, gestand er sich ein.
Dafür könnte er losrennen, eine halbe Stunde, bis er die
Wut und den Hass herausgeschwitzt hätte, die in ihm brodelten.
Er könnte auch den Arzt um irgendein Beruhigungsmittel
bitten. Oder er könnte den Ast aufheben, auf
dem er stand, und.
„In einer Stunde sind sie da“, sprach Inspektorin Auer
ihn an.
„Wer?“
„Der Dobrits vom LKA und die Spurensicherung“,
Auer steckte ihr Handy ein und wartete offenbar auf Anweisungen.
„Passt … Scheiße“, fluchte Schäfer, als das fremde
Handy in seiner Jackentasche abermals läutete. Er nahm
es heraus, sah aufs Display, Sylvia, er wartete, bis es verstummt
war, und steckte es wieder ein. „Hat sich der Erwin
gemeldet?“
„Ja, aber der ist mit der Familie in der Wachau und …“
„Schon klar.“
„Soll ich, vielleicht … weil ich sie doch kenne, die Frau
Thurner und …?“
„Nein“, Schäfer schüttelte den Kopf, ließ seine Zähne
ein paar Sekunden gegeneinander reiben und entfernte sich
fünfzig Meter vom Zentrum des Geschehens. Drei Anrufe
innerhalb einer Stunde. Das hieß wohl, dass Sylvia Thurnersich
Sorgen machte. Oder dringend etwas brauchte. Zu
Hause war sie nicht, das hatten Plank und Auer überprüft.
Vielleicht wartete sie irgendwo auf ihren Mann. Krank vor
Angst, dass Günther beim Joggen einen Herzinfarkt erlitten
haben könnte. Nein, kein Infarkt, Frau Thurner, wo denken
Sie hin, Ihr Mann war doch noch keine Vierzig und bei bester
Gesundheit, ups, habe ich jetzt war gesagt? Verdammt.
So lange er nicht wusste, wo oder in welchem Zustand sie
war, wollte er Sylvia Thurner nicht anrufen und ihr mitteilen,
dass ihr Ehemann vor einer guten Stunden verstorben
war. Weil ihn ein Jäger mit einem Wildschwein verwechselt
und ihm eine Kugel in den Oberschenkel geschossen
hatte. Vielleicht saß sie gerade hinter dem Lenkrad, 160 auf
der Autobahn, weil sie es gar nicht mehr erwarten konnte,
bei ihm zu sein. Scheiße. Schäfer hob einen Fichtenzapfen
auf, riss eine Schuppe heraus, steckte sie in den Mund
und kaute auf ihr herum. Bitter. Er wollte rauchen. Doch
damit würde er die Keine-vor-Mittag-Vereinbarung brechen,
die er erst vor zwei Wochen mit sich selbst getroffen
hatte. Ausnahmen in besonders belastenden Situationen
hatte er sich keine zugesagt – mit so einem Selbstbetrug
würde er es als Polizist nie schaffen, mit dem Rauchen
oder Trinken aufzuhören. Er bemerkte zwei junge Männer
und eine Frau in farbenfroher Sportkleidung, die ihre
Mountainbikes zögerlich in seine Richtung schoben. Er
ging ihnen entgegen und machte sie darauf aufmerksam,
dass es sich hier um polizeiliches Sperrgebiet handelte.
„Was ist denn passiert?“, wollte die Frau wissen.
„Ein Unfall“, Schäfer drehte sich kurz weg und spuckte
das bittere Holzstück aus, „von euch hat nicht zufällig
wer eine Zigarette da, oder?“
„Doch, aber nur Tabak und …“, meinte einer der beiden
Männer und wurde umgehend rot im Gesicht.
„Ich hab früher selber gedreht“, antwortete Schäfer
und hielt fordernd seine rechte Hand auf.
„Ja, ich hab halt nur“, der Mann zog den Zipp seiner
Bauchtasche auf, gab Schäfer eine Packung Tabak und Zigarettenpapier
in XXL. „Nur Papier für große Männerhände“,
ergänzte Schäfer, nahm ein Blatt, riss es entzwei und
legte Tabak drauf. „Sonst denken meine Kollegen noch,
dass ich hier einen Joint rauche.“
„Ist da wer gestorben?“, ließ die Neugier der Frau nicht
locker, nachdem Schäfer seine immer noch verdächtig
große Zigarette angezündet bekommen hatte.
„Ja“, Schäfer blies eine dichte Rauchwolke nach oben,
die sich jedoch hartnäckig über ihren Köpfen hielt. Tiefdruck.
Ein kräftiger Regenschauer, der wäre ihm jetzt ganz
willkommen. „Könnt ihr eh alles morgen in der Zeitung
lesen“, meinte er im Weggehen, klemmte sich die Zigarette
zwischen die Lippen, nahm sein Handy sowie das des
Toten heraus und übertrug die Nummer von dessen Frau.
„Frau Thurner? … Major Schäfer hier … Darf ich fragen,
wo Sie sich gerade aufhalten? … Ja, Frau Thurner, es
geht um Ihren Mann … es hat einen Unfall gegeben und …
es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen das sagen muss, Frau
Thurner, aber … Ihr Mann ist leider verstorben.“
2
Kurz vor drei Uhr nachmittags kam er nach Hause.
Sich sofort umzuziehen und laufen zu gehen, wie er es
sich im Wald und dann auf dem Posten erwartungsfroh
ausgemalt hatte, reizte ihn nun überhaupt nicht mehr.
Er ging in die Küche, trank einen halben Liter gespritzten
Traubensaft, lehnte an der Spüle und starrte Löcher
in die Luft. Zwei Stunden hatte er gemeinsam mit
einem Kollegen vom Landeskriminalamt den Schützen
einvernommen. Und ihn dann nach Hause gehen lassen.
Schließlich gab es außer Schäfers Zorn nichts, was
eine Verhaftung rechtfertigte. Nichts, was für einen
Vorsatz sprach – wieso hätte er, Wolfgang Kappl, denn
absichtlich auf Günther Thurner schießen sollen? Ja,
sie hatten sich gekannt, flüchtig, wie man sich auf dem
Land eben kennt, wenn man sich nicht näher kennt, aber Streit
hätte es zwischen ihnen nie gegeben, auch
nichts, um das sie sich streiten hätten können, wieso
bitte hätte er denn absichtlich auf den schießen sollen?,
hätte er auf irgendjemanden absichtlich schießen sollen?
Kappl war 53 Jahre alt, geboren und wohnhaft in
Schaching, Inhaber eines kleinen Speditionsbetriebs,
der in den letzten paar Jahren drei Mal am Konkurs
vorbeigeschrammt war – aber damit war er in der Gegend
nicht allein. Fast dreißig Jahre verheiratet, zwei
erwachsene Kinder. Seit zwanzig Jahren besaß er eine
Jagdberechtigung, noch nie war es zu einem Zwischenfall
gekommen. Und was war heute anders gewesen?
War etwas anders gewesen? Hatte er Medikamente genommen,
die seine Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigten?
War am Vortag oder im Laufe der Nacht
etwas vorgefallen, das ihn außergewöhnlich belastet
hatte, so dass er womöglich unkonzentriert gewesen
war? Nein, nein, nein, nein. Wie oft musste er denn das
noch wiederholen: Er hatte ein Wildschwein im Visier
gehabt und keinen Menschen. Er hatte das Tier verfehlt
und die Kugel hatte versehentlich, aber wie oft musste
er das denn noch erzählen.
Schäfer schüttelte heftig den Kopf, als wollte er die
Reste eines bösen Traums loswerden. Er machte sich
einen Kaffee, stellte fest, dass die Milch aus war, und
ging auf die Terrasse. Im Garten hüpften zwei Amseln
umher und pickten in der braunen, matschigen Masse
unter dem Kirschbaum nach Verwertbarem. Der
Rasen – falls dieser Begriff noch zulässig war – sah
nach dem misslungenen Experiment aus, eine künstliche
Moorlandschaft anzulegen. Braungelb klebte das
schlaffe Gras auf der Krume, darunter schlängelten
sich
wie Geschwülste die Aufschüttungen der Wühlmäuse
am Gartenzaun gesellten sich ein paar Maulwurfshügel dazu.
Unberechenbares Luder, diese Natur. So sehr
Schäfer die zunehmende Verwilderung des Gartens
im vergangenen Jahr gefallen hatte: Jetzt fehlten nur
noch ein paar herumliegende Doppelliter-Weinflaschen
sowie eine ausgediente Waschmaschine und er würde
im Ort als Mann im freien Fall gelten. Und wessen
Arme waren schon stark genug, einen 46-jährigen Fall
dieses Kalibers aufzufangen, ohne sich selbst mit in den
Abgrund zu reißen. Herr Schrödinger spazierte mit seinem
Hund vorbei, blieb am Gartenzaun stehen.
„Ja ja, da gibt’s ganz schön was zu tun“, meinte er lächelnd.
„Ja“, Schäfer machte ein paar Schritte in den Garten
hinaus, worauf sich seine Hausschuhe sofort voll Wasser
sogen. „Am Wochenende habe ich eh ein paar Freigänger
aus Stein da, die erledigen das.“
„Und wie … und wer …“
„War nur ein Scherz“, winkte Schäfer ab, „ich hab schon
einen Gärtner bestellt.“
„Ah! Immer wieder fall ich auf Sie herein, Herr Major!“,
theatralisch mit dem Kopf schüttelnd machte Schrödinger
einen Abgang.
Eine halbe Stunde später schob Schäfer einen Einkaufswagen
durch den Baumarkt und bemühte sich, inmitten
all der zielstrebig wirkenden Heimwerker, Schwarzarbeiter
und Kampfgärtnerinnen nicht allzu hilflos
zu erscheinen. Was trieben diese Menschen hier? Was
taten sie mit diesen Massen an Zementsäcken, Spitzhacken,
Schlagbohrmaschinen, Farbfässern, Plastikrohren,
Armaturen … böse Ahnungen stiegen in ihm auf,
Bilder von heimlich ausgehobenen Kellern, ausgebauten
Verliesen, verschleppten Kindern – Schluss jetzt, er
war hier, um seinem Polizistenleben etwas entgegenzusetzen,
nicht, um es noch mehr aufzublähen. Bei den Baustoffen vorbei,
dann rechts, geradeaus und da, wo
Sie die Lampen sehen, noch einmal rechts: die Gartenabteilung.
Alleine die Menge an Dingen, die Schäfer bekannt
erschienen, überforderte ihn, ganz zu schweigen
von all denen, die er nicht zuordnen konnte. Also
kapitulierte er, packte in den Einkaufswagen, was ihm
brauchbar erschien, und damit würde er eben bewerkstelligen,
was möglich war.
Nachdem er den Kofferraum eingeräumt hatte, querte
er den Parkplatz und betrat den Supermarkt. Suchte
alle Taschen nach dem Einkaufszettel ab. Der wohl irgendwo
zwischen Gartentisch und Baumarktkassa verloren
gegangen war. Langsam zog er durch die Korridore,
seine Augen scannten die Warenmassen, während
das Gehirn versuchte, sich an die Worte auf dem gelben
Zettel zu erinnern. Vor den Tiefkühlschränken kam
Schäfer neben einem Mann in seinem Alter zu stehen,
den er flüchtig kannte; zumindest die Adresse und dass
von dort im letzten Jahr des Öfteren besorgte Nachbarn
wegen lautstarker Streitereien inklusive wüster Drohungen
angerufen hatten. So heillos überfordert, wie
der Mann nun vor den Fertiggerichten ausharrte, war
die Scheidung nun wohl endgültig. Schäfer nickte einen
Gruß, ging rasch weiter, verwarf alle Gedanken an den
verlorenen Zettel und füllte den Einkaufswagen nach
Gutdünken. Die Impulsgondel, erinnerte er sich an
diesen perversen Begriff, den er Jahre zuvor in einem
Fachmagazin für Marketing aufgeschnappt hatte, das
versehentlich im Postkasten seiner Wiener Wohnung
gelandet war. Vielleicht würde die drohende Vergammelung
der Lebensmittel, die er eben sammelte, seinem
Sozialleben einen wichtigen Impuls geben, sinnierte er,
während Frau Plaschg von der Feinkost einen riesigen
geselchten Schweineschenkel auf die Wurstschneide maschine
hievte. Eine gute Gelegenheit, eine Einladung
zum Abendessen auszusprechen. Stichwort Ablaufdatum.
Sich wieder einmal die Frage stellen, ob sein Junggesellenleben
immer noch zufriedenes Alleinsein oder
schon bitter machende Einsamkeit war.
Aber wen sollte er so spontan anrufen? Marlene? Ein
Zwiespalt. Einerseits hatte er sie sehr gerne; hatte sie
vom ersten Augenblick an gemocht, als er ihr vor gut
einem halben Jahr begegnet war. Sie arbeitete als Betreuerin
für ein Heim der Lebenshilfe in einem Nachbarort
und kümmerte sich dort mit drei Kolleginnen um
gut zwanzig Menschen, die aufgrund verschiedener geistiger
und körperlicher Beeinträchtigungen nicht alleine
für sich sorgen konnten. Eine davon, eine 40-jährige
Frau mit Down-Syndrom, büchste allerdings gerne aus,
zog sich, sobald sie ihren Betreuerinnen entkommen war,
Hose und Unterhose aus, lief freudig kreischend durch
die Gegend, fummelte an ihrer Vagina herum und liebte
es, Personen männlichen Geschlechts an sich zu drücken.
Da sie kräftig war wie ein Fleischhauer, rief dieses
Verhalten immer wieder die Exekutive auf den Plan. So
hatte Schäfer zuerst eine wollüstige Gudrun kennen gelernt,
die – kaum war er aus dem Streifenwagen gestiegen
– auf ihn zugestürmt kam, ihn umklammerte und
ihren Unterleib an ihm rieb; und kurz darauf Betreuerin
Marlene, ein wandelndes Lachen, eine menschliche
Sonne, die den Wunsch auslöste, sie zu umarmen und
sich an ihrem Frohsinn zu wärmen.
Zwei Wochen später hatte er sich tatsächlich dazu
durchringen können, sie anzurufen und zu einem Spaziergang
einzuladen. Spaziergang? Na ja, die Vorstellung,
in einem der örtlichen Cafés oder Restaurants mit ihr
zu sitzen, hatte ihn beklemmt. Nicht der anderen Leute
wegen, ganz bestimmt nicht, hatte er ihr versichert; es
fiel ihm leichter zu reden, wenn er sich bewegte; viel leicht
hatten ihn aber auch die unzähligen Stunden bei
Vernehmungen so weit gebracht, dass er einer quasi unbekannten
Person, der er länger als zehn Minuten gegenüber
saß, nur mit Misstrauen begegnen konnte.
Zwei Tage später hatte Marlene ihn zum Abendessen
eingeladen. Er hatte eine Flasche hinterhältigen spanischen
Rotweins mitgebracht und war bis zum Frühstück
geblieben. So weit, so unkompliziert. Bis er ein paar Wochen
später in ihrem Bett von seinem eigenen Schreien
wach geworden war, schweißnass und mit grässlichen
Bildern im Kopf. Ob er schlecht geträumt hatte, wollte
sie klarerweise von ihm wissen, und wovon. Irgendeinen
Blödsinn, antwortete er. Du hast schon viele schlimme
Dinge gesehen, oder?, fuhr sie fort, nachdem sie sich
aufgesetzt und die Nachttischlampe angeschaltet hatte.
Und er: Hm. Wegen deinem Beruf früher, bei der Mordkommission,
gab sie nicht auf, drückte seinen Kopf sanft
von ihrem Brustbein weg, so dass er quasi gezwungen
war, sie anzusehen, wenn er nicht den Eindruck eines
stereotypen Polizisten erwecken wollte, der sein privates
Horrorkabinett strikt für sich behielt. Aber die
Crux an der Sache war: Er behielt es nicht nur lieber
für sich, er wurde launisch und bissig, wenn jemand ihn
drängte, sich zu öffnen. Supervision, Rebriefing, Krisenintervention
und was sonst noch alles ihm und seinen
Kollegen nach besonders belastenden Erlebnissen zur
Verfügung stand: Er achtete diese Maßnahmen und die
Menschen, die sich dafür einsetzten; doch ihm selbst
war es nie gelungen, daraus Nutzen zu ziehen. Abgetrennte
Gliedmaßen, verweste Leichen, tote Kinder …
was hatte er davon, sich diese Scheußlichkeiten absichtlich
in Erinnerung zu rufen? Die Scheiße gehörte begraben.
Und wenn sie nach oben quoll: Dann war Alkohol
noch immer das beste Mittel, um sie schnellstmöglich
hinunterzuspülen. Frauen und ihr Wunsch nach Offenheit, nach Reden,
Reden, Reden. Sollten sie. Untereinander. Es ging doch
nicht um die Wahrheit, nicht um Vertrauen, emotionale Intelligenz
oder sonst einen der Begriffe, mit denen die entsprechenden
Magazine mehr heiße Luft bliesen als die Trockenhauben,
neben denen sie lagen. Schäfer wusste doch,
warum Frauen ihn attraktiv fanden: Er stand für Schutz
und Stärke, für Macht und Kontrolle. Eine Polizeiuniform
alleine macht Schultern automatisch ein paar Zentimeter
breiter. Und das sollte er sich dann Satz für Satz zunichtemachen?
Welcher Frau, die halbwegs bei Verstand war,
würde denn gefallen, was er da preiszugeben hätte: die
Ängste, die Depressionen, die Wut, der regelmäßig wiederkehrende
Alkoholmissbrauch, ganz zu schweigen von
den Dingen, die er in seinem letzten Jahr in Wien verbrochen
hatte. Er selbst hielt es schon irgendwie aus mit sich
und seinen Dämonen; aber dass jemand anderer an seiner
Oberfläche so lange kratzte, bis der ganze stinkende Dreck
darunter zum Vorschein kam, wollte er nicht zulassen.
Und so hatte er – noch bevor Marlene ihn tatsächlich
gedrängt hätte, sein Innenleben preiszugeben – die Beziehung
langsam abkühlen lassen; Ausreden erfunden,
SMS später oder gar nicht beantwortet, es vorgezogen,
für einen gestörten Einzelgänger gehalten zu werden. Du
hast es wieder einmal verbockt, sagte er sich, als er in der
Schlange an der Kassa stand und an den Einkäufen der
Menschen vor ihm hochrechnete, welche unglaublichen
Mengen an Alkohol der Österreicher im Schnitt am Wochenende
trank. Erstaunlicherweise schien Marlene ihm
sein Verhalten wenig bis gar nicht übel zu nehmen. Liefen
sie sich zufällig über den Weg, lachte sie ihn an, redete
mit ihm, als ob er nie etwas falsch gemacht hätte. Vielleicht
sah sie in ihm ja auch einen Lebenshilfe-Fall. Für
sein Selbstwertgefühl war diese Vorstellung nicht gerade
förderlich. Die Sachen aus dem Baumarkt ließ er im Kofferraum.
Trug nur die beiden Einkaufstaschen mit den Lebensmitteln
in die Küche und begann mit dem Einräumen.
Als er fertig war, hatte er so viel Schinken, Essiggurken,
Olivenbrot, Käse, Salzmandeln und Müslikekse im
Magen, dass sein Vorhaben, zum Abendessen ein Steak
zu braten, keinen Fürsprecher mehr fand. Er goss eine
Kanne Melissentee auf, griff sich eine Bezirkszeitung
vom Altpapierstapel und ging ins Bad. Während die
Wanne volllief, saß er auf einem Holzschemel, nippte
am Tee und blätterte durch den Chronikteil. Wie eine
Komödie: der Bericht über den Bauern, der vor drei
Wochen kurz vor Anpfiff eines lokalen Fußballspiels
mit seinem Traktor an den Rand des Spielfelds gefahren
war und gedroht hatte, es zu verwüsten, wenn er
nicht sofort sein Geld bekäme. Damit richtete er sich
an den Trainer der Heimmannschaft, der ihm im Zuge
eines Brennholzverkaufs 500 Euro schuldig geblieben
war. Während Schäfer und Plank mit der Hand am
Pfefferspray den violettköpfigen und schwer alkoholisierten
Bauer in Schach hielten, fuhr der Trainer zum
Bankomat. Das Spiel begann mit einer halben Stunde
Verspätung, endete mit einem 5:2-Sieg für die Heimmannschaft;
am Abend kam es in einem nahegelegenen
Wirtshaus zu einer Schlägerei zwischen gegnerischen
Fans, zu der die Polizei ebenfalls ausrücken musste. Bei
der Festnahme eines Beteiligten, der sich partout nicht
beruhigen wollte, brach Schäfer diesem zwei Finger;
daran trug allerdings sicher auch der cholerische Bauer Schuld.
© Studienverlag GmbH
1
Wie der Mann dort auf dem Baumstumpf saß: mit zittrigen
Fingern an einer Zigarette saugend, in eine graue
Wolldecke gehüllt, die ihm einer der beiden Sanitäter
übergelegt hatte, blass und verstört, ein Häuflein Elend,
bemitleidenswert. Ein Glück für ihn. Sonst hätte Schäfer
wohl längst einen schweren Ast aufgehoben und
ihn totgeschlagen. Dieses Arschloch. Wer zu blöd war,
einen Läufer von einem Wildschwein zu unterscheiden,
sollte nicht mit einem Gewehr in den Wald gelassen
werden. Restalkohol wahrscheinlich oder wärmender
Morgenschnaps; von diesen grenzdebilen Kreaturen
stieg doch keine nüchtern in den Geländewagen, wenn
es zum Halali und Herumballern ging.
„Null Komma null“, merkte Inspektor Plank fast
schüchtern an und hielt Schäfer das Testgerät hin.
„Ist wahrscheinlich auch sein IQ“, murrte der und trat
zwei Schritte zurück, weil ihm der Gestank von Erbrochenem
in die Nase stieg. Beim ersten Versuch, seinen Atemalkohol
zu messen, hatte sich der Jäger auf Planks Schuhe
übergeben, beim zweiten hatte ihn ein Hustenanfall außer
Gefecht gesetzt, erst der dritte war erfolgreich gewesen.
„Ich will eine Blutprobe“, wandte Schäfer sich an den
Notarzt, der nun auf ihn zukam und sich die Einweghandschuhe
abzog.
„Würde ich lieber warten, bis er ein bisschen stabiler
ist.“
„Stabil, hm“, murrte Schäfer und deutete mit dem Daumen
über seine Schulter, wo in etwa zwanzig Metern Entfernung
unter einer Aludecke ein Mann lag, aus dessen
zerfetzter Oberschenkelarterie ein paar Liter Blut in den
Waldboden gesickert waren. „So wie der da hinten, oder?“
„Lassen Sie Ihren Grant nicht an mir aus“, erwiderte
der Arzt ohne merkbare Erregung in der Stimme. „Tschuldigung“,
Schäfer hob den Blick zu den Baumwipfeln.
Er atmete tief durch und versuchte sich auf das
Hämmern des Spechts zu konzentrieren, der dort oben
unbekümmert seinem Tagwerk nachging. Wenn hier wer
stabil werden musste, dann er selbst, gestand er sich ein.
Dafür könnte er losrennen, eine halbe Stunde, bis er die
Wut und den Hass herausgeschwitzt hätte, die in ihm brodelten.
Er könnte auch den Arzt um irgendein Beruhigungsmittel
bitten. Oder er könnte den Ast aufheben, auf
dem er stand, und.
„In einer Stunde sind sie da“, sprach Inspektorin Auer
ihn an.
„Wer?“
„Der Dobrits vom LKA und die Spurensicherung“,
Auer steckte ihr Handy ein und wartete offenbar auf Anweisungen.
„Passt … Scheiße“, fluchte Schäfer, als das fremde
Handy in seiner Jackentasche abermals läutete. Er nahm
es heraus, sah aufs Display, Sylvia, er wartete, bis es verstummt
war, und steckte es wieder ein. „Hat sich der Erwin
gemeldet?“
„Ja, aber der ist mit der Familie in der Wachau und …“
„Schon klar.“
„Soll ich, vielleicht … weil ich sie doch kenne, die Frau
Thurner und …?“
„Nein“, Schäfer schüttelte den Kopf, ließ seine Zähne
ein paar Sekunden gegeneinander reiben und entfernte sich
fünfzig Meter vom Zentrum des Geschehens. Drei Anrufe
innerhalb einer Stunde. Das hieß wohl, dass Sylvia Thurnersich
Sorgen machte. Oder dringend etwas brauchte. Zu
Hause war sie nicht, das hatten Plank und Auer überprüft.
Vielleicht wartete sie irgendwo auf ihren Mann. Krank vor
Angst, dass Günther beim Joggen einen Herzinfarkt erlitten
haben könnte. Nein, kein Infarkt, Frau Thurner, wo denken
Sie hin, Ihr Mann war doch noch keine Vierzig und bei bester
Gesundheit, ups, habe ich jetzt war gesagt? Verdammt.
So lange er nicht wusste, wo oder in welchem Zustand sie
war, wollte er Sylvia Thurner nicht anrufen und ihr mitteilen,
dass ihr Ehemann vor einer guten Stunden verstorben
war. Weil ihn ein Jäger mit einem Wildschwein verwechselt
und ihm eine Kugel in den Oberschenkel geschossen
hatte. Vielleicht saß sie gerade hinter dem Lenkrad, 160 auf
der Autobahn, weil sie es gar nicht mehr erwarten konnte,
bei ihm zu sein. Scheiße. Schäfer hob einen Fichtenzapfen
auf, riss eine Schuppe heraus, steckte sie in den Mund
und kaute auf ihr herum. Bitter. Er wollte rauchen. Doch
damit würde er die Keine-vor-Mittag-Vereinbarung brechen,
die er erst vor zwei Wochen mit sich selbst getroffen
hatte. Ausnahmen in besonders belastenden Situationen
hatte er sich keine zugesagt – mit so einem Selbstbetrug
würde er es als Polizist nie schaffen, mit dem Rauchen
oder Trinken aufzuhören. Er bemerkte zwei junge Männer
und eine Frau in farbenfroher Sportkleidung, die ihre
Mountainbikes zögerlich in seine Richtung schoben. Er
ging ihnen entgegen und machte sie darauf aufmerksam,
dass es sich hier um polizeiliches Sperrgebiet handelte.
„Was ist denn passiert?“, wollte die Frau wissen.
„Ein Unfall“, Schäfer drehte sich kurz weg und spuckte
das bittere Holzstück aus, „von euch hat nicht zufällig
wer eine Zigarette da, oder?“
„Doch, aber nur Tabak und …“, meinte einer der beiden
Männer und wurde umgehend rot im Gesicht.
„Ich hab früher selber gedreht“, antwortete Schäfer
und hielt fordernd seine rechte Hand auf.
„Ja, ich hab halt nur“, der Mann zog den Zipp seiner
Bauchtasche auf, gab Schäfer eine Packung Tabak und Zigarettenpapier
in XXL. „Nur Papier für große Männerhände“,
ergänzte Schäfer, nahm ein Blatt, riss es entzwei und
legte Tabak drauf. „Sonst denken meine Kollegen noch,
dass ich hier einen Joint rauche.“
„Ist da wer gestorben?“, ließ die Neugier der Frau nicht
locker, nachdem Schäfer seine immer noch verdächtig
große Zigarette angezündet bekommen hatte.
„Ja“, Schäfer blies eine dichte Rauchwolke nach oben,
die sich jedoch hartnäckig über ihren Köpfen hielt. Tiefdruck.
Ein kräftiger Regenschauer, der wäre ihm jetzt ganz
willkommen. „Könnt ihr eh alles morgen in der Zeitung
lesen“, meinte er im Weggehen, klemmte sich die Zigarette
zwischen die Lippen, nahm sein Handy sowie das des
Toten heraus und übertrug die Nummer von dessen Frau.
„Frau Thurner? … Major Schäfer hier … Darf ich fragen,
wo Sie sich gerade aufhalten? … Ja, Frau Thurner, es
geht um Ihren Mann … es hat einen Unfall gegeben und …
es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen das sagen muss, Frau
Thurner, aber … Ihr Mann ist leider verstorben.“
2
Kurz vor drei Uhr nachmittags kam er nach Hause.
Sich sofort umzuziehen und laufen zu gehen, wie er es
sich im Wald und dann auf dem Posten erwartungsfroh
ausgemalt hatte, reizte ihn nun überhaupt nicht mehr.
Er ging in die Küche, trank einen halben Liter gespritzten
Traubensaft, lehnte an der Spüle und starrte Löcher
in die Luft. Zwei Stunden hatte er gemeinsam mit
einem Kollegen vom Landeskriminalamt den Schützen
einvernommen. Und ihn dann nach Hause gehen lassen.
Schließlich gab es außer Schäfers Zorn nichts, was
eine Verhaftung rechtfertigte. Nichts, was für einen
Vorsatz sprach – wieso hätte er, Wolfgang Kappl, denn
absichtlich auf Günther Thurner schießen sollen? Ja,
sie hatten sich gekannt, flüchtig, wie man sich auf dem
Land eben kennt, wenn man sich nicht näher kennt, aber Streit
hätte es zwischen ihnen nie gegeben, auch
nichts, um das sie sich streiten hätten können, wieso
bitte hätte er denn absichtlich auf den schießen sollen?,
hätte er auf irgendjemanden absichtlich schießen sollen?
Kappl war 53 Jahre alt, geboren und wohnhaft in
Schaching, Inhaber eines kleinen Speditionsbetriebs,
der in den letzten paar Jahren drei Mal am Konkurs
vorbeigeschrammt war – aber damit war er in der Gegend
nicht allein. Fast dreißig Jahre verheiratet, zwei
erwachsene Kinder. Seit zwanzig Jahren besaß er eine
Jagdberechtigung, noch nie war es zu einem Zwischenfall
gekommen. Und was war heute anders gewesen?
War etwas anders gewesen? Hatte er Medikamente genommen,
die seine Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigten?
War am Vortag oder im Laufe der Nacht
etwas vorgefallen, das ihn außergewöhnlich belastet
hatte, so dass er womöglich unkonzentriert gewesen
war? Nein, nein, nein, nein. Wie oft musste er denn das
noch wiederholen: Er hatte ein Wildschwein im Visier
gehabt und keinen Menschen. Er hatte das Tier verfehlt
und die Kugel hatte versehentlich, aber wie oft musste
er das denn noch erzählen.
Schäfer schüttelte heftig den Kopf, als wollte er die
Reste eines bösen Traums loswerden. Er machte sich
einen Kaffee, stellte fest, dass die Milch aus war, und
ging auf die Terrasse. Im Garten hüpften zwei Amseln
umher und pickten in der braunen, matschigen Masse
unter dem Kirschbaum nach Verwertbarem. Der
Rasen – falls dieser Begriff noch zulässig war – sah
nach dem misslungenen Experiment aus, eine künstliche
Moorlandschaft anzulegen. Braungelb klebte das
schlaffe Gras auf der Krume, darunter schlängelten
sich
wie Geschwülste die Aufschüttungen der Wühlmäuse
am Gartenzaun gesellten sich ein paar Maulwurfshügel dazu.
Unberechenbares Luder, diese Natur. So sehr
Schäfer die zunehmende Verwilderung des Gartens
im vergangenen Jahr gefallen hatte: Jetzt fehlten nur
noch ein paar herumliegende Doppelliter-Weinflaschen
sowie eine ausgediente Waschmaschine und er würde
im Ort als Mann im freien Fall gelten. Und wessen
Arme waren schon stark genug, einen 46-jährigen Fall
dieses Kalibers aufzufangen, ohne sich selbst mit in den
Abgrund zu reißen. Herr Schrödinger spazierte mit seinem
Hund vorbei, blieb am Gartenzaun stehen.
„Ja ja, da gibt’s ganz schön was zu tun“, meinte er lächelnd.
„Ja“, Schäfer machte ein paar Schritte in den Garten
hinaus, worauf sich seine Hausschuhe sofort voll Wasser
sogen. „Am Wochenende habe ich eh ein paar Freigänger
aus Stein da, die erledigen das.“
„Und wie … und wer …“
„War nur ein Scherz“, winkte Schäfer ab, „ich hab schon
einen Gärtner bestellt.“
„Ah! Immer wieder fall ich auf Sie herein, Herr Major!“,
theatralisch mit dem Kopf schüttelnd machte Schrödinger
einen Abgang.
Eine halbe Stunde später schob Schäfer einen Einkaufswagen
durch den Baumarkt und bemühte sich, inmitten
all der zielstrebig wirkenden Heimwerker, Schwarzarbeiter
und Kampfgärtnerinnen nicht allzu hilflos
zu erscheinen. Was trieben diese Menschen hier? Was
taten sie mit diesen Massen an Zementsäcken, Spitzhacken,
Schlagbohrmaschinen, Farbfässern, Plastikrohren,
Armaturen … böse Ahnungen stiegen in ihm auf,
Bilder von heimlich ausgehobenen Kellern, ausgebauten
Verliesen, verschleppten Kindern – Schluss jetzt, er
war hier, um seinem Polizistenleben etwas entgegenzusetzen,
nicht, um es noch mehr aufzublähen. Bei den Baustoffen vorbei,
dann rechts, geradeaus und da, wo
Sie die Lampen sehen, noch einmal rechts: die Gartenabteilung.
Alleine die Menge an Dingen, die Schäfer bekannt
erschienen, überforderte ihn, ganz zu schweigen
von all denen, die er nicht zuordnen konnte. Also
kapitulierte er, packte in den Einkaufswagen, was ihm
brauchbar erschien, und damit würde er eben bewerkstelligen,
was möglich war.
Nachdem er den Kofferraum eingeräumt hatte, querte
er den Parkplatz und betrat den Supermarkt. Suchte
alle Taschen nach dem Einkaufszettel ab. Der wohl irgendwo
zwischen Gartentisch und Baumarktkassa verloren
gegangen war. Langsam zog er durch die Korridore,
seine Augen scannten die Warenmassen, während
das Gehirn versuchte, sich an die Worte auf dem gelben
Zettel zu erinnern. Vor den Tiefkühlschränken kam
Schäfer neben einem Mann in seinem Alter zu stehen,
den er flüchtig kannte; zumindest die Adresse und dass
von dort im letzten Jahr des Öfteren besorgte Nachbarn
wegen lautstarker Streitereien inklusive wüster Drohungen
angerufen hatten. So heillos überfordert, wie
der Mann nun vor den Fertiggerichten ausharrte, war
die Scheidung nun wohl endgültig. Schäfer nickte einen
Gruß, ging rasch weiter, verwarf alle Gedanken an den
verlorenen Zettel und füllte den Einkaufswagen nach
Gutdünken. Die Impulsgondel, erinnerte er sich an
diesen perversen Begriff, den er Jahre zuvor in einem
Fachmagazin für Marketing aufgeschnappt hatte, das
versehentlich im Postkasten seiner Wiener Wohnung
gelandet war. Vielleicht würde die drohende Vergammelung
der Lebensmittel, die er eben sammelte, seinem
Sozialleben einen wichtigen Impuls geben, sinnierte er,
während Frau Plaschg von der Feinkost einen riesigen
geselchten Schweineschenkel auf die Wurstschneide maschine
hievte. Eine gute Gelegenheit, eine Einladung
zum Abendessen auszusprechen. Stichwort Ablaufdatum.
Sich wieder einmal die Frage stellen, ob sein Junggesellenleben
immer noch zufriedenes Alleinsein oder
schon bitter machende Einsamkeit war.
Aber wen sollte er so spontan anrufen? Marlene? Ein
Zwiespalt. Einerseits hatte er sie sehr gerne; hatte sie
vom ersten Augenblick an gemocht, als er ihr vor gut
einem halben Jahr begegnet war. Sie arbeitete als Betreuerin
für ein Heim der Lebenshilfe in einem Nachbarort
und kümmerte sich dort mit drei Kolleginnen um
gut zwanzig Menschen, die aufgrund verschiedener geistiger
und körperlicher Beeinträchtigungen nicht alleine
für sich sorgen konnten. Eine davon, eine 40-jährige
Frau mit Down-Syndrom, büchste allerdings gerne aus,
zog sich, sobald sie ihren Betreuerinnen entkommen war,
Hose und Unterhose aus, lief freudig kreischend durch
die Gegend, fummelte an ihrer Vagina herum und liebte
es, Personen männlichen Geschlechts an sich zu drücken.
Da sie kräftig war wie ein Fleischhauer, rief dieses
Verhalten immer wieder die Exekutive auf den Plan. So
hatte Schäfer zuerst eine wollüstige Gudrun kennen gelernt,
die – kaum war er aus dem Streifenwagen gestiegen
– auf ihn zugestürmt kam, ihn umklammerte und
ihren Unterleib an ihm rieb; und kurz darauf Betreuerin
Marlene, ein wandelndes Lachen, eine menschliche
Sonne, die den Wunsch auslöste, sie zu umarmen und
sich an ihrem Frohsinn zu wärmen.
Zwei Wochen später hatte er sich tatsächlich dazu
durchringen können, sie anzurufen und zu einem Spaziergang
einzuladen. Spaziergang? Na ja, die Vorstellung,
in einem der örtlichen Cafés oder Restaurants mit ihr
zu sitzen, hatte ihn beklemmt. Nicht der anderen Leute
wegen, ganz bestimmt nicht, hatte er ihr versichert; es
fiel ihm leichter zu reden, wenn er sich bewegte; viel leicht
hatten ihn aber auch die unzähligen Stunden bei
Vernehmungen so weit gebracht, dass er einer quasi unbekannten
Person, der er länger als zehn Minuten gegenüber
saß, nur mit Misstrauen begegnen konnte.
Zwei Tage später hatte Marlene ihn zum Abendessen
eingeladen. Er hatte eine Flasche hinterhältigen spanischen
Rotweins mitgebracht und war bis zum Frühstück
geblieben. So weit, so unkompliziert. Bis er ein paar Wochen
später in ihrem Bett von seinem eigenen Schreien
wach geworden war, schweißnass und mit grässlichen
Bildern im Kopf. Ob er schlecht geträumt hatte, wollte
sie klarerweise von ihm wissen, und wovon. Irgendeinen
Blödsinn, antwortete er. Du hast schon viele schlimme
Dinge gesehen, oder?, fuhr sie fort, nachdem sie sich
aufgesetzt und die Nachttischlampe angeschaltet hatte.
Und er: Hm. Wegen deinem Beruf früher, bei der Mordkommission,
gab sie nicht auf, drückte seinen Kopf sanft
von ihrem Brustbein weg, so dass er quasi gezwungen
war, sie anzusehen, wenn er nicht den Eindruck eines
stereotypen Polizisten erwecken wollte, der sein privates
Horrorkabinett strikt für sich behielt. Aber die
Crux an der Sache war: Er behielt es nicht nur lieber
für sich, er wurde launisch und bissig, wenn jemand ihn
drängte, sich zu öffnen. Supervision, Rebriefing, Krisenintervention
und was sonst noch alles ihm und seinen
Kollegen nach besonders belastenden Erlebnissen zur
Verfügung stand: Er achtete diese Maßnahmen und die
Menschen, die sich dafür einsetzten; doch ihm selbst
war es nie gelungen, daraus Nutzen zu ziehen. Abgetrennte
Gliedmaßen, verweste Leichen, tote Kinder …
was hatte er davon, sich diese Scheußlichkeiten absichtlich
in Erinnerung zu rufen? Die Scheiße gehörte begraben.
Und wenn sie nach oben quoll: Dann war Alkohol
noch immer das beste Mittel, um sie schnellstmöglich
hinunterzuspülen. Frauen und ihr Wunsch nach Offenheit, nach Reden,
Reden, Reden. Sollten sie. Untereinander. Es ging doch
nicht um die Wahrheit, nicht um Vertrauen, emotionale Intelligenz
oder sonst einen der Begriffe, mit denen die entsprechenden
Magazine mehr heiße Luft bliesen als die Trockenhauben,
neben denen sie lagen. Schäfer wusste doch,
warum Frauen ihn attraktiv fanden: Er stand für Schutz
und Stärke, für Macht und Kontrolle. Eine Polizeiuniform
alleine macht Schultern automatisch ein paar Zentimeter
breiter. Und das sollte er sich dann Satz für Satz zunichtemachen?
Welcher Frau, die halbwegs bei Verstand war,
würde denn gefallen, was er da preiszugeben hätte: die
Ängste, die Depressionen, die Wut, der regelmäßig wiederkehrende
Alkoholmissbrauch, ganz zu schweigen von
den Dingen, die er in seinem letzten Jahr in Wien verbrochen
hatte. Er selbst hielt es schon irgendwie aus mit sich
und seinen Dämonen; aber dass jemand anderer an seiner
Oberfläche so lange kratzte, bis der ganze stinkende Dreck
darunter zum Vorschein kam, wollte er nicht zulassen.
Und so hatte er – noch bevor Marlene ihn tatsächlich
gedrängt hätte, sein Innenleben preiszugeben – die Beziehung
langsam abkühlen lassen; Ausreden erfunden,
SMS später oder gar nicht beantwortet, es vorgezogen,
für einen gestörten Einzelgänger gehalten zu werden. Du
hast es wieder einmal verbockt, sagte er sich, als er in der
Schlange an der Kassa stand und an den Einkäufen der
Menschen vor ihm hochrechnete, welche unglaublichen
Mengen an Alkohol der Österreicher im Schnitt am Wochenende
trank. Erstaunlicherweise schien Marlene ihm
sein Verhalten wenig bis gar nicht übel zu nehmen. Liefen
sie sich zufällig über den Weg, lachte sie ihn an, redete
mit ihm, als ob er nie etwas falsch gemacht hätte. Vielleicht
sah sie in ihm ja auch einen Lebenshilfe-Fall. Für
sein Selbstwertgefühl war diese Vorstellung nicht gerade
förderlich. Die Sachen aus dem Baumarkt ließ er im Kofferraum.
Trug nur die beiden Einkaufstaschen mit den Lebensmitteln
in die Küche und begann mit dem Einräumen.
Als er fertig war, hatte er so viel Schinken, Essiggurken,
Olivenbrot, Käse, Salzmandeln und Müslikekse im
Magen, dass sein Vorhaben, zum Abendessen ein Steak
zu braten, keinen Fürsprecher mehr fand. Er goss eine
Kanne Melissentee auf, griff sich eine Bezirkszeitung
vom Altpapierstapel und ging ins Bad. Während die
Wanne volllief, saß er auf einem Holzschemel, nippte
am Tee und blätterte durch den Chronikteil. Wie eine
Komödie: der Bericht über den Bauern, der vor drei
Wochen kurz vor Anpfiff eines lokalen Fußballspiels
mit seinem Traktor an den Rand des Spielfelds gefahren
war und gedroht hatte, es zu verwüsten, wenn er
nicht sofort sein Geld bekäme. Damit richtete er sich
an den Trainer der Heimmannschaft, der ihm im Zuge
eines Brennholzverkaufs 500 Euro schuldig geblieben
war. Während Schäfer und Plank mit der Hand am
Pfefferspray den violettköpfigen und schwer alkoholisierten
Bauer in Schach hielten, fuhr der Trainer zum
Bankomat. Das Spiel begann mit einer halben Stunde
Verspätung, endete mit einem 5:2-Sieg für die Heimmannschaft;
am Abend kam es in einem nahegelegenen
Wirtshaus zu einer Schlägerei zwischen gegnerischen
Fans, zu der die Polizei ebenfalls ausrücken musste. Bei
der Festnahme eines Beteiligten, der sich partout nicht
beruhigen wollte, brach Schäfer diesem zwei Finger;
daran trug allerdings sicher auch der cholerische Bauer Schuld.
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Autoren-Porträt von Georg Haderer
Georg Haderer, geboren 1973 in Kitzbühel/Tirol, lebt in Wien. Nach einem abgebrochenen Studium und einer vollendeten Schuhmacherlehre arbeitete er als Journalist, Barmann, Landschaftsgärtner, Skilehrer und Werbetexter. Seit 2009 erscheinen bei Haymon seine Kriminalromane rund um Polizeimajor Schäfer: 'Schäfers Qualen' (2009), 'Ohnmachtspiele' (2010), 'Der bessere Mensch' (2011), 'Engel und Dämonen' (2012) und 'Es wird Tote geben' (2013). www.georghaderer.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Georg Haderer
- 2014, 2. Aufl., 368 Seiten, Maße: 13 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 370997156X
- ISBN-13: 9783709971567
- Erscheinungsdatum: 19.08.2014
Rezension zu „Polizeimajor Johannes Schäfer Band 6: Sterben und sterben lassen “
"Major Schäfer grantelt weltmeisterlich!" www.krimi-couch.de, Jörg Kijanski "Abgründiger Humor und Glaubwürdigkeit zeichnen Georg Haderers Krimis aus, die auch Gesellschafts- und Charakterstudien sind." ORF Kultur, Sandra Ölz "Beste Krimikost." Der Standard, Ingeborg Sperl "Haderer hat mit 'Sterben und sterben lassen' nicht nur einen schlauen und wendungsreichen Krimi geschrieben, sondern auch einen packenden Entwicklungsroman, der um einen verletzlichen Misanthropen kreist, der Angst vorm Zu-zweit-Sein hat, weil er mit sich allein schon schwer zurechtkommt." Tiroler Tageszeitung, Christiane Fasching "...gekonnt spannend erzählt Haderer geschickt konstruierte Geschichten." buchkritik.at, Alfred Ohswald
Pressezitat
"Major Schäfer grantelt weltmeisterlich!" www.krimi-couch.de, Jörg Kijanski "Abgründiger Humor und Glaubwürdigkeit zeichnen Georg Haderers Krimis aus, die auch Gesellschafts- und Charakterstudien sind." ORF Kultur, Sandra Ölz "Beste Krimikost." Der Standard, Ingeborg Sperl "Haderer hat mit 'Sterben und sterben lassen' nicht nur einen schlauen und wendungsreichen Krimi geschrieben, sondern auch einen packenden Entwicklungsroman, der um einen verletzlichen Misanthropen kreist, der Angst vorm Zu-zweit-Sein hat, weil er mit sich allein schon schwer zurechtkommt." Tiroler Tageszeitung, Christiane Fasching "...gekonnt spannend erzählt Haderer geschickt konstruierte Geschichten." buchkritik.at, Alfred Ohswald
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